11.05.2020 Aufrufe

CRESCENDO 7/19&1/20 Sonderausgabe Beethoven

Beethoven! Sonderausgabe zum 250. Geburtstag. Von CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Offizielle Publikation zum Beethovenjahr 2020. Mit großem Veranstaltungsteil.

Beethoven! Sonderausgabe zum 250. Geburtstag.
Von CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Offizielle Publikation zum Beethovenjahr 2020. Mit großem Veranstaltungsteil.

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O U V E R T Ü R E<br />

„Temperamentvoll und akribisch“<br />

Anruf bei Jonathan Del Mar, Musikwissenschaftler und Dirigent, einem der größten Kenner von<br />

Ludwig van <strong>Beethoven</strong>s Werken und aller verfügbaren Quellen.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Es heißt, die Handschrift könne viel über den Charakter<br />

und die Persönlichkeit eines Menschen verraten – was verrät<br />

die Handschrift über <strong>Beethoven</strong>?<br />

Jonathan Del Mar: <strong>Beethoven</strong>s Handschrift<br />

sagt zwei Dinge aus: Zum einen spiegelt sie seine<br />

Stimmung wider, die wiederum den Charakter<br />

der Musik, die er schreibt, beeinflusst: wild,<br />

riesig und wütend, wenn die Musik dramatisch<br />

ist; klein und aufgeräumt, wenn sie zart und leise<br />

ist. Das kann man bei den Erscheinungen<br />

der Stakkato- Striche erkennen. Wenn die Musik<br />

laut ist, sind es eindeutig Striche, ist aber die<br />

Musik leise, sehen sie – für die Uneingeweihten<br />

– manchmal aus, als wären sie Punkte. Zum anderen<br />

zeigt die Sorgfalt, mit der <strong>Beethoven</strong> absolut<br />

alles notiert, was er will – die Dynamik<br />

in jeder Zeile, jedes Stakkato-Zeichen in jedem<br />

Instrument und jedem Takt –, wie unglaublich<br />

vorsichtig er war, um nur nichts zu vergessen.<br />

Er wusste genau, wie wütend er werden würde,<br />

wenn er die gedruckte Partitur in der Hand hielte<br />

und dann etwas fehlte oder nicht stimmte. <strong>Beethoven</strong>s<br />

Schrift ist also gleichzeitig temperamentvoll<br />

und akribisch – eine seltene Kombination.<br />

Ist es denn schwer, <strong>Beethoven</strong> zu entziffern? Was braucht es, um<br />

dies zu schaffen? Erfahrung? Technik? Das richtige Werkzeug?<br />

Nein, <strong>Beethoven</strong> ist nicht schwer zu entziffern. Wenn man seine<br />

Handschrift zum ersten Mal sieht, könnte dieser Eindruck entstehen,<br />

weil sie so chaotisch wirkt und weil so viele Streichungen und<br />

Änderungen dem richtigen und endgültigen Text gegenüberstehen.<br />

Aber wenn man sich einmal gründlich damit auseinandersetzt, ist<br />

es eigentlich ganz einfach, die Streichungen herauszufiltern und sich<br />

auf das zu konzentrieren, was übrig bleiben soll. Ja, es mag sehr klein<br />

sein und oft gequetscht wirken, aber <strong>Beethoven</strong> achtet immer darauf,<br />

dass, wenn man sich die Zeit nimmt und geduldig bleibt, tatsächlich<br />

alles da ist. Und eine Lupe kann durchaus nichts schaden.<br />

Vermutlich gibt es einige Merkmale seiner Handschrift, an die man<br />

sich erst gewöhnen muss, weil man sonst Fehler macht. <strong>Beethoven</strong><br />

