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CRESCENDO 7/19&1/20 Sonderausgabe Beethoven

Beethoven! Sonderausgabe zum 250. Geburtstag. Von CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Offizielle Publikation zum Beethovenjahr 2020. Mit großem Veranstaltungsteil.

Beethoven! Sonderausgabe zum 250. Geburtstag.
Von CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Offizielle Publikation zum Beethovenjahr 2020. Mit großem Veranstaltungsteil.

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B E E T H O V E N !<br />

WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH …<br />

… der Boogie-Woogie ?<br />

VON STEFAN SELL<br />

Piet Mondrians<br />

unvollendetes Werk:<br />

Victory Boogie Woogie<br />

Enorm! Enorm! Enorm!“<br />

schwärmte Piet Mondrian, Pionier<br />

des Abstrakten, als er zum<br />

ersten Mal die faszinierende Musik<br />

hörte. Es war die Musik, die zum „Vater des<br />

Rock ’n’ Roll“ wurde. Strawinsky glaubte, sie bei<br />

<strong>Beethoven</strong> zu hören: „Boogie-Woogie!“ Ist es möglich,<br />

bei <strong>Beethoven</strong> etwas zu hören, das eigentlich aus<br />

Amerika kommt? Ja, das ist es, und zwar im zweiten Satz<br />

seiner Klaviersonate Nr. 32, op. 111. Urplötzlich swingt und<br />

groovt es in der dritten Variation seiner Arietta, als hätte <strong>Beethoven</strong><br />

so etwas wie Boogie-Woogie oder Ragtime vorausgeahnt.<br />

Wenn man will, lässt sich im weiteren Verlauf auch schon der Sound<br />

eines Keith Jarrett hören oder in den darauffolgenden konstant<br />

anhaltenden Trillern das mantrisch repetierende Tremolieren eines<br />

Steve Reich oder Philip Glass.<br />

Diese seine letzte, von Thomas Mann literarisch gerühmte<br />

Klaviersonate von 1822, enthält viel Neues und Zukünftiges.<br />

Erstaunlich, dass sie nur zwei Sätze hat. Sein damaliger Verleger<br />

Schlesinger fragte verlegen nach, „ob das Allegro zufällig beim<br />

Notenschreiber vergessen worden“ sei. Eine Menge verminderter<br />

Septakkorde, das Tonart bestimmende c-Moll springt gleich zu<br />

C-Dur, Taktwechsel von 9/16 zu 12/32 und Synkopisches, wie man<br />

es aus der späteren Popularmusik kennt.<br />

Ging es nach dem damaligen Rezensenten der AMZ, muss<br />

<strong>Beethoven</strong> auch Vorreiter in Sachen Weltmusik gewesen sein: „Den<br />

Sinn des fugirten Finale wagt Referent nicht zu deuten: für ihn war<br />

es unverständlich, wie Chinesisch.“ Er spricht von „Instrumenten<br />

in den Regionen des Süd- und Nordpols“, „einer Unzahl von Dissonanzen“,<br />

„babylonischer Verwirrung“, alles in allem von einem<br />

„Concert, woran sich allenfalls die Marokkaner ergötzen können“.<br />

Das klingt nach Crossover, gemeint aber ist das Streichquartett<br />

op. 130 mit der Großen Fuge als Finalsatz, das seine Uraufführung<br />

in Wien am 21. März 1826 hatte.<br />

Das Schuppanzigh-Quartett, auch bekannt als „<strong>Beethoven</strong>sches<br />

Leibquartett“, hatte seit Januar geprobt. Zweiter Geiger war Karl<br />

Holz, ein Freund <strong>Beethoven</strong>s. Von ihm wollte er wissen, worin denn<br />

die Schwierigkeit des Stückes liege? Dessen lapidare Antwort war:<br />

„Im Ganzen.“<br />

<strong>Beethoven</strong> ahnte wohl das Unverständnis voraus und war beim<br />

Konzert gar nicht erst anwesend. Karl Holz erinnerte sich: „<strong>Beethoven</strong><br />

erwartete mich nach der Aufführung im nächstgelegenen<br />

Gasthaus. Ich erzählte ihm, daß die<br />

beiden [Mittel-]Stücke wiederholt<br />

werden mußten. ‚Ja!‘, sagte er hierauf<br />

ärgerlich, ,diese Leckerbissen! Warum<br />

nicht die Fuge?‘“ Da hätte ihm sicherlich<br />

Strawinsky beigestimmt, der wusste: „... dieses<br />

absolut zeitgenössische Musikstück wird für immer<br />

zeitgenössisch sein, (...) diese Fuge, ich liebe sie mehr<br />

als alle anderen“. Besagter Rezensent aber vermutete<br />

sogar: „Vielleicht wäre so manches nicht hingeschrieben<br />

worden, könnte der Meister seine eigenen Schöpfungen auch<br />

hören“, lenkt dann aber wiederum ein: „Doch wollen wir damit<br />

nicht voreilig absprechen: vielleicht kommt noch die Zeit, wo das,<br />

was uns beym ersten Blicke trüb und verworren erschien, klar und<br />

in wohlgefälligen Formen erkannt wird.“ Besser lässt sich das<br />

Zukünftige in der Musik <strong>Beethoven</strong>s nicht beschreiben.<br />

Um den Verkauf der Notenausgabe zu fördern, ließ <strong>Beethoven</strong><br />

sich schließlich überreden, ein neues Finale zu schreiben, und aus<br />

der Großen Fuge wurde ein eigenständiges Werk unter der Opusnummer<br />

133. Karl Holz gestand er später, dass „diese Fuge ein außer<br />

dem Bereich des Gewöhnlichen, ja selbst seiner neuesten ungewöhnlichen<br />

Quartettmusik liegendes Kunstwerk sei, dass es für sich allein<br />

abgesondert dastehen müsse, auch allerdings eine eigene Opuszahl<br />

verdiene“.<br />

<strong>Beethoven</strong> entsprach nie den Erwartungen, im Gegenteil, er<br />

brachte im wahrsten Sinne des Wortes immer etwas Unerhörtes<br />

zutage. Bezogen auf seine Improvisationskunst glaubt man, dass<br />

bei all dem, was <strong>Beethoven</strong> an Einzigartigkeit und Unkonventionellem<br />

hervorgebracht hat, sein größtes Schaffen vermutlich gar<br />

nicht überliefert ist. Es steckte in seinen nicht festgehaltenen Improvisationen<br />

und ist in dieser Hinsicht tatsächlich dem späteren Jazz<br />

verwandt. Der Engländer Johann Baptist Cramer, den <strong>Beethoven</strong><br />

selbst als genialen Pianisten schätzte, brachte diese Kunst auf den<br />

Punkt, indem er bezeugte, „man hätte nicht frei Phantasieren gehört,<br />

wenn man <strong>Beethoven</strong> nicht gehört hätte“.<br />

Schubert hingegen war darüber in seinen jungen Jahren geradezu<br />

verzweifelt: „Wer vermag nach <strong>Beethoven</strong> noch etwas zu<br />

machen?“ Und tatsächlich: <strong>Beethoven</strong>s Werk reicht weit in die<br />

Moderne. Berlioz, Schumann, Liszt, Wagner, Bruckner, Brahms,<br />

Mahler, Strawinsky, Schönberg, Zender, Rihm, John Cage, Pierre<br />

Henry, Uri Caine ... Kaum einer kam und kommt an ihm vorbei –<br />

und dafür wird er gefeiert!<br />

n<br />

68 w w w . c r e s c e n d o . d e — Dezember <strong>20</strong>19 – Januar <strong>20</strong><strong>20</strong>

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