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ZAP-2020-08

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

8 <strong>2020</strong><br />

17. April<br />

32. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />

Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />

Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

} Mit dem <strong>ZAP</strong> Buchreport<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Art. 240 § 1 EGBGB: Niemand zahlt mehr an niemanden (S. 371)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Gesetzespaket zur Abmilderung der COVID‐19‐Folgen (S. 373) • Anregungen und Kritik der Anwaltschaft<br />

zu den Corona‐Hilfsmaßnahmen (S. 375) • Besteuerung bei Veräußerung einer Praxis (S. 380)<br />

Aufsätze<br />

Caspers, Die Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter/Besitzer (S. 401)<br />

Börstinghaus, Besonderheiten des Miet‐ und Wohnungseigentumsrechts infolge<br />

der COVID‐19‐Pandemie (S. 411)<br />

Sartorius, Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich<br />

der betrieblichen Altersversorgung (S. 417)<br />

Hillenbrand, Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB (S. 423)<br />

Rechtsprechung<br />

OLG Düsseldorf: Unterbrechung der Gas‐ und Stromversorgung (S. 393)<br />

BGH: Arbeitnehmererfindung (S. 398)<br />

VG Stuttgart: Covid‐19‐Virus – Verbot eines Late‐Night‐Shoppings (S. 399)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 371–372<br />

Anwaltsmagazin – – 373–380<br />

Buchreport – – 381–392<br />

Rechtsprechung 1 49–56 393–400<br />

Caspers, Die Räumungsklage des Vermieters gegen<br />

mehrere Mieter/Besitzer: Einstweiliger Rechtsschutz<br />

und flankierende Rechtsbehelfe 4 1873–1882 401–410<br />

Börstinghaus, Besonderheiten des Miet‐ und Wohnungseigentumsrechts<br />

infolge der COVID‐19‐Pandemie 4 1883–1888 411–416<br />

Sartorius, Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener<br />

Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Altersversorgung<br />

18 1733–1738 417–422<br />

Hillenbrand, Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />

gem. § 64 StGB 22 1029–1040 423–434<br />

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Ihre Zugangsdaten (Aktivierungscode/Passwort) auf dem Adressaufkleber. Details unter:<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />

Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />

Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • Dr. David<br />

Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer,<br />

Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA<br />

Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Art. 240 § 1 EGBGB: Niemand zahlt mehr an niemanden<br />

COVID-19 ist zweifellos eine ernsthafte Bedrohung.<br />

Jeder tut gut daran, eigenverantwortlich<br />

dafür zu sorgen, sich und seine Mitmenschen<br />

zu schützen und die Hygienevorschriften einzuhalten.<br />

An die Vernunft des Einzelnen und seine Eigenverantwortung<br />

glaubt der Staat wie immer nicht<br />

und zeigt sich paternalistisch: Gesetze und Vorschriften<br />

sollen es richten, u.a. das Gesetz zur<br />

Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie<br />

im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht<br />

(BGBl I <strong>2020</strong>, S. 569), das mit nur zwei<br />

Enthaltungen (aus der AfD-Fraktion) vom Bundestag<br />

am 25.3.<strong>2020</strong> einhellig verabschiedet<br />

wurde (Plenarprotokoll [Plen.Prot] 19/154, TOP 5).<br />

Der Abgeordnete THOMAE (FDP) hat immerhin<br />

angemerkt, seine Fraktion stehe den Änderungen,<br />

auch der hier zu besprechenden („reicht das<br />

Problem nur eine Reihe weiter“, Plen.Prot 19/152 C),<br />

teilweise kritisch und ablehnend gegenüber. Der<br />

Abgeordnete LUCZAK (CDU/CSU) will zwar „den<br />

Wirtschaftskreislauf am Laufen halten, sodass das<br />

Vertrauen in den Fortbestand von Verträgen erhalten<br />

bleibt“ (Plen.Prot 19/151 C), das Gegenteil wird<br />

aber eintreten.<br />

Art. 240 § 1 EGBGB (Art. 5 des COVID-19-<br />

Gesetzes, BGBl I <strong>2020</strong>, S. 572) könnte einen<br />

verhängnisvollen Prozess in Gang setzen: Niemand<br />

zahlt mehr an niemanden. Oder wie es der<br />

Abgeordnete LUCZAK formuliert: „Es geht … darum,<br />

Verbraucher bei Dauerschuldverhältnissen zu schützen,<br />

sodass ihnen nicht der Strom, das Internet, das<br />

Wasser abgestellt wird. Sie können für drei Monate<br />

etwas Luft schnappen und die Zahlungen einstellen“<br />

(Plen.Prot 19/151 D). Steht das wirklich im Gesetz?<br />

Oder ist es in Wahrheit ein zahnloser Tiger und<br />

Ausdruck gesetzgeberischer Schnappatmung?<br />

Beides ist richtig: Der rechtlich gut informierte<br />

Gläubiger wird seine Forderungsbeitreibung fortsetzen,<br />

tunlichst sogar forcieren. Gleichwohl<br />

werden die Zahlungsströme ins Stocken geraten,<br />

denn viele Schlauberger (eher grüne Lehrer als<br />

wirklich Bedürftige) werden sich auf das Gesetz<br />

berufen und ihre laufenden Verpflichtungen<br />

gegenüber Energieversorgern, Telekommunikationsunternehmen,<br />

Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen<br />

usw. nicht erfüllen. Jedenfalls die beiden<br />

ersten sind „systemrelevant“, wie man heute zu<br />

sagen pflegt.<br />

Was aber ist nun der genaue Inhalt von Art. 240<br />

§ 1 EGBGB? Jedenfalls nicht, dass Strom, Internet<br />

und Wasser nicht abgestellt werden dürfen, wenn<br />

die Voraussetzungen hierfür vorliegen; ein dahingehender<br />

Entschließungsantrag der LINKEN (19/<br />

18142) wurde ausdrücklich abgelehnt. Vielmehr<br />

haben Verbraucher und Kleinstunternehmer (das<br />

sind ausweislich Empfehlung 2003/361/EG Unternehmen,<br />

die weniger als zehn Personen beschäftigen<br />

und deren Jahresumsatz bzw. Jahresbilanz<br />

zwei Mio. Euro nicht überschreitet) das Recht,<br />

Leistungen zur Erfüllung eines Anspruchs, der<br />

im Zusammenhang mit einem Dauerschuldverhältnis<br />

steht, das vor dem 8.3.<strong>2020</strong> geschlossen<br />

wurde, bis zum 30.6.<strong>2020</strong> zu verweigern. Nach<br />

Art. 240 § 4 EGBGB kann die Regelung von<br />

der Bundesregierung durch Rechtsverordnung<br />

bis zum 30.9.<strong>2020</strong> verlängert werden.<br />

Es gibt aber noch weitere, in der Praxis kaum<br />

überprüfbare Voraussetzungen für die Ausübung<br />

dieses Rechts: Die Leistungshinderung muss aus<br />

„Umständen“ folgen, „die auf die Ausbreitung der<br />

Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-<br />

Pandemie) zurückzuführen sind“ und (kumulativ) die<br />

Erbringung der Leistung müsste den „angemesse-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 371


