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Stanislaw Lem - Transfer

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zwinkerten. Nein, es war keine Illusion: die Augen ihres Kleides öffneten und schlossen sich<br />

wirklich. Der Gehsteig, auf dem ich hinter den beiden anderen unter Dutzenden von Menschen<br />

stand, beschleunigte seine Fahrt noch mehr. Zwischen weißrauchigen Glasflächen öffneten sich<br />

bunt beleuchtete Passagen mit durchsichtigen Decken, die ohne Unterlass durch Hunderte von<br />

Füßen auf dem höheren, nächsten Stock getreten wurden; das allumfassende Rauschen ergoss<br />

oder verdichtete sich wieder, wenn Tausende mir unverständliche, menschliche Stimmen und<br />

Töne - die aber für die anderen von Bedeutung waren- wieder von einem Tunnel auf dieser Reise<br />

mit unbekanntem Ziel verschluckt wurden. Tiefer, auf weiteren Ebenen, wurde die Umgebung<br />

ständig von vorbeifliegenden, mir unbekannten Fahrzeugen durchkreuzt- vielleicht Flugkörpern –<br />

da sie manchmal schräg nach oben oder nach unten gingen, sich in den Raum hineinbohrten,<br />

derart, dass ich instinktiv einen fürchterlichen Zusammenprall erwartete, denn ich sah keine<br />

Führungsschiene, überhaupt keine Schienen -, falls es Luftbahnen sein sollten. Hörten diese<br />

verschwommenen Orkane der Eile auch nur für einen Augenblick auf, So tauchten hinter ihnen<br />

majestätisch langsame Riesenebenen voller Menschen auf, wie fliegende Landungsplätze, die in<br />

verschiedene Richtungen führten, sich kreuzten, schwebten, durch perspektivische Täuschung<br />

ineinander überzugehen schienen. Das Auge fand kaum einen Ruhepunkt, weil die gesamte<br />

Architektur der Umgebung einzig aus Bewegung zu bestehen schien, aus Veränderungen. Sogar<br />

das, was ich ursprünglich für eine fliegende Decke hielt, bestand aus übereinander hängenden<br />

Stockwerken. Plötzlich drang in alle Biegungen der Ebene, ins Innere der Tunnel, durch die wir<br />

flogen, in die Gesichtszüge der Menschen, durch die Glasdecken und rätselhaften Säulen filtriert,<br />

von den silbernen Flächen reflektiert, ein schwerer, purpurner Glanz, als ob irgendwo in der<br />

Ferne, in der Mitte dieses Riesenbaues, ein Atomfeuer ausgebrochen wäre. Das Grün der<br />

immerfort hüpfenden Neonlichter wurde schmutzig, die Milch der parabelförmigen Stützpfeiler<br />

färbte sich rosig. Ich betrachtete diese plötzliche Sättigung der Luft mit einem roten Schein als<br />

Anzeichen einer Katastrophe. Aber niemand beachtete die Veränderung im geringsten, und ich<br />

selbst könnte nicht einmal sagen, wann sie aufgehört hat. An den Rändern unseres Gehsteigs<br />

erschienen schnell rotierende grüne Kreise, wie in der Luft hängende Neonringe. Dann ging ein<br />

Teil der Menschen auf die heranrückende Abzweigung eines anderen Steigs oder einer schiefen<br />

Ebene; ich sah, dass man die grünen Linien gefahrlos überqueren konnte, als ob sie nicht materiell<br />

wären. Ich ließ mich eine Zeitlang willenlos von dem weißen Gehsteig tragen, bis mir die Idee<br />

kam, dass ich vielleicht schon außerhalb des Bahnhofs wäre und diese unglaubwürdige<br />

Landschaft aus verschiedenartig gebogenem Glas, das ständig fast wie zu einem Flug anhob, eben<br />

die Stadt war - die andere aber, die ich verließ, womöglich nur in meinem Gedächtnis existierte.<br />

»Entschuldigung«, tippte ich die Schulter des pelzgeschmückten Mannes, »wo sind wir?«<br />

Beide sahen sie mich an. Ihre Gesichter, die sie mir entgegenhoben, trugen den Ausdruck von<br />

Überraschung. Ich hegte die schwache Hoffnung, dass dies nur durch meine Größe verursacht<br />

würde.<br />

»Auf dem Polydukt«, sagte der Mann. »Welchen Kontakt haben Sie?«<br />

Ich verstand überhaupt nichts.<br />

»Sind wir, sind wir noch auf dem Bahnhof?«<br />

»Klar...«, erwiderte er, doch etwas zögernd.<br />

»Und... wo befindet sich der Innere Kreis?«<br />

»Den haben Sie bereits verpasst. Sie müssen wiederholen.«<br />

»Einen besseren Raster bekommen Sie vom Merid«, mischte sich da die Frau ein. Alle Augen<br />

ihres Kleides schienen mich mit misstrauischem Staunen zu betrachten. »Raster?« wiederholte ich<br />

ratlos.<br />

»Ja, dort«, sie zeigte auf eine durch den heranschwimmenden grünen Kreis sichtbare leere<br />

Anhöhe mit schwarz-silbrigen, gestreiften Seiten, wie der Rumpf eines etwas komisch<br />

angemalten, auf der Seite liegenden Schiffs. Ich dankte und ging vom Gehsteig weg, wohl an der<br />

falschen Stelle, da mir die Geschwindigkeit fast die Beine lähmte. Ich fing mich wieder, erlangte<br />

das Gleichgewicht, drehte mich dabei aber derart, dass ich nicht wusste, nach welcher Seite ich<br />

jetzt gehen sollte. Ich überlegte, was da zu tun wäre. Inzwischen hatte sich der Ort meines<br />

Umsteigens ziemlich weit von der schwarz-silbrigen Anhöhe entfernt, die mir die Frau gezeigt<br />

hatte, ich konnte sie nicht mehr finden. Da die Mehrheit der neben mir Stehenden auf eine schiefe

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