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Stanislaw Lem - Transfer

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tief unten, und dann schwand auch dieses letzte Licht; ich blieb zum zweiten Male stehen,<br />

versuchte – nicht so sehr mit meinen machtlosen Augen, wie mit dem ganzen Körper und dem<br />

Gesicht, das ich dem Wind zukehrte -, mich in dieser unbekannten Umgebung zurechtzufinden.<br />

Wie auf einem fremden Planeten. Ich wollte über den kürzesten Weg auf einen der Gipfel<br />

gelangen, die das Tal umstanden, wo die Stadt lag - in welcher Richtung aber? Plötzlich, als mir<br />

das Ganze hoffnungslos schien, hörte ich von rechts oben ein langanhaltendes, fernes Rauschen.<br />

Es erinnerte vage an die Stimme der Wellen... nein, es war das Rauschen des Waldes, des Windes,<br />

der hoch über dem Platz wehte, an dem ich nun stand. Das war meine Richtung.<br />

Der Hang, mit altem, trockenem Gras bewachsen, führte mic h zu den ersten Bäumen. Mit<br />

ausgestreckten Armen umging ich sie, mein Gesicht vor den dornigen Zweigen schützend. Bald<br />

war die Anhöhe nicht mehr so steil, die Bäume schwanden, wieder musste ich meine<br />

Marschrichtung wählen. Ich horchte in die Dunkelheit, wartete geduldig auf einen weiteren,<br />

stärkeren Windstoß. Da ließ sich eine Stimme aus dem Raum hören: von den fernen Höhen kam<br />

ein langes, pfeifendes Heulen. Ja, der Wind war mein Verbündeter in dieser Nacht; ich ging<br />

querfeldein, ohne zunächst darauf zu achten, dass ich an Höhe verlor, ziemlich steil wieder in die<br />

Tiefe einer schwarzen Schlucht gelangte. Rhythmisch fing ich dann wieder an, aufzusteigen,<br />

wobei mir ein plätscherndes Bächlein den Weg wies. Ich sah es nicht ein einziges Mal, es lief<br />

vielleicht unter einer Felsenschicht, und diese Stimme des fließenden Wassers wurde auch leiser,<br />

je höher ich stieg, endlich verstummte sie ganz, und nochmals umzingelte mich der Wald mit<br />

hohen Stämmen. Der Waldboden war fast ohne Moos und Gras, nur mit einer kissenweichen<br />

Schicht alter Nadeln bedeckt. Diese Wanderung in der vollständigen Dunkelheit dauerte wohl drei<br />

Stunden: die Wurzeln, über die ich stolperte, wuchsen immer öfter um große, aus der seichten<br />

Bodenschicht ragende Felsbrocken. Ich begann zu fürchten, dass der Gipfel mit Wald bewachsen<br />

sein würde und in seinem Labyrinth die kaum angefangene Bergwanderung ein Ende finden<br />

müsste. Aber ich hatte Glück – durch einen kahlen kleinen Pass kam ich auf ein mit Steinen<br />

übersätes Feld. Immer spitzer wurden diese Steine, endlich konnte ich kaum noch stehen, da sie<br />

unter meinen Füßen geräuschvoll zu rollen anfingen. Von einem Bein aufs andere springend, oft<br />

auch hinfallend, gelangte ich auf die Nebenschwelle einer immer enger werdenden Felsrinne und<br />

dann schon schneller nach oben. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen und versuchte herumzuschauen<br />

- aber die herrschende Dunkelheit ließ das überhaupt nicht zu. Ich sah weder die Stadt noch ihre<br />

Lichter, auch von der leuchtenden Straße, die ich gekommen war, keine Spur mehr - die Felsrinne<br />

führte mich auf eine kahle Stelle, die nur mit dürrem Gras bewachsen war; der sich stets<br />

vergrößernde Sternenhimmel verriet mir, dass ich jetzt ziemlich hoch war. Andere, ihn<br />

verdeckende Berggipfel fingen wohl an, sich dem anzugleichen, den ich erklommen hatte. Einige<br />

hundert Schritte weiter kam ich zwischen die ersten Gruppen der Zwergkiefern. Hätte mich irgend<br />

jemand in dieser Dunkelheit angehalten und gefragt, wohin ich gehe, so wäre ich keiner Antwort<br />

fähig gewesen. Zum Glück war keiner da. Dunkelheit und Einsamkeit dieses Nachtmarsches<br />

wirkten erleichternd, wenn mir das auch nur halb bewusst wurde.<br />

Der Hang schien immer steiler, zu klettern wurde es immer schwerer, aber ich achtete nur darauf,<br />

nicht vom Weg abzukommen, als hätte ich wirklich ein gestecktes Ziel vor mir. Mein Herz schlug<br />

stark, meine Lungen keuchten, und ich gelangte hoch und höher, wie benommen. Instinktiv spürte<br />

ich, dass eben eine solche Anstrengung für mich notwendig war. Ich riss die verworrenen Zweige<br />

der Zwergkiefern auseinander, blieb manchmal in ihrem Dickicht stecken, befreite mich mit<br />

Gewalt und ging weiter. Die Nadeln zerkratzten mein Gesicht, meine Brust, hakten sich in meine<br />

Kleider ein, meine Finger waren schon ganz verklebt von Harz. Auf einer freien Stelle traf mich<br />

unerwartet der Wind, griff mich in der Dunkelheit an, tobte ungehindert und pfiff irgendwo, hoch<br />

oben, wo ich mir einen Bergpass vorstellen konnte. Inzwischen wurde ich von weiteren, dicken<br />

Zwergtannengruppen verschlungen. Wie Inseln ruhten darin unsichtbare Schichten einer<br />

gewärmten, reglosen Luft, stark mit ihrem Duft gesättigt. Auf meinem Weg wuchsen unsichtbare<br />

Hindernisse auf - Felsbrocken, Felder kleiner, unter den Füßen wegrollender Steine. Ich musste so<br />

wohl schon ein paar gute Stunden gegangen sein, spürte in mir aber immer noch genug Kräfte.<br />

Dabei war ich am Verzweifeln: die Felsrinne, die zu dem unbekannten Bergpass oder vielleicht<br />

auch zum Gipfel führte, wurde jetzt so schmal, dass ich auf dem Hintergrund des Himmels<br />

zugleich ihre beiden Seiten sah - hochgereckt, löschte sie mit ihren dunklen Rändern die Sterne.

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