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Stanislaw Lem - Transfer

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Im Geschichtsbuch fand ich endlich Informationen über das andere, zweitgrößte Geschehen aus<br />

dem vorigen Jahrhundert. Es war dies die Bewältigung der Gravitation. Man hat diese Zeit sogar<br />

»Jahrhundert der Parastatik« genannt. Meine Generation träumte von der Bewältigung der<br />

Gravitation in der Hoffnung, dass dies eine totale Umwälzung in der Astronautik bringen würde.<br />

Die Realität zeigte es anders. Die Umwälzung kam zwar, hatte aber vor allem die Erde betroffen.<br />

Ein Schrecken meiner Zeit war das Problem des »Friedenstodes«, der durch Verkehrsunfälle<br />

verursacht wurde. Ich weiß noch, wie sich die findigsten Köpfe anstrengten, um durch Entlastung<br />

der immerfort vollgestopften Bahnen und Straßen nur ein klein wenig die stets anwachsende<br />

Statistik der Unfälle zu vermindern; Jahr für Jahr kamen Hunderttausende von Menschen bei<br />

Katastrophen um, dieses Problem schien unlösbar wie die Quadratur des Kreises. »Es gibt kein<br />

Zurück zur Sicherheit des Fußgängers«, hieß es, »das beste Flugzeug, der stärkste Wagen oder<br />

Zug kann aus der Kontrolle der Menschen geraten - die Automaten sind sicherer als der Mensch,<br />

aber auch sie gehen kaputt; also jede, auch die vollkommenste Technik stellt einen gewissen<br />

Toleranzbereich, einen Prozent von Fehlern dar.«<br />

Die Parastatik, die Gravitationswissenschaft, brachte eine so unerwartete wie notwendige Lösung.<br />

Die Welt der Betrisierten musste ja eine Welt der völligen Sicherheit sein: anders wäre die<br />

biologische Vollkommenheit dieses Eingriffs in der Luft hängengeblieben. Roemer hatte recht.<br />

Das Wesen dieser Entdeckung konnte nicht mehr anders als durch Mathematik - eine höllische<br />

Mathematik, will ich gleich hinzufügen- zum Ausdruck gebracht werden. Eine ganz allgemeine<br />

»für alle nur möglichen Weltallarten« gültige Lösung hat Emil Mitke, der Sohn eines<br />

Postbeamten, ein verkrüppeltes Genie, gegeben, der mit der Relativitätstheorie das gleiche tat wie<br />

Einstein mit der Theorie von Newton. Es war eine lange, ungewöhnliche und wie jede wahre ganz<br />

unwahrscheinliche Geschichte, eine Vermischung geringfügiger und gewichtiger Dinge, der<br />

menschlichen Lächerlichkeit mit der menschlichen Größe, die endlich nach vierzig Jahren in der<br />

Entstehung der »kleinen schwarzen Kästchen« kulminierte.<br />

Diese kleinen schwarzen Kästchen musste ausnahmslos jedes Fahrzeug, jedes Wasser- oder<br />

Luftschiff besitzen: sie garantierten - wie Mitke scherzhaft an seinem Lebensabend bemerkte - das<br />

diesseitige Heil; bei der Gefahr - dem Absturz eines Flugzeugs, dem Zusammenstoß von Autos<br />

oder Zügen, kurz, bei einer Katastrophe - lösten sie eine Ladung des »Gravitation-Antifeldes« aus,<br />

das bei seiner Entstehung und Verbindung mit der durch den Zusammenstoß - allgemein<br />

ausgedrückt: durch eine plötzliche Dezeleration, Verlust an Geschwindigkeit - entstandenen<br />

Trägheit im Endergebnis eine Null ergab. Diese mathematische Null war durchaus eine Realität:<br />

sie absorbierte den ganzen Schock, die gesamte Energie des Unfalls und rettete auf diese Weise<br />

nicht nur die Passagiere des Fahrzeugs, sondern auch diejenigen, auf die anderenfalls seine blinde<br />

Masse stürzen würde.<br />

Die »schwarzen Kästchen« gab es überall: sogar in den Hebekränen, in Fahrstühlen, in den<br />

Gürteln der Fallschirmspringer, in den Ozeandampfern und in den Mopeds. Ihre einfache<br />

Konstruktion war ebenso staunenswert wie die Kompliziertheit der Theorie, durch die sie<br />

entstanden war.<br />

Der Morgen rötete schon die Wände meines Zimmers, als ich todmüde auf mein Bett fie l mit dem<br />

Bewusstsein, die zweite und nach der Betrisierung größte Revolution des Zeitalters meiner<br />

irdischen Abwesenheit kennengelernt zu haben.<br />

Geweckt wurde ich von dem Roboter, der mit dem Frühstück ins Zimmer kam. Es war schon fast<br />

ein Uhr. Ich setzte mich im Bett auf und versicherte mich unter der Hand, das in der letzten Nacht<br />

zur Seite gelegte Werk »Problematik der Sternflüge« von Starck zu haben.<br />

»Sie sollten zu Abend essen, Herr Bregg«, sagte der Roboter vorwurfsvoll, »sonst verlieren Sie<br />

Ihre Kräfte. Auch das Lesen bis zum Morgengrauen ist nicht empfehlenswert. Die Ärzte sind sehr<br />

schlecht darauf zu sprechen - wissen Sie es?«<br />

»Schon, aber woher weißt du denn das?« fragte ich.<br />

»Es ist meine Pflicht, Herr Bregg.«<br />

Er reichte mir das Tablett.<br />

»Ich will versuchen, mich zu bessern«, sagte ich.<br />

»Ich hoffe, dass Sie eine Freundlichkeit, die durchaus keine Aufdringlichkeit bedeuten möchte,<br />

nicht missverstanden haben«, erwiderte er.

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