Nr. 71 - Sommer 2019
Normandie: an Bord der Marité von Granville zu den Chausey-Insel Alpen: Évian: das Gedächtnis des Wassers Morvan: eine Geschichte von Ammen und Pflegekindern Baskenland: Château d'Abbadia, eine Inspiration für den Wiederaufbau von Notre-Dame? Heinz Stahlschmidt: der Deutsche, der den Hafen von Bordeaux rettete Chantals Rezept: le gâteau basque
Normandie: an Bord der Marité von Granville zu den Chausey-Insel
Alpen: Évian: das Gedächtnis des Wassers
Morvan: eine Geschichte von Ammen und Pflegekindern
Baskenland: Château d'Abbadia, eine Inspiration für den Wiederaufbau von Notre-Dame?
Heinz Stahlschmidt: der Deutsche, der den Hafen von Bordeaux rettete
Chantals Rezept: le gâteau basque
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Jede Stadt hat ihr Ereignis: Cannes das Filmfestival,<br />
Angoulême das Comicfestival, Monaco den Grand<br />
Prix, Le Mans das 24-Stunden-Rennen, Paris die<br />
Fashion Week, Straßburg den Weihnachtsmarkt … Da<br />
darf Bordeaux natürlich nicht zurückstehen und veranstaltet<br />
ebenfalls ein alljährlich wiederkehrendes Spektakel: die<br />
traditionelle Semaine des Primeurs Anfang April. Jedes Jahr<br />
treffen sich in der Hauptstadt der Gironde sowie in den<br />
renommiertesten Weingütern an den Ufern der Garonne<br />
aus diesem Anlass knapp 6000 Experten aus der ganzen<br />
Welt, um den jüngsten Jahrgang der Bordeauxweine zu<br />
verkosten.<br />
In dieser zugegebenermaßen etwas verrückten Woche<br />
werden alle Orte gestürmt, die sich in Bordeaux für prestigeträchtige<br />
Degustationen eignen. Von den Räumen mit<br />
den immens hohen vergoldeten Decken der Oper, über die<br />
Säle des Museums für zeitgenössische Kunst (CAPC) mit<br />
ihren grandiosen Gewölben, bis hin zu den riesigen Veranstaltungsräumen<br />
im Palais de la Bourse am gleichnamigen<br />
Platz mit dem berühmten Wasserspiegel: Jahr für Jahr<br />
wird alles in Beschlag genommen.<br />
Ohne eine Reservierung lange im Voraus – und die<br />
Bereitschaft, dafür tief in die Tasche zu greifen! – braucht<br />
man gar nicht daran zu denken, in dieser Zeit ein Hotelzimmer<br />
oder einen Tisch in einem Restaurant zu bekommen.<br />
Während der Zeit der Primeurs ist Bordeaux<br />
regelrecht in der Hand von Fachleuten in Sachen Wein.<br />
Einkäufer, Importeure, Weingroßhändler, Gastronomen<br />
und natürlich Journalisten aus der ganzen Welt<br />
absolvieren dann einen richtiggehenden Marathon und<br />
arbeiten sich – immer begleitet von einem kleinen Notizbuch<br />
– durch eine Verkostung nach der anderen.<br />
Die Glücklichsten darunter – besonders natürlich die<br />
Einflussreichsten – werden zu den renommiertesten Dégustations<br />
eingeladen, zu denen der Grands Crus Classés.<br />
Für diese « Happy Few » öffnen die Chateaux ihre Türen<br />
und scheuen weder Kosten noch Mühen: Abgesehen von<br />
der Verkostung – die in einer nahezu religiösen Andacht<br />
abläuft – wartet ein leckeres Buffet oder sogar ein ausgezeichnetes<br />
Mittag- beziehungsweise Abendessen auf den<br />
erlesenen Kreis der Auserwählten.<br />
Zugegeben: Diese Proben sind für die Winzer und Besitzer<br />
der jeweiligen Weingüter ein entscheidendes Ereignis.<br />
Rund 200 Châteaux verkaufen auf diese Weise früher<br />
als üblich einen Großteil ihrer Produktion – manchmal<br />
sogar die gesamte – und sichern sich damit bereits die<br />
zukünftigen Einnahmen. Mengenmäßig entspricht dies<br />
zwar nicht einmal 5 % der in Bordeaux produzierten Weine,<br />
die internationale Ausstrahlung ist jedoch unglaublich.<br />
Die weltweit einzigartige Besonderheit dieser Region, einen<br />
Wein ungefähr ein bis zwei Jahre VOR der Flaschenabfüllung<br />