Kolumne<br />

<strong>ZAP</strong><br />

nen Lebensunterhalt“ des Verbrauchers bzw. die<br />

„wirtschaftlichen Grundlagen des Erwerbsbetriebs“ des<br />

Schuldners „gefährden“.<br />

Für Nicht-Verbraucher und -Unternehmer (Wohnungseigentümergemeinschaften,<br />

Vereine, Kirchengemeinden,<br />

Behörden usw.) gilt das alles<br />

von vorneherein nicht; diesen steht das Leistungsverweigerungsrecht<br />

nicht zu.<br />

Wohnungseigentümergemeinschaften können in<br />

die missliche Lage kommen, dass Hausgelder<br />

nicht mehr bezahlt werden, der Energielieferant<br />

aber gleichwohl Anspruch auf seine Abschlagszahlungen<br />

hat und den auch durchsetzt. Man<br />

kann zwar darüber streiten, ob es sich bei der<br />

Pflicht zur Hausgeldzahlung um ein Dauerschuldverhältnis<br />

i.S.d. Art. 240 § 1 EGBGB handelt,<br />

und man darf vermuten, dass der V. Zivilsenat des<br />

BGH dies irgendwann in ein paar Jahren im<br />

Hinblick auf die Besonderheiten des Wohnungseigentumsrechts<br />

verneinen wird, gleichwohl wird<br />

es Wohnungseigentümer geben, die es damit<br />

einfach mal versuchen.<br />

In rechtlicher Hinsicht handelt es sich bei dem<br />

vorübergehenden Leistungsverweigerungsrecht<br />

eindeutig um eine Einrede, die zwar vorgerichtlich<br />

und gerichtlich vom Schuldner geltend gemacht<br />

werden kann, die gerichtliche Verfolgung von<br />

Forderungen, deren Bestand als solcher vom<br />

Gesetz nicht in Frage gestellt wird, aber nicht<br />

hindert. Das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen<br />

(Umstände, die auf die COVID-19-Pandemie<br />

zurückzuführen sind; Gefährdung des angemessenen<br />

Lebensunterhalts) kann der Gläubiger<br />

zulässigerweise im Prozess mit Nichtwissen bestreiten.<br />

Dann muss der Schuldner nach allgemeinen<br />

Beweisregeln diese ihm günstigen Tatsachen<br />

darlegen und beweisen. Gelingt ihm dies nicht,<br />

scheitert die Klage des Gläubigers nicht daran.<br />

Gelingt es ihm, ist die Klage als derzeit unbegründet<br />

zurückzuweisen – aber nur, wenn zum<br />

Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung<br />

die Regelung noch gilt.<br />

Ganz abstrus wird die Sache, wenn man Art. 240<br />

§ 1 Abs. 3 EGBGB in die Betrachtung einbezieht:<br />

Danach gilt das alles nicht, „wenn die Ausübung<br />

des Leistungsverweigerungsrechts für den Gläubiger<br />

seinerseits unzumutbar ist“. Was ist das jetzt<br />

rechtlich? Die Einrede gegen die Einrede? Allen<br />

Gläubigern ist jedenfalls dringend zu empfehlen,<br />

diesen Einwand sofort geltend zu machen.<br />

Für Rückstände aus der Zeit vor dem 8.3.<strong>2020</strong><br />

(oder vielleicht auch vor dem 11.3.<strong>2020</strong>, an dem<br />

die WHO die Situation zur Pandemie erklärt hat)<br />

kann das Moratorium sowieso nicht gelten. Es ist<br />

kein Grund ersichtlich, weshalb der Gläubiger<br />

diese nicht weiterhin verfolgen kann.<br />

Dem Gläubiger kann nur geraten werden, an<br />

seinem Beitreibungswesen nichts zu ändern.<br />

Schlimmstenfalls bekommt er für die Corona-<br />

Zeit keine Zinsen, allerschlimmstenfalls wird eine<br />

Klage als derzeit unbegründet (kostenpflichtig)<br />

zurückgewiesen. Aber auch das wird eher nicht<br />

passieren, weil die Gerichte derzeit neue Klagen<br />

wohl eher nicht zügig abarbeiten werden. Das<br />

gerichtliche Mahnverfahren wird sowieso nicht<br />

beeinflusst.<br />

Der Schuldner sollte sich gut überlegen, ob er<br />

nicht weitere Kosten zu seinen Lasten provoziert,<br />

wenn er Gebrauch von Art. 240 § 1 EGBGB macht.<br />

Umso verheerender ist das Signal, das der Gesetzgeber<br />

mit dieser aus juristischer Sicht wirkungslosen<br />

(und überflüssigen, es gibt schließlich<br />

Pfändungsschutzvorschriften) Regelung aussendet.<br />

Wer einen Brand löschen will, sollte auch den<br />

Wasserschaden bedenken. Was passiert nach<br />

dem 30.9.<strong>2020</strong>? Die Verlängerung der Verlängerung?<br />

Wird dann die vertragsbasierte Wirtschaft<br />

durch die Staatswirtschaft ersetzt? Deutschland<br />

wäre damit in einem bisher nicht gekannten<br />

Zustand der Rechtsunsicherheit angelangt: Niemand<br />

kann mehr sicher sein, dass abgeschlossene<br />

Verträge erfüllt werden. Denn die Pandemie<br />

trifft jeden und gibt jedermann einen Grund an<br />

die Hand, seine Zahlungen einzustellen. Aus der<br />

Vertragswirtschaft wird Willkürwirtschaft: Der<br />

Dumme ist, wer zahlt. Denn Pandemie hin oder<br />

her: Angesichts der Millionen und Abermillionen<br />

von Verträgen ist eine gerichtliche Überprüfung,<br />

ob hinter der Zahlungseinstellung wirklich die<br />

Pandemie steht, schlicht nicht möglich, schon gar<br />

nicht in nützlicher Frist. Ohne Vorkasse oder<br />

Barzahlung läuft dann nichts mehr.<br />

Rechtsanwalt MICHAEL BRÄNDLE, Freiburg<br />

372 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Anwaltsmagazin<br />

Gesetzespaket zur Abmilderung<br />

der COVID-19-Folgen<br />

Um den zu erwartenden negativen Folgen der<br />

derzeit grassierenden Pandemie zu begegnen, hat<br />

der Deutsche Bundestag neben zahlreichen finanziellen<br />

Hilfen für Unternehmen, Selbstständige,<br />

den Gesundheitssektor, die Landwirtschaft<br />

und den Kulturbereich am 25.3.<strong>2020</strong> auch das<br />

von den Regierungskoalitionen eingebrachte Gesetz<br />

zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-<br />

Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht<br />

beschlossen (vgl. BT-Drucks 19/18110).<br />

Das im Eilverfahren durchgebrachte Maßnahmenpaket,<br />

dem auch der Bundesrat Ende März<br />

zugestimmt hat, beinhaltet u.a. das Gesetz zur<br />

vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht<br />

und zur Begrenzung der Organhaftung<br />

bei einer durch die COVID-19-Pandemie<br />

bedingten Insolvenz, das Gesetz über Maßnahmen<br />

im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-,<br />

Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht<br />

sowie weitere Änderungen im Strafprozessrecht<br />

und im EGBGB.<br />

Ein Kernbereich des Gesetzes ist der Schutz von<br />

Schuldnern. So werden – zeitlich befristet bis<br />

zum 30. Juni <strong>2020</strong> – in Art. 240 EGBGB neue<br />

Regelungen eingeführt, die Schuldnern, die wegen<br />

der COVID-19-Pandemie ihre vertraglichen<br />

Pflichten nicht erfüllen können, die Möglichkeit<br />

einräumen, die Leistung einstweilen – ohne<br />

nachteilige rechtliche Folgen befürchten zu<br />

müssen – zu verweigern oder einzustellen. Für<br />

Verbraucher und Kleinstunternehmen wird gewährleistet,<br />

dass sie insb. von Leistungen der<br />

Grundversorgung wie Strom, Gas und Telekommunikation<br />

nicht abgeschnitten werden. Zum<br />

Schutz von Mietern wird das Recht der Vermieter<br />

zur Kündigung von Mietverhältnissen<br />

eingeschränkt. Für Verbraucherdarlehensverträge<br />

wird eine gesetzliche Stundungsregelung<br />

und eine Vertragsanpassung nach Ablauf der<br />

Stundungsfrist eingeführt, mit der Möglichkeit<br />

für die Vertragsparteien, eine abweichende Vertragslösung<br />

zu finden. Der Bundesregierung<br />

wird zudem die Befugnis eingeräumt, den vorgenannten<br />

Schutzzeitraum für die Schuldner<br />

per Rechtsverordnung auch über den 30.6.<strong>2020</strong><br />

hinaus auszudehnen, sollte eine Verlängerung<br />

erforderlich werden.<br />

Im Insolvenzrecht wird die Insolvenzantragspflicht<br />

und das Zahlungsverbot bis zum 30.9.<strong>2020</strong> ausgesetzt,<br />

vorausgesetzt, der betreffende Insolvenzfall<br />

beruht auf den Auswirkungen der COVID-19-<br />

Pandemie. Zudem sollen Anreize geschaffen werden,<br />

den betroffenen Unternehmen neue Liquidität<br />

zuzuführen und die Geschäftsbeziehungen zu<br />

diesen aufrechtzuerhalten. Für einen dreimonatigen<br />

Übergangszeitraum wird auch das Recht der<br />

Gläubiger suspendiert, die Eröffnung von Insolvenzverfahren<br />

zu beantragen.<br />

Erleichterungen gibt es auch im Gesellschaftsrecht:<br />

Um Unternehmen in die Lage zu versetzen,<br />

auch bei weiterhin bestehenden Beschränkungen<br />

der Versammlungsmöglichkeiten erforderliche Beschlüsse<br />

zu fassen und handlungsfähig zu bleiben,<br />

werden vorübergehend Vereinfachungen für die<br />

Durchführung von Hauptversammlungen, Gesellschafterversammlungen,<br />

General- und Vertreterversammlungen<br />

der Genossenschaften sowie von<br />

Mitgliederversammlungen von Vereinen geschaffen.<br />

Um den Auswirkungen der Pandemie auf die<br />

Strafverfahren Rechnung zu tragen, wird in das<br />

Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung ein<br />

auf ein Jahr befristeter zusätzlicher Hemmungs-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 373


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

tatbestand für die Unterbrechungsfrist einer<br />

strafgerichtlichen Hauptverhandlung eingefügt.<br />

Er soll es den Gerichten erlauben, die Hauptverhandlung<br />

für maximal drei Monate und zehn<br />

Tage zu unterbrechen, wenn diese aufgrund von<br />

Maßnahmen zur Vermeidung der Verbreitung der<br />

COVID-19-Pandemie nicht durchgeführt werden<br />

kann.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Zugang zu Sozialleistungen<br />

vereinfacht<br />

Um zu verhindern, dass insb. kleine Selbstständige<br />

aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen<br />

der Corona-Pandemie in existenzielle Not geraten,<br />

hat der Bundestag am 25.3.<strong>2020</strong> auch ein<br />

„Sozialpaket“ beschlossen, das den Zugang betroffener<br />

Kleinunternehmer und Solo-Selbstständiger<br />

zu sozialer Sicherung erleichtern soll.<br />

Gerade für diese Personengruppe wirkt sich die<br />

schnelle Verbreitung des Coronavirus besonders<br />

negativ aus. Einzelne Branchen stehen vor großen<br />

oder gar vollständigen Ausfällen ihres Geschäftsbetriebs.<br />

Oft brechen sämtliche ihrer Aufträge<br />

weg. Gründe sind z.B. die Absage von Messen<br />

und Veranstaltungen, wegbrechende Lieferketten<br />

oder Ladenschließungen. Auch soziale Dienste<br />

haben ihre Arbeit ganz oder zum Teil einstellen<br />

müssen. Ausgerechnet dieser Personenkreis hat<br />

jedoch keinen Zugang zu sozialen Absicherungen<br />

wie Arbeitslosen-, Kurzarbeiter- oder Insolvenzgeld.<br />

Ihm soll deshalb mit dem nun beschlossenen<br />

Gesetz der Zugang zu Sozialleistungen<br />

erleichtert werden.<br />

Zu diesem Zweck sollen Selbstständige, v.a. Kleinunternehmer<br />

und sog. Solo-Selbstständige, die<br />

Grundsicherung für Arbeitsuchende in einem<br />

vereinfachten Verfahren schnell und unbürokratisch<br />

erhalten. Dazu werden u.a.<br />

• die Vermögensprüfungen ausgesetzt und<br />

• die tatsächlichen Aufwendungen für die Miete<br />

als angemessen anerkannt.<br />

Auch ältere und erwerbsgeminderte Menschen<br />

können erhebliche Einkommenseinbußen treffen.<br />

Dies gilt insb. im Fall einer gemischten Bedarfsgemeinschaft,<br />

wenn das Einkommen des Hauptverdienenden<br />

wegfällt. Berechtigte im Sozialen<br />

Entschädigungsrecht können ebenso betroffen<br />

sein. Auch in diesen Fällen sollen die geplanten<br />

Maßnahmen greifen. Die Regelungen gelten<br />

zunächst bis zum 30. Juni. Bei Bedarf können sie<br />

bis zum 31. Dezember verlängert werden.<br />

Familien, die Einkommenseinbrüche durch die<br />

Corona-Krise erleiden, erhalten zeitlich befristet<br />

leichteren Zugang zum Kinderzuschlag. Geprüft<br />

werden soll nicht mehr das Einkommen aus den<br />

vergangenen sechs Monaten, sondern nur das vom<br />

vergangenen Monat. Außerdem wird die Vermögensprüfung<br />

ausgesetzt. Für Familien, die im<br />

ablaufenden Bewilligungszeitraum den höchstmöglichen<br />

Gesamtkinderzuschlag bezogen haben,<br />

soll – ohne erneute Einkommensprüfung – eine<br />

einmalige Verlängerung des Kinderzuschlags um<br />

sechs Monate eingeführt werden. So können die<br />

Leistungen ohne Unterbrechung gewährt werden.<br />

Dies soll für die Zeit vom 1.4. bis 30.9.<strong>2020</strong> gelten.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Rekord-Nachtragshaushalt<br />

