Nr. 62 - Frühling 2017
Drôme: wandern auf den Spuren der Hugenotten Baie de Somme: Die Abbaye de Saint-Riquier Le Havre: 500 Jahre, das will gefeiert werden ! Bretagne: Brest und Roscoff Elsass: Kirrwiller: 520 Einwohner und die drittgrößte Music Hall Frankreichs Chantals Rezept: Poulet fermier basse température à l'ail
Drôme: wandern auf den Spuren der Hugenotten
Baie de Somme: Die Abbaye de Saint-Riquier
Le Havre: 500 Jahre, das will gefeiert werden !
Bretagne: Brest und Roscoff
Elsass: Kirrwiller: 520 Einwohner und die drittgrößte Music Hall Frankreichs
Chantals Rezept: Poulet fermier basse température à l'ail
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der Nervenheilanstalt in Saint-Rémy-de-Provence im Mai<br />
1890 – möglicherweise kennengelernt hat. Dies war keine<br />
einfache Zeit im Leben des Malers. Es war die Zeit, in der<br />
er sich am 23. Dezember 1888 in Arles, nach einem Streit<br />
mit Paul Gauguin, einen Teil seines Ohres abgeschnitten<br />
hatte. Seite für Seite ist man überzeugt: Die Strichführung<br />
der Zeichnungen, die überwiegend aus Punkten und<br />
Strichen bestehen, ist charakteristisch, sie scheinen die<br />
Handschrift des berühmten Malers zu tragen. Und doch<br />
ist keine dieser Skizzen signiert …<br />
Man stellt sich natürlich sofort die Frage, woher das<br />
Heft, in das van Gogh angeblich gezeichnet hat, stammt.<br />
Jetzt beginnen umfangreiche Nachforschungen: Laut den<br />
Verlegern erklärt dessen Besitzerin, dass es sich um ein<br />
Geschenk ihrer Mutter anlässlich ihres 20. Geburtstags<br />
handele, das sie 50 Jahre lang in einem Schrank aufbewahrt<br />
habe, ohne den wahren Wert zu kennen. Ihre<br />
Mutter habe es wiederum 1944 zufällig in den Ruinen<br />
eines bombardierten Hauses in Arles gefunden, inmitten<br />
von diversen Buchhaltungsunterlagen eines Cafés namens<br />
Café de la gare.<br />
Damit wird eine erste Verbindung – ein Punkt also für<br />
die Verleger des Werkes – zu van Gogh hergestellt: Der<br />
Maler wohnte nämlich vom 7. Mai bis zum 30. September<br />
1988 in einem Zimmer dieses Cafés. Er freundete sich<br />
sogar mit den Besitzern, dem Ehepaar Ginoux, an. Es<br />
liegt also durchaus im Bereich des Möglichen, dass diese<br />
van Gogh ein solches leeres Heft gegeben haben, damit<br />
er darin zeichnen kann. Die Geschichte besagt jedoch,<br />
dass van Gogh später in die Irrenanstalt Saint-Paul-de-<br />
Mausole in Saint-Rémy-de-Provence eingewiesen wurde.<br />
Wie konnte das Heft also in den Buchhaltungsarchiven<br />
des Café de la gare gefunden werden? Hat der Maler es gar<br />
nicht mitgenommen?<br />
Dieses Mysterium scheint sich durch das Auftauchen<br />
eines anderen Heftes zu erklären, was den Verlegern natürlich<br />
gelegen kommt. In diesem notierte ein Angestellter<br />
des Café de la gare mit Datum vom 20. Mai 1890, dass<br />
ein gewisser Doktor Rey (ein Psychiater im Krankenhaus<br />
von Arles, dem van Gogh voll vertraute) « im Auftrag des<br />
Malers van Goghe [sic!] für Herrn und Frau Ginoux leere<br />
Olivenbüchsen (…) sowie ein großes Heft mit Zeichnungen<br />
hinterlassen » habe. Man weiß, dass van Gogh Oliven<br />
gerne mochte, dass die Eheleute Ginoux ihm regelmäßig<br />
Oliven schenkten und dass van Gogh versprochen hatte,<br />
ihnen die leeren Büchsen wieder zurückzugeben. Man<br />
kann nun vermuten, dass van Gogh sich bei ihnen bedanken<br />
