21.04.2020 Aufrufe

Nr. 68 - Herbst 2018

Loire-Tal: Eine faszinierende Reise ins Land der Troglodyten Corrèze: Les Tours de Merle: Das Gefühl, in der Inkastadt Machu Picchu zu sein Ostfrankreich: Vorreiter bei der Abschaffung der Sklaverei Vogesen: Eine Fotoausstellung unter freiem Himmel im Herzen der Vogesen Chantals Rezept: Die echte hausgemachte Mayonnaise

Loire-Tal: Eine faszinierende Reise ins Land der Troglodyten
Corrèze: Les Tours de Merle: Das Gefühl, in der Inkastadt Machu Picchu zu sein
Ostfrankreich: Vorreiter bei der Abschaffung der Sklaverei
Vogesen: Eine Fotoausstellung unter freiem Himmel im Herzen der Vogesen
Chantals Rezept: Die echte hausgemachte Mayonnaise

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

UNTERWEGS IN FRANKREICH Nouvelle-Aquitaine / Corrèze<br />

Nimmt man vom Dorf Saint-Bonnet-les-Tours-de-<br />

Merle die malerische, enge Departementsstraße 136<br />

in Richtung der besagten Stätte, dann durchquert man<br />

eine Landschaft, in der die Natur mit jedem Kilometer<br />

ein bisschen mehr die Oberhand gewinnt: Die Abhänge<br />

werden immer steiler, die Schluchten tiefer, und der<br />

Wald ist bald omnipräsent. Man hat den Eindruck, dass<br />

sich die Spuren menschlichen Lebens mehr und mehr<br />

entfernen: Häuser und kultivierte Flächen machen einer<br />

allgegenwärtigen Natur Platz. Grandios. Diese einmalige<br />

Umgebung wurde im Übrigen von der UNESCO als<br />

« Biosphärenreservat » und von der Europäischen Union<br />

als « Natura-2000-Schutzgebiet » klassifiziert.<br />

Und dann taucht urplötzlich hinter einer Kurve ein<br />

unerwartetes Bild auf: die bereits erwähnten Ruinen von<br />

Türmen und Häusern auf dem Felsvorsprung mitten im<br />

Wald. Die Überraschung ist so groß, dass man unweigerlich<br />

Lust verspürt, anzuhalten. Klugerweise wurden<br />

Parkmöglichkeiten eingerichtet, sodass man sich die Zeit<br />

nehmen und auf einen Felsen klettern oder zwischen zwei<br />

Bäumen hindurch ein Foto schießen kann, um sich diese<br />

spektakuläre und zugleich verwirrende Landschaft einzuprägen<br />

und sie für die Ewigkeit festzuhalten. Es ist nicht<br />

von der Hand zu weisen, dass man – wie bei der Inkastadt<br />

Machu Picchu – in Bann gezogen wird …<br />

Vor allem die Art, wie die Natur diesen Ort hier<br />

beherrscht, ist frappierend. Das macht sich zum einen<br />

an der Geräuschkulisse bemerkbar: Das leise Rauschen<br />

des Flusses Maronne, der unterhalb dahinfließt und den<br />

Felsvorsprung mit den Tours de Merle nahezu wie eine<br />

natürliche Halbinsel abgrenzt, und das Zwitschern der<br />

zahlreichen Vögel, die in den umliegenden Bäumen nisten,<br />

werden nur ab und zu durch das Motorengeräusch<br />

eines vorbeifahrenden Autos gestört – was aber glücklicherweise<br />

(noch) selten ist. Und zum anderen sieht man<br />

es auch an der imposanten Art, wie die Ruinen der Tours<br />

de Merle buchstäblich aus der fast erdrückenden Vegetation<br />

hervorbrechen. Dass diese Pflanzenwelt etwas Tropisches<br />

hat, wird einem vor allem bewusst, wenn man<br />

die Stätte besucht. Die Natur dominiert alles: Die Felsen<br />

sind moosbedeckt, auf den Steinen rankt Efeu mit glänzenden,<br />

immergrünen Blättern, Sonne und Feuchtigkeit<br />

haben den Mauern eine hübsche Patina verliehen. All dies<br />

schafft eine erstaunliche Atmosphäre. Ohne Zweifel liegt<br />

ein gewisser Zauber in der Luft, der den Besucher in eine<br />

imaginäre Welt versetzt und die Besichtigung zu einem<br />

außergewöhnlichen Erlebnis werden lässt.<br />

Um diese bemerkenswerten Ruinen besser zu verstehen,<br />

sollte man die Stätte auf jeden Fall besuchen. Man<br />

erfährt dabei, dass es sich bei diesen Überresten weder<br />

– wie man zunächst vielleicht glauben mag – um ein ehemaliges<br />

