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Stanislaw Lem - Transfer

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nachdem sie bis zu der Tiefe der Metagalaxis gelangt war, auf die Erde zurückzukehren. Jedoch<br />

mussten inzwischen auf der Erde nicht nur Hunderte, sondern Millionen von Jahren verflossen<br />

sein. Die von den Rückkehrern vorgefundene Zivilisation könnte sie nicht mehr aufnehmen. Ein<br />

Neandertaler hätte sich eher an die Lebensart unserer Zeit gewöhnt.<br />

Das war aber noch nicht alles. Es ging ja nicht um das Los einer Menschengruppe. Durch sie<br />

stellte die Menschheit Fragen, auf die von ihren Vorboten eine Antwort gegeben werden sollte.<br />

Betraf diese Antwort Dinge, die mit der Entwicklungsstufe der Zivilisation zusammenhingen, so<br />

musste die Menschheit sie noch vor ihrer Rückkehr erlangen. Denn von der Fragestellung bis zur<br />

Ankunft einer Antwort mussten ja Millionen von Jahren vergehen.<br />

Auch das war noch zu wenig. Die Antwort war nicht mehr aktuell, war schon tot; denn sie brachte<br />

Nachrichten über den Zustand der anderen, außergalaktischen Zivilisation aus einer Zeit, in der<br />

sie an das andere Sternenufer gelangt waren. Während ihres Rückfluges stand aber jene Welt<br />

nicht still, sondern ging vorwärts um eine, um zwei, drei Millionen von Jahren. Die Fragen und<br />

Antworten verfehlten sich daher im Zickzack, unterlagen einer Verspätung von Hunderten von<br />

Zeitaltern, die sie durchstrich, die jeglichen Austausch von Erfahrungen, Werten und Gedanken<br />

zu einer Fiktion machte. Zu einem Nichts. Sie waren also Vermittler und Zusteller toter Inhalte<br />

und ihr Werk ein Akt rücksichtsloser und unwiderruflicher Entfremdung aus der Geschichte der<br />

Menschheit. Die Weltallexpeditionen bildeten eine bisher unbekannte Art, die kostspieligste von<br />

allen möglichen Arten von Fahnenflucht auf dem Gebiet der geschichtlichen Veränderungen.<br />

Und für einen solchen Wahnwitz, für einen solchen niemals lohnenden, stets vergeblichen Irrsinn<br />

sollte die Erde mit der höchsten Anspannung aller Kräfte arbeiten und ihre besten Menschen<br />

hergeben?<br />

Das Buch schloss mit einem Kapitel über die Expeditionsmöglichkeiten mit Hilfe der Roboter. Sie<br />

würden selbstverständlich auch nur tote Inhalte vermitteln, doch konnte man auf diese Art die<br />

Opfer an Menschen vermeiden.<br />

Dann gab es noch einen Anhang von drei Seiten, den Versuch einer Antwort auf die Frage, ob es<br />

eine Möglichkeit der Reisen mit Überlichtgeschwindigkeiten gebe, gar vielleicht eine des<br />

sogenannten »momentanen Kosmos-Kontakts« - das heißt, der Überschreitung des Weltallraums<br />

ohne oder fast ohne Zeitverlust, dank den noch unbekannten Eigenschaften der Materie und des<br />

Raums, durch irgendeinen »Fernkontakt«. Diese Theorie, vielmehr diese Hypothese, die sich auf<br />

fast gar keine Tatsachen stützte, hatte ihren Namen: Teletaxie. Starck meinte, im Besitz eines<br />

Argumentes zu sein, das auch diese letzte Chance zunichte machte. Würde sie nämlich bestehen -<br />

behauptete er -, so hätte sie zweifellos irgendeine der höchstentwickelten Zivilisationen unserer<br />

Galaxis- oder auch der anderen - entdeckt. Ihre Vertreter könnten dann in diesem Fall in einer<br />

recht kurzen Zeit sämtliche Planetensysteme und Sonnen - die unsere mitinbegriffen -<br />

»fernbesuchen«. Die Erde hat aber bisher einen solchen »Telebesuch« nicht erfahren, was den<br />

Beweis erbringt, dass jene blitzartige Art der kosmischen Reisen sich wohl denken, nie aber<br />

verwirklichen lässt.<br />

Ich kehrte heim, betäubt, mit einem fast kindlichen Gefühl persönlicher Kränkung. Starck, dieser<br />

Mensch, den ich nie gesehen hatte, verletzte mich wie kein anderer. Meine unzulängliche<br />

Zusammenfassung kann nicht die rücksichtslose Logik seiner Ausführungen wiedergeben. Ich<br />

weiß nicht mehr, wie ich in mein Zimmer kam, wie ich mich umzog - plötzlich hatte ich Lust auf<br />

eine Zigarette und merkte, dass ich sie seit langem schon rauchte, auf meinem Bett<br />

zusammengekauert, als wartete ich auf etwas.<br />

Ach, ja: das Mittagessen. Das gemeinsame Mittagessen. Es war so: Ich hatte ein bisschen Angst<br />

vor den Menschen. Ich gab es nicht einmal vor mir selbst zu. Darum hatte ich so schnell<br />

zugestimmt, die Villa mit Fremden zu teilen. Vielleicht hatte die Tatsache, dass ich diese Fremden<br />

erwartete, meine unheimliche Eile hervorgerufen, als ob ich mit allem fertig werden, mich auf<br />

ihre Anwesenheit vorbereiten müsste, durch Bücher in die Geheimnisse des neuen Lebens<br />

eingeführt.<br />

Am Morgen dieses Tages hätte ich mir das vielleicht nicht so deutlich gesagt. Nach dem Buch<br />

von Starck verließ mich aber plötzlich das Lampenfieber vor der Begegnung. Ich nahm aus dem<br />

Leseapparat das bläuliche, kornartige Kristall und legte es, voller Furcht und Staunen, auf den<br />

Tisch. Dieses kleine Ding hatte mich k. o. geschlagen. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr

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