Nr. 68 - Herbst 2018
Loire-Tal: Eine faszinierende Reise ins Land der Troglodyten Corrèze: Les Tours de Merle: Das Gefühl, in der Inkastadt Machu Picchu zu sein Ostfrankreich: Vorreiter bei der Abschaffung der Sklaverei Vogesen: Eine Fotoausstellung unter freiem Himmel im Herzen der Vogesen Chantals Rezept: Die echte hausgemachte Mayonnaise
Loire-Tal: Eine faszinierende Reise ins Land der Troglodyten
Corrèze: Les Tours de Merle: Das Gefühl, in der Inkastadt Machu Picchu zu sein
Ostfrankreich: Vorreiter bei der Abschaffung der Sklaverei
Vogesen: Eine Fotoausstellung unter freiem Himmel im Herzen der Vogesen
Chantals Rezept: Die echte hausgemachte Mayonnaise
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UNTERWEGS IN FRANKREICH Nouvelle-Aquitaine / Corrèze<br />
Nimmt man vom Dorf Saint-Bonnet-les-Tours-de-<br />
Merle die malerische, enge Departementsstraße 136<br />
in Richtung der besagten Stätte, dann durchquert man<br />
eine Landschaft, in der die Natur mit jedem Kilometer<br />
ein bisschen mehr die Oberhand gewinnt: Die Abhänge<br />
werden immer steiler, die Schluchten tiefer, und der<br />
Wald ist bald omnipräsent. Man hat den Eindruck, dass<br />
sich die Spuren menschlichen Lebens mehr und mehr<br />
entfernen: Häuser und kultivierte Flächen machen einer<br />
allgegenwärtigen Natur Platz. Grandios. Diese einmalige<br />
Umgebung wurde im Übrigen von der UNESCO als<br />
« Biosphärenreservat » und von der Europäischen Union<br />
als « Natura-2000-Schutzgebiet » klassifiziert.<br />
Und dann taucht urplötzlich hinter einer Kurve ein<br />
unerwartetes Bild auf: die bereits erwähnten Ruinen von<br />
Türmen und Häusern auf dem Felsvorsprung mitten im<br />
Wald. Die Überraschung ist so groß, dass man unweigerlich<br />
Lust verspürt, anzuhalten. Klugerweise wurden<br />
Parkmöglichkeiten eingerichtet, sodass man sich die Zeit<br />
nehmen und auf einen Felsen klettern oder zwischen zwei<br />
Bäumen hindurch ein Foto schießen kann, um sich diese<br />
spektakuläre und zugleich verwirrende Landschaft einzuprägen<br />
und sie für die Ewigkeit festzuhalten. Es ist nicht<br />
von der Hand zu weisen, dass man – wie bei der Inkastadt<br />
Machu Picchu – in Bann gezogen wird …<br />
Vor allem die Art, wie die Natur diesen Ort hier<br />
beherrscht, ist frappierend. Das macht sich zum einen<br />
an der Geräuschkulisse bemerkbar: Das leise Rauschen<br />
des Flusses Maronne, der unterhalb dahinfließt und den<br />
Felsvorsprung mit den Tours de Merle nahezu wie eine<br />
natürliche Halbinsel abgrenzt, und das Zwitschern der<br />
zahlreichen Vögel, die in den umliegenden Bäumen nisten,<br />
werden nur ab und zu durch das Motorengeräusch<br />
eines vorbeifahrenden Autos gestört – was aber glücklicherweise<br />
(noch) selten ist. Und zum anderen sieht man<br />
es auch an der imposanten Art, wie die Ruinen der Tours<br />
de Merle buchstäblich aus der fast erdrückenden Vegetation<br />
hervorbrechen. Dass diese Pflanzenwelt etwas Tropisches<br />
hat, wird einem vor allem bewusst, wenn man<br />
die Stätte besucht. Die Natur dominiert alles: Die Felsen<br />
sind moosbedeckt, auf den Steinen rankt Efeu mit glänzenden,<br />
immergrünen Blättern, Sonne und Feuchtigkeit<br />
haben den Mauern eine hübsche Patina verliehen. All dies<br />
schafft eine erstaunliche Atmosphäre. Ohne Zweifel liegt<br />
ein gewisser Zauber in der Luft, der den Besucher in eine<br />
imaginäre Welt versetzt und die Besichtigung zu einem<br />
außergewöhnlichen Erlebnis werden lässt.<br />
Um diese bemerkenswerten Ruinen besser zu verstehen,<br />
sollte man die Stätte auf jeden Fall besuchen. Man<br />
erfährt dabei, dass es sich bei diesen Überresten weder<br />
– wie man zunächst vielleicht glauben mag – um ein ehemaliges<br />