beschlossen<br />

Um die inzwischen beschlossenen Milliardenhilfen<br />

für die Wirtschaft (s. dazu bereits Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, S. 326 f.) sowie für kleinere<br />

Selbstständige und Familien (s. dazu die vorstehende<br />

Meldung) finanzieren zu können, ist<br />

ein Nachtragshaushalt des Bundes notwendig<br />

geworden, den der Bundestag Ende März ebenfalls<br />

im Eilverfahren gebilligt hat. Er umfasst<br />

122,5 Mrd. Euro für die geplanten Hilfsmaßnahmen.<br />

Der Bundeshaushalt sieht demzufolge<br />

für das Jahr <strong>2020</strong> statt der ursprünglich geplanten<br />

362 Mrd. Euro nun Gesamtausgaben i.H.v.<br />

484,5 Mrd. Euro vor.<br />

Hierzu müssen auch neue Kredite i.H.v. 156 Mrd.<br />

Euro aufgenommen werden. Damit wird die<br />

verfassungsrechtlich verankerte Schuldenobergrenze<br />

deutlich überschritten. Aus Sicht der<br />

Bundesregierung handelt es sich bei der derzeitigen<br />

Pandemie jedoch um eine außergewöhnliche<br />

Notsituation, die diese Überschreitung erforderlich<br />

macht. Der Deutsche Bundestag hat<br />

mit der Mehrheit seiner Mitglieder entschieden,<br />

dass die Voraussetzungen dafür vorliegen. Vorgesehen<br />

sind die Gelder des Nachtragshaushalts<br />

insb. für folgende Ausgaben:<br />

374 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

– 3,5 Mrd. Euro zusätzlich für die Beschaffung von<br />

persönlicher Schutzausrüstung, die Förderung der<br />

Entwicklung eines Impfstoffs und von Behandlungsmaßnahmen;<br />

– 55 Mrd. Euro für weitere Vorhaben der Pandemiebekämpfung;<br />

– 50 Mrd. Euro für die Unterstützung von<br />

Kleinunternehmern, insb. Überbrückungshilfen<br />

für Solo-Selbstständige und andere Kleingewerbetreibende;<br />

mit diesen nicht rückzahlbaren<br />

Zuschüssen können laufende Betriebskosten wie<br />

Mieten, Kredite für Betriebsräume oder Leasingraten<br />

bezahlt werden. Kleinstunternehmen mit<br />

bis zu fünf Beschäftigten erhalten danach bis<br />

9.000 Euro Einmalzahlung für drei Monate; bei<br />

bis zu zehn Beschäftigten fließen bis 15.000 Euro<br />

Einmalzahlung für drei Monate;<br />

– 7,7 Mrd. Euro für die Aufstockung der Mittel für<br />

das Arbeitslosengeld II und die Grundsicherung;<br />

– 5,9 Mrd. Euro für die Aufstockung der Vorsorge<br />

für mögliche Schadensfälle im Gewährleistungsund<br />

Garantiebereich, die insb. infolge der konjunkturellen<br />

Verwerfungen entstehen können.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Anregungen und Kritik der<br />

Anwaltschaft zu den Corona-<br />

Hilfsmaßnahmen<br />

Die im März in aller Eile vorangetriebenen Gesetzgebungsmaßnahmen<br />

im Zusammenhang mit<br />

der COVID-19-Pandemie, die zum großen Teil<br />

ohne die übliche Beteiligung externer Experten<br />

erarbeitet und beschlossen wurden, waren für die<br />

Interessenvertreter der Anwaltschaft Anlass, sich<br />

mit Anregungen und teils auch Kritik an die Politik<br />

und die Öffentlichkeit zu wenden. In Schreiben<br />

etwa an das Bundesjustizministerium und in<br />

mehreren Pressemitteilungen haben sowohl die<br />

Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) als auch<br />

der Deutsche Anwaltverein (DAV) versucht, ihre<br />

Bedenken gegen einzelne Regelungen der Pandemiebekämpfung<br />

und auch der wirtschaftlichen<br />

Hilfspakete noch in die laufenden Gesetzgebungsverfahren<br />

einzubringen.<br />

Als sich die Beschränkungen in der Bewegungsfreiheit<br />

der Bürger sowie die Schließung öffentlicher<br />

Einrichtungen abzeichneten, mahnte etwa<br />

der DAV, die Anwaltschaft nicht zu vergessen:<br />

„Anwälte und ihre Mitarbeiter gehören den systemrelevanten<br />

Berufen an. Deshalb müssen auch sie Anspruch<br />

auf Notbetreuung ihrer Kinder haben“, forderte DAV-<br />

Präsidentin KINDERMANN Mitte März. Des Weiteren<br />

mahnte sie Liquiditätshilfen und Steueraufschübe<br />

auch für Anwältinnen und Anwälte an, da viele<br />

kleine und mittlere Kanzleien – anders als allgemein<br />

geglaubt werde – nur knappe Liquidität für<br />

kurze Zeit hätten.<br />

Auch die BRAK warnte mit Blick auf die wirtschaftliche<br />

Lage vieler Kollegen: „Es wird eine<br />

Zeit nach Corona geben. Für diese Zeit muss schon<br />

jetzt vorgesorgt werden. Der Zugang zum Recht für<br />

Bürgerinnen und Bürger ist massiv gefährdet, wenn wir<br />

jetzt bei Maßnahmenpaketen von Bund und Ländern<br />

die Anwaltschaft nicht berücksichtigen. Gerade kleine<br />

Kanzleien werden in den nächsten Wochen um ihr<br />

Überleben kämpfen müssen“, befürchtete BRAK-<br />

Präsident WESSELS.<br />

Das im Rekordtempo von Bundestag und Bundesrat<br />

beschlossene Gesetz zur Abmilderung der<br />

Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz-<br />

und Strafverfahrensrecht (s. dazu oben<br />

<strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, S. 373) hat die Wünsche und Anregungen<br />

der Anwaltschaft nach Auffassung des DAV<br />

nur teilweise aufgegriffen. Der Verein übte deshalb<br />

– trotz grundsätzlicher Zustimmung – im<br />

Detail heftige Kritik an einzelnen Maßnahmen. So<br />

begrüßte er etwa die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht<br />

bis zum 30.9.<strong>2020</strong>, forderte aber,<br />

dass dies auch für Organe von Vereinen gelten<br />

müsse und dass die Geschäftsleiter von der Krise<br />

betroffener Unternehmen diese fortführen können<br />

müssten, ohne sich erheblichen Haftungsrisiken<br />

auszusetzen.<br />

Die Hilfen für existenzbedrohte Unternehmen<br />

gehen dem DAV ebenfalls nicht weit genug. Er<br />

fordert u.a., die Finanzierer-Haftung für in der<br />

Krise ausgereichte Darlehen zu begrenzen, die<br />

Gesellschafter-Finanzierung in der Krise zu erleichtern<br />

sowie die Unternehmen steuerlich weiter<br />

zu entlasten. An den zivilrechtlichen Schutzmaßnahmen<br />

für Mieter, Darlehensnehmer u.a. kritisierte<br />

die BRAK, dass diese nur auf Verbraucher<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 375


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

abzielen. Der Mittelstand sei nicht berücksichtigt<br />

worden; ihm bleibe nur der Ausschluss der Leistungspflicht<br />

nach § 275 BGB oder die Störung der<br />

Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 2 BGB. Dies sei<br />

nicht zufriedenstellend.<br />

Auch die Neuregelung zur Unterbrechung von<br />

Strafverfahren (s. dazu oben <strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, S. 373 f.)<br />

ist nach Auffassung der Anwaltschaft unzureichend.<br />

So fordert etwa der DAV, das Gesetz auf<br />

größere Verfahren zu beschränken. Wie auch die<br />

BRAK ist er der Auffassung, dass der Hemmungstatbestand<br />

nur einmal im Verfahren angewendet<br />

werden dürfe. Zudem solle die Maßnahme nicht<br />

auch für die Unterbrechungsfrist für die Urteilsverkündung<br />

gelten.<br />

Des Weiteren forderten die Anwaltsvertreter den<br />

Gesetzgeber dazu auf, den Zugang zu anwaltlicher<br />

Unterstützung auch in Krisenzeiten sicherzustellen.<br />

Zur Begründung wiesen sie darauf hin,<br />

dass ein generelles Verbot, die eigene Wohnung<br />

zu verlassen, mit dem Leitbild des Grundgesetzes<br />

nicht zu vereinbaren ist.<br />

Ebenso wie bereits die BRAK (s. dazu Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> 7/<strong>2020</strong>, S. 327) hat auch der DAV auf<br />

