11.05.2020 Aufrufe

CRESCENDO 7/19&1/20 Sonderausgabe Beethoven

Beethoven! Sonderausgabe zum 250. Geburtstag. Von CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Offizielle Publikation zum Beethovenjahr 2020. Mit großem Veranstaltungsteil.

Beethoven! Sonderausgabe zum 250. Geburtstag.
Von CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Offizielle Publikation zum Beethovenjahr 2020. Mit großem Veranstaltungsteil.

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eichische Musiker bat, eine Variation für seinen eher schlichten<br />

Walzer zu komponieren, lieferte <strong>Beethoven</strong> ihm – nach vier Jahren<br />

Arbeit – nicht eine, sondern 33 Variationen. 33 Variationen, die für<br />

die damalige Zeit vollkommen unspielbar waren! Eigentlich wollte<br />

Diabelli mit seinem Variationsband Geld verdienen. Was aber sollte<br />

er mit Noten anfangen, die hauptsächlich eine intellektuelle, mathematisch-ästhetische<br />

Hausarbeit über die Möglichkeiten der Musik,<br />

über harmonisches Neuland und die theoretische Befragung der<br />

Musikgeschichte von Bachs Wohltemperiertem Klavier bis zu<br />

Mozarts Don Giovanni waren? Es sollte 30 Jahre lang dauern, bis<br />

<strong>Beethoven</strong>s Variationen zum ersten Mal von Hans von Bülow öffentlich<br />

aufgeführt wurden – lange nach <strong>Beethoven</strong>s und Diabellis Tod.<br />

Würden wir uns ein vergleichbares Szenario heute vorstellen,<br />

wäre es so, als würde die Deutsche Grammophon Max Richter beauftragen,<br />

sich mit Vivaldis Vier Jahreszeiten zu beschäftigen, und statt<br />

den Barockklassiker zu einem banal-populären Klassik-Ambient-<br />

Sound einzudampfen, hätte Richter für in vier Jahren Noten versprochen,<br />

für die es noch gar kein Instrument gibt. Unvorstellbar,<br />

dass – egal welches – ein Label einem derartigen Komponisten heute<br />

eine Chance geben würde.<br />

Wir vergessen oft, dass <strong>Beethoven</strong> nicht nur der Komponist<br />

der neun Sinfonien, der fünf Klavierkonzerte, der Erfinder des<br />

Fidelio und der Klavierlehrer von Für Elise war. <strong>Beethoven</strong> hat in<br />

seinen späten Quartetten, in den Diabelli-Variationen oder der Missa<br />

Solemnis vollkommen neue Wege eingeschlagen, hat die Tore zur<br />

Atonalität geöffnet und die Möglichkeiten der<br />

Spielkunst, aber auch der Zuhörbereitschaft seiner<br />

Zeit kompromisslos gesprengt. Musiker und<br />

Konzertveranstalter feiern heute gern den Visionär<br />

<strong>Beethoven</strong>. Aber ob sie Anfang des 19. Jahrhunderts<br />

bereit gewesen wären, diesem Komponisten<br />

Auftrittsmöglichkeiten zu gewähren?<br />

Mussten sie nicht, denn <strong>Beethoven</strong> hat die meisten<br />

Konzerte auf eigenes Risiko veranstaltet.<br />

<strong>Beethoven</strong>, der heute besonders vom Bildungsbürgertum<br />

als Ideal dargestellt wird, war<br />

alles andere als ein einfacher Zeitgenosse. Er hatte<br />

das Talent, Salons zu sprengen, und fand – anders<br />

als Goethe –, dass er nicht einmal Königinnen<br />

den Weg freigeben müsse. Seine Briefwechsel mit Verlegern und<br />

Veranstaltern sind legendär: <strong>Beethoven</strong> hat gebettelt und gedroht,<br />

seine Auftraggeber gegeneinander ausgespielt – und dabei vollkommen<br />

neue Möglichkeiten der Rechteverwertung gefunden. Unter<br />

anderem bot er adeligen Gönnern eine Exklusivfrist für einige<br />

Werke an, bevor er sie dann in Druck gab (und somit doppelt und<br />

dreifach verdiente). Auch dieses Gefeilsche würden sich heute wohl<br />

nur wenige Verlage gefallen lassen.<br />

Anders als der Popstar Mozart lebte <strong>Beethoven</strong> eher zurückgezogen,<br />

war ein Messie, kümmerte sich nicht um die leeren Weinflaschen<br />

in seinem Zimmer, litt an seiner Ertaubung und war immer<br />

wieder frustriert – entweder über seinen Zustand (Heiligenstädter<br />

Testament) oder über seine Liebessituation (Brief an die unsterbliche<br />

Geliebte). Selbst die Art, wie er Musik schrieb, unterschied sich grundsätzlich<br />

von jener Mozarts: Dessen Zauberflöten-Autograf scheint<br />

wie aus einem Gedanken auf das Papier geflossen zu sein. An manchen<br />

Stellen löst sich die Tinte inzwischen auf – es handelt sich an<br />

diesen Stellen um mit Rotwein verdünnte Farbe. Mozart war berauscht<br />

und kippte einfach nach, als er komponierte.<br />

Man kann davon ausgehen, dass auch <strong>Beethoven</strong> dem Alkohol<br />

zugesprochen hat – die Autopsie seines Körpers lässt auf jahrelangen,<br />

übermäßigen Alkoholkonsum schließen. Aber keine seiner<br />

Kompositionen ging ihm leicht von der Hand: Er skizzierte Ideen,<br />

trug sie oft jahrelang umher, um sie irgendwann zu einem Werk<br />

BEETHOVEN RITZTE<br />

SEINE WERKE IN DIE<br />

ZEIT – UND SEINEN<br />

HANDSCHRIFTEN IST<br />

DER WIDERSTAND<br />

ANZUHÖREN, DEN DIE<br />

MUSIK HERVORRIEF<br />

wachsen zu lassen, das er in verschiedenen Kompositionsschritten<br />

in verschiedenen Farben immer wieder bearbeitete. Nicht selten<br />

kratzte <strong>Beethoven</strong> so oft auf seinen Noten herum, dass er Löcher<br />