Schloss noch um ein klassisches befestigtes Dorf<br />
handelt, sondern um mehrere unabhängige Gebäude. Sie<br />
wurden im Laufe der Zeit von Lehnsherren errichtet, die<br />
sich hier in der Nachbarschaft anderer Adeliger niederließen.<br />
So überraschend dies auch erscheinen mag, die Tours<br />
de Merle sind in gewisser Weise der Vorläufer dessen, was<br />
man heute als « Wohnanlage » bezeichnen würde: Ein<br />
Ort, an dem mehrere Familien nahe beieinander leben,<br />
jede jedoch ihre eigene Unterkunft hat. Das besonderes<br />
Merkmal dieser Gemeinschaft war, dass alle Bewohner<br />
reiche Lehnsherren und mehr oder weniger eng miteinander<br />
verwandt waren.<br />
Das genaue Datum der ersten Bauten ist bis heute nicht<br />
bekannt. Geschichtsforscher gehen allerdings davon aus,<br />
dass sich eine erste Adelsfamilie namens de Merle Anfang<br />
des 12. Jahrhunderts dort niederließ. Demnach wurde ihr<br />
Gebäude sehr wahrscheinlich Ende des 11. Jahrhunderts<br />
errichtet. Die hochgelegene, isolierte und optimal verteidigungsfähige<br />
Lage bot wichtigen Familien der damaligen<br />
Zeit ein besonders geschütztes Umfeld und sorgte in<br />
der Folge schon bald für Missgunst. Zumal sich der Ort<br />
darüber hinaus an der Grenze zwischen dem Herzogtum<br />
Aquitanien und den Grafschaften Auvergne und Toulouse<br />
befand und für die dort ansässigen Lehnsherren eine<br />
praktische und einträgliche Zahlstelle darstellte. Im Laufe<br />
der Jahre wurden sieben herrschaftliche Familien von<br />
den « attraktiven Grundstücken » auf dem Felsvorsprung<br />
angezogen. Eine nach der anderen errichtete in der Folge<br />
familiärer Bande ein Gebäude und ließ sich dort nieder.<br />
Ein Charakteristikum dieser Ansammlung von Gebäuden,<br />
in denen die Adelsfamilien lebten, besteht darin, dass<br />
die Anordnung nicht rein zufällig entstand. Sie entsprach<br />
dagegen einer für die damalige Zeit sehr modernen Organisation,<br />
die auf sonderbare Weise an die Regelungen einer<br />
heutigen Eigentümergemeinschaft erinnert. Auch wenn die<br />
Lehnsherren meist miteinander verwandt waren, kam es<br />
nicht infrage, ein neues Gebäude irgendwo oder irgendwie<br />
zu errichten. Bestimmte Vorschriften – heute würde man<br />
diese unter dem Begriff « Städteplanung » zusammenfassen<br />
– sahen beispielsweise vor, dass kein Turm wesentlich<br />
höher oder imposanter als der des Nachbarn sein durfte,<br />
um dessen Macht nicht in den Schatten zu stellen (und<br />
natürlich, um dessen Sicht nicht zu verbauen …). Historiker<br />
fanden mehrere Urkunden, welche die Regeln dieser<br />
« Eigentümergemeinschaft » von Merle beschreiben. So war<br />
zum Beispiel genau festgelegt, dass in einem Umkreis von<br />
moins d‘une brasse (weniger als ca. 1,60 Meter) um den Tour<br />
de Pesteil kein weiteres Gebäude errichtet werden durfte.<br />
Fulcon de Merle (geboren ca. 1250, gestorben nach<br />
1318) galt als der mächtigste Lehnsherr der Ansiedelung.<br />
Die Ruinen seines Turmes, der aus dem 13. Jahrhundert<br />
stammt und vier Etagen hoch war, vermitteln noch heute<br />
einen Eindruck seines Stellenwerts und seiner Macht.<br />
Gleich daneben befindet sich das ehemalige Gebäude seines<br />
Bruders Hugues de Merle (Geburtsdatum unbekannt,<br />
gestorben vor 1321). Es stammt aus dem 16. Jahrhundert,<br />
bestand aus drei Etagen und ist heute eines der besterhaltenen<br />
Häuser dieser Ansiedlung. Etwas weiter, ganz<br />
im Süden des Ortes, staunt man heute noch über zwei<br />
Konstruktionen aus dem 13. Jahrhundert: Tour de Noailles<br />
und Tour des Pesteil. Letzterer war als Wohnturm mit<br />
44 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2018</strong>