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Nr. 71 - Sommer 2019

Normandie: an Bord der Marité von Granville zu den Chausey-Insel Alpen: Évian: das Gedächtnis des Wassers Morvan: eine Geschichte von Ammen und Pflegekindern Baskenland: Château d'Abbadia, eine Inspiration für den Wiederaufbau von Notre-Dame? Heinz Stahlschmidt: der Deutsche, der den Hafen von Bordeaux rettete Chantals Rezept: le gâteau basque

Normandie: an Bord der Marité von Granville zu den Chausey-Insel
Alpen: Évian: das Gedächtnis des Wassers
Morvan: eine Geschichte von Ammen und Pflegekindern
Baskenland: Château d'Abbadia, eine Inspiration für den Wiederaufbau von Notre-Dame?
Heinz Stahlschmidt: der Deutsche, der den Hafen von Bordeaux rettete
Chantals Rezept: le gâteau basque

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UNTERWEGS IN FRANKREICH Bourgogne-Franche-Comté<br />

Oben: Die Ammen aus dem Morvan hatten bei den<br />

Familien in Paris Unterkunft, Verpflegung und Wäsche<br />

frei. Da sie zum Image ihrer Arbeitgeber beitrugen,<br />

wurden sie entsprechend gut eingekleidet.<br />

Unten: Der Morvan ist eine sehr ländliche<br />

Gegend, die Lebensbedingungen waren dort<br />

damals schwierig. Kutschen waren daher für<br />

Ammen und Petits Paris die einzige Möglichkeit,<br />

nach Paris bzw. in den Morvan zu kommen.<br />

Ausgrabungen auf dem Berg bestätigen im Übrigen seine Bedeutung:<br />

Im 1. Jahrhundert v. Chr. hatte er die Form eines riesigen, mehr als<br />

20 Meter langen und 10 Meter breiten Beckens. Im Laufe der Jahrhunderte<br />

wurde er dann mehrmals umgestaltet und schließlich Ende<br />

des 20. Jahrhunderts in der Form rekonstruiert, in der man ihn heute<br />

dort sehen kann. Auf diesen Brunnen und den mit ihm verbundenen<br />

Brauch geht vermutlich das Bild der « stillenden Erde » zurück, die aus<br />

der armen Gegend, an der die industrielle Revolution spurlos vorbeiging,<br />

eine Art Terre de lait (« Milcherde ») machte, den idealen Ort, um<br />

Kinder großzuziehen.<br />

Im 18. Jahrhundert erinnerten sich dann reiche Familien der Pariser<br />

Bourgeoisie plötzlich an dieses Image des Morvan, und es kam<br />

ihnen sehr gelegen. Zu dieser Zeit war die elegante, gut betuchte Pariserin<br />

so sehr mit ihren Repräsentationspflichten beschäftigt, dass ihr<br />

die Zeit für andere Dinge, beispielsweise für das Stillen ihrer Kinder,<br />

fehlte. Da kam die Idee auf, junge Frauen aus dem Morvan kommen<br />

zu lassen, die sich um die Kinder dieser wohlhabenden Familien kümmern<br />

und sie mit ihrer als hochwertig bekannten Muttermilch stillen<br />

sollten. Schnell machte diese Idee in den eleganten Salons der Stadt<br />

die Runde. Eine solche Entscheidung kam nicht nur den Frauen in den<br />

reichen Stadtvierteln gelegen, sondern auch deren Ehemännern. Zur<br />

damaligen Zeit war Stillen oftmals ein Synonym für eine ein- bis zweijährige<br />

sexuelle Abstinenz der Ehepartner, da dies nach der damaligen<br />

Ansicht vieler Ärzte notwenig war, um die Qualität der Muttermilch<br />

zu gewährleisten. Die Möglichkeit, die Aufgabe des Stillens an eine<br />

Amme zu übertragen, löste also gleichzeitig dieses « Problem », das<br />

verständlicherweise für Frustrationen gesorgt hatte. Somit wurden<br />

im Morvan Tausende von Ammen rekrutiert, um die Kleinkinder der<br />

Pariser Oberschicht zu ernähren. Es gab zwar auch noch andere Regionen<br />

Frankreichs, die ebenfalls von dieser etwas besonderen « Migration<br />

» betroffen waren (beispielsweise Bretagne, Nord und Centre), doch<br />

der Morvan war die Gegend, aus der ab Beginn des 18. Jahrhunderts<br />

eindeutig die meisten Ammen nach Paris kamen. 1865 stammten 52 %<br />

aller in der Hauptstadt tätigen Ammen von dort.<br />

Da der Morvan eine sehr arme Gegend war, war diese Tätigkeit für<br />

die jungen Frauen oft eine Möglichkeit, das Überleben der eigenen Familie<br />

zu sichern. Arbeitsstellen waren in ihrer Heimat rar, die finanziellen<br />

Verhältnisse demzufolge meist schlecht. Die Möglichkeit, in der<br />

Hauptstadt zu arbeiten und ein regelmäßiges Einkommen zu haben<br />

– das zudem noch wesentlich höher war, als für jede andere Tätigkeit<br />

in der Heimat –, wurde oft als einzigartige Gelegenheit angesehen,<br />

die man unmöglich ausschlagen konnte. Es war die Garantie für einen<br />

Lohn, von dem die jungen Frauen Monat für Monat den größten Teil<br />

zu ihrer Familie schicken konnten. Dafür nahmen sie es in Kauf, ihre<br />

eigenen Kinder direkt nach der Geburt für ein, zwei oder manchmal<br />

sogar drei Jahre verlassen zu müssen. Während der Stillzeit wohnte die<br />

Amme aus dem Morvan bei den Arbeitgebern in Paris. Sie hatte dort<br />

innerhalb ihrer « neuen Familie » einen besonderen Status und wurde<br />

gegenüber den übrigen Hausangestellten bevorzugt. Sie hatte Unterkunft,<br />

Verpflegung und Wäsche frei und lebte unter ausgezeichneten<br />

Bedingungen. Als Gegenleistung musste sie sich, über das Stillen hinaus,<br />

um das oder die anderen Kinder der Gastfamilie kümmern, sie<br />

beschäftigen und mit ihnen spazieren gehen. Aufzeichnungen und Fotos<br />

aus jener Zeit zeugen davon, dass diese Ammen von den jeweiligen<br />

Pariser Familien quasi als « Statussymbol » angesehen wurden, das man<br />

gerne « vorzeigte » und sogar mit in den Urlaub nahm. Die Ammen der<br />

50 · Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2019</strong>

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