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Stanislaw Lem - Transfer

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Spalten dicht über dem Boden. Ich konnte nicht feststellen, ob sie irgendwie mit dem Verkehr und<br />

seiner Regelung zusammenhingen.<br />

Durch den unsichtbaren Himmel zog von Zeit zu Zeit, hoch über uns, ein klagender Pfiff. Das<br />

Mädchen stieg plötzlich vom gleitenden Steg ab, nur um auf einen anderen umzusteigen, der steil<br />

nach oben lief. Plötzlich sah ich mich recht hoch stehen, die Luftfahrt dauerte vielleicht eine halbe<br />

Minute und endete auf einem Überhang voller schwach duftender Blumen, als wären wir nun auf<br />

der Terrasse oder dem Balkon eines dunklen Hauses angelangt. Das Mädchen ging in diese<br />

Loggia hinein. Ich, an die Dunkelheit bereits gewöhnt, riss mit den Augen eines Nachttiers die<br />

großen Silhouetten der nebenstehenden Häuser aus der Schwärze: sie waren fensterlos, tot. Nicht<br />

allein keine Lichter gab es; auch nicht der schwächste Ton gelangte von dort zu mir, außer dem<br />

scharfen Gezisch, das vom Vorbeifahren der schwarzen Maschinen durch diese Straße zeugte. Ich<br />

war über diese doch wohl absichtliche Verdunkelung erstaunt, auch über den Mangel an<br />

Reklameschildern nach der Neonorgie am Bahnhof. Doch blieb mir keine Zeit für Überlegungen.<br />

»Komm, wo bist du!?« hörte ich ein Flüstern. Ich sah nur den weißen Flecken ihres Gesichts. Sie<br />

legte ihre Hand an die Tür, die sich öffnete. Aber diese Tür führte nicht in die Wohnung, der<br />

Fußboden ging weich mit uns mit. - >Hier kann man ja keinen Schritt tunkomisch,<br />

dass sie eigentlich noch Beine haben.< Eine misslungene Ironie, sie entstammte meiner nie<br />

endenden Verblüffung, dem Gefühl der Irrealität von allem, was mit mir seit vielen Stunden<br />

geschah.<br />

Wir befanden uns wie in einem großen Flur oder Korridor, der breit und fast dunkel war- nur die<br />

Wandecken, mit Streifen von Leuchtfarbe bestrichen, leuchteten. An der dunkelsten Stelle legte<br />

das Mädchen wieder ihre flach ausgestreckte Hand auf die kleine Metallplatte in der Tür und ging<br />

als erste hinein. Ich blinzelte: die recht stark beleuchtete Diele war fast leer. Sie ging zur nächsten<br />

Tür; als ich mich der Wand näherte, öffnete sich diese plötzlich und zeigte eine Vertiefung, die<br />

voll war von metallenen Fläschchen. Das kam so unerwartet, dass ich unwillkürlich<br />

zusammenzuckte.<br />

»Verängstige mir ja nicht meinen Schrank«, sagte sie, schon vom anderen Zimmer aus. Ich folgte<br />

ihr. Die Möbel schienen aus Kunststoff gegossen: kleine Sessel, ein niedriges Sofa, kleine<br />

Tischchen - in dem halbdurchsichtigen Material bewegten sich langsam ganze Schwärme von<br />

Glühwürmchen: manchmal verliefen sie sich, flossen dann wieder zu kleinen Bächlein zusammen,<br />

und im Innern der Möbel schien dann leuchtendes, blassgrünes, mit rosigen Reflexen vermischtes<br />

Blut zu kreisen.<br />

»Warum setzt du dich nicht?«<br />

Sie selbst stand tiefer. Der Sessel öffnete sich, um mich aufzunehmen. Ich konnte das nicht leiden.<br />

Diese Glasur war keine Glasur - ich hatte den Eindruck, auf luftgefüllten Kissen zu sitzen. Und als<br />

ich hinuntersah, konnte ich durch die dicke gebogene Platte meines Sitzes undeutlich den<br />

Fußboden sehen.<br />

Als ich hereinkam, schien mir die Wand gegenüber der Tür aus Glas zu sein; ich meinte dort ein<br />

zweites Zimmer mit irgendwelchen Menschen zu erblicken, als ob da ein Empfang stattfände, nur<br />

waren die Menschen unnatürlich groß. Plötzlich begriff ich, dass ich vor mir einen vollwandigen<br />

Fernsehschirm hatte. Der Ton war abgeschaltet; jetzt, im Sitzen, sah ich ein riesiges<br />

Frauengesicht, genauso, als ob diese dunkelhäutige Riesin durchs Fenster ins Zimmer schaute;<br />

ihre Lippen bewegten sich, sie sprach, und die Juwelen - groß wie die Schilde von früheren<br />

Kriegern -, die ihre Ohrläppchen bedeckten, funkelten von Brillanten. Ich rückte mich etwas in<br />

meinem Sessel zurecht. Das Mädchen, eine Hand an der Hüfte - ihr Bauch sah tatsächlich wie<br />

eine Skulptur aus lazurfarbigem Metall aus -, sah mich aufmerksam an. Sie machte nicht mehr<br />

den Eindruck einer Betrunkenen. Vielleicht kam es mir vorhin auch nur so vor.<br />

»Wie heißt du?« wollte sie wissen.<br />

»Bregg. Hal Bregg. Und du?«<br />

»Nais. Wie alt bist du?«<br />

>Eigenartige SittenDoch was hilft's – anscheinend ist es so üblich.<<br />

»Vierzig. Wieso?«<br />

»Nichts. Ich dachte, du wärest hundert.«<br />

Ich lächelte.

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