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CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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Menuhin“ – können Sie das beiseiteschieben?<br />

Mit Yehudi Menuhin werde ich verglichen, seit ich zwölf war.<br />

Natürlich ist er einer meiner Lieblingsviolinisten, ich bewundere<br />

ihn grenzenlos, aber mein Spiel ist anders, weil ich eine andere<br />

Persönlichkeit habe, ganz einfach. Wobei es eine Ehre ist, mit ihm<br />

verglichen zu werden – besser als mit einem Stümper! (lacht)<br />

Haben Sie sich dieses Selbstbewusstsein erst aneignen müssen?<br />

Ich hatte immer dieses Vertrauen in mich. Ich weiß gar nicht,<br />

warum. Als ich zum ersten Mal eine Violine gesehen habe,<br />

wusste ich, das ist mein Instrument, ich werde Musiker. Und<br />

nicht bloß irgendeiner, sondern der beste. Damals war ich noch<br />

jung und wusste nicht, dass es den besten nicht gibt. Schon<br />

meinen Eltern zu eröffnen, dass ich Violinist werde, war ein<br />

Beweis von Selbstbewusstsein. Sie sind eben keine Musiker,<br />

meine Mutter war schockiert. Verständlich, wir wissen ja alle, wie<br />

eine Violine klingt, wenn man erst anfängt zu üben. Aber ich<br />

habe sie überzeugt.<br />

Wie ist Ihnen das gelungen?<br />

Meine Mutter wollte, dass ich Tennisspieler werde. Ich habe zu<br />

ihr gesagt, Tennisprofi kann ich nur sein, bis ich 30 bin. Die<br />

Violine kann ich mein Leben lang spielen. Ich bin dann um die<br />

halbe Welt gereist, um gute Lehrer zu finden, das war die größte<br />

Herausforderung. Als ich Josef Rissin in Deutschland getroffen<br />

habe habe, wusste ich sofort: Er ist der Richtige für mich. Bei ihm<br />

habe ich mit elf Jahren zu studieren begonnen, er hat den<br />

Violinisten aus mir gemacht, der ich jetzt bin. Später habe ich<br />

meinen zweiten Lehrer gefunden, der eher ein Coach war und<br />

mittlerweile wie ein zweiter Vater für mich ist, Eduard Wulfson.<br />

Wenn ich auf Tournee bin, ist er immer an meiner Seite.<br />

Im Sport gibt es Ranglisten. In Ihrem Metier ist es schwerer zu<br />

beurteilen, wann die Spitze erreicht ist. Woran merkt man es?<br />

Es nützt jedenfalls nichts, wenn man es nur selbst merkt und<br />

sonst keiner! (lacht) Manche widmen sich der Musik aus vollem<br />

Herzen, aber niemand fühlt mit ihnen, also genügt es nicht.<br />

Andere nähern sich ihr rein intellektuell, das kann sehr langweilig<br />

sein. Erst wenn sich beides verbindet, erreicht man die<br />

Menschen. Aber es gibt in der Kunst nicht den Besten. Wenn Sie<br />

vor einem Gemälde von Rembrandt oder Picasso stehen, stellen<br />

Sie doch auch keine Vergleiche an, oder? Man taucht ganz ein in<br />

deren Welt. Nichts anderes existiert in diesem Moment.<br />

Bringt eine Solokarriere wie Ihre Einsamkeit mit sich?<br />

Gerade vor Konzerten bin ich gern allein. Ich bin so daran<br />

gewöhnt, niemanden zu sehen, dass es zur Normalität geworden<br />

ist. Fast schon zur Sucht (lacht). Aber natürlich kenne ich<br />

Momente von Einsamkeit, in denen ich mich nach der Gesellschaft<br />

von anderen sehne.<br />

Was ist der Unterschied zwischen Einsamkeit und Isolation?<br />

Einsam ist in gewisser Weise doch jeder. Einsamkeit kann<br />

durchbrochen werden. Von jemandem, der sich einem zuwendet.<br />

Aber wenn man isoliert ist, lebt man in der Angst, überhaupt<br />

anderen zu begegnen, denke ich.<br />

Tschaikowsky war sehr isoliert in seiner Zeit.<br />

Einsam und isoliert, ja. Er trug eine so schwere Bürde. Sein<br />

Geheimnis, seine Homosexualität, konnte er niemandem<br />

anvertrauen, ohne schlimme Konsequenzen zu fürchten.<br />

Immerhin hatte er seinen Bruder, dem er sich anvertrauen<br />

konnte.<br />

Das genügte wohl nicht. Auch Vincent van Gogh hatte einen<br />

Bruder, dem er vertraute, aber sie waren sehr einsame Menschen.<br />

Tschaikowsky war in Russland verwurzelt, er trug seine Heimat<br />

immer mit sich, wie ein Kreuz um den Hals. Öffnen konnte er<br />

sich ausschließlich in der Musik. Und das hat er wie kein anderer<br />

