Nr. 71 - Sommer 2019

FRANKREICH HEUTE Geschichte
inzwischen hieß, durch den Bürgermeister von Bordeaux
mit der Ehrenmedaille der Stadt ausgezeichnet. Einige
Jahre später, am 7. Dezember 2000, konnte er aus den
Händen des Präfekten das Kreuz der Ehrenlegion entgegennehmen.
Diese Anerkennungen machten Heinz Mut, in seine
Geburtsstadt Dortmund zurückzukehren, wo sein Besuch
sehr emotional aufgenommen wurde. Christian Seguin,
der als Sonderberichterstatter für Sud-Ouest vor Ort war,
hielt dies in einem am 30. April 2001 erschienenen Artikel
fest: « Zwei Stunden lang, aufrecht stehend und mit
festem Blick, äußert er sich endlich. In der ersten Reihe
sitzt seine 90-jährige Cousine Grete Menne, die er nach
all den Jahren zum ersten Mal wiedersieht. ‹ Ich bin stolz
auf dich ›, sagt sie zu ihm […] Doch die Reise des ehemaligen
Pyrotechnikers und Entminers zeigt auch ihre
Grenzen auf. Der Bürgermeister von Dortmund schüttelt
ihm nicht die Hand. Die politischen Vertreter sind verlegen.
57 Jahre nach den Vorkommnissen befürchten sie,
dass ein Mitbürger sie daran erinnert, dass bei der Sprengung
des Bunkers an der Uferpromenade im August 1944
auch deutsche Soldaten ums Leben kamen. Heinz Stahlschmidt
sagt nichts. Er hat verstanden […] Und doch ist
er zutiefst glücklich. ‹ Ohne das Kreuz der Ehrenlegion
hätte ich nicht hierherkommen und darüber sprechen
können. › Mit 82 Jahren hat Heinz Stahlschmidt dem
Gerücht, das ihn als Verräter, Vagabund oder Deserteur
abstempelte, ein Ende bereitet. Henri Salmide hat seine
deutsche Seele wiedergefunden. »
Nach Erscheinen des Artikels von Christian Seguin
in der Zeitung Sud-Ouest kam der in Lacanau-Océan
nahe Bordeaux lebende deutsche Schriftsteller und Journalist
Erich Schaake auf die Idee, Heinz und Henriette
zu kontaktieren. Das Paar fasste sofort Vertrauen zu ihm,
gab ausführlich Auskunft und gewährte ihm Zugang
zum umfangreichen Archivmaterial in seinem Besitz.
Als Ergebnis der Interviews und sorgfältiger Recherchen
entstand ein wunderschönes Werk, das 2010 zunächst
in Deutschland unter dem Titel Bordeaux, mon amour.
Eine Liebe zwischen Résistance und Wehrmacht (ISBN 978-
1500412081) veröffentlicht wurde und nach wie vor über
Amazon bestellt werden kann. 2011 erschien das Buch
in einer Übersetzung von Josie Mély in Frankreich unter
dem Titel L’Allemand qui sauva Bordeaux par amour (Éditions
Michel Lafon, ISBN 978-2749913940).
Ganz aktuell (März 2019) ist ein weiteres Buch mit
dem Titel L’Allemand qui a refusé de détruire Bordeaux (Erwan
Langeo, Bordeaux 40-44, ISBN 978-2955715529) erschienen.
Der Autor hatte ebenfalls das Glück, Heinz und
Henriette ab Mai 2003 mehrere Male persönlich treffen
zu können. Auch er durfte sich in deren Archiven informieren.
Erwan Langeo verspürte das Bedürfnis, diese
Geschichte durch ein Werk bekannt zu machen, welches
Heinz und Henriette würdigen und das kollektive Gedächtnis
der Einwohner von Bordeaux konsolidieren sollte.
Dieses Buch ist zurzeit das umfassendste und genaueste
Buch dazu. Man erfährt beispielsweise, dass Henri
Salmide es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, jedes Jahr
am 22. August genau um 20.15 Uhr andächtig an der
Stelle zu verharren, an dem sich seinerzeit der von ihm
gesprengte Bunker an der Uferpromenade auf Höhe der
Rue Raze befunden hatte.
Heinz Stahlschmidt starb am 23. Februar 2010 im
Alter von 90 Jahren. Erich Schaake hielt am Ende seines
Buches fest, dass die Zeitung Sud-Ouest am Tag nach dem
Tod titelte: « Bordeaux hat seinen Retter verloren. » Und
Erich Schaake schließt treffend ab: « Darüber wäre Heinz
Stahlschmidt mit Sicherheit sehr glücklich gewesen. »
Wenn man heute an einem schönen Sonntagmorgen in
der geruhsamen Atmosphäre an der Uferpromenade von
Bordeaux ein paar Austern isst, spricht nichts dagegen –
ganz im Gegenteil – an Henriette und Heinz zu denken.
Wer weiß, was ohne die beiden aus diesen Quais geworden
wäre …
80 · Frankreich erleben · Sommer 2019