21.04.2020 Aufrufe

Nr. 71 - Sommer 2019

Normandie: an Bord der Marité von Granville zu den Chausey-Insel Alpen: Évian: das Gedächtnis des Wassers Morvan: eine Geschichte von Ammen und Pflegekindern Baskenland: Château d'Abbadia, eine Inspiration für den Wiederaufbau von Notre-Dame? Heinz Stahlschmidt: der Deutsche, der den Hafen von Bordeaux rettete Chantals Rezept: le gâteau basque

Normandie: an Bord der Marité von Granville zu den Chausey-Insel
Alpen: Évian: das Gedächtnis des Wassers
Morvan: eine Geschichte von Ammen und Pflegekindern
Baskenland: Château d'Abbadia, eine Inspiration für den Wiederaufbau von Notre-Dame?
Heinz Stahlschmidt: der Deutsche, der den Hafen von Bordeaux rettete
Chantals Rezept: le gâteau basque

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

UNTERWEGS IN FRANKREICH Bourgogne-Franche-Comté<br />

Vorherige Doppelseite: Das Certificat de<br />

placement bestätigte die Unterbringung<br />

eines Kindes in einer Pflegefamilie. Jedes<br />

dieser Kinder musste bis zu seinem sechsten<br />

Lebensjahr ein verplombtes Halsband tragen.<br />

Oben: der Lac des Settons.<br />

Unten: die archäologische<br />

Ausgrabungsstätte Bibracte, wo sich<br />

der Saint-Pierre-Brunnen befindet.<br />

Rechte Seite: eine der zahlreichen<br />

Fotografien im Musée des Nourrices.<br />

Als Kind verbrachte ich regelmäßig einen Teil des <strong>Sommer</strong>s bei<br />

meinen Großeltern. Ich erinnere mich gut daran, dass sie während<br />

dieses Aufenthalts jedes Mal mit mir in das Morvan-Massiv<br />

fuhren. Für mich war dies ein festes Ritual, das ich im Übrigen immer<br />

mit Ungeduld erwartete. Ich wusste, dass die Koffer bereits am<br />

Vorabend gepackt und im Auto verstaut wurden und dass man dann am<br />

nächsten Morgen früh aufstehen musste, um loszufahren. Das war nicht<br />

weiter schlimm, da ich auf der Fahrt weiterschlafen konnte, so lange, bis<br />

mein Großvater mich weckte, um mich unterwegs einen immer anderen<br />

Ort entdecken zu lassen. Einmal waren es Vézelay und die Basilika –<br />

deren Glocken mir einen riesigen Schreck einjagten, da sie gerade dann<br />

zu läuten begannen, als wir den Turm bestiegen –, ein anderes Mal Nevers<br />

und der Herzogspalast oder auch Bibracte, wo ich den Eindruck<br />

hatte, gleich dem Gallier Vercingetorix in Begleitung von – wie konnte<br />

es in der kindlichen Vorstellung auch anders sein – Asterix und Obelix<br />

zu begegnen. Es sind viele schöne Erinnerungen. Vor allem aber ist mir<br />

immer noch im Gedächtnis, wie unglaublich ich mich jedes Mal freute,<br />

wenn wir im Morvan mit seinen riesigen Wäldern und den berühmten<br />

Seen ankamen: der Lac des Settons, in den ich – kaum waren wir angekommen<br />

– gleich hineinsprang, oder der Lac de Pannecière mit seiner<br />

beeindruckenden Staumauer … Alles verhieß gelungene Ferien, dafür<br />

war die lange Fahrt in meinen Augen mehr als gerechtfertigt.<br />

Und eines Tages verstand ich dann, dass für meine Großeltern die<br />

Reise in den Morvan nicht nur ein « touristisches » Erlebnis war, sondern<br />

dass sie ihnen noch aus einem anderen Grund sehr am Herzen<br />

lag. Offensichtlich war mein Großvater damals der Ansicht, dass ich<br />

nun groß genug und die Zeit daher gekommen sei, um mit mir über<br />

etwas Bestimmtes zu sprechen. Er nahm mich bei der Hand und setzte<br />

sich mit mir an das Ufer des Lac de Pannecière, den er sehr mochte.<br />

An jenem Tag erzählte er mir eine Geschichte, von der ich als Kind bis<br />

zu dem Zeitpunkt allenfalls per Zufall einige Bruchstücke aus einer<br />

Unterhaltung zwischen Erwachsenen aufgeschnappt hatte. Es war die<br />

sehr vertrauliche und besondere Geschichte eines von seinen Eltern abgeschobenen<br />

Kindes: seine Geschichte. Wie ich später erfuhr, war das<br />

Schicksal meines Großvaters ab dem 18. Jahrhundert noch Zehntausenden<br />

anderen, mehr oder weniger glücklichen Kindern widerfahren.<br />

Alle diese Schicksale waren eng mit dem Morvan verknüpft, mit einer<br />

Region, die sie demzufolge für ihr ganzes Leben geprägte hatte …<br />

Als ich etwas älter war, wurde mir klar, dass man sehr weit in<br />

die Vergangenheit zurückgehen muss, um die Hintergründe der Geschichte<br />

meines Großvaters und darüber hinaus die einer Region, die<br />

landläufig Morvan, terre nourricière (« stillende » Erde) genannt wird,<br />

zu verstehen. Weit fahren muss man dafür jedoch nicht, es reicht aus,<br />

sich nach Bibracte zu begeben, auf den Gipfel des Mont Beuvray. Dort<br />

befindet sich eine archäologische Stätte, die heute zu den bekanntesten<br />

Frankreichs gehört und in der man eine der charakteristischsten und<br />

am besten erhaltenen befestigten Städte Galliens entdeckt. Durch die<br />

Ausgrabungen und die schriftlichen Überlieferungen der Römer über<br />

die Gallier erfährt man von einem erstaunlichen Ritual der gallischen<br />

Frauen: Diese hatten nämlich die Angewohnheit, ihre Brüste in einen<br />

Brunnen auf dem Mont Beuvray zu tauchen, um für das Stillen ihrer<br />

Kinder nahrhafte Muttermilch in ausreichender Menge zu haben.<br />

Dieser Glaube hielt sich hartnäckig und verbreitete sich im Gebiet des<br />

heutigen Morvan. Überall entstanden solche « Wunderbrunnen »: in<br />

Montbois, Corbigny und Château-Chinon. Derjenige des Mont Beuvray,<br />

genannt Fontaine Saint-Pierre, war jedoch der berühmteste. Die<br />

48 · Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2019</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!