ins Papier riss. Man kann sagen: <strong>Beethoven</strong> ritzte seine Werke in<br />

die Zeit, und seinen Handschriften ist der Widerstand anzuhören,<br />

den seine Musik hervorrief – der Akt, sich an der Welt zu reiben!<br />

Und erneut stelle ich die Frage: Wer würde einen derart bohrenden<br />

Künstler, einen, der alle Konventionen der Gegenwart infrage stellt,<br />

heute ernsthaft aushalten? Ich habe Zweifel daran, ob wir einen<br />

<strong>Beethoven</strong> heute feiern oder nicht doch eher feuern würden.<br />

Ich habe auch Zweifel daran, ob die Politiker, die sich seit jeher<br />

gern mit <strong>Beethoven</strong> schmücken, in Wahrheit Gefallen an einem Zeitgenossen<br />

wie ihm gefunden hätten. <strong>Beethoven</strong> war einer der ersten<br />

wirklich selbstständigen Künstler. Seine Auftraggeber kamen aus dem<br />

Adel und dem Bürgertum. Sie verlangten von ihm das Neue, das<br />

Unerhörte: größer, länger, lauter als alles, was je für Könige, Kaiser<br />

und Kirche geschrieben wurde. Natürlich konnte sich auch <strong>Beethoven</strong><br />

nicht der Tagespolitik entziehen, natürlich veranstaltete er – ganz<br />

Geschäftsmann – auch musikalische Akademien, als in Wien der<br />

Kongress tanzte. Und genauso natürlich komponierte er auch für<br />

Kaiser, Könige, Erzherzöge und Zaren. Aber <strong>Beethoven</strong> ging nicht<br />

um jeden Preis einen Pakt mit der Politik ein – siehe die Widmung<br />

seiner Eroica, der Dritten Sinfonie, für Napoleon, die er nach der Kaiserkrönung<br />

des Korsen wieder zurückzog, angeblich mit dem Satz,<br />

der neue Kaiser sei eben auch nicht anders als alle anderen.<br />

Mich würde interessieren, was <strong>Beethoven</strong><br />

jenen Politikern gesagt hätte, die seine Musik für<br />

ihre Zwecke gespielt haben. Wie gern wäre ich<br />

Mäuschen gewesen, wenn er Hitler erklärt hätte,<br />

seine Neunte sei nicht dazu gedacht, Kriegsinvaliden<br />

zum Geburtstag des „Führers“ zu überwältigen.<br />

Und erst recht nicht, um die arische Überlegenheit<br />

deutscher Kunst zu argumentieren.<br />

<strong>Beethoven</strong> wäre aber nicht nur über die Nazis<br />

sauer gewesen. Wie hätte er Chavez in Venezuela<br />

die Leviten gelesen, dessen „El Sistema“-Orchester<br />

seine Werke immer wieder als Verkörperung<br />

des Humanismus auf das Programm gehoben hat?<br />

Ich bin auch nicht sicher, wie <strong>Beethoven</strong> auf<br />

Emmanuel Macrons Pariser Präsidentschaftsfeier mit der Neunten<br />

reagiert hätte – auch wenn seine Musik dabei als Symbol eines bürgerlich-demokratischen<br />

Europas benutzt wurde und als Gegenpol<br />

zur Macron-Rivalin Marine Le Pen.<br />

Sicher bin ich, dass <strong>Beethoven</strong>, der sich nicht gern übers taube<br />

Ohr hauen ließ, ein ernstes Wort mit Herbert von Karajan gewechselt<br />

hätte, der einst die Kurzversion der Neunten ohne Chor aufnahm –<br />

jener Musik, die heute als Europahymne bekannt ist. Zweifellos würde<br />

<strong>Beethoven</strong> darauf pochen, an den Tantiemen beteiligt zu werden.<br />

Wir stehen kurz vor den Jubelfeiern zum 250. <strong>Beethoven</strong>-<br />

Geburtstag. <strong>20</strong><strong>20</strong> wird ein spannendes Jahr mit vielen neuen Blickwinkeln<br />

auf den Komponisten. Und es zeichnet sich ab: <strong>Beethoven</strong><br />

wird als Ikone gefeiert, als Heiligtum auf den Sockel gestellt – als<br />

Vorreiter unser Ideale stilisiert. Und all das: zu Recht! Aber ich<br />

würde mir von den Feierlichkeiten im kommenden Jahr auch den<br />

unbequemen <strong>Beethoven</strong> wünschen, den wütenden, kämpfenden,<br />

kranken, kleinen Komponisten, der nicht nur die Konventionen<br />

seiner Zeit, sondern auch unsere oft gefällige Welt und Kulturszene<br />

ordentlich infrage stellt. Ich wünsche mir für <strong>20</strong><strong>20</strong> einen <strong>Beethoven</strong>,<br />

der uns herausfordert, der uns überfordert – so wie er seine Zuhörer<br />

und die Musiker seiner Zeit überfordert hat. Einen <strong>Beethoven</strong>, zu<br />

dem wir aufschauen, nicht, weil wir ihn vereinnahmen können,<br />

sondern weil seine Visionen uns noch immer als unerreichbares<br />

Ideal anspornen. <br />

■<br />

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