Schloss noch um ein klassisches befestigtes Dorf<br />

handelt, sondern um mehrere unabhängige Gebäude. Sie<br />

wurden im Laufe der Zeit von Lehnsherren errichtet, die<br />

sich hier in der Nachbarschaft anderer Adeliger niederließen.<br />

So überraschend dies auch erscheinen mag, die Tours<br />

de Merle sind in gewisser Weise der Vorläufer dessen, was<br />

man heute als « Wohnanlage » bezeichnen würde: Ein<br />

Ort, an dem mehrere Familien nahe beieinander leben,<br />

jede jedoch ihre eigene Unterkunft hat. Das besonderes<br />

Merkmal dieser Gemeinschaft war, dass alle Bewohner<br />

reiche Lehnsherren und mehr oder weniger eng miteinander<br />

verwandt waren.<br />

Das genaue Datum der ersten Bauten ist bis heute nicht<br />

bekannt. Geschichtsforscher gehen allerdings davon aus,<br />

dass sich eine erste Adelsfamilie namens de Merle Anfang<br />

des 12. Jahrhunderts dort niederließ. Demnach wurde ihr<br />

Gebäude sehr wahrscheinlich Ende des 11. Jahrhunderts<br />

errichtet. Die hochgelegene, isolierte und optimal verteidigungsfähige<br />

Lage bot wichtigen Familien der damaligen<br />

Zeit ein besonders geschütztes Umfeld und sorgte in<br />

der Folge schon bald für Missgunst. Zumal sich der Ort<br />

darüber hinaus an der Grenze zwischen dem Herzogtum<br />

Aquitanien und den Grafschaften Auvergne und Toulouse<br />

befand und für die dort ansässigen Lehnsherren eine<br />

praktische und einträgliche Zahlstelle darstellte. Im Laufe<br />

der Jahre wurden sieben herrschaftliche Familien von<br />

den « attraktiven Grundstücken » auf dem Felsvorsprung<br />

angezogen. Eine nach der anderen errichtete in der Folge<br />

familiärer Bande ein Gebäude und ließ sich dort nieder.<br />

Ein Charakteristikum dieser Ansammlung von Gebäuden,<br />

in denen die Adelsfamilien lebten, besteht darin, dass<br />

die Anordnung nicht rein zufällig entstand. Sie entsprach<br />

dagegen einer für die damalige Zeit sehr modernen Organisation,<br />

die auf sonderbare Weise an die Regelungen einer<br />

heutigen Eigentümergemeinschaft erinnert. Auch wenn die<br />

Lehnsherren meist miteinander verwandt waren, kam es<br />

nicht infrage, ein neues Gebäude irgendwo oder irgendwie<br />

zu errichten. Bestimmte Vorschriften – heute würde man<br />

diese unter dem Begriff « Städteplanung » zusammenfassen<br />

– sahen beispielsweise vor, dass kein Turm wesentlich<br />

höher oder imposanter als der des Nachbarn sein durfte,<br />

um dessen Macht nicht in den Schatten zu stellen (und<br />

natürlich, um dessen Sicht nicht zu verbauen …). Historiker<br />

fanden mehrere Urkunden, welche die Regeln dieser<br />

« Eigentümergemeinschaft » von Merle beschreiben. So war<br />

zum Beispiel genau festgelegt, dass in einem Umkreis von<br />

moins d‘une brasse (weniger als ca. 1,60 Meter) um den Tour<br />

de Pesteil kein weiteres Gebäude errichtet werden durfte.<br />

Fulcon de Merle (geboren ca. 1250, gestorben nach<br />

1318) galt als der mächtigste Lehnsherr der Ansiedelung.<br />

Die Ruinen seines Turmes, der aus dem 13. Jahrhundert<br />

stammt und vier Etagen hoch war, vermitteln noch heute<br />

einen Eindruck seines Stellenwerts und seiner Macht.<br />

Gleich daneben befindet sich das ehemalige Gebäude seines<br />

Bruders Hugues de Merle (Geburtsdatum unbekannt,<br />

gestorben vor 1321). Es stammt aus dem 16. Jahrhundert,<br />

bestand aus drei Etagen und ist heute eines der besterhaltenen<br />

Häuser dieser Ansiedlung. Etwas weiter, ganz<br />

im Süden des Ortes, staunt man heute noch über zwei<br />

Konstruktionen aus dem 13. Jahrhundert: Tour de Noailles<br />

und Tour des Pesteil. Letzterer war als Wohnturm mit<br />

44 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2018</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!