seiner Internetseite vielfältige Hinweise für Rechtsanwälte<br />

speziell zu Problemen im Zusammenhang<br />

mit der Pandemie zusammengestellt. Regelmäßig<br />

fortgeschrieben wird hier z.B. eine FAQ-Rubrik, die<br />

sich mit Fragen rund um finanzielle Hilfen für<br />

Kanzleien, mit der Kanzleiorganisation oder mit<br />

Gerichtsterminen befasst (BRAK: www.brak.de, u.a.<br />

mit einer Sammlung aller behördlichen Erlasse,<br />

Allgemeinverfügungen und Rechtsverordnungen<br />

sowie einem Überblick über finanzielle Hilfen für<br />

Rechtsanwälte; DAV: www.anwaltverein.de, u.a. mit<br />

tagesaktueller FAQ-Rubrik).<br />

[Quellen: BRAK/DAV]<br />

Die Corona-Krise zeigt nach Auffassung des Deutschen<br />

Richterbundes (DRB) diverse Lücken in<br />

der IT-Ausstattung der Gerichte auf. Die Arbeitsfähigkeit<br />

der Justiz sei dadurch zwar nicht bedroht,<br />

betonte DRB-Geschäftsführer SVEN REBEHN Ende<br />

März gegenüber einer Presseagentur. Die Pandemie<br />

sei aber ein Weckruf, jetzt mehr Tempo bei der<br />

Digitalisierung der Gerichte an den Tag zu legen.<br />

Aus der Corona-Krise müsse die Politik jetzt<br />

die Konsequenzen ziehen, so REBEHN. Die aktuelle<br />

Krise werfe auch ein Schlaglicht auf Lücken bei<br />

der IT-Ausstattung, Engpässe in den Datennetzen<br />

und die Probleme beim Umstieg auf den<br />

elektronischen Rechtsverkehr. So brauche es in<br />

den kommenden Jahren einen deutlichen Schub<br />

bei der Digitalisierung in der Rechtspflege.<br />

Rechtsstaat und Justiz seien aber auch im aktuellen<br />

Krisenmodus handlungsfähig, betonte der<br />

Richtervertreter. Die Gerichte schlössen die wichtigen<br />

Strafverfahren wie aktuell das gegen die<br />

Neonazi-Gruppe Revolution Chemnitz ab, trieben<br />

eilige Haftsachen voran und führten dringende<br />

Anhörungen etwa in Betreuungsfällen durch. Von<br />

einem Stillstand der Rechtspflege könne deshalb<br />

keine Rede sein.<br />

[Red.]<br />

Eckpunkte für eine Reform<br />

des Namensrechts<br />

Das Bundesinnen- und das Bundesjustizministerium<br />

haben Ende März ein Eckpunktepapier für<br />

eine Novellierung des deutschen Namensrechts<br />

veröffentlicht. Es fasst die Ergebnisse der gemeinsam<br />

von beiden Ministerien 2018 eingesetzten<br />

Arbeitsgruppe mit Expertinnen und Experten aus<br />

Justiz, Forschung und Verwaltung zusammen.<br />

In der Arbeitsgruppe wirkten der Richter am BGH<br />

Dr. ANDRÉ BOTUR (XII. Zivilsenat), Prof. Dr. ANATOL<br />

DUTTA (Universität München), Prof. Dr. TOBIAS<br />

HELMS (Universität Marburg), Richter am VGH<br />

MATTHIAS HETTICH (VGH Baden-Württemberg), Verwaltungsdirektor<br />

KARL KRÖMER (Leiter des Standesamts<br />

Augsburg), Prof. Dr. KATHARINA<br />

LUGANI<br />

Pandemie zeigt IT-Lücken<br />

in der Justiz auf<br />

(Universität Düsseldorf) sowie Prof. Dr. CLAUDIA<br />

MAYER (Universität Regensburg) mit.<br />

In der Praxis habe sich, so die Argumentation,<br />

gezeigt, dass das deutsche Namensrecht zu kompliziert,<br />

zu unübersichtlich und in Teilen sogar in<br />

sich widersprüchlich sei. Die Bürger wünschten<br />

sich klare Regeln und einfachere Möglichkeiten<br />

zur Namensänderung. Dies sei in vielen anderen<br />

europäischen Ländern bereits der Fall.<br />

376 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Die jetzt vorgelegten Ergebnisse der Experten<br />

sehen deshalb eine umfassende Reform des Namensrechts<br />

mit folgenden Eckpunkten vor:<br />

Die namensrechtlichen Regelungen sollen in einem<br />

Gesetz zusammengefasst und gleichzeitig<br />

die unterschiedlichen Zuständigkeiten bei einer<br />

Behörde zusammengeführt werden. Bisher finden<br />

sich namensrechtliche Regelungen in verschiedenen<br />

Gesetzen. Die Zuständigkeit für namensrechtliche<br />

Fragen ist zwischen den Standesämtern und<br />

den Verwaltungsbehörden geteilt.<br />

Namensänderungen sollen erleichtert und die<br />

Möglichkeiten zur Wahl des Namens erweitert<br />

werden. Vorgeschlagen wird beispielsweise, zweigliedrige<br />

Doppelnamen als gemeinsamen Namen<br />

eines Ehepaares oder eines gemeinsamen Kindes<br />

zuzulassen. Dies sei ein Wunsch, den viele Eltern<br />

und Ehepaare hegten.<br />

Die Vorschläge sollen nun der Öffentlichkeit präsentiert<br />

und zur fachlichen Diskussion gestellt<br />

werden. Die Bundesregierung will in der nächsten<br />

Legislaturperiode über einen Reformvorschlag entscheiden.<br />

[Quelle: BMI]<br />

Bundesrat will Nachbesserungen<br />

im Kampf gegen Hasskriminalität<br />

Mit Änderungen im Straf- und Strafprozessrecht<br />

will die Bundesregierung Morddrohungen in sozialen<br />

Medien, Hetze oder Beleidigungen gegen<br />

Kommunalpolitiker und Rettungskräfte sowie<br />

antisemitisch motivierte Straftaten künftig effektiver<br />

verfolgen und härter bestrafen lassen<br />

(vgl. dazu zuletzt Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 22/2019,<br />

S. 1158). Dazu hat sie kürzlich einen Gesetzentwurf<br />

vorgelegt. Danach sollen antisemitische<br />

Motive künftig grds. strafschärfend wirken.<br />

Auch üble Nachrede und Verleumdung gegen<br />

Kommunalpolitiker sollen künftig härter bestraft<br />

werden. Für Personen, die aufgrund ihrer<br />

beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit Anfeindungen<br />

und Bedrohungen ausgesetzt sind,<br />

sollen entsprechende Auskunftssperren im Melderegister<br />

eingerichtet werden.<br />

Anbieter sozialer Netzwerke sollen verpflichtet<br />

werden, strafbare Inhalte künftig bei einer neuen<br />

Zentralstelle im Bundeskriminalamt zu melden.<br />

Richten sie nur unzureichende Meldesysteme<br />

ein, könnte dies mit einem Bußgeld sanktioniert<br />

werden. Bislang müssen Anbieter entsprechende<br />

Veröffentlichungen löschen oder sperren – eine<br />

Aufklärung und Strafverfolgung ist dadurch nicht<br />

möglich.<br />

Die Bundesregierung begründet ihren Entwurf<br />

mit der zunehmenden Verrohung in den sozialen<br />

Medien. Hierdurch würden nicht nur die Persönlichkeitsrechte<br />

der Betroffenen verletzt, sondern<br />

auch der freie Meinungsaustausch sei gefährdet.<br />

Schon jetzt sei zu beobachten, dass Menschen<br />

sich aus Angst vor den Reaktionen nicht mehr<br />

äußerten.<br />

In seiner Stellungnahme zu dem Vorhaben mahnt<br />

der Bundesrat allerdings Nachbesserungen an –<br />

sowohl am Gesetzentwurf allgemein als auch an<br />

zahlreichen Detailregelungen.<br />

So fordert die Ländervertretung etwa, für Anbieter<br />

von sozialen Medien das sog. Marktortprinzip<br />

einzuführen; die Anbieter könnten sich dann nicht<br />

mehr darauf berufen, dass die von den Behörden<br />

abgefragten Daten im Ausland gespeichert sind,<br />

da sie ihre Leistungen in Deutschland anbieten.<br />

Insgesamt sei auch zu prüfen, ob es neben den<br />

punktuellen Änderungen im Gesetzentwurf nicht<br />

einer grundlegenden Modernisierung der Normen<br />

zum Schutz der Ehre bedürfe.<br />

Weitere Änderungswünsche der Länder beziehen<br />

sich auf die Präzisierung von Straftatbeständen,<br />

den Kreis der Auskunftsverpflichteten sowie die<br />

Kompetenzen des Bundeskriminalamts als neuer<br />

Zentralstelle für Meldepflichten für Anbieter<br />

sozialer Medien. Nachbesserungen verlangt der<br />

Bundesrat auch bei der Darstellung der Kostenfolgen<br />

für den Justiz- und Polizeibereich, insb.<br />

beim Personalbedarf. Die Bundesregierung müsse<br />

konkreter darlegen, welche Auswirkungen die<br />

von ihr geplanten Maßnahmen auf die Länderhaushalte<br />

hätten.<br />

[Quelle: Bundesrat]<br />

Zahl der Straftaten erneut gesunken<br />

Die Anzahl der Straftaten im vergangenen Jahr war<br />

– trotz Wachstums der Einwohnerzahl – erneut<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 377


