Stanislaw Lem - Transfer
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Piloten, der sich zwischen den gähnenden kosmischen Nebeln mit theoretischen Studien über die<br />
Unendlichkeit befasste. Total verlogen. Denn - am Ende -, was war es schon? Konnte sich etwa<br />
ein Schiffbrüchiger, der monatelang auf den Meeren umherirrte und - um nicht verrückt zu<br />
werden - Tausende von Malen die Anzahl der Holzfasern berechnete, aus denen sein Floß<br />
bestand, dessen rühmen, wenn er wieder auf festem Land stand? Dessen, was ihm an Willenskraft<br />
reichte, um sich zu retten? Na - und? Was ging das irgend jemanden an? Was konnte es einen<br />
schon interessieren, mit welchen Dingen ich mein unglückseliges Hirn innerhalb dieser zehn Jahre<br />
vollstopfte, und warum sollte das wichtiger sein als das, was meine Gedärme füllte? >Man muss<br />
diesem asketischen Heldenspiel ein Ende machenDas werde ich mir leisten<br />
können, wenn ich so aussehe wie er. Jetzt muss ich an die Zukunft denken.<<br />
»Helfen Sie mir aufzustehen«, flüsterte er.<br />
Ich brachte ihn zum Glider, der auf der Straße stand. Wir gingen äußerst langsam. Da wo es<br />
zwischen den Hecken hell war, folgten uns die Blicke der Menschen. Ehe er in den Glider stieg,<br />
drehte er sich um, wollte sich von mir verabschieden. Weder er noch ich fanden dabei ein einziges<br />
Wort. Er machte irgendeine unverständliche Handbewegung, aus seiner Hand wuchs wie ein<br />
Degen einer seiner Stöcke hervor, er bewegte den Kopf, stieg ein, und das dunkle Fahrzeug setzte<br />
sich lautlos in Bewegung. Er war fortgeschwommen, und ich stand mit herabhängenden Armen<br />
da, bis der schwarze Glider in einem Rudel anderer verschwand. Dann steckte ich die Hände in<br />
die Hosentaschen und ging vorwärts, ohne eine Antwort auf die Frage finden zu können, wer von<br />
uns wohl die bessere Wahl getroffen hatte.<br />
Die Tatsache, dass von der Stadt, die ich einst verließ, nicht ein Stein auf dem anderen geblieben<br />
war, fand ich gut. Als ob ich damals auf einer anderen Erde, unter ganz anderen Menschen gelebt<br />
hätte; das hat einmal angefangen und ging endgültig zu Ende; und dies hier war neu. Gar keine<br />
Überbleibsel, keine Ruinen, die mein biologisches Alter in Frage stellen konnten. Ich konnte<br />
diesen irdischen Ausgleich ganz vergessen, der ja so wider die Natur war - bis mich dieser<br />
unwahrscheinliche Zufall mit jemandem zusammenbrachte, den ich einst verließ, als er noch ein<br />
kleines Kind war. Die ganze Zeit, als ich neben ihm saß, seine vertrockneten, mumienartigen<br />
Hände, sein Gesicht betrachtete, fühlte ich mich schuldig und wusste auch, dass er es wusste.<br />
»Was für ein unwahrscheinlicher Zufall« - wiederholte ich fast gedankenlos einige Male. Bis ich<br />
gewahr wurde, dass ihn eben derselbe Grund dorthin geführt haben konnte wie mich: dort wuchs<br />
ja die Kastanie, ein Baum, der noch älter war als wir beide. Ich hatte keine Ahnung, wie weit es<br />
ihnen gelungen war, die Lebensgrenzen zu verschieben, merkte jedoch, dass das Alter von<br />
Roemer eine Ausnahme sein musste: er war wahrscheinlich der letzte oder einer der letzten<br />
Menschen seiner Generation.<br />
>Wäre ich nicht geflogen, würde ich nicht mehr leben