11.05.2020 Aufrufe

CRESCENDO 7/19&1/20 Sonderausgabe Beethoven

Beethoven! Sonderausgabe zum 250. Geburtstag. Von CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Offizielle Publikation zum Beethovenjahr 2020. Mit großem Veranstaltungsteil.

Beethoven! Sonderausgabe zum 250. Geburtstag.
Von CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Offizielle Publikation zum Beethovenjahr 2020. Mit großem Veranstaltungsteil.

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H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

LASST EUCH VON DEN<br />

ALTEN MEISTERN INSPIRIEREN<br />

Wiederbegegnungen mit <strong>Beethoven</strong>-Aufnahmen der Vergangenheit.<br />

Im Dezember feiert die Musikwelt Ludwig van <strong>Beethoven</strong>s<br />

250. Geburtstag, und wir sind der Realität seiner Musik ferner<br />

denn je. Der Verlust der geistig-seelischen Beziehung zu seiner<br />

Musik (also zur strukturellen Dimension und des die harmonische<br />

Entwicklung wach empfindenden Ortssinns) hat es mit sich<br />

gebracht, dass wir uns mehr denn je an die paar „sicheren“ Anhaltspunkte<br />

klammern, die ohne jede Musikalität messbar sind. Dies<br />

sind in <strong>Beethoven</strong>s Fall die teils wahnwitzig hektischen Metronomangaben.<br />

Kein Wunder, dass ihm alles zu langsam erschien, als er<br />

nach und nach mit dem völligen Verlust seines Gehörs zu kämpfen<br />

hatte. Nur noch ein Bruchteil des Reichtums der Klangerscheinungen<br />

drang zu ihm durch. Manche Metronomisierungen sind so<br />

schnell, dass sie schlicht die Grenzen der Ausführbarkeit überschreiten<br />

(zum Beispiel im Finale der Achten Sinfonie).<br />

Doch für diejenigen, die urteilen wollen, ohne über eine ausgebildete<br />

Urteilsfähigkeit zu verfügen, ist die Berufung auf die Einhaltung<br />

der Metronomgeschwindigkeit eine fantastische Finte, um<br />

Kompetenz vorzugaukeln. Auf der Strecke bleiben dann fast durchgehend<br />

der Kontrast-, Farben- und Artikulationsreichtum, die Poesie<br />

des Lyrischen und die Individualität des jeweiligen Werks. Alles<br />

klingt sportlich, aufregend, grell, ruppig und ohne tiefere Dimension.<br />

Das wird zudem begünstigt durch die negativen Aspekte der<br />

sogenannten historischen Aufführungspraxis, durch die Dominanz<br />

der Primitivität: stereotype Betonung der schweren Taktzeiten, die<br />

den melodischen Fluss zerhackt und auch keinen wirklich individuell<br />

zugeschnittenen rhythmischen Groove zulässt – es klingt<br />

folglich ständig überspannt; fast überall drastisch verkürzte Notenwerte,<br />

was natürlicherweise eine zusätzliche<br />

Beschleunigung des Tempos erwirkt; extreme Disbalance<br />

zwischen tiefen und hohen Registern,<br />

sowohl bezüglich Tonstärke als auch Tonlänge, da<br />

die Tiefe viel mehr nachklingt als die Höhe, die<br />

sofort verschwindet und ihr Klangspektrum bis<br />

auf den schrillen Anteil nicht mehr entfalten<br />

kann; das fast generelle Verschwinden wirklich<br />

langsamer Tempi, die wir wenigstens (nicht<br />

nur!) als Kontrast brauchen; der Verlust der subtilen<br />

Dimensionen der Phrasierung. Dies ist<br />

keineswegs ein Plädoyer, zu einer behäbigen<br />

oder oberflächenpolierten Tradition zurückzukehren. Es gibt sehr<br />

wertvolle Aspekte der historischen Aufführungspraxis, insbesondere<br />

die zunehmende Kenntnis des Wesens der damaligen<br />

Instrumente.<br />

Doch jetzt bedarf es der behutsamen, von keinen Dogmen<br />

belasteten Fusion aller verfügbaren stilistischen Ausdrucksmittel,<br />

die für die jeweilige Epoche im rechten Maß einzusetzen sind. Das<br />

heißt: Tempo continuo, aber elastisch; feines, gezielt eingesetztes<br />

Vibrato ohne übertriebene Amplitude; die Wiedererweckung des<br />

erlebenden Verständnisses der harmonischen Prozesse, der Gestaltung<br />

von Modulationen, des Erspürens von Spannung und Entspannung<br />

im ständigen Wechselspiel; die Wiedererlangung der<br />

Fähigkeit, auf dem Instrument zu singen, und damit verbunden,<br />

die Tonlängen je nach Erfordernis von sehr kurz bis zu durchgehalten<br />

variieren zu können; die Fähigkeit, ein Adagio zu erfühlen, ohne<br />

gleich in Angst zu verfallen, jemand könnte sich langweilen.<br />

Um sich dafür zu inspirieren, empfehle ich daher scheinbar<br />

ganz unzeitgemäß: die Sinfonien in Aufnahmen von Celibidache,<br />

Furtwängler und Schuricht zu hören; die späten Streichquartette<br />

mit dem Busch-Quartett, die gesamten mit dem Végh-Quartett,<br />

dem Quartetto Italiano oder auch dem Vlach-Quartett (hätte das<br />

vortreffliche Guarneri Quartet nur sein Vibrato besser gezügelt!);<br />

die Klaviersonaten in der alten Barenboim-Aufnahme, mit Gilels,<br />

womöglich auch mit Erdmann und Michelangeli; unter den heutigen<br />

Aufnahmen sämtlicher Klaviersonaten gefällt mir unbedingt<br />

Abdel Rahman El Bacha am besten mit der immensen Spannweite<br />

des Ausdrucks, der inneren Disziplin und dem tiefen Verständnis<br />

der Struktur. Die Diabelli-Variationen höre man sich mit dem<br />

vortrefflichen Martin Helmchen an, die Hammerklavier-Sonate<br />

mit Murray Perahia, das Violinkonzert<br />

in der alten Adolf-Busch-Konzertaufnahme. Auf<br />

dass sich eine weitere Perspektive einstelle. n<br />

Ludwig van <strong>Beethoven</strong>: „Sinfonien“, Münchner Philharmoniker,<br />

Sergiu Celibidache (Warner)<br />

Adolf Busch & Quartet: „The Complete Warner Recordings“ (Warner)<br />

Ludwig van <strong>Beethoven</strong>: „Complete Piano Sonatas“ Abdel Rahman<br />

El Bacha (Mirare)<br />

Ludwig van <strong>Beethoven</strong>: „Diabelli-Variationen“, Martin Helmchen (Alpha)<br />

40 w w w . c r e s c e n d o . d e — Dezember <strong>20</strong>19 – Januar <strong>20</strong><strong>20</strong>

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