Jonathan Del Mar kann<br />

<strong>Beethoven</strong> lesen<br />

war temperamentvoll, er schrieb sehr schnell, und seine Stakkato-<br />

Zeichen können bisweilen weit von der entsprechenden Note entfernt<br />

sein. Auch seine Bögen fliegen oft wild nach rechts und erwecken<br />

den Eindruck, dass sie eine Note weiter<br />

enden sollten. Häufig ragen seine Bögen weit in<br />

den Rand hinein, und unerfahrene Herausgeber<br />

drucken sie dann bis zur ersten Note des nächsten<br />

Takts auf der nächsten Seite. Dabei passiert<br />

es an so vielen Stellen, dass die nächste Seite mit<br />

einer Pause beginnt. Es ist also eigentlich klar,<br />

dass <strong>Beethoven</strong> das nicht so gemeint hat. Insofern<br />

kann Erfahrung nicht schaden, um manchmal<br />

entscheiden zu können, was die Zeichen bedeuten<br />

sollen. Denn das gehört zu seiner „Musiksprache“<br />

– da gibt es keine Alternative.<br />

Ist es schon passiert, dass Sie auf den zweiten<br />

Blick etwas anderes sahen als auf den ersten?<br />

Da gibt es die Geschichte der berüchtigten<br />

Hornbindungen im Finale der Neunten Sinfonie<br />

(Takte 532 - 540). 1988 habe ich eine Ausgabe<br />

der Neunten aufgenommen. Ich dachte, ich hätte<br />

jede Note gecheckt – und es wurde gespielt.<br />

Als aber der Verlag Bärenreiter kam und wir<br />

über die Veröffentlichung sprachen, dachte ich,<br />

ich sollte noch einmal alles überprüfen, jede Note, jedes Stakkato, jeden<br />

Bogen – alles. Ich schaute also auf diese Seite und sah – nichts.<br />

Ich schaute ein drittes Mal und dachte, ich hätte etwas gesehen. Als<br />

ich ein viertes Mal sehr genau hinsah, erkannte ich schließlich, was<br />

<strong>Beethoven</strong> tatsächlich geschrieben hatte! Es war so außergewöhnlich,<br />

so unerwartet, dass ich nicht glauben konnte, was meine Augen<br />

sahen – weil dies die Musik einer nun wirklich bekannten Passage<br />

vollständig veränderte! Zitternd wandte ich mich der Stichvorlage<br />

zu, vielleicht hatte er es dort geändert. Aber nein, es war noch immer<br />

da. Man sieht also nicht alles beim ersten Mal, aber man muss genauer<br />

und geduldiger arbeiten, als man es jemals für möglich gehalten<br />

hätte. Ich finde immer wieder Dinge, die frühere Verleger übersehen<br />

haben – und fürchte mich vor dem Tag, an dem jemand etwas entdeckt,<br />

was ich übersehen habe. Aber: Wir sind alle nur Menschen.■<br />

Klaus Härtel<br />

Roll over <strong>Beethoven</strong> and<br />

tell Tchaikovsky the news!<br />

Chuck Berry<br />

GEWÖHNUNGSBEDÜRFTIG<br />

Das Grauen auf der Netzhaut! Immer<br />

wieder machen sich Musikliebhaber einen<br />

Spaß daraus, ihre liebsten fürchterlichen<br />

Platten-Cover zu küren. Klar, man soll nicht<br />

nach Äußerlichkeiten urteilen, doch es ist<br />

trotzdem erstaunlich, wie wenig bisweilen<br />

Inhalt und Hülle korrelieren. Auch die<br />

Design-Abteilung des Labels Westminster<br />

Gold geht „andere“ Wege. Auf der Platte<br />

spielt Barenboim das Klavierkonzert Nr. 3<br />

und die Chorfantasie von <strong>Beethoven</strong>. Auf der Hülle funktionierte der<br />

Grafiker Christopher Whorf <strong>Beethoven</strong>-Skulpturen zum BH um. Die<br />

Frage muss erlaubt sein: warum?<br />

FOTOS: UNIVERSAL ATTRACTIONS; MICHAEL SONDERMANN<br />

12 w w w . c r e s c e n d o . d e — Dezember <strong>20</strong>19 – Januar <strong>20</strong><strong>20</strong>

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