Komponist getan. Sein Stil ist natürlich russisch, aber war auch<br />

geprägt von französischen und deutschen Einflüssen, von Mozart<br />

und Beethoven – nicht Brahms! (lacht)<br />

Wie wichtig ist es Ihnen, sich das Universum eines Komponisten<br />

zu erschließen, den Sie spielen?<br />

Ich versuche, über jeden Komponisten so viel wie möglich<br />

herauszufinden. Ich recherchiere, lasse mir Tipps geben, schaue<br />

mir die kompletten Partituren an – vielleicht hat das Werk mir<br />

etwa zu erzählen, das ich sonst nirgends erfahren kann. Wie hat<br />

der Komponist gelebt, wie gefühlt, was war seine Inspiration? Der<br />

Vorgang ist mit Schauspielerei vergleichbar. Große Schauspieler<br />

müssen mit den Figuren eins werden, die sie verkörpern.<br />

Und Sie verschmelzen mit<br />

dem Komponisten?<br />

„WER EIN GEHEIMNIS<br />

MIT SICH HERUM-<br />

SCHLEPPEN MUSS,<br />

KANN SICH<br />

TSCHAIKOWSKY<br />

ANVERTRAUEN“<br />

Ich versuche es. Mein<br />

Violinspiel soll der Musik<br />

helfen. Nicht umgekehrt.<br />

Echte Virtuosität ist für<br />

mich nicht das Protzen mit<br />

technischen Fähigkeiten,<br />

sondern es bedeutet, eine<br />

Komposition bis ins Kleinste<br />

zu verstehen. Nur dann<br />

kann man mit ihr die<br />

Menschen mitreißen,<br />

schockieren, sie schwindeln lassen. Wenn das nicht gelingt, was<br />

vorkommen kann, wird es kein gutes Konzert.<br />

Sie haben Ihr Tschaikowsky-Album in Moskau aufgenommen,<br />

im Heimatland des Komponisten, in dem heute ein ziemlich<br />

homophobes Klima herrscht. War das ein Zwiespalt?<br />

Nein, so habe ich das nicht empfunden. Tschaikowsky ist der Star<br />

in Russland, die Leute verstehen seine Musik, sie berührt jeden.<br />

Wer ein Geheimnis mit sich herumschleppen muss, kann sich<br />

Tschaikowsky anvertrauen. Es war wichtig für mich, das Album in<br />

Russland aufzunehmen. Und vor allem: es mit Maestro Vladimir<br />

Spivakov einzuspielen, der mein erster Dirigent überhaupt war und<br />

der mein Lieblingsviolinist für Tschaikowsky ist.<br />

Eine Rückkehr zu den Wurzeln in jungen Jahren …<br />

Wir haben in derselben Halle gearbeitet, in der ich zum ersten<br />

Mal mit Orchester aufgetreten bin. Ich wollte an diese unvergessliche<br />

Erfahrung anknüpfen und sie neu erfinden, deswegen<br />

musste es auch eine Live-Aufnahme sein.<br />

Wie übersetzt man Gefühle in Musik? Tschaikowskys Méditation<br />

beschreiben Sie selbst als ein Stück von kaum in Worte zu<br />

fassender Melancholie.<br />

Ich gebe zu, das ist schwer. Um Melancholie hörbar zu machen,<br />

muss man sie in sich haben. Manchmal genügt es dafür schon,<br />

sich zurückzuziehen und allein zu sein. Melancholie bedeutet ja<br />

nicht einfach, traurig zu sein. Sie ist ein Schmerz, mit dem man<br />

sich versöhnen kann. Picassos Blaue Periode beschreibt Melancholie<br />

perfekt, Der alte Gitarrenspieler zum Beispiel.<br />

Braucht es so etwas wie die vielbeschworene russische Seele, um<br />

Tschaikowsky ganz durchdringen zu können?<br />

Schwer zu sagen. Ich habe eine Menge russischer Einflüsse in mir,<br />

aber auch viele andere, es ist also eine gemischte russische Seele …<br />

meine Eltern und Großeltern kommen aus Ländern, die mit der<br />

ehemaligen Sowjetunion verbunden waren, natürlich fühle ich<br />

eine Nähe zu Tschaikowsky. Aber das geht mir auch mit deutschen<br />

Komponisten so.<br />

Maestro Spivakov soll gesagt haben: „Jetzt sind Sie für die<br />

nächsten 50 Jahre dran mit diesem Concerto“ …<br />

Spivakovs Aufnahme des Concertos ist für mich und viele andere<br />

die beste aller Zeiten. Natürlich hat mich sein Satz sehr berührt.<br />

Und ich empfinde ihn auch als Verpflichtung. Ich habe mir die<br />

Violine ausgesucht, um sie bis ans Lebensende zu spielen, also<br />

werde ich immer mein Bestes geben.<br />

Béla Bartók: Violinkonzert Nr. 2 und Rhapsodien für Violine und<br />

Orchester, Baiba Skride, WDR Sinfonieorchester Köln, Eivind Aadland<br />

(Orfeo)<br />

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