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

rückläufig. Dies geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik<br />

für 2019 hervor, die das Bundesinnenministerium<br />

im März vorgelegt hat. Im Jahr 2019<br />

hat die Polizei danach 5.436.401 Straftaten festgestellt;<br />

ohne Berücksichtigung der ausländerrechtlichen<br />

Verstöße seien 5.270.782 Straftaten<br />

erfasst worden, das entspreche einem Rückgang<br />

um 2,3 % im Vergleich zum Vorjahr, erläuterte das<br />

Ministerium. Demgegenüber sei die Bevölkerung<br />

erneut gewachsen, allein von 2018 auf 2019 um<br />

226.862 Menschen.<br />

und schwerer Körperverletzung“ (2018: 136.727<br />

Fälle) registriert. Im Vergleich zum Vorjahr ist die<br />

„Gewaltkriminalität“ damit um 2,3 % geringfügig<br />

gesunken.<br />

Gestiegen sind dagegen die Fallzahlen in folgenden<br />

weiteren Deliktbereichen: Computerkriminalität<br />

(plus 11,3 %), Widerstand gegen und<br />

tätlicher Angriff auf die Staatsgewalt (plus 8 %)<br />

sowie Straftaten nach dem Arzneimittelgesetz<br />

(plus 6,3 %).<br />

[Quelle: BMI]<br />

Die Aufklärungsquote lag im Berichtszeitraum<br />

bei 56,2 % und damit knapp unter dem Höchststand<br />

von 2018 (56,5 %). Die Zahl der Tatverdächtigen<br />

lag mit 1.896.221 um 1,8 % niedriger als<br />

im Vorjahr (2018: 1.931.079). Die Mehrheit der<br />

Tatverdächtigen war männlich (2019: 75,6 %). Der<br />

Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen betrug<br />

– wie im Vorjahr – ca. 30 %; die Zahl ist 2019 auf<br />

577.241 gesunken (2018: 589.200).<br />

Bei der Diebstahlskriminalität ist ein Rückgang<br />

von 5,9 % auf 1.822.212 Fälle zu verzeichnen. Es<br />

handelt sich dabei um den niedrigsten Wert<br />

seit 1987. Dies liegt laut Bundesinnenministerium<br />

insb. an dem wiederholt starken Rückgang beim<br />

Wohnungseinbruchsdiebstahl um 10,6 % (2019:<br />

87.145 Fälle), beim Taschendiebstahl um 9,7 %<br />

(2019: 94.106) und beim Diebstahl aus bzw. an Kfz<br />

um 10,2 % (2019: 222.129). Auch die erfassten<br />

Straftaten der Wirtschaftskriminalität gingen um<br />

19,9 % zurück.<br />

Bei der Verbreitung pornografischer Schriften war<br />

statistisch eine Steigerung um 51,6 % zu beobachten,<br />

insb. bei der Verbreitung kinderpornografischer<br />

Schriften (plus 64,6 %). Durch die verstärkten<br />

Aktivitäten der Sicherheitsbehörden konnten<br />

mehr Straftaten vom Dunkelfeld ins Hellfeld gerückt<br />

werden. Zudem führte die Zusammenarbeit<br />

der mit der halbstaatlichen US-amerikanischen<br />

Nichtregierungsorganisation „NCMEC“ und<br />

deutschen Internetbeschwerdestellen zu deutlich<br />

mehr Hinweisen und Ermittlungsansätzen. Auch<br />

beim sexuellen Missbrauch von Kindern war 2019<br />

eine Zunahme von 10,9 % zu verzeichnen.<br />

Bei der sog. Gewaltkriminalität wurden im Jahr<br />

2019 bundesweit 181.054 Fälle (2018: 185.377<br />

Fälle), darunter 133.<strong>08</strong>4 Fälle von „gefährlicher<br />

Bundesratsinitiative gegen<br />

Kindesmissbrauch<br />

Der Bundesrat hat dem Bundestag einen Gesetzentwurf<br />

zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes<br />

vorgelegt (vgl. BT-Drucks 19/18019<br />

v. 18.3.<strong>2020</strong>). Das Gesetz soll die zeitlich unbegrenzte<br />

Aufnahme von Verurteilungen wegen<br />

sexuellen Missbrauchs von Kindern in das erweiterte<br />

Führungszeugnis ermöglichen. Wie es<br />

in dem Entwurf heißt, wurde durch das Fünfte<br />

Gesetz zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes<br />

(BZRG) v. 16.7.2009 das erweiterte Führungszeugnis<br />

eingeführt. Dessen Ziel sei es, den<br />

betroffenen Stellen Informationen zur Verfügung<br />

zu stellen, um Personen, die wegen Straftaten<br />

zum Nachteil von Minderjährigen verurteilt worden<br />

sind, vom Umgang mit Minderjährigen auszuschließen.<br />

Dieses Ziel werde wegen der Aufnahmefristen<br />

und Tilgungsfristen des BZRG nicht<br />

im erforderlichen Umfang erreicht.<br />

Der Gesetzentwurf sieht als zentrale Regelung<br />

vor, Verurteilungen wegen Sexualdelikten gegen<br />

Kinder und Jugendliche von der Aufnahmefrist<br />

auszunehmen, wenn ein erweitertes Führungszeugnis<br />

beantragt wird. Parallel hierzu sollen<br />

diese Verurteilungen von der Tilgung ausgenommen<br />

werden. Dies bewirke, heißt es in dem<br />

Entwurf, dass diese Verurteilungen zeitlich unbegrenzt<br />

in ein erweitertes Führungszeugnis aufgenommen<br />

werden. Mit dieser Änderung solle<br />

erreicht werden, dass wegen Taten zum Nachteil<br />

von Kindern verurteilten Sexualstraftätern der<br />

berufliche und ehrenamtliche Umgang mit Kindern<br />

und Jugendlichen dauerhaft verwehrt werden<br />

kann.<br />

[Quelle: Bundesrat]<br />

378 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Gesetzentwurf zur Europäischen<br />

Staatsanwaltschaft<br />

Die Bundesregierung hat im März einen Gesetzentwurf<br />

(vgl. BT-Drucks 19/17963) vorgelegt, der<br />

der Umsetzung der EU-Verordnung 2017/1939<br />

des EU-Rates v. 12.10.2017 zur Durchführung einer<br />

Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung<br />

der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA)<br />

dient. Um die Verpflichtungen aus der EUStA-<br />

Verordnung vollständig und bundeseinheitlich zu<br />

erfüllen, so die Bundesregierung, bedürfe es<br />

zusätzlich einiger Durchführungsbestimmungen.<br />

Der Gesetzentwurf beinhaltet neben einem neuen<br />

Stammgesetz, dem „Europäische-Staatsanwaltschaft-Gesetz“,<br />

auch einzelne Neuregelungen im<br />

Gerichtsverfassungsgesetz und der Strafprozessordnung.<br />

Bei der EUStA handelt es sich um eine unabhängige<br />

europäische Staatsanwaltschaft mit Sitz in<br />

Luxemburg. Sie ist zuständig für die strafrechtliche<br />

Ermittlung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung<br />

bei Straftaten zum Nachteil der<br />

finanziellen Interessen der Europäischen Union<br />

nach der EU-Richtlinie über die strafrechtliche<br />

Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen<br />

der Union gerichtetem Betrug.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Juristinnen halten geplante<br />

Vorstandsquote für unzureichend<br />

Die Bundesministerien für Familie, Senioren, Frauen<br />

und Jugend (BMFSFJ) sowie der Justiz und für<br />

Verbraucherschutz (BMJV) haben kürzlich einen<br />

Gesetzesvorschlag auf den Weg gebracht, der in<br />

Führungspositionen von großen Unternehmen<br />

für einen höheren Frauenanteil sorgen soll. Hintergrund<br />

ist die Evaluation des Gesetzes für die<br />

gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern<br />

an Führungspositionen in der Privatwirtschaft<br />

und im öffentlichen Dienst (FüPoG) vom Mai 2015.<br />

Diese hatte ernüchternde Ergebnisse erbracht. Ihr<br />

zufolge konnte zwar der Frauenanteil in Aufsichtsräten<br />

mithilfe der festen Quote auf 35 % gesteigert<br />

werden. Die freiwillige Zielgrößenverpflichtung für<br />

die Vorstände hatte allerdings versagt. Der Frauenanteil<br />

dort liegt unter acht Prozent. Und rund<br />

80 % der unter das Gesetz fallenden Unternehmen<br />

hat sich für den Vorstand gar keine Zielgröße oder<br />

die Zielgröße Null gesetzt.<br />

Prof. Dr. MARIA WERSIG, Präsidentin des Deutschen<br />

Juristinnenbunds e.V. (djb) kritisierte die Lage mit<br />

folgenden Worten: „Mit der selbstgesetzten Zielgröße<br />

Null oder gar keiner Zielgröße haben die<br />

Vorstände deutlich gemacht, dass sie einfach keine<br />

einzige Frau unter sich dulden wollen, kein einziger<br />

Mann aus ihren Old-Boys-Netzwerken auf seinen Sitz<br />

oder seine Chancen verzichten muss.“<br />

Nach den neuen Plänen aus den beiden Bundesministerien<br />

soll das FüPoG künftig folgende<br />

Regelung enthalten: Besteht der Vorstand eines<br />

börsennotierten und paritätisch mitbestimmten<br />

Unternehmens aus vier oder mehr Personen, soll<br />

bei Neubesetzung mindestens eine Frau bestellt<br />

werden. Die Zielgröße Null soll klar und verständlich<br />

begründet und veröffentlicht werden.<br />

Bei Verstößen gegen die Meldepflicht über Zielgrößen,<br />

Fristen und Begründungen soll es künftig<br />

spürbare Sanktionen bis zu zehn Mio. Euro geben.<br />

An diesen Plänen kritisiert der Juristinnenbund,<br />

dass dies gegenüber dem Status quo keine weitgehende<br />

Änderung wäre. Eine Frau im Vorstand<br />

allein könne eine „von Männern für traditionelle<br />

Männer geprägte Unternehmenskultur“ nicht ändern.<br />

Sie erlebe stattdessen Anpassungszwang und<br />

höhere Anforderungen. Immerhin sei es aber ein<br />

Anfang. Eine feste Besetzungsregel für eine Frau<br />

garantiere wenigstens, dass sie „nicht wegen eines<br />

Mannes weggemobbt“ werde, wie nicht selten zu<br />

beobachten sei. Der Gesetzgeber sei, so argumentieren<br />

die Juristinnen, durch Art. 3 Abs. 2 GG dazu<br />

verpflichtet, für tatsächliche Gleichstellung zu<br />

sorgen. Quoten seien hierfür ein rechtmäßiges<br />

Mittel, weil sie helfen, strukturelle Diskriminierung<br />

zu überwinden. Allerdings beginne Gleichstellung<br />

nicht erst in den Vorständen.<br />

Der djb fordert deshalb eine Erweiterung der Anforderungen<br />

an die Erklärungspflicht im FüPoG.<br />

Prof. Dr. MARIA WERSIG erläuterte: „Der Gesetzentwurf<br />

der Ministerinnen für eine neue Quote in Vorständen<br />

ist ein guter Anfang und muss jetzt umgesetzt<br />

werden! Um die Gläserne Decke tatsächlich zu durchbrechen,<br />

braucht es allerdings weitreichendere verpflichtende<br />

Maßnahmen, nicht nur in den Vorständen,<br />

sondern schon auf dem Weg dahin.“ [Quelle: djb]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 379


