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Nr. 62 - Frühling 2017

Drôme: wandern auf den Spuren der Hugenotten Baie de Somme: Die Abbaye de Saint-Riquier Le Havre: 500 Jahre, das will gefeiert werden ! Bretagne: Brest und Roscoff Elsass: Kirrwiller: 520 Einwohner und die drittgrößte Music Hall Frankreichs Chantals Rezept: Poulet fermier basse température à l'ail

Drôme: wandern auf den Spuren der Hugenotten
Baie de Somme: Die Abbaye de Saint-Riquier
Le Havre: 500 Jahre, das will gefeiert werden !
Bretagne: Brest und Roscoff
Elsass: Kirrwiller: 520 Einwohner und die drittgrößte Music Hall Frankreichs
Chantals Rezept: Poulet fermier basse température à l'ail

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ihnen überall sofort Menschen, die unter Krankheiten<br />

wie beispielsweise Tuberkulose litten. Sie berührten diese<br />

dann und sprachen dabei den Satz: « Der König berührt<br />

dich, Gott heilt dich. » Dies war eine sehr praktische Art<br />

die göttliche Macht der Krone unter Beweis zu stellen. Für<br />

den König selbst war sie allerdings nicht ganz risikolos, da<br />

er dadurch regelmäßig mit Menschen mit ansteckenden<br />

Krankheiten in Kontakt kam …<br />

Der Legende nach hatte ursprünglich ein Heiliger,<br />

Saint Marcoult (490-558), die Fähigkeit zu heilen.<br />

Nachdem er die Quelle gesegnet haben soll, mussten die<br />

französischen Könige nur noch hierher kommen und ihrerseits<br />

das wundersame Wasser berühren, um dadurch<br />

diese Kraft zur Heilung zu erhalten. In der Abteikirche<br />

hängt ein großes Gemälde, das Ludwig XIV. (1638-1715)<br />

darstellt, wie er einen Kranken berührt, den man ihm<br />

präsentiert. Der König selbst hat es der Abtei geschenkt,<br />

vermutlich um sich damit zu bedanken und auszudrücken,<br />

dass er sehr wohl wusste, woher er diese Macht<br />

hatte. Am Rande sei erwähnt, dass eben dieser Ludwig<br />

XIV. beschloss, den « magischen » Satz zu ändern, den er<br />

im Moment der Heilung aussprechen musste: « Der König<br />

berührt dich, damit Gott dich heilt. » Als ob die Heilung<br />

mehr ein Wunsch als eine Sicherheit sei …<br />

Ein Ort voller Leben<br />

Trotz der beeindruckenden Geschichte begann der<br />

Glanz der Abbaye de Saint-Riquier mit Beginn der<br />

Französischen Revolution zu bröckeln. Mangels der<br />

notwendigen Mittel für die Erhaltung verwahrloste die<br />

Stätte mehr und mehr. Adieu Nithard, Angilbert, Karolingische<br />

Minuskel, wundersame Quelle, erster offizieller<br />

Text in Französisch … Das Schicksal schien zu<br />

wollen, dass alles zu Staub der Geschichte wurde. Bis<br />

dann im Jahr 2011 das Departement, die Region, der<br />

Staat und sogar Europa beschlossen, dieses unglaubliche<br />

Kulturerbe zu retten. Sie haben der Abtei dazu das<br />

Label Centre Culturel de Rencontre verliehen und ihr zu<br />

Krediten verholfen, damit die Gebäude renoviert werden<br />

konnten. Und seitdem ist sie wieder zu einer lebendigen<br />

Stätte, einer Kulturstätte geworden, in der Wissen vermittelt<br />

wird, so wie ihre Gründerväter es bereits wollten.<br />

Man geht heute dorthin, um eine grandiose Architektur<br />

zu bestaunen, im Park zu flanieren, eine der zahlreichen<br />

Ausstellungen oder auch das renommierte Musikfestival<br />

