Stanislaw Lem - Transfer
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»Vielmehr, um zu dem Expeditionsteam zu gelangen«, verbesserte ich ihn. »Und wissen Sie,<br />
wieso es so mit der Mathematik war? Erst dort habe ich es verstanden. Denn sie steht ja über<br />
allem. Die Werke von Abel oder Kronecker sind heute genauso gut wie vor vierhundert Jahren,<br />
und so wird es immer sein. Es entstehen wohl neue Wege, doch die alten führen weiter. Sie<br />
schließen sich nicht. Dort... dort ist die Ewigkeit. Nur die Mathematik hat keine Angst vor ihr.<br />
Dort begriff ich, wie endgültig sie ist. Und wie stark. Es gab nichts Ähnliches. Und dass es für<br />
mich so schwer war, war auch gut. Ich mühte mich damit ab, und wenn ich nicht schlafen konnte,<br />
wiederholte ich die Probleme, an denen ich tagsüber gearbeitet hatte...«<br />
»Interessant«, meinte er. In seiner Stimme war kein Interesse. Ich wusste nicht mal, ob er mir<br />
zuhörte. Im Parkinnern flogen Feuersäulen hoch, rote und grüne Feuer, von vielstimmigen<br />
Freudenschreien begleitet. Hier, wo wir saßen, unter den Bäumen, war es dunkel. Ich verstummte.<br />
Aber diese Stille war nicht auszuhalten.<br />
»Es hatte für mich einen Selbsterhaltungswert«, sagte ich. »Die Mengenlehre... all das, was Mirea<br />
und Averin mit dem Nachlass von Cantor gemacht hatten, wissen Sie. Diese Operationen mit<br />
überendlichen, außerendlichen Größen, diese Continua, die sich genau spalten ließen, so stark..,<br />
das war herrlich. Die Zeit, die ich dabei verbracht habe, ist mir noch so gegenwärtig, als ob es<br />
gestern gewesen wäre.«<br />
»So nutzlos, wie Sie meinen, ist es auch nicht«, murmelte er. Er hörte also doch zu. »Von den<br />
Igalla -Arbeiten haben Sie wohl nicht gehört, wie?«<br />
»Nein. Was ist denn das?«<br />
»Die Theorie des nichtkontinuierlichen Antifeldes.«<br />
»Über das Antifeld weiß ich nichts. Was ist es?«<br />
»Die Retronihilation. Daraus ging dann die Parastatik hervor.«<br />
»Ich habe diese Termini niemals gehört.«<br />
»Na, ja, das entstand erst vor sechzig Jahren. Es war übrigens erst eine Einführung in die<br />
Gravitologie.«<br />
»Ich merke schon, dass ich mich da werde anstrengen müssen«, sagte ich. »Die Gravitologie ist<br />
wohl die Theorie der Gravitation, wie?«<br />
»Mehr noch. Anders als mit der Mathematik lässt sich das nicht sagen. Kennen Sie Appiano und<br />
Froom?«<br />
»Ja.«<br />
»Na, dann sollten Sie eigentlich gar keine Schwierigkeiten damit haben. Es sind Metagen-<br />
Entwicklungen in einer N-mässigen, konfigurativen und ausartenden Menge.«<br />
»Was sagen Sie da? Skriabin hat doch bewiesen, dass es außer den variablen keine anderen<br />
Metagene gibt?«<br />
»Ja. Eine sehr schöne Beweisführung. Aber dies ist ja außerkontinuierlich, wissen Sie.«<br />
»Unmöglich! Dann müsste es... es müsste ja eine ganze Welt geöffnet haben!«<br />
»Ja«, meinte er trocken.<br />
»Ich erinnere mich an eine Arbeit von Mianikovsky...«, fing ich an.<br />
»Ach, das liegt schon weit zurück. Zumindest... ist es die gleiche Richtung.«<br />
»Wieviel Zeit werde ich brauchen, um alles, was inzwischen getan worden ist, aufzuholen?«<br />
fragte ich.<br />
Er schwieg eine Weile.<br />
»Wozu brauchen Sie es?«<br />
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.<br />
»Fliegen werden Sie nicht mehr - oder?«<br />
»Nein«, sagte ich. »Bin zu alt dazu. Ich könnte derartige Beschleunigungen nicht mehr ertragen..,<br />
na, und überhaupt... ich würde nicht mehr fliegen wollen.«<br />
Nach diesen Worten verfielen wir endgültig ins Schweigen. Die unerwartete Aufregung, mit der<br />
ich über die Mathematik gesprochen hatte, verflüchtigte sich plötzlich. Und nun saß ich neben<br />
ihm und spürte das Gewicht des eigenen Körpers, seine unnütze Größe. Außer der Mathematik<br />
hatten wir uns nichts zu sagen und wussten es alle beide sehr wohl. Plötzlich schien mir die<br />
Erregung, mit der ich von der heilbringenden Rolle der Mathematik während der Reise berichtet<br />
hatte, wie ein Betrug. Ich beging Selbstbetrug mit der Bescheidenheit, dem Fleiß eines heroischen