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Widerrufsfrist bei Verbraucherkreditverträgen<br />

Eine interessante Entscheidung zur Berechnung<br />

der Widerrufsfrist bei Verbraucherkreditverträgen<br />

hat jetzt der EuGH gefällt. Er entschied, dass<br />

Verbraucherkreditverträge in klarer und prägnanter<br />

Form alle Modalitäten für die Berechnung<br />

der Widerrufsfrist angeben müssen und dass es<br />

nicht ausreicht, dass der Vertrag hinsichtlich der<br />

Pflichtangaben, deren Erteilung an den Verbraucher<br />

für den Beginn der Widerrufsfrist maßgeblich<br />

ist, auf eine nationale Vorschrift verweist, die<br />

selbst wiederum auf weitere nationale Rechtsvorschriften<br />

verweist (EuGH, Urt. v. 26.3.<strong>2020</strong> –<br />

C-66/19).<br />

Vorgelegt hatte die Rechtsfrage das LG Saarbrücken.<br />

Bei ihm ist ein Fall anhängig, in dem ein<br />

Verbraucher bei seiner Kreissparkasse einen grundpfandrechtlich<br />

gesicherten Kredit aufgenommen<br />

und seine Vertragserklärung vier Jahre später<br />

widerrufen hatte. Der Kreditvertrag sieht vor, dass<br />

der Darlehensnehmer seine Vertragserklärung innerhalb<br />

von 14 Tagen widerrufen kann und dass<br />

diese Frist nach Abschluss des Vertrags zu laufen<br />

beginnt, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer<br />

alle Pflichtangaben erhalten hat, die das BGB vorsieht.<br />

Diese Angaben allerdings, deren Erteilung<br />

an den Verbraucher für den Beginn der Widerrufsfrist<br />

maßgeblich ist, führt der Vertrag nicht selbst<br />

auf. Er verweist lediglich auf die entsprechende<br />

BGB-Vorschrift, die selbst auf weitere Vorschriften<br />

weiterverweist. Die Frage war nun, ob der<br />

Widerruf des Kreditnehmers noch nicht verspätet<br />

war, weil er nicht ordnungsgemäß informiert<br />

worden war.<br />

Diese Frage bejahte der EuGH. Er verweist auf die<br />

EU-Richtlinie 20<strong>08</strong>/48/EG v. 23.4.20<strong>08</strong> über Verbraucherkreditverträge<br />

und zur Aufhebung der<br />

Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl 20<strong>08</strong>, L 133,<br />

S. 66, ber. in ABl 2009, L 207, S. 14, ABl 2010, L 199,<br />

S. 40 und ABl 2011, L 234, S. 46), wonach ein<br />

Verbraucherkreditvertrag in klarer und prägnanter<br />

Form die Modalitäten für die Berechnung der<br />

Widerrufsfrist angeben muss. Bei sog. Kaskadenverweisungen<br />

wie der vorliegenden könne der<br />

Verbraucher auf der Grundlage des Vertrags aber<br />

weder den Umfang seiner vertraglichen Verpflichtung<br />

bestimmen noch überprüfen, ob der<br />

von ihm abgeschlossene Vertrag alle erforderlichen<br />

Angaben enthalte, und erst recht nicht, ob<br />

die Widerrufsfrist, über die er verfügen könne, für<br />

ihn zu laufen begonnen habe. [Quelle: EuGH]<br />

Besteuerung bei Veräußerung<br />

einer Praxis<br />

Auf eine wichtige Entscheidung des Bundesfinanzhofs<br />

(BFH) zur tarifbegünstigten Veräußerung<br />

einer freiberuflichen Praxis hat die Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK) hingewiesen. Der<br />

Entscheidung lag der Fall eines Steuerberaters<br />

zugrunde, der seine Steuerberaterpraxis verkauft<br />

hat. Die Aussagen des BFH sind jedoch<br />

auf Rechtsanwälte übertragbar (BFH, Beschl.<br />

v. 11.2.<strong>2020</strong> – VIII B 131/19).<br />

In den Leitsätzen stellt der BFH zunächst fest, dass<br />

die tarifbegünstigte Veräußerung einer freiberuflichen<br />

Praxis (§§ 18 Abs. 3 i.V.m. 34 EStG) voraussetzt,<br />

dass der Steuerpflichtige die wesentlichen<br />

vermögensmäßigen Grundlagen seiner bisherigen<br />

Tätigkeit entgeltlich und definitiv auf einen anderen<br />

überträgt. Hierzu muss der Veräußerer seine<br />

freiberufliche Tätigkeit in dem bisherigen örtlichen<br />

Wirkungskreis wenigstens für eine gewisse Zeit<br />

einstellen. Wann eine „definitive“ Übertragung der<br />

wesentlichen Betriebsgrundlagen vorliegt, hängt<br />

jeweils von den Umständen des Einzelfalls ab.<br />

Eine starre zeitliche Grenze, nach der die Tätigkeit<br />

steuerunschädlich wieder aufgenommen werden<br />

kann, bestehe nicht, so der BFH. Dementsprechend<br />

sei auch keine sog. Wartezeit von mindestens<br />

drei Jahren einzuhalten.<br />

Dann stellt der BFH klar, dass es grds. unschädlich<br />

ist, wenn der Veräußerer als Arbeitnehmer oder<br />

als freier Mitarbeiter im Auftrag und für Rechnung<br />

des Erwerbers tätig wird. Auch eine geringfügige<br />

Fortführung der bisherigen freiberuflichen<br />

Tätigkeit steht der Annahme einer begünstigten<br />

Praxisveräußerung nicht entgegen und zwar auch<br />

dann nicht, wenn sie die Betreuung neuer Mandate<br />

umfasst, so der BFH. Damit wenden sich die<br />

Finanzrichter gegen die Auffassung des Bundesministeriums<br />

der Finanzen. Es bleibt jetzt – so<br />

der Kommentar der BRAK – abzuwarten, wie die<br />

Finanzverwaltung auf die Entscheidung reagiert.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

380 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

Buchreport<br />

Berichte über juristische Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt aus der Sicht des anwaltlichen Praktikers.<br />

Lesen Sie hier, sortiert nach den einzelnen <strong>ZAP</strong> Fächern, welche Werke für die Mandatspraxis von<br />

Bedeutung sind.<br />

Miete/Nutzungen<br />

NIEDENFÜHR/SCHMIDT-RÄNTSCH/VANDENHOUTEN (Hrsg.), WEG – Kommentar und Handbuch zum<br />

Wohnungseigentumsrecht, 13. Aufl. 2019, Deutscher Anwaltverlag, 920 S., 114 €<br />

Das perfekt auf die Bedürfnisse eines Praktikers zugeschnittene Werk ist zugleich Kommentar und<br />

Handbuch zum Wohnungseigentumsrecht. Die Teile 1 und 2 enthalten die Vorschriften und die<br />

Kommentierung zum WEG. In Teil 3 wird die Heizkostenverordnung erläutert, soweit diese im Wohnungseigentum<br />

relevant ist. Weitere für den Bereich des Wohnungseigentums wichtige Vorschriften<br />

zum Wärmeschutz und dem Grundbuchrecht sind im Teil 4 dargestellt. Der Teil 5 widmet sich<br />

umfangreichen Mustertexten, sowohl zur Begründung von Wohnungseigentum als auch für Verfahren<br />

in Wohnungseigentumssachen. Er enthält Muster und Texte zur Verwaltung des gemeinschaftlichen<br />

Eigentums, die gerade für den Praktiker wertvolle Arbeitshilfen sind. Die Darstellung im Werk ist sehr<br />

praxisbezogen mit umfangreichen Literatur- und Rechtsprechungshinweisen, mit Schwerpunkt auf der<br />

Rechtsprechung. Jeder Vorschrift ist eine einschlägige Literaturübersicht vorangestellt. Die klare<br />

Gliederung erleichtert die Arbeit mit dem Werk. Das Stichwortverzeichnis ist so detailliert gestaltet,<br />

dass sich rasch eine Lösung zum Stichwort finden lässt. Insgesamt ein gerade für den Anwalt sehr zu<br />

empfehlendes Werk.<br />

RAin und FAin für Miet- und Wohnungseigentumsrecht Dr. ANNEGRET HARZ, München<br />

BÄRMANN (Hrsg.), WEG – Wohnungseigentumsgesetz. Kommentar, 14., neu bearb. Aufl. 2018,<br />

C.H. Beck, 1.962 S., 149 €<br />

Der Klassiker, der „Bärmann“, ist das Standardwerk zum Wohnungseigentumsrecht und wird von<br />

ausgewiesenen Fachleuten bearbeitet. Er wurde in der 14. Auflage auf den neuesten Stand von Literatur<br />

und Rechtsprechung gebracht. Großen Wert legen die Bearbeiter auf die Erläuterung der aktuellen<br />

Rechtsprechung. Insbesondere der V. Senat des Bundesgerichtshofs hat seit Erscheinen der 13. Auflage<br />

wegweisende Entscheidungen gefällt, die umfangreich dargestellt werden. Sowohl die materiellen als<br />

auch die verfahrensrechtlichen Vorschriften sind übersichtlich gegliedert und ausführlich kommentiert.<br />

