Stanislaw Lem - Transfer
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VI<br />
Für ein Paar, das nur infolge der Heftigkeit meines Begehrens zusammenkam, waren wir<br />
erstaunlich harmonisch. Unser Leben wurde auf eine ziemlich eigenartige Weise eingeteilt. Hatten<br />
wir Meinungsverschiedenheiten, so verstand Eri ihren Standpunkt zu verteidigen, aber meist ging<br />
es dabei um allgemeine Fragen. Sie war zum Beispiel eine überzeugte Anhängerin der<br />
Betrisierung und verteidigte sie mit Argumenten, die sie nicht den Büchern entnahm. Die<br />
Tatsache, dass sie ihre Meinung so offen der meinen entgegensetzte, hielt ich für ein gutes<br />
Zeichen, aber unsere Diskussionen fanden am Tage statt. In seinem Licht auch über mich in einer<br />
ruhigen, objektiven Art zu sprechen, traute sie sich nicht - oder vielmehr wollte sie nicht, weil sie<br />
wahrscheinlich nicht wusste, welches von ihren Worten zu einer Kritik irgendeines meiner Fehler<br />
oder Lächerlichkeiten werden würde und welches zu einem Angriff gegen die Wertbegriffe<br />
meiner Zeit. In der Nacht aber - als ob die Dunkelheit meine Anwesenheit reduzierte und<br />
verdünnte - sprach sie zu mir über mich, das heißt - über uns. Und ich erfreute mich an diesen<br />
Gesprächen in der Dunkelheit, weil sie so barmherzig mein vielfaches Staunen verdeckte.<br />
Sie erzählte mir von sich, von ihrer Kindheit. Auf diese Weise erfuhr ich zum zweiten, oder eher<br />
zum ersten Mal - jetzt erst mit einem reellen, menschlichen Inhalt erfüllt -, wie kunstvoll diese<br />
Gesellschaft einer andauernden, zärtlich stabilisierten Harmonie konstruiert war. Als natürlich<br />
wurde da betrachtet, dass Kinder haben und sie in den ersten Lebensjahren erziehen ein Problem<br />
ist, das hohe Qualitäten und eine vielseitige Vorbereitung erfordert, ganz spezielle Studien also;<br />
allein für die Erlaubnis, einen Nachkommen zu zeugen, musste ein Ehepaar eine Reihe von Tests<br />
bestehen; am Anfang schien mir das unerhört, aber nach einigem Nachdenken musste ich<br />
zugeben, dass paradoxe Sitten vielmehr uns, die Alten, nicht sie, belasteten. Denn in der alten<br />
Gesellschaft konnte man kein Haus, keine Brücke bauen, keine Krankheit heilen, keine einfache<br />
Verwaltungsmaßnahme durchführen, ohne eine entsprechende Ausbildung zu besitzen, und allein<br />
das Problem der größten Verantwortung, das Zeugen von Kindern und die Gestaltung ihrer<br />
Psyche, wurde dem blinden Zufall und der momentanen Begierde überlassen. Die Gesellschaft<br />
griff erst dann ein, wenn Fehler begangen worden waren, für deren Korrektur es bereits zu spät<br />
war.<br />
Das Recht auf ein Kind war also eine besondere Auszeichnung, die nicht jedem zugesprochen<br />
werden konnte; ferner durften die Eltern die Kinder von Gleichaltrigen nicht isolieren- man<br />
bildete besonders zusammengesetzte Gruppen beider Geschlechter, in denen die verschiedensten<br />
Temperamente vertreten waren; die sogenannten Problemkinder wurden zusätzlichen<br />
hypnogogischen Eingriffen unterzogen, und alle fingen recht früh mit dem Lernen an. Es war aber<br />
kein Lese- und Schreibunterricht, der kam erst viel später; die eigenartige Ausbildung der<br />
Allerjüngsten beruhte darauf, sie durch besondere Spiele in das Funktionieren der Welt, der Erde,<br />
ihrer Reichtümer und die verschiedensten Formen des gesellschaftlichen Lebens einzuführen; den<br />
Vier- bis Fünfjährigen brachte man auf diese sozusagen natürliche Art die Grundlagen der<br />
Toleranz, des Zusammenlebens, der Achtung anderer Überzeugungen und Haltungen bei, der<br />
Unwesentlichkeit der unterschiedlichen äußeren körperlichen Merkmale der Kinder - also der<br />
Menschen - verschiedener Rassen.<br />
All das schien mir sehr schön, nur mit einem grundsätzlichen Einwand: weil nämlich das feste<br />
Fundament dieser Welt, seine allumfassende Regel, die Betrisierung war. Die Erziehung zielte<br />
eben darauf hin, sie als eine Selbstverständlichkeit - wie Geburt und Tod - hinzunehmen. Als ich<br />
aber aus Eris Munde vernahm, wie man in den Schulen alte Geschichte lehrte, überkam mich ein<br />
Zorn, den ich nur mit Mühe bezwingen konnte. Aus dieser Sicht waren es nämlich Zeiten einer<br />
tierischen Welt und einer barbarischen, ungehemmten Geburtenfreudigkeit, gewaltiger<br />
wirtschaftlicher und Kriegskatastrophen. Die nicht verschwiegenen Errungenschaften der<br />
Zivilisation wurden als Ausdruck jener Kräfte und Tendenzen dargestellt, die den Menschen die<br />
Finsternis und Grausamkeit jenes Zeitalters überwinden halfen. So kam es zu diesen<br />
Errungenschaften eigentlich entgegen der damals allgemein herrschenden Tendenz, auf Kosten<br />
anderer zu leben. Das - sagte man -, was einst nur mit der allergrößten Mühe zu erzielen war und