zu vermarkten, kann für einen Weinliebhaber<br />
ein echter Kulturschock sein. Während dieser Semaine des<br />
Primeurs wird in Bordeaux vor allem eine gehörige Portion<br />
an Vorstellungskraft verkauft, wie sie wohl nur die besten<br />
Verkoster besitzen: die Gabe vorherzusehen, wie sich<br />
ein ganz junger Wein in den nächsten Jahren entwickeln<br />
wird, und – vielleicht vor allen anderen – einen « großen »<br />
Jahrgang zu erahnen.<br />
Angesichts der Tatsache, dass sich die ganze Welt hier<br />
ein Stelldichein gibt, könnte man also erwarten, dass bei diesen<br />
Weinproben verschiedene Kulturen aufeinanderprallen.<br />
Es läge nahe, dass die Menschen, je nach ihrer Herkunft und<br />
ihren Gewohnheiten, ganz unterschiedliche Herangehensweisen<br />
an eine solche Verkostung haben und die Reaktionen<br />
auf diese Primeurs daher ganz unterschiedlich sind. Welch<br />
eine Enttäuschung, wenn man dann feststellt, dass eine<br />
solche Jungweinverkostung anscheinend einer international<br />
gültigen Norm unterliegt. Egal ob Franzose, Deutscher,<br />
Amerikaner, Chinese, Japaner oder Australier: Zunächst betrachtet<br />
man würdevoll den Wein im Glas, atmet die « erste<br />
Nase » ein, schwenkt dann den Inhalt leicht im Glas, um die<br />
« zweite Nase » zu entdecken, bevor man das edle Getränk<br />
im Mund am Gaumen rollt, etwas Luft einsaugt, um es zum<br />
Schluss so elegant wie möglich in den für diesen Zweck bereitgestellten<br />
Napf auszuspucken. Bei manchmal mehr als 50<br />
zu verkostenden Weinen pro Tag ist dies auch wirklich empfehlenswert<br />
… Nur wenige Sekunden also, und das Urteil<br />
ist gebildet. Trotz der unterschiedlichen Sprachen ist schnell<br />
klar, dass alle von Attributen wie « Frische », « Eleganz », « Finesse<br />
», « Tiefe » und « Charakter » sprechen … Begriffe, die<br />
dann sorgfältig im kleinen Notizbuch eingetragen werden.<br />
Ganz Fortschrittliche benutzen dafür heute auch ein Tablet.<br />
« Ist es Ihnen auch aufgefallen? Im Grunde ist es sehr<br />
traurig », flüstert uns eine Verkosterin aus Singapur in<br />
perfektem Französisch zu. « Man könnte fast vergessen,<br />
dass man etwas ganz und gar Angenehmes und Erfreuliches<br />
probiert. Alles läuft so mechanisch ab … », fährt sie<br />
fort. « Daran ist Robert Parker schuld », stößt ein anderer<br />
Nachbar, ein französischer Weingroßhändler, hervor.<br />
« Mit seiner Art, jeden Wein mit maximal 100 Punkten<br />
zu bewerten, spielt er hier in Bordeaux die erste Geige.<br />
Fazit? Jeder denkt nur an diese Note. Im Übrigen halten<br />
sich alle inzwischen für Parker und vergeben für die Weine<br />
in ihrem Notizbuch ebenfalls Noten! Dabei vergessen<br />
sie völlig, über den Wein als solchen zu reden … » Bei<br />
diesen Worten mischt sich noch ein weiterer Teilnehmer<br />
in das Gespräch ein. In diesem Fall ist es ein Amerikaner.<br />
« Nun, immerhin hat Parker verdammt viel dazu beigetragen,<br />
dass die Preise der Bordeauxweine gestiegen sind.<br />
Die Winzer hier müssten ihm im Grunde genommen<br />
dankbar sein … » Ein Franzose, der offensichtlich der Unterhaltung<br />
zugehört hat, dreht sich erstaunt über derartige<br />
Äußerungen in einer so gedämpften Atmosphäre um: « Er<br />
hat uns vor allem klar gemacht, dass letztendlich nicht der<br />
Geschmack des Weines ausschlaggebend ist, sondern das<br />
Gesetz von Angebot und Nachfrage! » Und wenn dies der<br />
eigentliche Kulturschock ist? Die Tatsache, dass ein Wein<br />
– mag er noch so erlesen sein – plötzlich offen als Ware<br />
eingestuft wird?<br />
Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2019</strong> · 95