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Stanislaw Lem - Transfer

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Ich ging hinaus. Es war wirklich ein Park. Die Bäume rauschten mit einem langgezogenen Laut,<br />

unsichtbar in der Dunkelheit. Wind spürte ich nicht, er musste wohl hoch oben wehen, und die<br />

gleichmäßige, würdevolle Stimme der Bäume umfing mich wie eine unsichtbare Kuppel. Zum<br />

ersten Mal fühlte ich mich allein, aber nicht so wie in der Menge, wo es mir wohl tat. Im Park<br />

mussten dennoch viele Menschen sein, ich hörte Flüstern, manchmal leuchtete ein Gesicht wie ein<br />

Fleck auf, einmal streifte ich jemanden sogar. Die Baumkronen waren miteinander verbunden, so<br />

dass man die Sterne nur in ihren Lücken sah. Ich besann mich, dass ich zu diesem Park nach oben<br />

gefahren war, ich hatte doch schon auf dem Platz mit den tanzenden Farben über mir einen -<br />

übrigens bewölkten - Himmel. Wie kam es also» dass ich nun, eine Etage höher, diesmal einen<br />

Sternenhimmel sah? Ich konnte es mir nicht erklären. Die Bäume lichteten sich, und ehe ich es<br />

noch sah, spürte ich den Geruch von Wasser, den Geruch von Sumpf, von Moor, von nassen<br />

Blättern - ich erstarrte.<br />

Das Dickicht umschloss den See mit einem dunklen Kranz. Ich hörte das Rascheln von Seegras<br />

und Schilf - und weit darüber, auf der anderen Seeseite, stand hochaufgerichtet - wie ein Riese -<br />

ein Massiv lichtglasiger Felsen, ein halb durchsichtiger Berg über den Ebenen der Nacht. Ein<br />

gespenstisches Licht kam von den senkrechten Klippen, sehr blass, bläulich, Bastionen auf<br />

Bastionen, zinnenartig erstarrter Kristall, Abgründe - und dieser leuchtende, unwahrscheinliche<br />

Koloss spiegelte sich mit langgezogenem, schwächerem Abglanz in den schwarzen Seegewässern.<br />

Ich stand reglos und entzückt, der Wind brachte ganz leise, zerfließende Musiktöne. Aber als ich<br />

schärfer hinsah, erblickte ich einzelne Stockwerke und Terrassen des Riesen und verstand in<br />

diesem Augenblick, dass ich zum zweitenmal den Bahnhof, den gigantischen Terminal vor mir<br />

hatte. Dort war ich gestern umher geirrt, vielleicht blickte ich jetzt vom Grund jener dunklen<br />

Gefilde, die mich so erstaunt hatten, auf dieselbe Stelle, an der ich Nais getroffen hatte.<br />

War es noch Architektur oder bereits eine Konstruktion der Berge? Sie mussten wohl verstanden<br />

haben, dass man - bei der Überschreitung gewisser Grenzen- auf die Symmetrie, die ebenmäßige<br />

Gestalt verzichten muss und nur von dem Allergrößten lernen kann - die gelehrigen<br />

Planetenschüler!<br />

Ich ging um den See herum. Der Koloss schien mich fast zu führen mit seinen reglos funkelnden<br />

Flug. Ja, kühn war es schon, eine solche Gestalt zu planen, ihr die Grausamkeit eines Abgrundes,<br />

die Rücksichtslosigkeit und Rauheit der Hängeklüfte und spitzen Gipfel beizugeben, ohne in ein<br />

mechanisches Kopieren zu verfallen, ohne irgend etwas zu verlieren, zu verfälschen. Ich kam<br />

zurück an den Wall der Bäume. Das blasse, ins Schwarz übergehende Blau des Terminals schien<br />

noch durch die Zweige, bis es erlosch, im Dickicht versank. Ich schob mit beiden Händen die<br />

biegsamen Ranken auseinander, Stacheln zerrten an meiner Wolljacke, kratzten an meinen<br />

Hosenbeinen, ein von oben geschüttelter Tau fiel mir wie Regen ins Gesicht. Ich nahm ein paar<br />

Blätter in den Mund, zerkaute sie, sie waren jung, bitter, zum erstenmal seit meiner Rückkehr war<br />

mir so: ich wollte, suchte, brauchte nun nichts mehr, es genügte, blind in dieser Dunkelheit durch<br />

raschelndes Dickicht zu gehen. Habe ich mir das zehn Jahre lang so vorgestellt?<br />

Die Sträucher teilten sich. Eine kleine, krumme Allee. Winzige Kieselsteine knirschten unter<br />

meinen Füßen und leuchteten schwach, die Dunkelheit war mir lieber. Ich ging weiter, geradeaus,<br />

dahin, wo unter einem steinernen Rundbau sich eine menschliche Silhouette abzeichnete. Ich<br />

wusste nicht, woher das Licht stammte, das sie umgab. Leer war es dort, rundum Bänke, kleine<br />

Sessel, ein umgekipptes Tischchen, tiefer und schütterer Sand, ich fühlte meine Beine darin<br />

versinken. Wie warm er trotz der nächtlichen Kühle war.<br />

Unter dem Gewölbe, das auf zersprungenen, bröckeligen Säulen ruhte, stand eine Frau, als hätte<br />

sie auf mich gewartet. Ich sah bereits ihr Gesicht, zitternde Funken in den kleinen, diamantenen<br />

Platten, die ihre Ohren verdeckten, ihr weißes, im Schatten silbern schimmerndes Kleid. Es war<br />

nicht möglich. Ein Traum? Ich befand mich kaum ein paar Schritte von ihr entfernt, als sie zu<br />

singen anfing. Unter den blinden Bäumen klang ihre Stimme schwach, fast kindisch, ich verstand<br />

die Worte nicht, vielleicht gab es auch keine - ihr Mund war halb offen, als wollte sie trinken, im<br />

Gesicht keine Anzeichen von Anstrengung, nichts außer Verzückung, als sähe sie etwas, was man<br />

nicht sehen kann, und sänge eben davon. Ich hatte Angst, sie könnte mich sehen, und ging immer<br />

langsamer. Nun befand ich mich bereits im Bereich des Lichts, das den steinernen Rundbau<br />

umgab.

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