Stanislaw Lem - Transfer
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wohl das Eigenartigste, was ich je las. Keiner konnte sie durchbrechen, doch der Bericht über die<br />
Erlebnisse, die solche Versuche begleiteten, war bei jedem verschieden. Bei den einen überwogen<br />
psychische Erscheinungen: das Verlangen, aus der Situation, in die man sie gestellt hatte, zu<br />
fliehen. Die Wiederholung der Versuche rief bei dieser Gruppe starke Kopfschmerzen hervor, und<br />
die hartnäckige Wiederkehr dieser Schmerzen führte endlich zu einer Neurose, die sich aber<br />
schnell heilen ließ. Bei anderen dominierten körperliche Erscheinungen: Atemnot, Asthma; dieser<br />
Zustand erinnerte an Angst, jedoch klagten die Menschen nicht über Angst, sondern über<br />
körperliche Beschwerden.<br />
Wie Pilgrin in seinen Untersuchungen feststellte, war die Durchführung eines Scheinmordes- zum<br />
Beispiel an einer Puppe- bei 18 Prozent der Betrisierten möglich, doch mussten sie dabei absolut<br />
sicher sein, dass sie es mit einem toten Gegenstand zu tun hatten. Das Verbot umfasste alle höher<br />
entwickelten Tiere, aber Reptilien und Amphibien wie auch Insekten nicht mehr.<br />
Selbstverständlich fehlte den Betrisierten ein wissenschaftliches Wissen über die zoologische<br />
Systematik. Das Verbot war ganz einfach mit dem Grad der Menschenähnlichkeit verbunden, den<br />
man allgemein annimmt. Da jeder Mensch den Hund für ein den Menschen näherstehendes Tier<br />
hält als eine Schlange, war die Sache dadurch erklärt.<br />
Ich las noch eine Menge anderer Arbeiten und gab denen recht, die behaupteten, dass einen<br />
Betrisierten introspektiv nur ein anderer Betrisierter verstehen kann. Ich legte diese Arbeiten mit<br />
gemischten Gefühlen aus der Hand. Am meisten war ich durch das Fehlen kritischer<br />
Bearbeitungen beunruhigt, irgendeiner Analyse, die sämtliche negativen Folgen dieses Eingriffs<br />
zusammenfassen würde, da ich keinen Augenblick zweifelte, dass es solche auch geben musste.<br />
Nicht aus Mangel an Erfahrung und Achtung den Forschern gegenüber, sondern einfach darum,<br />
weil das Wesen allen menschlichen Tuns so ist: nie gibt es etwas Gutes oder Böses.<br />
Ein kleiner soziographischer Umriss von Murwick enthielt zahlreiche interessante Angaben über<br />
die Widerstandsbewegung gegen die Betrisierung, die ihren Anfang begleitete. Am stärksten war<br />
sie wohl in den Ländern mit einer langjährigen Tradition blutiger Kämpfe, wie Spanien und<br />
gewissen Staaten Lateinamerikas. Illegale Organisationen für den Kampf gegen die Betrisierung<br />
entstanden übrigens fast in der ganzen Welt, besonders in Südafrika, in Mexiko und auf gewissen<br />
Tropeninseln. Man bediente sich dabei sämtlicher Mittel, von der Fälschung ärztlicher Atteste<br />
über vorgenommene Eingriffe bis zur Ermordung der Ärzte, die solche Eingriffe vornahmen.<br />
Als die Zeit des massiven Widerstandes und der heftigen Zusammenstöße vorbei war, kam es zu<br />
einer illusorischen Ruhe. Illusorisch war sie deshalb, weil sich erst dann ein Konflikt der<br />
Generationen abzuzeichnen begann. Die junge, betrisierte, verwarf beim Heranwachsen den<br />
größten Teil der menschlichen Errungenschaften- Bräuche, Gewohnheiten, Kunst, das ganze<br />
Kulturerbe wurde in einer erschütternden Art und Weise umgewertet. Die Veränderung umfasste<br />
zahlreiche Gebiete, von der Erotik über die gesellschaftlichen Gewohnheiten bis zur Einstellung<br />
zum Krieg.<br />
Selbstverständlich erwartete man eine große Teilung der Völker. Das Gesetz wurde - seinem<br />
Buchstaben gemäß - erst fünf Jahre nach seiner Entstehung gültig. Diese ganze Zeit hindurch<br />
wurden Riesenkader von Erziehern, Psychologen und Spezialisten ausgebildet, die für die richtige<br />
Entwicklung der neuen Generation sorgen sollten. Vonnöten waren eine vollständige<br />
Schulreform, Repertoireänderungen bei Aufführungen, Lesethemen, Filmen. Die Betrisierung -<br />
um in kurzen Worten die Skala dieses Umschwungs zu zeigen - verschlang in den ersten zehn<br />
Jahren vierzig Prozent des Nationaleinkommens der gesamten Erde, infolge ihrer zahlreichen und<br />
verzweigten Konsequenzen und Notwendigkeiten.<br />
Es war eine Zeit großer Tragödien. Die betrisierte Jugend wurde den eigenen Eltern fremd. Teilte<br />
ihre Interessen nicht mehr. Verabscheute ihren blutigen Geschmack. Ein Vierteljahrhundert lang<br />
mussten zweierlei Arten von Zeitschriften, Büchern, Theaterstücken eingeführt werden: die eine<br />
für die alte, die andere für die neue Generation.<br />
All das geschah vor achtzig Jahren. Gegenwärtig wurden Kinder der dritten betrisierten<br />
Generation geboren, und von den Nichtbetrisierten war nur ein winziges Häuflein am Leben: es<br />
waren schon hundertdreißigjährige Greise. Das, was der Inhalt ihrer Jugend gewesen war, schien<br />
der jungen Generation genauso fern wie die Traditionen der Steinzeit.