zu besuchen. Und vor allem hört man dort alle Sprachen:<br />

Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch … Besucher<br />

aus ganz Europa kommen hierher, und jeder scheint dabei<br />

auf seine Kosten zu kommen. Inmitten dieser sprachlichen<br />

Vielfalt ist eine kulturelle Einheit spürbar. Mehr<br />

als an einem anderen Ort fühlt man sich hier besonders<br />

europäisch. Bereits Umberto Eco hat geschrieben: Die<br />

gemeinsame Sprache ist die Übersetzung. Genau das ist<br />

in Saint-Riquier der Fall, und Nithard hätte das sicherlich<br />

sehr gut gefallen …<br />

Interview mit<br />

Anne Potié,<br />

Leiterin der<br />

Abbaye de<br />

Saint-Riquier<br />

Anne Potié, 2011 haben Sie<br />

die Leitung der Abtei übernommen.<br />

Was waren Ihre<br />

ersten Eindrücke bei der Ankunft?<br />

Ich erinnere mich daran, dass mir der Ort verschlafen<br />

vorkam, nichts erinnerte an die bemerkenswerte Vergangenheit.<br />

Von den Mauern fiel der Putz, mangels der notwendigen<br />

Geldmittel waren die meisten Räume geschlossen<br />

und wurden nicht beheizt … Außer dem alljährlich<br />

im Juli stattfindenden Musikfestival war hier fast nichts<br />

mehr los. Die Abtei ging nach und nach zugrunde. Und<br />

doch habe ich bereits bei meinem ersten Besuch etwas Besonderes<br />

hinter diesen Mauern gespürt. Es war etwas wie<br />

ein intakter Geist, eine Seele spürbar, und es erschien mir<br />

möglich, diese wieder zu wecken. Ich war sofort davon<br />

überzeugt, dass man die Abtei wiederbeleben musste, dass<br />

sie wieder zur Abtei voller Wissen werden musste, die sie<br />

früher einmal gewesen war!<br />

Wie geht man vor, mehr als 10 000 m² Gebäude, einen 4 Hektar<br />

großen Park, eine bis zu 50 Meter hohe Abteikirche wieder<br />

mit Leben zu füllen, zumal alles inmitten eines abgelegenen<br />

Dorfes liegt? Das scheint eine immense Herausforderung zu<br />

sein …<br />

Immens und sogar ein wenig verrückt, das gebe ich zu!<br />

Wenn wir es aber objektiv betrachten, dann werden wir in<br />

Frankreich glücklicherweise schon von Zeit zu Zeit von<br />

ein klein wenig Verrücktheit angetrieben. Dadurch gelingt<br />

es uns, Dinge zu vollbringen, die man andernorts als<br />

unvorstellbar betrachten würde … Hilfreich ist vor allem,<br />

dass wir für die Rettung unseres Kulturerbes sehr effizient<br />

arbeitende öffentliche Strukturen haben. Angesichts<br />

des historischen und kulturellen Stellenwerts musste man<br />

reagieren, es musste etwas passieren. Es war unmöglich,<br />

einen Rückzieher zu machen. Dann kam etwas ins Rollen,<br />

was ich als « französische Know-how-Kette » bezeichne:<br />

Verschiedene Institutionen und Einrichtungen haben sich<br />

an einen Tisch gesetzt, es wurden Lösungsansätze entwickelt,<br />

Hebel betätigt, und schließlich wurde entschieden,<br />

in der Abtei ein kulturelles Begegnungszentrum einzurichten,<br />

das den Schriften gewidmet ist. Auf diese Art<br />

wurde die Abtei wieder zum Leben erweckt, und es wurde<br />

etwas auf den Weg gebracht, was lange Zeit ihre Bestimmung<br />

war, nämlich die Vermittlung von Wissen. Glauben<br />

Sie mir, das ist ein schöner und oft berührender Kampf.<br />

Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2017</strong> · 45

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