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CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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DIRIGIEREN<br />

MACHT MUT<br />

Der Pianist und Dirigent Lars Vogt über<br />

Social Media, das Älterwerden<br />

und die Rhetorik der Musik.<br />

VON TERESA PIESCHACON RAFAEL<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Vogt, als wir 2008 sprachen, hatten Sie auf<br />

Myspace 296 Freunde. Wie viele haben Sie denn heute?<br />

Lars Vogt: (lacht laut) Nur ein paar wenige wirklich Vertraute.<br />

Follower scheinen immer mehr zur Währung zu werden. Wie<br />

halten Sie es mit den Social Media?<br />

Eher mittel bis weniger aktiv – wenn ich mich mit Kollegen vergleiche.<br />

Auf Facebook weise ich auf schöne Konzerte hin oder CDs.<br />

2.026 Follower habe ich auf Twitter gezählt.<br />

Ja, da bin ich aktiver, etwa wenn es um den Brexit geht. Ich habe<br />

in London gelebt, arbeite in Newcastle …<br />

… als Music Director des Royal Northern Sinfonia. Wie ist die<br />

Stimmung?<br />

Der Riss geht durch das ganze Land. Es ist ein Trauerspiel.<br />

In Zeiten, in denen Präsidenten Politik auf Twitter machen …<br />

wie nachhaltig sind Retweets im Musikbetrieb?<br />

Anders als manche Kollegen haue ich nicht ständig meine<br />

Meinung heraus. Natürlich sind wir Künstler Botschafter, doch<br />

weniger im plakativ wörtlichen Sinn. Das ist das Schöne an der<br />

Musik: dass sich die Botschaft subtil, vage, gewissermaßen ohne<br />

Worte vermittelt; dass sie unsagbar ist in jederlei Hinsicht. Und<br />

manchmal die Menschen wirklich vereinen kann.<br />

Einst gab es die „Deutsche Klavier-Schule“ um Artur Schnabel,<br />

Edwin Fischer, Wilhelm Backhaus, Walter Gieseking und<br />

Wilhelm Kempff. Wo sind derzeit die deutschen Pianisten, die<br />

eine solche Tradition wiederaufleben lassen könnten?<br />

Ich weiß es nicht. Die alte bildungsbürgerliche Zugewandtheit<br />

scheint ein bisschen verloren gegangen zu sein. In jedem Fall<br />

gibt es Talente. Ich habe allerdings beobachtet, dass man etwa in<br />

Norwegen – um nur ein Land zu nennen – beispielsweise mit<br />

Stipendien, aber auch mit Auftritten mit wichtigen Orchestern<br />

unterstützt wird. In Deutschland habe ich nicht das Gefühl, um<br />

es vorsichtig zu sagen, dass man hier als einheimisches Talent auf<br />

Händen getragen wird.<br />

Auch für die Agenturen scheint es interessanter zu sein, einen<br />

Künstler zu vermarkten, der von weit herkommt und eine<br />

vermeintliche „Story“ hat, als einen jungen Menschen, der in<br />

der deutschen stillen Provinz aufwächst.<br />

Das finde ich auch sehr bedauerlich. Auch ich bekam, nachdem<br />

wir für ein Projekt tolle Musik zusammengestellt hatten, zu<br />

hören: „Where is the story? You have to tell a story!“ Die Story ist<br />

doch die Musik selbst! Junge Künstler bekommen das wie eine<br />

zweite Haut heute mit, versuchen oft Plakatives nach außen zu<br />

tragen. Die musikalische Kernaussage tritt oft leider in den<br />

Hintergrund.<br />

Immer wichtiger wurde auch die Optik.<br />

Aber das wird zur Falle, wenn man sich stets an der eigenen oder<br />

der Jugend anderer misst. Wenn ich an Clara Haskil denke: in der<br />

Erscheinung eher ein graues Mäuschen – aber was hat die für<br />

Musik gemacht! Wie sprechen heute noch von ihr!<br />

In einem Interview sprechen Sie die Schwierigkeit des älter<br />

werdenden Künstlers an.<br />

Ich kann mich ja nicht beklagen. Ich konzertiere weltweit, bin<br />

Chefdirigent bei einem der wichtigsten Kammerorchester<br />

Europas, führe seit über 20 Jahren mein Festival „Spannungen“,<br />

unterrichte als Professor an der Hochschule in Hannover. Doch<br />

als ich älter wurde, warnte man mich. Zwischen 40 und 60 werde<br />

die Vermarktung schwieriger. Da sei man nicht mehr ein junges<br />

Talent, aber auch nicht der „old revered Master‘“ Und eben nur<br />

„old news“. Dabei werden die meisten Musiker in diesem Alter<br />

erst richtig gut!<br />

Kompliment für Ihre Aufrichtigkeit in einer Welt, in der jeder<br />

so tut, als sei er ewig jung!<br />

Auch ich musste dazulernen. Heute mit 49 stehe ich zum Beispiel<br />

offensiv dazu, dass ich fast nicht mehr auswendig spiele. Ich will<br />

mir den Stress nicht mehr antun, denn das lenkt vom wirklichen<br />

Musizieren ab. Ich bin zum iPad-Spieler geworden.<br />

Wie?<br />

Ich habe den iPad im Flügel liegen als Gedächtnisstütze. Mit<br />

einem Bluetooth-Pedal blättere ich mit dem linken Fuß um.<br />

Endlich kann ich mich nur auf die Musik freuen! Liszt hatte das<br />

Auswendigspielen ja eingeführt – auch wegen des zirzensischen<br />

Effekts. Den habe ich nicht mehr nötig.<br />

Im Interview des Booklets zu Ihrem Album mit vier Klaviersonaten<br />

Mozarts sagen Sie, dass Sie sich jetzt mehr trauen, zu<br />

Ihren Gedanken zu stehen.<br />

Früher hatte ich so eine Art Zensor in mir, der mir sagte, wie eine<br />

Bewegung zu sein hat. Jetzt habe ich oft Harnoncourts Bemerkung<br />

im Kopf, der bei der Aufnahme der Mozart-Konzerte mit<br />

Lang Lang sagte: „Ein Leben habe ich darum gekämpft, dass<br />

Achtel nicht ganz rhythmisch sein sollen!“ Genau das ist es,<br />

Musik als rhetorische Deutung, das hält die<br />

Musik lebendig! Vielleicht habe ich jetzt mehr<br />

Mut, weil ich dirigiere.<br />

n<br />

Brahms: Klavierkonzert Nr. 1, Vier Balladen, Lars Vogt, Royal<br />

Northern Sinfonia (Ondine)<br />

FOTO: GIORGIA BERTAZZI<br />

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