Nr. 71 - Sommer 2019
Normandie: an Bord der Marité von Granville zu den Chausey-Insel Alpen: Évian: das Gedächtnis des Wassers Morvan: eine Geschichte von Ammen und Pflegekindern Baskenland: Château d'Abbadia, eine Inspiration für den Wiederaufbau von Notre-Dame? Heinz Stahlschmidt: der Deutsche, der den Hafen von Bordeaux rettete Chantals Rezept: le gâteau basque
Normandie: an Bord der Marité von Granville zu den Chausey-Insel
Alpen: Évian: das Gedächtnis des Wassers
Morvan: eine Geschichte von Ammen und Pflegekindern
Baskenland: Château d'Abbadia, eine Inspiration für den Wiederaufbau von Notre-Dame?
Heinz Stahlschmidt: der Deutsche, der den Hafen von Bordeaux rettete
Chantals Rezept: le gâteau basque
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UNTERWEGS IN FRANKREICH Bourgogne-Franche-Comté<br />
Vorherige Doppelseite: Das Certificat de<br />
placement bestätigte die Unterbringung<br />
eines Kindes in einer Pflegefamilie. Jedes<br />
dieser Kinder musste bis zu seinem sechsten<br />
Lebensjahr ein verplombtes Halsband tragen.<br />
Oben: der Lac des Settons.<br />
Unten: die archäologische<br />
Ausgrabungsstätte Bibracte, wo sich<br />
der Saint-Pierre-Brunnen befindet.<br />
Rechte Seite: eine der zahlreichen<br />
Fotografien im Musée des Nourrices.<br />
Als Kind verbrachte ich regelmäßig einen Teil des <strong>Sommer</strong>s bei<br />
meinen Großeltern. Ich erinnere mich gut daran, dass sie während<br />
dieses Aufenthalts jedes Mal mit mir in das Morvan-Massiv<br />
fuhren. Für mich war dies ein festes Ritual, das ich im Übrigen immer<br />
mit Ungeduld erwartete. Ich wusste, dass die Koffer bereits am<br />
Vorabend gepackt und im Auto verstaut wurden und dass man dann am<br />
nächsten Morgen früh aufstehen musste, um loszufahren. Das war nicht<br />
weiter schlimm, da ich auf der Fahrt weiterschlafen konnte, so lange, bis<br />
mein Großvater mich weckte, um mich unterwegs einen immer anderen<br />
Ort entdecken zu lassen. Einmal waren es Vézelay und die Basilika –<br />
deren Glocken mir einen riesigen Schreck einjagten, da sie gerade dann<br />
zu läuten begannen, als wir den Turm bestiegen –, ein anderes Mal Nevers<br />
und der Herzogspalast oder auch Bibracte, wo ich den Eindruck<br />
hatte, gleich dem Gallier Vercingetorix in Begleitung von – wie konnte<br />
es in der kindlichen Vorstellung auch anders sein – Asterix und Obelix<br />
zu begegnen. Es sind viele schöne Erinnerungen. Vor allem aber ist mir<br />
immer noch im Gedächtnis, wie unglaublich ich mich jedes Mal freute,<br />
wenn wir im Morvan mit seinen riesigen Wäldern und den berühmten<br />
Seen ankamen: der Lac des Settons, in den ich – kaum waren wir angekommen<br />
– gleich hineinsprang, oder der Lac de Pannecière mit seiner<br />
beeindruckenden Staumauer … Alles verhieß gelungene Ferien, dafür<br />
war die lange Fahrt in meinen Augen mehr als gerechtfertigt.<br />
Und eines Tages verstand ich dann, dass für meine Großeltern die<br />
Reise in den Morvan nicht nur ein « touristisches » Erlebnis war, sondern<br />
dass sie ihnen noch aus einem anderen Grund sehr am Herzen<br />
lag. Offensichtlich war mein Großvater damals der Ansicht, dass ich<br />
nun groß genug und die Zeit daher gekommen sei, um mit mir über<br />
etwas Bestimmtes zu sprechen. Er nahm mich bei der Hand und setzte<br />
sich mit mir an das Ufer des Lac de Pannecière, den er sehr mochte.<br />
An jenem Tag erzählte er mir eine Geschichte, von der ich als Kind bis<br />
zu dem Zeitpunkt allenfalls per Zufall einige Bruchstücke aus einer<br />
Unterhaltung zwischen Erwachsenen aufgeschnappt hatte. Es war die<br />
sehr vertrauliche und besondere Geschichte eines von seinen Eltern abgeschobenen<br />
Kindes: seine Geschichte. Wie ich später erfuhr, war das<br />
Schicksal meines Großvaters ab dem 18. Jahrhundert noch Zehntausenden<br />
anderen, mehr oder weniger glücklichen Kindern widerfahren.<br />
Alle diese Schicksale waren eng mit dem Morvan verknüpft, mit einer<br />
Region, die sie demzufolge für ihr ganzes Leben geprägte hatte …<br />
Als ich etwas älter war, wurde mir klar, dass man sehr weit in<br />
die Vergangenheit zurückgehen muss, um die Hintergründe der Geschichte<br />
meines Großvaters und darüber hinaus die einer Region, die<br />
landläufig Morvan, terre nourricière (« stillende » Erde) genannt wird,<br />
zu verstehen. Weit fahren muss man dafür jedoch nicht, es reicht aus,<br />
sich nach Bibracte zu begeben, auf den Gipfel des Mont Beuvray. Dort<br />
befindet sich eine archäologische Stätte, die heute zu den bekanntesten<br />
Frankreichs gehört und in der man eine der charakteristischsten und<br />
am besten erhaltenen befestigten Städte Galliens entdeckt. Durch die<br />
Ausgrabungen und die schriftlichen Überlieferungen der Römer über<br />
die Gallier erfährt man von einem erstaunlichen Ritual der gallischen<br />
Frauen: Diese hatten nämlich die Angewohnheit, ihre Brüste in einen<br />
Brunnen auf dem Mont Beuvray zu tauchen, um für das Stillen ihrer<br />
Kinder nahrhafte Muttermilch in ausreichender Menge zu haben.<br />
Dieser Glaube hielt sich hartnäckig und verbreitete sich im Gebiet des<br />
heutigen Morvan. Überall entstanden solche « Wunderbrunnen »: in<br />
Montbois, Corbigny und Château-Chinon. Derjenige des Mont Beuvray,<br />
genannt Fontaine Saint-Pierre, war jedoch der berühmteste. Die<br />
48 · Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2019</strong>