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Nr. 62 - Frühling 2017

Drôme: wandern auf den Spuren der Hugenotten Baie de Somme: Die Abbaye de Saint-Riquier Le Havre: 500 Jahre, das will gefeiert werden ! Bretagne: Brest und Roscoff Elsass: Kirrwiller: 520 Einwohner und die drittgrößte Music Hall Frankreichs Chantals Rezept: Poulet fermier basse température à l'ail

Drôme: wandern auf den Spuren der Hugenotten
Baie de Somme: Die Abbaye de Saint-Riquier
Le Havre: 500 Jahre, das will gefeiert werden !
Bretagne: Brest und Roscoff
Elsass: Kirrwiller: 520 Einwohner und die drittgrößte Music Hall Frankreichs
Chantals Rezept: Poulet fermier basse température à l'ail

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zählte man hier 15 000 Einwohner. Heute sind es kaum<br />

mehr als tausend …<br />

Um sein Projekt umzusetzen, beschloss Karl der<br />

Große, sich auf einen Mann seines Vertrauens namens<br />

Angilbert (740-814) zu stützen, den einzigen Laien in<br />

seinem Umfeld, der sowohl die lateinische als auch die<br />

griechische Sprache in Wort und Schrift beherrschte. Als<br />

Liebhaber der Sprachen und schönen Texte machte der<br />

König ihn schnell zu seinem engen Mitarbeiter. Angilbert<br />

war in etwa das, was heute ein Außenminister oder ein<br />

Botschafter ist, er wurde daher oft im Namen des Königs<br />

ins Ausland gesandt. Da er darüber hinaus mit der Verteidigung<br />

der Küste betraut war, ließ er sich in einem Schloss<br />

in der Baie de Somme in der Nähe der von Riquier gegründeten<br />

Abtei nieder und begann allmählich, diese<br />

Gegend liebzugewinnen. Nach und nach wurde daraus<br />

eine Leidenschaft, nicht nur für die Region, sondern vor<br />

allem für die Abtei. Die Mönche lernten ihn sehr schätzen<br />

und beschlossen daher 794, nach dem Tod des Abtes Saint<br />

Symphorien, Angilbert als neuen Abt von Saint-Riquier<br />

einzusetzen. Einen Laien als Abt an die Spitze eines<br />

Klosters zu wählen, war damals gang und gäbe. Angilbert<br />

teilte nun also seine Zeit zwischen seiner – oft weltmännischen<br />

– Tätigkeit als Botschafter Karls des Großen im<br />

Ausland und der – etwas geruhsameren – Tätigkeit als<br />

Laienabt von Saint-Riquier auf. Er setzte alles daran, die<br />

Macht und den Ruf der Abtei zu vergrößern. Da er über<br />

ein beträchtliches Vermögen verfügte, kaufte er zahlreiche<br />

Reliquien, wie dies zur damaligen Zeit üblich war, und<br />

überließ sie Saint-Riquier. Obwohl er gelehrt war und<br />

einen weltlichen und wissenschaftlichen Geist besaß, war<br />

es sein größter Stolz, die Reliquie eines « Tropfen Muttermilch<br />

der Jungfrau Maria » zu besitzen. Die zahlreichen<br />

Reliquien, die im Laufe der Jahrhunderte von der Abtei<br />

erworben wurden, sind heute dort ausgestellt.<br />

Angilbert wollte im Grunde genommen nicht nur die<br />

Abbaye de Saint-Riquier wiederaufbauen, sondern aus ihr<br />

ein Modell ihrer Zeit, ein Schaufenster der politischen<br />

Aktivitäten seines Herrn, Karls des Großen, machen, dessen<br />

Tochter er schließlich sogar<br />

heiratete und mit der er zwei<br />

Kinder bekam. Er lancierte<br />

umfassende Arbeiten in<br />

Saint-Riquier, wobei<br />

die wichtigsten von<br />

790 bis 799 durchgeführt<br />

wurden.<br />

Karl der Große<br />

wie derum begann<br />

zur selben Zeit in<br />

seinem König reich eine<br />

umfassende intellektuelle<br />

und künst lerische Reform<br />

durch zuführen, die<br />

später als « Karolingische<br />

Renaissance » bezeichnet<br />

wurde. Angilbert war<br />

sich sofort der Bedeutung<br />

dessen bewusst,<br />

und er übernahm dies<br />

umgehend für Saint-<br />

Riquier: Über eine rege<br />

liturgische Aktivität hinaus,<br />

was in einer Abtei<br />

ja üblich war, entwickelte<br />

er ein kulturelles Leben<br />

seltenen Ausmaßes. Dabei kamen der Schrift und dem<br />

Lesen eine beachtliche Bedeutung zu. Obwohl Bücher zur<br />

damaligen Zeit sehr schwierig zu beschaffen und vor allen<br />

Dingen teuer waren, gelang es Angilbert, in Saint-Riquier<br />

eine Bibliothek mit mehr als 350 Büchern zu konstituieren.<br />

Vor allem aber richtete er ein im ganzen Königreich<br />

renommiertes Scriptorium ein, in dem – nachdem die revolutionäre<br />

Buchdruckkunst zu diesem Zeitpunkt noch nicht<br />

erfunden war – geduldige Mönche, sogenannte Kopisten,<br />

Bücher so getreu wie möglich reproduzierten. Diese wurden<br />

anschließend dann im Land und über dessen Grenzen<br />

hinweg verbreitet. Man erzählt sogar, dass die Mönche von<br />

Saint-Riquier auf Betreiben von Karl dem Großen an einer<br />

entscheidenden Erfindung beteiligt gewesen sein sollen,<br />

nämlich an der « Karolingischen Minuskel », einer Schrift,<br />

welche die Texte lesbarer machen und die oft nur schwer<br />

entzifferbare merowingische Schrift vereinheitlichen sollte.<br />

Dies hatte vor allem auch einen politisch-strategischen<br />

Hintergrund, denn eine im ganzen Königreich einheitliche<br />

lesbare Schrift gab die Sicherheit, dass die erteilten Anweisungen<br />

klar und verständlich waren …<br />

Karl der Große hielt sich über den Fortschritt der Arbeiten<br />

in Saint-Riquier und die Initiativen von Angilbert<br />

auf dem Laufenden und war davon angetan; so sehr angetan,<br />

dass er 800 persönlich in die Abtei zum Beten kam,<br />

wo er von seinem Schwiegersohn mit allen Ehren empfangen<br />

wurde. Der König konnte sich mit eigenen Augen<br />

davon überzeugen, dass die « Abtei allen Wissens », von<br />

der er geträumt hatte, Gestalt annahm. Und dabei war der<br />

Prozess noch gar nicht zu Ende. Innerhalb einiger Jahre<br />

wurde aus Saint-Riquier ein Kultur- und Verwaltungszentrum,<br />

dessen Bedeutung auf ganz Europa ausstrahlte.<br />

Angilbert und Karl der Große, die lebenslang eng verbunden<br />

waren, starben im selben Jahr, nämlich 814. Einer der<br />

Linke Seite: Hervé Niquet während eines Konzerts und beim Pflücken der Blumen<br />

für die Sträuße; Jocelyne Langlois, eine der zahlreichen freiwilligen Helferinnen<br />

und Helfer, die mit viel Enthusiasmus zum Erfolg des Festivals beitragen.<br />

Diese Seite: Die Serments de Strasbourg von Nithard und die in der<br />

Abtei ausgestellte Reliquie des Schädels von Saint Riquier.<br />

Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2017</strong> · 41

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