wollte, indem er ihnen das Heft schenkte, dass dem<br />
Ehepaar jedoch der Wert des Geschenkes offensichtlich<br />
nicht bewusst war, sodass es sich nach einer Folge von<br />
Erbschaften und Immobilienverkäufen anscheinend inmitten<br />
ganz normaler Buchhaltungsunterlagen befand …<br />
bevor es dann vor einigen Jahren wiederentdeckt wurde …<br />
Eine der ersten Experten, die kontaktiert wurden, um<br />
die Authentizität der Zeichnungen zu bestätigen, war<br />
Bogomila Welsh-Ovcharov, eine renommierte kanadische<br />
Kunsthistorikerin und Spezialistin für das Werk van<br />
Goghs. Da Versuche, van Gogh zu kopieren, gang und<br />
gäbe sind, war sie zunächst sehr misstrauisch, als sie das<br />
Heft betrachtete. Sie erzählt jedoch, dass sie schnell von<br />
Emotionen überwältigt war, als ihr bewusst wurde, dass<br />
sie « ganz zweifellos ein Werk eines der größten modernen<br />
Künstler » in den Händen hielt. Sie setzte ihre Untersuchungen<br />
fort und arbeitete dabei mit dem englischen Experten<br />
Donald Pickvance und dem französischen Verlag<br />
Le Seuil zusammen. Letzterer bot ihr dann die Autorenschaft<br />
für ein Buch über diese Entdeckung an. Es wurde<br />
eine ganze Reihe von Expertisen in Auftrag gegeben, die<br />
laut Verlag alle die Authentizität der Zeichnungen bestätigen.<br />
Damit war die Entscheidung für die Veröffentlichung<br />
getroffen, und das Buch konnte im November 2016<br />
publiziert werden.<br />
Auf das Erscheinen des Buches reagierte jedoch das<br />
Van-Gogh-Museum in Amsterdam postwendend mit<br />
einem Pressecommuniqué, in dem es die Zeichnungen<br />
als Fälschung einstuft. Die dortigen Experten könnten<br />
« weder den Stil van Goghs aus der Zeit in Arles, noch<br />
die Weiterentwicklung seines Stils während der eineinhalb<br />
Jahre, die er in der Provence verbracht hatte » wiedererkennen<br />
und fänden vor allem « topografische Fehler<br />
bei einigen Landschaften in der Umgebung von Saint-<br />
Rémy-de-Provence ». Bogomila Welsh-Ovcharov konnte<br />
ihrerseits noch so oft betonen, dass es sich vermutlich « um<br />
Zeichnungen aus dem Gedächtnis, aus der Zeit, als der<br />
Maler eingewiesen war » handele, dass diese deswegen<br />
ungenau seien, doch der Schaden war angerichtet: Die<br />
Authentizität des aufgetauchten Skizzenheftes ist infrage<br />
gestellt.<br />
Und die Angelegenheit ist noch nicht beendet. Zwischen<br />
den beiden international renommierten und anerkannten<br />
Experten auf der einen Seite, nämlich der Kanadierin<br />
Bogomila Welsh-Ovcharov und dem Engländer<br />
Donald Pickvance, sowie dem nicht weniger angesehenen<br />
offiziellen Van-Gogh-Museum in Amsterdam auf der anderen<br />
Seite hat der Expertenstreit gerade erst begonnen.<br />
Dazwischen stehen die Verlage, die nach wie vor an die<br />
Authentizität der von ihnen publizierten Zeichnungen<br />
glauben – vielleicht zu Recht, aber das weiß zurzeit niemand<br />
ganz genau. Letzten Endes liegt es momentan an<br />
uns Lesern, uns eine Meinung zu bilden. Wie auch immer,<br />
das Werk präsentiert eine wunderschöne Entdeckungsreise<br />
in provenzalische Landschaften. Und es birgt de facto<br />
ein Geheimnis, was schließlich auch eine durchaus spannende<br />
Seite hat …<br />
Bogomila Welsh-Ovcharov: Vincent van Gogh, das Skizzenbuch aus Arles • Knesebeck • ISBN: 978-3957280350.<br />
Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2017</strong> · 17