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Stanislaw Lem - Transfer

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Längst hatte ich die Sphäre der Nebel unter mir gelassen, aber diese kühle Nacht war mondlos, die<br />

Sterne gaben nur wenig Licht. Um so mehr erstaunte ich, als über mir und um mich lange,<br />

weißliche Gestalten erschienen. Sie ruhten in der Dunkelheit, ohne sie zu erhellen, als ob sie nur<br />

das Tageslicht eingesogen hatten- erst das erste raue Knirschen unter den Sohlen machte mir klar,<br />

dass ich auf Schnee trat. Er bedeckte mit einer dünnen Schicht fast den ganzen Rest des steilen<br />

Hangs. Ich war nur leicht bekleidet und wäre wohl bis auf die Knochen erfroren, aber<br />

unerwarteterweise legte sich der Wind. Um so deutlicher erklang in der Luft das Echo meiner<br />

Schritte - bei jedem durchbrach ich die Schale des alten Schnees und sank bis zur halben Wade<br />

ein.<br />

Auf dem Bergpass selbst war schon fast kein Schnee mehr. Ganz leergefegt standen über dem<br />

Steinfeld schwarze riesige Felsbrocken. Ich hielt mit klopfendem Herzen inne und schaute in<br />

Richtung Stadt. Sie war durch den Hang verdeckt, nur die rötlich durchlichtete Dunkelheit verriet<br />

ihre Lage im Tal. Ich ging noch ein paar Schritte und setzte mich dann auf einen sattelförmigen<br />

Brocken. Auf ihm lag etwas Schnee, der angeweht worden war. Jetzt sah ich nicht einmal die<br />

letzten Lichtspuren der Stadt. Vor mir stiegen in der Dunkelheit die Berge auf, gespenstisch, mit<br />

schneegekrönten Gipfeln.<br />

Als ich aufmerksam den rechten Horizont betrachtete, sah ich einen Streifen ersten Tageslichts,<br />

der die Sterne verwischte – den Anfang eines neuen Morgens. Darin zeichnete sich der steile, in<br />

der Mitte geborstene Felsgrat ab. Und dann geschah plötzlich etwas mit meiner Reglosigkeit, die<br />

gestaltlose äußere Dunkelheit - oder die, die in mir war? - fing an, ihren Platz zu wechseln,<br />

hinabzugleiten, ihre Proportionen zu verändern. Ich war davon so benommen, dass ich einen<br />

Augenblick lang fast das Augenlicht verlor, und als ich es wiedererlangte, sah ich alles ganz<br />

anders. Der Himmel graute im Osten schwach über dem völlig dunklen Tal, vertiefte auch das<br />

Schwarz des Felsenarms, ich konnte aber blindlings auf jede seiner Unebenheiten, jede Lücke<br />

weisen, wusste schon, was für ein Bild der Tag mir enthüllen würde, denn dieses Bild war für<br />

immer und nicht umsonst in mir selbst eingezeichnet. Das war der unveränderte Besitz, den ich so<br />

herbeigesehnt hatte, der unangetastet geblieben war, während meine ganze Welt in der anderthalb<br />

Jahrhunderte alten Zeitschlucht zerfallen und verschwunden war:<br />

Hier, in diesem Tal, hatte ich meine Jugendjahre verbracht – in der alten, hölzernen Herberge auf<br />

dem gegenüberliegenden, grasbewachsenen Hang des Wolkenfängers. Von dem alten Bau war<br />

sicher nicht ein einziger Stein des Unterbaues mehr geblieben, die letzten Balken waren schon<br />

längst Staub geworden – und der Felsrücken stand trotzdem da, unverändert, als hätte er auf diese<br />

Begegnung gewartet. Hatte mich eine unklare, unbewusste Erinnerung in der Nacht gerade<br />

hierhergeführt?<br />

Der Schock des Wiedererkennens setzte sofort meine ganze Schwäche frei, die ich so verzweifelt<br />

erst mit der vorgetäuschten Ruhe und dann mit der beabsichtigten zähen Klettertour maskiert<br />

hatte. Blindlings tastete ich zum Boden, schämte mich meiner zitternden Finger nicht und legte<br />

mir Schnee in den Mund, der auf der Zunge kalt auftaute, den Durst nicht löschte, nur meine<br />

Nüchternheit vergrößerte. So saß ich da, aß Schnee und traute der Sache immer noch nicht ganz,<br />

wartete noch auf die Bestätigung meiner Gedanken durch die ersten Sonnenstrahlen. Lange vor<br />

dem Sonnenaufgang flog von der Höhe, von den langsam schwindenden Sternen ein Vogel<br />

herunter, legte seine Flügel zusammen, wurde kleiner, setzte sich auf einen vorhängenden<br />

Felsbrocken und fing dann an, mir näherzurücken. Er hüpfte um mich herum und entfernte sich<br />

wieder, und als ich schon dachte, dass er mich nicht bemerkt hätte, kam er von der anderen Seite<br />

wieder um den Felsen, auf dem ich saß, herumgehüpft. Und so sahen wir uns eine Zeitlang an, bis<br />

ich halblaut sagte: »Ja, wo kommst du denn her?«<br />

Ich merkte, dass er vor mir keine Angst hatte, und fing wieder an, Schnee zu essen. Er senkte das<br />

Köpfchen, schaute mich mit den schwarzen Perlen seiner Augen an, plötzlich aber, als' hätte er<br />

mich lange genug angesehen, breitete er seine Flügel aus und flog davon. Ich aber, an die raue<br />

Felswand gelehnt, geduckt, mit vom Schnee ganz kalten Händen, wartete auf das Morgengrauen,<br />

und diese ganze Nacht kehrte in heftigen, unvollendeten Kurzbildern wieder: Thurber, seine<br />

Worte, dieses Schweigen zwischen mir und Olaf, die Stadtansicht, der rote Nebel und Öffnungen<br />

in diesem Nebel, von Lichtkegeln gebildet, heiße Luftströmungen, das Ein- und Ausatmen eines<br />

Zersetzungsvorgangs von Millionen, die hängenden Alleen und Plätze, die Kelchbauten mit

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