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Stanislaw Lem - Transfer

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gemachten Weg befolgt hatte, weiß ich manchmal nicht ganz, wie das eigentlich zuging; so<br />

Schritt für Schritt konnte ich es noch verstehen, er aber hatte das alles mit einem Sprung<br />

bewältigen müssen. Alle Sterne würde ich dafür geben, einen Monat lang im eigenen Kopf etwas<br />

zu haben, das dem, was er darin hatte, auch nur ähnlich wäre...<br />

Das Signal sang zum Abendessen, zugleich fühlte ich einen Stich im Herzen bei dem Gedanken,<br />

dass ich hier nicht mehr allein war. Eine Sekunde lang dachte ich daran, vielleicht doch oben zu<br />

essen. Aber dann schämte ich mich dieser Idee. Dieses schreckliche Trikot, das aus mir einen<br />

aufgeblasenen Affen machte, warf ich unters Bett, zog meine liebe, alte und weite Jacke an und<br />

ging ins Speisezimmer hinunter.<br />

Die beiden anderen saßen schon am Tisch. Außer einigen Höflichkeitsfloskeln herrschte<br />

Schweigen. Denn auch sie sprachen eigentlich nicht. Sie brauchten keine Worte. Sie verstanden<br />

sich durch Blicke, sie sprach zu ihm durch eine Kopfbewegung, einen Wimpernschlag, ein<br />

flüchtiges Lächeln. Langsam begann in mir eine kalte Schwere aufzusteigen. Ich fühlte meine<br />

Hände hungrig werden, sie verlangten etwas zu fassen, festzuhalten, zu zerdrücken. >Warum bin<br />

ich bloß so wild?< dachte ich verzweifelt. >Warum - statt an das Ferret-Buch, an die Probleme zu<br />

denken, die von Starck gezeigt wurden- muss ich mich zusammennehmen, um dieses Mädchen<br />

nicht wie ein Wolf anzuglotzen?<<br />

Aber das war noch gar nichts. Einen wirklichen Schreck bekam ich erst, als ich die Tür meines<br />

Zimmers oben hinter mir schloss. Im ADAPT wurde mir nach den Untersuchungen gesagt, ich<br />

wäre völlig normal. Doktor Juffon sagte mir dasselbe. Konnte aber ein normaler Mensch derartige<br />

Gefühle haben wie ich in diesem Augenblick? Woher kam das? Ich war nicht aktiv – ich war nur<br />

ein Zeuge. Es geschah da etwas Unwiderrufliches, wie die Bewegung eines Planeten, fast<br />

unmerklich, etwas noch Gestaltloses tauchte da langsam auf. Ich trat ans Fenster, sah in den<br />

dunklen Garten und begriff, dass dies seit dem Mittagessen schon in mir stecken musste. Es<br />

brauchte nur noch eine gewisse Zeit. Daher war ich in die Stadt gefahren, daher vergaß ich die<br />

Stimmen aus der Dunkelheit.<br />

Zu allem war ich fähig. Für dieses Mädchen. Ich konnte nicht begreifen, warum es so war. Ich<br />

wusste nicht, ob das Liebe oder Irrsinn bedeutete. Es war mir egal. Nichts wusste ich, außer dass<br />

alles andere nicht mehr für mich zählte. Ich kämpfte damit, am offenen Fenster stehend, wie ich<br />

noch nie etwas bekämpft hatte, drückte die Stirn an den kalten Fensterrahmen und bekam<br />

schreckliche Angst vor mir selbst.<br />

Meine Lippen formten lautlos Worte: »Ich muss etwas tun, muss etwas tun. Es ist wohl deshalb,<br />

weil mir etwas fehlt. Das wird vergehen. Sie kann mich nicht interessieren. Ich kenne sie ja nicht.<br />

Sie ist auch nicht besonders hübsch. Ich werde doch nicht«, beschwor ich mich selbst, »...ihr<br />

großen, schwarzen und blauen Himmel!«<br />

Ich machte Licht. Olaf. >Olaf wird mich retten. Ich werde ihm alles sagen. Er nimmt mich mit.<br />

Wir werden irgendwohin fahren. Ich werde alles tun, was er mir sagt, alles. Er allein wird es<br />

verstehen. Und kommt schon morgen. Wie gut.< Ich irrte im Zimmer umher. Spürte sämtliche<br />

Muskeln, sie waren wie Tiere: spannten sich, kämpften miteinander. Plötzlich fiel ich vor dem<br />

Bett auf die Knie, biss in die Decke und schrie ganz merkwürdig auf, es war einem Schluchzen<br />

nicht ähnlich, trocken, ekelhaft. Ich wollte ja niemandem ein Leid antun, wusste aber, dass ich<br />

mich selbst nicht zu belügen brauchte, dass auch Olaf nicht helfen würde, niemand.<br />

Ich stand auf. Innerhalb von zehn Jahren hatte ich gelernt, selbständige Entscheidungen zu treffen.<br />

Ich musste über mein eigenes und das Leben anderer entscheiden und tat es, stets auf die gleiche<br />

Art. In solchen Augenblicken war ich voller Kälte, mein Hirn wurde zu einer Vorrichtung, die nur<br />

dazu diente, das Für und Wider zusammenzuzählen, zu teilen und unwiderruflich zu entscheiden.<br />

Sogar Gimma, der mich nicht mochte, gab zu, dass ich unparteiisch war. Jetzt, selbst wenn ich<br />

gewollt hätte, könnte ich auch nicht anders vorgehen als damals in extremen Fällen: denn auch<br />

dies war ein extremer Fall.<br />

Im Spiegel fand ich mit den Augen das eigene Gesicht, die hellen, fast weißen Pupillen, die<br />

zusammengezogene Iris, ich sah es mit Hass, drehte mich um, konnte nicht einmal daran denken,<br />

ins Bett zu gehen. So wie ich dastand, warf ich die Beine über das Fensterbrett. Bis zur Erde<br />

waren es vier Meter. Ich sprang und landete fast geräuschlos. Leise lief ich in Richtung<br />

Schwimmbecken. Und daran vorbei. Ich gelangte auf den Weg. Die leicht Phosphoreszierende

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