Die oft stiefmütterlich behandelten §§ 30 bis 42 WEG sind so klar und kenntnisreich kommentiert, dass<br />

es eine Freude ist, die Erläuterungen zu lesen. Der große Fundus an zitierter Rechtsprechung ermöglicht<br />

die gute Kenntnis der obergerichtlichen Rechtsprechung. Auch die Neuauflage ist uneingeschränkt zu<br />

empfehlen. RAin und FAin für Miet- und Wohnungseigentumsrecht Dr. ANNEGRET HARZ, München<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 381


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

BURHOFF/GRÜN (Hrsg.), Messungen im Straßenverkehr, 5. Aufl. 2019, <strong>ZAP</strong> Verlag, 1072 S., 104 €<br />

Das bereits in 5. Auflage erscheinende Standardwerk zu Messungen im Straßenverkehr will der<br />

Anwaltschaft technische Kenntnisse für die Argumentation bei Geschwindigkeits-, Abstands- und<br />

Rotlichtmessungen vermitteln. Dies gilt insb. deshalb, weil die Messverfahren mit Beispielsfällen unterlegt<br />

sind, sodass der Zugang zu der technisch komplexen Materie nachvollziehbar wird. Das ist aus<br />

Verteidigersicht auch dringend notwendig, denn Hersteller, Anwender und die PTB lassen trotz der<br />

allseits bekannten und natürlich eingearbeiteten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs Saarland<br />

(Lv 1/18 und Lv 7/17) zur Überlassung der Rohmessdaten und der entsprechenden Einsicht in die<br />

Unterlagen nicht erkennen, dass dieser Rechtsprechung (vgl. auch Übersicht § 3 Rn 196 ff.) gefolgt<br />

werden soll. Hier wird wohl nur das Bundesverfassungsgericht die erforderliche Durchschlagskraft<br />

garantieren können. Daneben erfordert der technische Fortschritt natürlich auch die Anpassung der<br />

Messsysteme (ES 8.0 und ES. 3.0; Poliscan FM 1 und Traffistar S 350 von Jenoptik), die gleichsam in die<br />

Neuauflage Eingang gefunden haben. Schon deshalb ist in der Praxis der Verteidigung das aktualisierte<br />

Werk vonnöten. Das Buch ist gegliedert in Messverfahren, medizinische Aspekte, Rechtsfragen im<br />

Zusammenhang mit Geschwindigkeitsüberschreitungen, Abstandsmessungen, Rotlichtverstößen und<br />

Trunkenheitsfahrten und hat in der Anlage noch diverse Arbeitshilfen, insb. die Richtlinien für die<br />

Geschwindigkeitsüberwachung der einzelnen Bundesländer. Letztere sind besonders deswegen von<br />

Interesse, weil sie vorgeben, unter welchen Umständen bzw. unter welchen Voraussetzungen die<br />

Überzwachung erfolgen soll. Besonders hilfreich ist auch die aktualisierte Rechtsprechung zum Maß der<br />

Überschreitung bzw. zur relativen Geschwindigkeitsüberschreitung, die den Gerichten ermöglicht, auf<br />

das Vorliegen eines Vorsatzes zu schließen (§ 3 Rn 89 ff.) zur Vermeidung von Verteidigungsfehlern. Von<br />

besonderem Interesse sind die Hinweise zur Besichtigung der Messörtlichkeiten (§ 1 Rn 1755 ff.), weil sie<br />

nämlich für die örtlichen Besonderheiten sensibilisieren und mithilfe der Beispielsfälle anschaulich<br />

dargestellt sind. Gleiches gilt für den grundlegenden Aufbau eines Gutachtens (§ 2 Rn 51 ff.) gerade bei<br />

den immer wieder in der Kritik stehenden morphologischen Gutachten. Auch das Prüfschema für den<br />

Rechtsanwalt ist aktualisiert. Ebenso wird das Messen durch Nachfahren wie die Problematik von<br />

„illegalen Straßenrennen“ und Dashcams behandelt. Ergänzend fiel der Rezensentin lediglich auf, dass<br />

Buchfäden zur Markierung eine dankenswerte Unterstützung wären, ebenso wie das Stichwortregister<br />

noch ausführlicher sein könnte. Kurz: Der/die anwaltliche Verteidiger/-in kann dieser umfassenden<br />

Hilfestellung nur dankbar sein!<br />

RAin und FAin für Straf- und Verkehrsrecht, zert. Mediatorin/Coach GESINE REISERT, Berlin<br />

OPPERMANN/STENDER-VORWACHS (Hrsg.), Autonomes Fahren. Technische Grundlagen, Rechtsprobleme,<br />

Rechtsfolgen, 2. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 501 S., 89 €<br />

Trotz aller Medienberichte ist autonomes Fahren mit Kraftfahrzeugen aktuell noch weitgehend eine<br />

Zukunftsvision. Bereits im Jahr 2017 hat der Gesetzgeber aber in §§ 1a bis 1c StVG eine rechtliche<br />

Grundlage für das hoch- oder vollautomatisierte Fahren geschaffen. Das vorliegende Werk widmet<br />

sich den technischen Grundlagen, Rechtsproblemen und Rechtsfolgen des automatisierten Fahrens.<br />

Die ersten beiden Kapitel behandeln eingehend die tatsächlichen Grundlagen und Perspektiven des<br />

autonomen Fahrens. Der Schwerpunkt der folgenden rechtlichen Grundlagen liegt beim Zivilrecht.<br />

Neben der Halterhaftung geht es dabei vorrangig um die Fahrerhaftung und die Frage, welche<br />

Konsequenzen sich aus den neuen gesetzlichen Regeln zum automatisierten Fahren ergeben. Auch die<br />

Themenkreise Produkt- und Produzentenhaftung, Privatversicherungsrecht, Marktrecht und Verbraucherschutz,<br />

Arbeitsrecht sowie Datenschutzrecht werden eingehend dargestellt. Der verwaltungsrechtliche<br />

Abschnitt befasst sich mit Auswirkungen der Grundrechte sowie Fragen der Zulassung<br />

autonomer Fahrzeuge. Naturgemäß besitzen strafrechtliche Fragestellungen in diesem Bereich eine<br />

besondere Brisanz, was durch einige tödliche Unfälle in den USA verstärkt wird. Nach Darstellung<br />

der klassischen Elemente der Fahrlässigkeitsdogmatik führt Prof. Dr. SUSANNE BECK deren vermeintlich<br />

erforderliche Adaption auf das autonome Fahren insb. im Bereich der Zurechnung und des erlaubten<br />

Risikos durch. Hierbei werden Problemfelder und durchaus relevante Kriterien benannt, wobei die<br />

382 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

Verfasserin ausdrücklich betont, keine endgültigen Lösungen gefunden zu haben. Allerdings ist besondere<br />

Vorsicht bei solchen Adaptionen, sprich Veränderungen der Fahrlässigkeitsdogmatik geboten.<br />

Nicht das Recht folgt der Technik, sondern die Technik dem Recht. Das wird auch bei den behandelten<br />

„Dilemma-Situationen“ deutlich (Ausweichen vor einem Fußgänger auf der Straße nur bei Verletzung/<br />

Tötung anderer Personen möglich). Ich hätte zudem die Behandlung von reinen Handlungsdelikten<br />

erwartet (etwa §§ 316 StGB, 21 StVG), wobei das Merkmal des „Führens“ unter Rückgriff auf den<br />

Handlungsbegriff von Bedeutung ist. Das dürfte in einer sicher zu erwartenden Neuauflage noch folgen.<br />

Sicher gegenwärtig noch kein Werk für die alltägliche Praxis, wird das Buch zukünftig ein Standardwerk<br />

sein, sobald das autonome Fahren seinen Weg in den Alltag findet. Es lohnt eine Anschaffung schon<br />

heute.<br />

Richter am Amtsgericht Dr. AXEL DEUTSCHER, Bochum<br />

Versicherungsrecht<br />

RÜFFER/HALBACH/SCHIMIKOWSKI (Hrsg.), Versicherungsvertragsgesetz. Handkommentar, 4. Aufl. <strong>2020</strong>,<br />

Nomos Verlag, 2.556 S., 158 €<br />

Gut vier Jahre nach der dritten Auflage haben die Herausgeber mit erweitertem Autorenteam den<br />

Kommentar auf einen aktuellen Stand (Oktober 2019) gebracht. An der Struktur und den Schwerpunkten<br />

des Werks wurde festgehalten, d.h. neben den einschlägigen gesetzlichen Regelungen (VVG,<br />

EGVVG, VVG-Info-VO, AltZertG, PflVG und KfzPflVG) werden zahlreiche Musterbedingungswerke des<br />

GdV zu den „klassischen“ Versicherungszweigen besprochen. Als Autoren sind neu dabei SABINE PAWIG-<br />

SALM, Dr. SVEN ERICHSEN und FLORIAN SALM. Alle drei befassen sich mit dem noch jungen Themengebiet der<br />

Cyber-Versicherung, zu dem der GdV seit der Vorauflage erstmals die AVB Cyber veröffentlicht hat. Auf<br />

einige davon abweichende Regelungen in den Bedingungswerken einzelner Versicherer wird teilweise<br />

mit Nennung der Verwender Bezug genommen. Die Darstellung ermöglicht eine rasche Übersicht<br />

und Einarbeitung in das Thema. Berücksichtigt wurden die durch die Umsetzung der IDD Richtlinie<br />

eingetretenen Änderungen bei den Beratungspflichten der Versicherer und Vermittler sowie bei den<br />

Informationspflichten (§§ 6, 7a–7d, 61 VVG). Die Kommentierung berücksichtigt auch die aktualisierten<br />

Bedingungen zur Wohngebäudeversicherung (VGB 2016), der Hausratversicherung (VHB 2016), der<br />

Kfz-Versicherung (AKB 2015 mit den aktuellen KfzSBHH), der privaten Unfallversicherung (AUB 2014)<br />

und der privaten Haftpflichtversicherung (AVB PHV). Neben den neuen Bedingungen zur Berufsunfähigkeitszusatzversicherung<br />

