K Ü N S T L E R EINEN SAAL ZUM KLINGEN BRINGEN H Ein Gespräch mit dem Pianisten Boris Giltburg über den Klang im Raum, Fazioli-Flügel und die Lust an allem Russischen. err Giltburg, was heißt es, im Gegensatz zu Geigern oder Klarinettisten jeden Abend auf einem anderen Flügel spielen zu müssen? Wie lange braucht man, sich auf die Eigenheiten eines Instruments und der Saalakustik einzustellen? Boris Giltburg: Das ist selten ein wirkliches Problem, aber immer eine Herausforderung. Auf einem guten Instrument braucht man sehr wenig Zeit, auf einem weniger guten umso mehr. Gestern in der Stadthalle Göppingen war es spannend. Ich konnte drei Stunden üben, kam aber mit dem Instrument, einem vor 15 Jahren gebauten Steinway D, nicht restlos zurecht. Im Konzert VON KLAUS KALCHSCHMID veränderte sich dieses Empfinden total. Besonders in der zweiten Hälfte, bei den Rachmaninow-Préludes war alles perfekt. Wie man warten muss, bis sich die Augen an einen dunklen Raum gewöhnt haben, so ist es mit den Ohren auch. Man darf nichts forcieren und muss dem Gehör Zeit geben zu erfassen, wie sich der Klang in einem Raum ausbreitet. Dann können Sie alles machen, was das Instrument und der Raum erlauben! Ein gutes Instrument kann den Pianisten in ganz andere Richtungen führen als vorgesehen. Gestern geschah das nach der Pause. Der Ton besaß nach dem Anschlag noch lange „Körper“, und so blieb der Klang quasi stehen oder besser: Er schwebte! FOTOS: SASHA GUSOV 22 w w w . c r e s c e n d o . d e — Dezember <strong>20</strong>19 – Januar <strong>20</strong><strong>20</strong>
Sie haben Ihre letzten Alben auf einem Fazioli eingespielt. Was ist für Sie der Vorzug gegenüber Bösendorfer oder Steinway, ja auch Yamaha? Für die tägliche Arbeit ist ein Yamaha ideal: handwerklich ausgereift, man kann sich auf diese Instrumente verlassen. Faziolis begegnet man in England, Italien oder Japan häufiger, aber in Deutschland habe ich noch nie auf einem Fazioli gespielt. Was das Mechanische angeht, sind Faziolis heute die besten Klavierinstrumente! Viel besser als Steinway, Yamaha oder Bösendorfer. Die Tasten haben eine große Leichtigkeit und kehren schnell zurück nach dem Anschlag, sind aber auch nicht zu leichtgängig. Ein gut regulierter Fazioli spielt sich fast von selbst, und man kann mit nur halber Kraft eine große Klangentfaltung erzielen. Neulich im Concertgebouw in Amsterdam hatte ich ein so gutes Instrument, dass ich so leise spielen konnte wie bei mir zu Hause, und doch war der Klang groß genug für den ganzen Saal. Und wenn mehr nötig wurde, konnte man eine fast erschreckende Lautstärke erzielen. Bei einem Top-Fazioli ist die Klarheit phänomenal und verbindet sich mit einem schönen, langen, „singenden“ Ton! Das ist wie bei einem sehr guten Auto, das fast von selbst fährt! Wie oft wird Ihnen von einem Veranstalter ein Fazioli angeboten? In England hat die Firma Daniil Trifonov, Louis Lortie, Angela Hewitt und mir angeboten, ein Instrument auszusuchen, das wir dann für Konzerte in Großbritannien zur Verfügung gestellt bekommen. Da könnten wird dann immer auf „unserem“ Flügel spielen. Auf ihm habe ich die Schostakowitsch-Konzerte, zweites und drittes Rachmaninow-Konzert aufgenommen – und jetzt folgen mit ihm alle <strong>Beethoven</strong>-Konzerte. Sie haben 75 Jahre nach Emil Gilels den Concours Reine Elisabeth gewonnen. Wie erlebt man einen so anspruchs vollen Wettbewerb? Emil Gilels, mein großer musikalischer Held, war einer der Gründe, warum ich überhaupt teilgenommen habe, und dieser Monat war enorm anstrengend. Ein ganzer Monat? Ja, der Wettbewerb erstreckt sich über drei Runden in vier Wochen. Es beginnt mit nur <strong>20</strong> Minuten Recital mit Bach, einem Satz aus einer klassischen Sonate, dazu vier Etüden; dann folgt die Hälfte eines 90-minütigen Recitals plus ein Mozart-Klavierkonzert und endlich die letzte Runde. Da gibt es die Tradition, dass alle Finalisten in einem Haus untergebracht sind, in dem jeder ein Zimmer mit Flügel hat. Eine Woche hatten wir Zeit, das zeitgenössische