Nr. 71 - Sommer 2019

FRANKREICH HEUTE Kultur
uns der Comic mit in die vielschichtige Vergangenheit einer deutschen
Familie in den Dreißigerjahren. Natürlich ist es nicht das erste Mal,
dass dieses Thema behandelt wird. Doch die Umsetzung des einerseits
zurückhaltenden und doch außerordentlich realistischen Werkes lässt
den Leser sofort die schwierigen Entscheidungen, mit denen diese Familie
konfrontiert war, und die daraus für die folgenden Generationen
resultierenden Folgen, nachempfinden. Im Vergleich zu einem « klassischen
» Buch erscheint das Thema in diesem Comic natürlicher und
persönlicher. Man versteht, warum Nora Krug diese Nachforschungen
betrieben hat: weil sie sich einerseits nach ihrem Heimatland sehnte, es
aber andererseits solange nicht wirklich lieben konnte, solange sie nicht
mit dessen Vergangenheit im Reinen war.
Das Album erschien 2018 zunächst in Deutschland unter dem Titel
Heimat, ein deutsches Familienalbum im Penguin Verlag und kurze Zeit
später in den Vereinigten Staaten unter dem Titel Belonging, A German
Reckons with History and Home (Scribner Verlag). Inzwischen wurde es
in zahlreichen Ländern veröffentlicht, unter anderem in Frankreich
(Heimat, Loin de mon pays, Éditions Gallimard), wo es in den Buchhandlungen
ein echter Erfolgstitel ist.
Interview:
Nora Krug, Illustratorin, Autorin
von Heimat, ein deutsches Familienalbum
Nora Krug, beim Lesen dieses Albums wird einem schnell klar, dass es stark
von der Vorstellung abweicht, die man normalerweise von einem klassischen
Comic hat. Was die Form angeht, so hat man einmal das Gefühl, ein Geschichtsbuch
in den Händen zu halten, dann wieder ein Notizbuch oder ein
Reisetagebuch. Alle diese Ausdrucksformen haben jedoch eine Gemeinsamkeit:
Sie bestehen aus einer Abfolge von Collagen aus Texten, Zeichnungen,
Fotos …
Das stimmt. Das entspricht der geistigen Verfassung, in der ich bei
der Realisierung dieses Comics war. Ich hatte das Bedürfnis, mich auf
verschiedene Arten auszudrücken. Meistens kam mir eine Zeichnung
in den Sinn, aber manchmal musste es ein Foto oder ein Text sein, der
über das hinausgeht, was man mit einer klassischen « Sprechblase »
des Comics ausdrücken kann. Ich gebe zu, dass es nicht einfach war,
die Vergangenheit meiner Familie, diese Vergangenheit, die ich zum
Großteil nicht kannte, zu rekonstruieren. Das ist nach und nach geschehen,
« scheibchenweise », aufgrund von Recherchen, Begegnungen
und manchmal auch von Zufällen des Lebens. Ich glaube, dass das in
der Tat unerwartete Äußere dieses Albums dem entspricht. In gewisser
Weise ist es ein Patchwork, das letzten Endes die Erinnerungen einer
Familie an die Vergangenheit repräsentiert.
Im Grunde genommen zwingt dieses Album auch dazu, das klassische Bild,
das man von einem Comic hat, zu überdenken. Sie sprechen ein grundlegendes
Thema sowohl auf persönliche als auch auf allgemeingültige Art an,
nämlich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und seine Vermittlung.
84 · Frankreich erleben · Sommer 2019