UNTERWEGS IN FRANKREICH Hauts-de-France 36 · Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2017</strong>
Die Baie de Somme ist eine magische Gegend. Es ist einer der seltenen Plätze, wo der Blick noch ungehindert um 360 Grad schweifen kann und lediglich durch einige Boote oder die vielen Vögel abgelenkt wird, die gewöhnlich hier ihren Vogelzug für eine kurze Pause unterbrechen. Zu Recht ist dies ein wichtiger touristischer Anziehungspunkt in der Region Hauts-de-France. Weniger bekannt ist jedoch, dass sich nur wenige Dutzend Kilometer von hier, etwas weiter im Landesinneren, ein ebenso beeindruckender, erholsamer und einzigartiger Ort verbirgt. Ein Ort, an dem es seltsamerweise um einen zertrümmerten Schädel, um ein Pergament, das die Geburt der französischen Sprache markiert, um eine wundersame Quelle, die den Königen besondere Fähigkeiten verlieh, um die Fundamente Europas und um einen Dirigenten mit internationalem Ruf geht, der während seines Musikfestivals eigenhändig die Blumen für die Sträuße schneidet, die nach dem Konzert den Musikern überreicht werden. Ein Ort, der seit Jahrhunderten kleine Geschichten und große Geschichte schreibt. Dieser Ort, das ist die Abbaye de Saint-Riquier. Diese Geschichte ist fast unglaublich. In einem Film erzählt würde man sie vermutlich nicht « glauben. Und doch ist sie wahr. Ich versichere Ihnen, dass sie sich genau so zugetragen hat, als ich hier angefangen habe. Lassen Sie mich erzählen …» Im Juli 2016 trafen wir Anne Potié, die Leiterin der Abbaye de Saint-Riquier, einer Abtei, die <strong>62</strong>5 gegründet wurde und aus der Karl der Große eines der bedeutendsten religiösen, intellektuellen und kulturellen Zentren Europas machen wollte. Diese Stätte, die also eine prestigeträchtige und ernstzunehmende Vergangenheit aufzuweisen hat, ist heute im Besitz des Departements Somme. Aufmerksam und sehr neugierig lauschen wir den Erzählungen der Leiterin. « Es war im November 2011, nur wenige Monate nachdem ich die Stelle als Leiterin der Abtei angetreten hatte. Ich wollte in das Ambiente des Ortes eintauchen und hatte eine Dame aus dem Dorf, die die Abtei sehr gut kannte, gebeten, mich bei der Besichtigung vom Keller bis zum Giebel – immerhin einer Fläche von rund 10 000 m² – zu begleiten. Wir durchquerten gerade den Speicher unter dem riesigen Dachstuhl, als mein Fuß im Halbdunkel gegen einen Karton stieß, der inmitten von Schutt und Staub dastand. Darin befand sich ein Plastiksack, den ich vorsichtig im Licht meiner Taschenlampe öffnete … und in dem ich eine unglaubliche Entdeckung machte: Zum Vorschein kam ein teilweise zertrümmerter menschlicher Schädel. An ihm hing ein kleines Etikett, auf dem ich das Wort « Nithard » entziffern konnte. Beim Anblick des Namens stieß meine Begleiterin einen Aufschrei aus und rief: « Nithard? Aber das ist ja unglaublich! Sie haben ihn gefunden! » Damals wusste ich noch nicht, dass ich bei diesem zufälligen Stoß den Schädel des Enkels Karls des Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2017</strong> · 37