Stanislaw Lem - Transfer
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sämtliche Eskale vom dritten an nach oben...«, rezitierte singend eine Frauenstimme. Ich hatte<br />
Lust, das Mikrofon aus der Wand zu reißen, das sich da so besorgt meinem Gesicht zuwandte. Ich<br />
ging. »Idiot! Du Idiot!« wiederholte ich mir bei jedem Schritt. EX, EX, EX, wiederholte eine oben<br />
vorbeigleitende, mit zitronengelbem Nebel eingefasste Inschrift. Ist es vielleicht Exit? Der<br />
Ausgang? Eine Riesenaufschrift: EXOTAL. Ich gelangte plötzlich in einen starken Luftstrom<br />
voller Wärme, so dass meine Hosenbeine flatterten. Ich befand mich unter freiem Himmel. Aber<br />
die Nachtdunkelheit, durch die Menge der Lichter entrückt, hing weit entfernt im Raum. Ein<br />
Riesenrestaurant - Tischchen, deren Oberflächen in verschiedensten Farben leuchteten, daher<br />
etwas unheimlich von unten beleuchtete Gesichter darüber, voll tiefer Schatten. Niedrige Sessel,<br />
Gläser mit einer schwarzen, grünschäumenden Flüssigkeit, Lampions, die kleine Funken sprühten,<br />
nein, eher Glühwürmchen, Mengen von brennenden Nachtfaltern. Ein Lichterchaos löschte die<br />
Sterne. Als ich den Kopf hob, sah ich nur eine schwarze Leere. Trotzdem erstaunlich genug: ihre<br />
blinde Existenz gab mir irgendwie Mut. Ich stand und schaute.<br />
Jemand berührte mich im Vorüberstreifen, ich spürte Parfümduft, scharf und leicht zugleich, ein<br />
Paar ging vorbei, das Mädchen wandte sich dem Mann zu, ihre Schultern und Brüste<br />
verschwanden in einer flaumigen Wolke, er nahm sie in seine Arme, sie tanzten. >Tanzen tun sie<br />
nochAuch gut.< Das Paar tat ein paar Schritte, ein blasses Quecksilberparkett hob<br />
es mit anderen Paaren hoch, ihre dunkelroten Schatten bewegten sich unter seiner riesigen und<br />
sich langsam drehenden Platte; das Parkett war nicht gestützt, hatte nicht einmal eine Achse. Es<br />
drehte sich, in der Luft hängend, zu den Klängen der Musik. Ich ging zwischen den Tischchen<br />
durch. Die weiche Plastikmasse, auf der ich ging, hörte nun auf, sie grenzte an einen rauen Felsen.<br />
Durch einen Lichtvorhang ging ich weiter und fand mich in einer Felshöhle. Es sah aus wie zehn<br />
oder fünfzig gotische Kirchenschiffe aus Stalaktiten zusammen. Adernförmige Infiltrationen<br />
perlenartiger Minerale umschlossen die Höhlenausgänge, Menschen saßen da, ihre Beine hingen<br />
in die Leere, zwischen ihren Knien brannten flackernde Flämmchen, unten aber weitete sich<br />
ungetrübt der schwarze Spiegel eines unterirdischen Sees aus, in dem sich die Felsen<br />
widerspiegelten. Dort, auf nachlässig zusammengebastelten kleinen Flößen, ruhten ebenfalls<br />
Menschen, die alle nach einer Seite schauten.<br />
Ich ging bis an den Rand des Wassers und sah auf der anderen Seite, auf dem Sand, eine Tänzerin.<br />
Sie schien mir nackt zu sein, aber das Weiß ihres Körpers war unnatürlich. Mit kleinen,<br />
schwankenden Schritten lief sie auf das Wasser zu, und als sie sich darin widerspiegelte, öffnete<br />
sie plötzlich die Arme und neigte den Kopf - es war der Schluss, doch niemand applaudierte. Die<br />
Tänzerin verharrte einige Sekunden regungslos, ging dann langsam am Ufer entlang, an dessen<br />
ungeraden Linien herum. Sie war wohl dreißig Schritte von mir entfernt, als etwas mit ihr<br />
geschah. Eben noch sah ich ihr lächelndes, erschöpftes Gesicht, und plötzlich wurde es irgendwie<br />
verdunkelt, ihre Silhouette erzitterte und verschwand.<br />
»Eine Plave für den Herrn?« hörte ich hinter mir eine höfliche Stimme. Ich drehte mich um,<br />
niemand, nur ein ovales Tischchen, das sich auf komisch gebogenen Beinchen bewegte: es ging,<br />
die Gläser mit einer schäumenden Flüssigkeit, die reihenweise seitlich auf Tabletts standen,<br />
erzitterten dabei - ein Arm reichte mir höflich das Getränk, der andere griff schon nach dem Teller<br />
mit einer Öffnung für den Finger - der Teller sah einer kleinen, konkaven Palette ähnlich. Es war<br />
ein Automat, ich sah hinter dem Hauptglas die aufleuchtende Glut seines Transistorherzens. Ich<br />
ging vorbei an den untertänig herausgestreckten Käferarmen, mit Leckerbissen belastet, die ich<br />
verschmähte. Ich verließ die künstliche Grotte, die Zähne zusammenbeißend, als ob mir eine<br />
unverständliche Demütigung angetan worden wäre. Ich ging über die ganze Terrassenbreite,<br />
zwischen den S-förmigen Tischchen durch, unter den Lampion-Alleen, überschüttet vom leichten<br />
Staub der zerfallenden, schon sterbenden, schwarzen, goldenen Glühwürmchen.<br />
Dicht am Ufer, das mit altem, vom gelblichen Pflanzenbelag wie umnebeltem Stein eingefasst<br />
war, fühlte ich endlich den wirklichen, reinen und kühlen Windhauch. Daneben stand ein freies<br />
Tischchen. Ich setzte mich, unbequem, den Rücken den anderen Menschen zugekehrt. Ich sah in<br />
die Nacht. Unten erweiterte sich das Dunkel, gestaltlos und unerwartet. Erst in der Ferne, weit in<br />
der Ferne, glühten an seinen Rändern dünne, schwankende, unsichere Lichter auf, als ob es gar<br />
kein elektrisches Licht wäre. Und noch weiter schossen in den Himmel kalte, dünne Lichtdegen,<br />
ich wusste nicht, waren es Häuser oder irgendwelche Masten. Ich hätte sie für