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Stanislaw Lem - Transfer

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der UNO. Eine Zeitlang irrte er von einem Ausschuss zum anderen, und es sah fast so aus, als ob<br />

er in endlosen Beratungen untergehen sollte. Die experimentellen Arbeiten wurden aber ziemlich<br />

rege vorangetrieben, man führte Verbesserungen ein, machte Massenexperimente an Tieren,<br />

später auch an Menschen. Zuerst haben sich die Verfasser selbst diesem Eingriff unterworfen -<br />

Trimaldi war eine Zeitlang gelähmt, man kannte damals noch nicht die Gefahren, mit denen die<br />

Betrisierung erwachsenen Menschen drohte, und dieser fatale Unfall hielt die ganze Sache weitere<br />

acht Jahre auf.<br />

Aber im Jahre siebzehn nach Null- dies war meine private Zeitrechnung: Null bedeutete den Start<br />

des »Prometheus« - wurde der Beschluss über die Einführung der Betrisierung gefasst; dies war<br />

der Beginn und nicht das Ende des Kampfes um eine Humanisierung der Menschheit - wie das<br />

Schulbuch verkündete. In zahlreichen Ländern wollten die Eltern ihre Kinder dem Eingriff nicht<br />

unterziehen, und die ersten Betrostationen wurden zu Angriffsobjekten. Viele von ihnen wurden<br />

vollständig vernichtet. Die Zeit des Aufruhrs, der Repressalien, des Zwangs und Widerstands<br />

dauerte zwanzig Jahre. Das Schulbuch berichtete darüber - aus wohlverständlichen Gründen - nur<br />

ganz allgemein. Ich nahm mir vor, nähere Einzelheiten an den Quellen zu suchen, ohne aber jetzt<br />

die Lektüre zu unterbrechen. Eine Änderung in der Haltung der Menschen hatte sich erst dann<br />

ergeben, als die erste betrisierte Generation bereits Kinder hatte. Über die biologische Seite des<br />

Eingriffs berichtete das Büchlein nichts. Dafür gab es mehrere Loblieder zu Ehren von Bennet,<br />

Trimaldi und Sacharow. Es gab einen Vorschlag, die Zeitrechnung der Neuen Ära bei der<br />

Einführung der Betrisierung anzufangen, das kam aber nicht durch. Die Zeitrechnung hat sich<br />

nicht geändert. Aber die Menschen änderten sich. Das Kapitel schloss mit pathetischen Worten<br />

von der Neuen Ära des Humanismus.<br />

Ich suchte eine von Ullrich geschriebene Betrisierungsmonographie heraus. Wieder nichts als<br />

Mathematik, aber ich beschloss, mich da durchzukauen. Der Eingriff wurde nicht - wie ich<br />

insgeheim befürchtete - am Erbplasma vorgenommen. Wäre es übrigens so gewesen, dann müsste<br />

man nicht mehr jede kommende Generation betrisieren. Daran dachte ich mit Hoffnung. Immer<br />

also blieb - zumindest theoretisch - eine Rückzugsmöglichkeit. Man hatte auf das sich<br />

entwickelnde Vorderhirn - in einer frühen Lebensphase - mit einer Gruppe proteolytischer<br />

Enzyme eingewirkt. Die Resultate waren unterschiedlich: eine Reduzierung der Aggressionstriebe<br />

von 80 bis 88 Prozent im Vergleich zu den Nichtbetrisierten; Ausschluss der Entstehung<br />

assoziativer Verbindungen zwischen den Aggressionsakten und dem Bereich positiver Gefühle;<br />

Reduzierung der Möglichkeiten einer Aufnahme des persönlichen Lebensrisikos im Durchschnitt<br />

um 87 Prozent.<br />

Als größte Errungenschaft wurde betont, dass diese Veränderungen die Entwicklung der<br />

Intelligenz und die Gestaltung der Persönlichkeit nicht nachteilig beeinflussten und - was<br />

vielleicht noch wichtiger war - die entstandenen Beschränkungen nicht nach dem Prinzip von<br />

Angstverkopplungen funktionierten. Mit anderen Worten: der Mensch unterließ das Töten nicht<br />

deshalb, weil er vor der Tat selbst Angst hatte. Eine derartige Form würde Neurosen verursachen<br />

und die ganze Menschheit verängstigen. Er tat dies nicht mehr, weil es »ihm nicht in den Sinn<br />

kommen konnte«.<br />

Ein Satz von Ullrich sagte mir zu: »Die Betrisierung verursacht den Aggressivitätsschwund durch<br />

Mangel an Antrieb, nicht durch Verbot.« Nach einigem Nachdenken fand ich aber, dass dies das<br />

Wichtigste nicht erklärte, nämlich den Gedankenverlauf eines der Betrisierung unterzogenen<br />

Menschen. Diese Menschen waren ja völlig normal, konnten sich also alles, daher auch einen<br />

Mord vorstellen. Was verhinderte also eine Verwirklichung? Auf diese Frage suchte ich eine<br />

Antwort, bis es dunkel wurde. Wie es meistens bei wissenschaftlichen Problemen vorkommt,<br />

komplizierte sich das, was in einer summarischen Besprechung oder Kurzfassung relativ einfach<br />

und klar erscheint, um so mehr, je genauere Erklärungen ich forderte.<br />

Das singende Signal rief mich zum Abendessen - ich bat, es mir aufs Zimmer zu bringen, rührte<br />

es aber nicht einmal an. Wissenschaftliche Erklärungen, die ich endlich fand, deckten sich nur<br />

unvollständig. Eine ekelähnliche Repulsion, höchste Aversionsstufe, die auf eine für einen<br />

Nichtbetrisierten unverständliche Art noch gesteigert wurde, am interessantesten waren die<br />

Aussagen der Untersuchten, die seinerzeit - vor achtzig Jahren - im Trimaldi-Institut bei Rom die<br />

Aufgabe hatten, die unsichtbare, in ihren Gehirnen errichtete Schranke zu durchbrechen. Das war

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