Klavierkonzert, das für den Wettbewerb komponiert wurde, einzustudieren und an seinen beiden anderen Stücken zu feilen. Das Schöne war, dass wir Pianisten uns gut verstanden, ja, es sind sogar Freundschaften entstanden. Wir arbeiteten oft bis tief in die Nacht hinein zusammen an dem neuen Werk und aßen auch immer zusammen. Auf Ihrer Website kann man 18 Videos anklicken, die Sie „Five Minutes Library“ nennen. Darin erklären und spielen Sie prominente Klavierstücke. Sie spazieren viel im Grünen, aber einmal ist auch das Meer zu sehen. Wo war das? Das ist der Ausblick aus der Villa des Direktors des Louisiana Museums für Moderne Kunst im dänischen Humlebæk, wo wir Boris Giltburg lässt sich beim Einspielen aller <strong>Beethoven</strong>-Sonaten auf die Finger schauen: ab 1. Januar <strong>20</strong><strong>20</strong> auf www.beethoven32.com vieles aufnehmen durften. Dieses Jahr pausiert das Projekt wie auch Ihr Foto-Blog www.bgiltphotos.wordpress. com, warum? Ein anderes Projekt wird jenseits der Konzerte meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. Ich übe, spiele und stelle alle <strong>Beethoven</strong>-Sonaten chronologisch vor, lasse auf www.beethoven32.com wie in einem Tagebuch, aber auch am Entstehungsprozess, an den Schwierigkeiten und Herausforderungen teilhaben. Das Ganze beginnt am 1. Januar <strong>20</strong><strong>20</strong> und alle zehn oder 14 Tage später gibt es eine neue Sonate. Innerhalb einer Gesamtaufnahme aller Klavierkonzerte mit Vasily Petrenko und dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra haben Sie die ersten beiden veröffentlicht, dazu das ursprüngliche Finale des Zweiten Konzerts. Warum hat <strong>Beethoven</strong> es neu komponiert? Das ursprüngliche Finale ist eine Mozart-Hommage mit einem Andante-Mittelteil wie im letzten Satz des KV 482, vielleicht war das <strong>Beethoven</strong> später zu viel, oder er spürte, dass nach dem vergeistigten, meditativen langsamen Satz, wo am Ende die Zeit stehen bleibt, etwas kommen muss, was uns wieder auf die Erde holt – frecher, direkter, auch in seinem Humor, und nicht so viel mit der Form spielt. Aber ich liebe dieses ursprüngliche Rondo. Als gebürtiger Russe pflegen Sie ausgiebig das russische Repertoire. Sie haben die Kriegssonaten Prokofjews, viel Rachmaninow und die Schostakowitsch-Konzerte aufgenommen. Ja, ich lese auch viel russische Literatur, denn Sprache, Poesie und Musik sind sehr verwandt miteinander, und ohne das alles könnte ich mir mein Leben nicht vorstellen. Sie haben das dritte und achte der Schostakowitsch-Streichquartette für Klavier bearbeitet, kommt da noch etwas? Ja, gerade arbeite ich am Zweiten Quartett, einen Satz habe ich schon fertig. Ich bin nach Musik von Schostakowitsch süchtig, nach dieser nackten Kraft, diesem Grimmigen. Selbst ein exzellenter Pianist, hat er zwei Konzerte, sehr eigenständige Klavierparts für seine Lieder wie die Michelangelo-Sonette und großartige Kammermusik mit Klavier komponiert, die dieselbe psychologische Tiefe und emotionale Kraft besitzen wie die Sinfonien und Streichquartette. Aber an Solo-Klavierwerken gibt es nichts ähnlich Bedeutendes, deshalb mache ich diese Transkriptionen. Ich liebe aber auch Prokofjew, er besitzt diese unglaubliche Fantasie und einen geistsprühenden Humor. Bei Schostakowitsch – und auch Mussorgsky – äußern sich Gefühle dagegen oft sehr schmerzhaft. Ein Name fehlt noch: Tschaikowsky! Oh ja, ich habe alle drei Klavierkonzerte sehr gern gespielt, bei ihm liebe ich das, was man „Reinheit der Seele“ nennen könnte und eine gewisse – ich möchte es fast „Unschuld“ nennen; denken Sie nur an diese scheue und doch so intensive Liebe Tatjanas in Eugen Onegin. Aber ich will mich nicht entscheiden müssen zwischen ihm, Rachmaninow, Mussorgsky, Prokofjew, Schostakowitsch oder Nikolai Medtner – ich liebe und verehre sie alle! <strong>Beethoven</strong>: „Klavierkonzerte 1 und 2, Rondo, WoO 6“, Boris Giltburg, Vasily Petrenko (Naxos) n 23
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