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Nr. 62 - Frühling 2017

Drôme: wandern auf den Spuren der Hugenotten Baie de Somme: Die Abbaye de Saint-Riquier Le Havre: 500 Jahre, das will gefeiert werden ! Bretagne: Brest und Roscoff Elsass: Kirrwiller: 520 Einwohner und die drittgrößte Music Hall Frankreichs Chantals Rezept: Poulet fermier basse température à l'ail

Drôme: wandern auf den Spuren der Hugenotten
Baie de Somme: Die Abbaye de Saint-Riquier
Le Havre: 500 Jahre, das will gefeiert werden !
Bretagne: Brest und Roscoff
Elsass: Kirrwiller: 520 Einwohner und die drittgrößte Music Hall Frankreichs
Chantals Rezept: Poulet fermier basse température à l'ail

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UNTERWEGS IN FRANKREICH Hauts-de-France<br />

Interview mit Hervé Niquet, seit 2014 Dirigent und künstlerischer<br />

Leiter des Musikfestivals der Abbaye de Saint-Riquier<br />

Hervé Niquet, Sie sind international renommiert und reisen<br />

im Rahmen Ihrer Tätigkeit durch die ganze Welt, um<br />

die größten Orchester und Chöre in den besten Konzertsälen<br />

der Erde zu dirigieren. Weniger bekannt ist, dass Sie jedes<br />

Jahr im Juli in den hintersten Winkel der Picardie, in die<br />

Abbaye de Saint-Riquier kommen, um<br />

das Musikfestival hier zu leiten. Warum<br />

tun Sie das?<br />

Lassen Sie mich dazu eine kleine<br />

Anekdote erzählen: Ich habe<br />

Anne Potié kennengelernt, als sie<br />

in Istanbul arbeitete (Anm. d. Red.:<br />

Anne Potié leitete ab 2008 das Institut<br />

Français in Istanbul). Sie hatte mich<br />

darum gebeten, mit dem « Concert<br />

Spirituel », einem Ensemble, das<br />

ich immer noch dirigiere, dort ein<br />

Konzert zu geben. Bei dieser Gelegenheit<br />

haben wir Bekanntschaft<br />

geschlossen. Einige Zeit später rief<br />

sie mich an, und bot mir die künstlerische<br />

Leitung des Musikfestivals<br />

an, das seit 1985 in der Abbaye de<br />

Saint-Riquier stattfindet. Sie war<br />

fast ein bisschen überrascht, dass<br />

ich gleich akzeptiert habe. Sie<br />

wusste damals nicht, dass ich hier<br />

aus der Gegend stamme: Ich bin in<br />

Abbeville, nur wenige Kilometer<br />

von Saint-Riquier entfernt, geboren.<br />

Zwangsläufig fühle ich mich hier<br />

fast wie zu Hause …<br />

Sowohl die Künstler als auch das<br />

Publikum, alle spüren hier, dass das<br />

Festival eine besondere Atmosphäre<br />

ausstrahlt. Man fühlt sich wohl …<br />

In der Tat, und das ist so gewollt.<br />

Ich fühle mich wohl an diesem Ort,<br />

und ich mag die Menschen, die hier<br />

leben. Warum sollte ich also diese Atmosphäre verändern?<br />

Im Gegenteil. Die Musik ist für mich nur ein<br />

Vorwand, um Menschen zu begegnen, um mich gut zu<br />

fühlen. Sie darf nicht elitär sein. Ganz und gar nicht.<br />

Ich vergesse niemals, woher ich stamme: Mein Vater<br />

hütete hier Kühe, warum sollte ich hier den elitären<br />

Maestro spielen? Das ergäbe keinen Sinn! Ich weiß,<br />

dass es für viele Bewohner der Region nicht selbstverständlich<br />

war, hierher in ihre Abtei zu kommen, um<br />

ein Klassikkonzert zu besuchen. Die Tatsache, dass<br />

ich einer von ihnen bin, dass ich Picard (Anm. d. Red.:<br />

den lokalen Dialekt) spreche, hat sie beruhigt. Dadurch<br />

haben sie nicht nur eine neue Welt, nämlich die der<br />

Musik, sondern auch ihr lokales Kulturerbe entdeckt.<br />

Heute sind sie stolz darauf, was aus<br />

der Abtei geworden ist.<br />

Die Künstler – rund 500 in jedem<br />

Jahr – die während des Festivals hier<br />

auftreten, unterliegen offensichtlich<br />

ebenfalls dem Charme und der Atmosphäre<br />

des Ortes …<br />

Ja, und das freut mich sehr. Die<br />

Künstler wissen, dass ich in Bezug<br />

auf die Qualität ihrer Arbeit sehr<br />

anspruchsvoll bin und dass das<br />

Festival einen guten Ruf hat. Und<br />

doch sind sie weniger gestresst als<br />

anderswo. Oft erlebe ich, dass sie<br />

richtig Lust darauf haben, wiederzukommen.<br />

Ich spüre, dass es ihnen<br />

wirklich Spaß macht, hier aufzutreten.<br />

Es gibt keine Einzellogen<br />

oder Starallüren. Wir essen alle<br />

gemeinsam an großen Tischen,<br />

den Köchen macht es Freude, die<br />

üppigen regionalen Speisen zuzubereiten.<br />

Jeden Morgen gehe ich<br />

selbst in den Park, um Blumen für<br />

die Sträuße zu schneiden, die den<br />

Künstlern nach dem Konzert des<br />

jeweiligen Tages überreicht werden.<br />

Zu den freiwilligen Helfern<br />

entwickeln sich echte Beziehungen.<br />

Das ist manchmal richtiggehend<br />

magisch! Nehmen Sie zum<br />

Beispiel Jocelyne beziehungsweise<br />

Lili, wie alle sie hier liebevoll nennen.<br />

Sie kannte mich schon, als<br />

ich zehn Jahre alt war. Während des Festivals ist sie so<br />

etwas wie eine Mutter für alle. Und stellen Sie sich vor,<br />

große Künstler mit einer beeindruckenden internationalen<br />

Karriere erkundigen sich oft, wenn ich sie am<br />

anderen Ende der Welt treffe, wie es Lili geht! Auch<br />

das gehört zur Magie der Abbaye de Saint-Riquier und<br />

ihrem Festival.<br />

Hervé Niquet, wir danken Ihnen für das Gespräch.<br />

40 · Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2017</strong>

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