(BUZ) wurden auch die Bedingungen zur Berufsunfähigkeits-Versicherung<br />

mit zusätzlicher Absicherung bei Arbeitsunfähigkeit (BUV-AU) aufgenommen. Fazit: Das Werk<br />

erfüllt die hohen Erwartungen an eine Folgeauflage eines niveauvollen Handkommentars. Kompakt,<br />

pragmatisch, aktuell. Die Anschaffung der vierten Auflage des Kommentars lohnt sich für jede versicherungsrechtliche<br />

Handbibliothek.<br />

RA ANDRÉ NAUMANN, Bornheim<br />

Familienrecht<br />

KEIDEL/ENGELHARDT/STERNAL, FamFG, Kommentar, 20., überarb. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 3.229 S., 149 €<br />

Beim Inkrafttreten des FamFG im Jahre 2009 war der Gesetzgeber der Ansicht, damit sei das<br />

Verfahrensrecht einfacher geworden. Allein der um fast 400 Seiten angewachsene Umfang von jetzt<br />

3.229 Seiten des von KEIDEL begründeten und jetzt von ENGELHARDT und STERNAL herausgegebenen<br />

Kommentars bestätigt Zweifel an dieser Einschätzung. Zudem ist das FamFG allein seit der Vorauflage<br />

durch 53 Vorschriften, verteilt auf 15 Gesetze, geändert worden, die in die Neufassung eingearbeitet<br />

worden sind. Umso wichtiger ist für die Praxis ein Erläuterungswerk wie der „Keidel“ als bewährter<br />

Klassiker des Verfahrensrechts, in dem ein Autorenteam aus Justiz, Notariaten, der Rechtsanwaltschaft<br />

sowie Hochschulen sicher und zuverlässig und wieder brandaktuell durch die nicht wenigen Herausforderungen<br />

und Untiefen des FamFG führt. Die hohe Qualität des Buches zeigt sich schon daran, dass<br />

kaum eine Entscheidung des BGH oder der Obergerichte, die sich mit verfahrensrechtlichen Fragen<br />

befasst, auf Zitate aus dem Werk verzichtet. Hervorzuheben bei den neu bearbeiteten Passagen sind<br />

besonders die Ausführungen zu den Genehmigungsvorbehalten bei freiheitsentziehenden und ärztlichen<br />

Maßnahmen, zur „Ehe für alle“, zur elektronischen Akte, zur Bekämpfung von Kinderehen sowie<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 383


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

zum Verfahren mit Auslandsbezug. Wegen der großen „Streubreite“ des FamFG vom Familienrecht<br />

über die Betreuungs- und Unterbringungssachen, Freiheitsentziehungssachen, Nachlass- und Teilungssachen<br />

und Registersachen bis hin zum Aufgebotsverfahren wird ein solches Werk nicht nur im<br />

Gerichtsalltag und in der Anwaltskanzlei benötigt, sondern auch im Notariat, beim Steuerberater,<br />

Wirtschaftsprüfer und Mitarbeitern in Versicherungsunternehmen sowie in Behörden. Für all diese<br />

Professionen kann dieses ausgezeichnete Hilfsmittel uneingeschränkt empfohlen werden.<br />

RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />

NIEPMANN/SEILER, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 14., völlig überarb. Aufl. 2019,<br />

C.H. Beck, 544 S., 57 €<br />

Wenn ein juristisches Fachbuch in 14. Auflage erscheint – wie das Werk „Die Rechtsprechung zur Höhe<br />

des Unterhalts“ –, hat es sich als Standardwerk etabliert. Das von KALTHOENER/BÜTTNER begründete Werk<br />

wird jetzt von NIEPMANN und SEILER fortgeführt, zwei durch zahlreiche Veröffentlichungen ausgewiesene<br />

erfahrene gerichtliche Praktiker des Familienrechts. Dabei ist der Titel „Die Rechtsprechung zur Höhe<br />

des Unterhalts“ eine starke Untertreibung, denn das 544 Seiten umfassende Buch befasst sich nicht<br />

nur mit der Höhe des Unterhalts, sondern geht auch intensiv und verständlich auf die rechtlichen<br />

Grundlagen der Unterhaltsansprüche ein. Es ist übersichtlich aufgebaut, gut lesbar, mit Randnummern<br />

strukturiert und wird durch ein umfangreiches Stichwortverzeichnis vervollständigt. Im ersten Teil des<br />

Buches werden die Grundlagen der in der Praxis üblichen Schematisierung der Unterhaltsberechnung<br />

anhand von Tabellen und Leitlinien, Quoten und Schlüsseln und die sonstigen Fragen der Berechnungsmethoden<br />

erörtert. Der zweite Teil behandelt die unterhaltsrechtlichen Grundlagen der Bedürftigkeit<br />

des Berechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten. Auch bietet das Buch eine kurze<br />

Übersicht zu den für die anwaltliche Beratungspraxis wichtigen Themen der Unterhaltsbegrenzung<br />

nach § 1578b BGB und zur Minderung und Ausschluss des Unterhalts nach § 1579 BGB und § 1611 BGB.<br />

Abschließend folgen Ausführungen zum endgültigen Erlöschen und Wiederaufleben eines Unterhaltsanspruchs<br />

wie zum familienrechtlichen Ausgleichsanspruch. Das kompakte und gut zugängliche Buch<br />

ist ein ausgezeichnetes Hilfsmittel bei der Bearbeitung unterhaltsrechtlicher Auseinandersetzungen und<br />

kann für die anwaltliche Praxis uneingeschränkt empfohlen werden.<br />

RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />

SCHNITZLER (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Familienrecht, 5. überarb. und erweiterte<br />

Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 1.959 S., 179 €<br />

Es hat lange gedauert, aber nach 5 Jahren ist die Neuauflage des bewährten Münchener Anwaltshandbuchs<br />

Familienrecht erschienen. Die einzelnen Abschnitte des Werkes sind verfasst von einer<br />

hochkarätigen Mischung praxiserfahrener Autorinnen und Autoren aus Justiz, Anwaltschaft, Notariat<br />

und Sachverständigen. Behandelt wird die gesamte Palette des Familienrechts. Beginnend mit dem<br />

familienrechtlichen Mandatsverhältnis (einschließlich berufsrechtlicher und haftungsrechtlicher Fragen)<br />

werden über das Unterhaltsrecht, das Sorge- und Umgangsrecht, Gewaltschutz, Hausrat, Zugewinn,<br />

Vermögensauseinandersetzung außerhalb des Güterechts, Versorgungsausgleich, Eheverträge und<br />

Scheidungsvereinbarungen, nichteheliche Lebensgemeinschaft und eingetragene Lebenspartnerschaft,<br />

Abstammungsrecht, Versicherungsrecht und Steuerecht, Verfahrensrecht, Kosten und Vergütungsrecht<br />

und das internationale Familienrecht kommentiert. In den besonders praxisrelevanten Kapiteln<br />

zum Unterhalt behandeln die Autoren nach grundsätzlichen Fragen die Unterhaltsansprüche minderjähriger<br />

und volljähriger Kinder, den Trennungsunterhalt, den Nachscheidungsunterhalt ebenso wie den<br />

Elternunterhalt, den Familienunterhalt und den Unterhalt nicht miteinander verheirateter Eltern nach<br />

§ 1615l BGB. Gerade für die anwaltliche Beratungspraxis ist die in § 9 enthaltene tabellarische Übersicht<br />

mit 257 seit 2001 ergangenen Entscheidungen zur Unterhaltsbegrenzung nach § 1578b BGB besonders<br />

hilfreich. Auch der Übergang von Unterhaltsansprüchen auf Sozialleistungsträger fehlt nicht; ebenso<br />

finden sich Ausführungen zur Vermeidung der Überzahlung von Unterhalt, die sich mit der sofortigen<br />

Wirksamkeit von Unterhaltsentscheidungen und Einschränkungen der Vollstreckung befassen. Das mit<br />

Register insgesamt 1.959 Seiten umfassende Werk ist nach Paragraphen gegliedert, der Text ist gut<br />

lesbar und durch Randnummern übersichtlich strukturiert. Fazit: Eine klare Empfehlung!<br />

RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />

384 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

Nachlass/Erbrecht<br />

GIERL/KÖHLER/KROIß/WILSCH (Hrsg.), Internationales Erbrecht, 3. Aufl. <strong>2020</strong>, Nomos Verlag,<br />

944 S., 118 €<br />

Das Internationale Erbrecht hat insb. durch die Harmonisierung des Erbrechts in der europäischen Union<br />

durch die am 16.8.2012 in Kraft getretene europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO), die für alle<br />

Erbfälle ab dem 17.8.2015 gilt, an Bedeutung gewonnen. Das Werk der Herausgeber WALTER GIERL,<br />

Dr. ANDREAS KÖHLER, Prof. Dr. LUDWIG KROIß und HARALD WILSCH bietet eine umfassende Darstellung des<br />

Internationalen Erbrechts. Die dritte Auflage gliedert sich nunmehr in sechs Teile:<br />

• Teil 1 EuErbVO;<br />

• Teil 2 Art. 1 des Gesetzes zum Internationalen Erbrecht;<br />

• Teil 3 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1329/2014 der Kommission vom 9.12.2014;<br />

• Teil 4 Sonderfragen;<br />

• Teil 5 Internationale Staatsverträge auf dem Gebiet des Internationalen Erbrechts;<br />

• Teil 6 Länderberichte.<br />

Die vorgenannten Teile untergliedern sich in weitere Kapitel, denen zur besseren Übersicht jeweils eine<br />

eigene Inhaltsübersicht vorangestellt wird. Hierdurch kann der Praktiker seine Fragestellungen gezielt<br />

auffinden und in der Bearbeitung von Mandaten und Fällen ohne Zeitverlust umsetzen. Neben der<br />

Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung ist der vierte Teil, der das Internationale Erbrecht im<br />

Rechtspflegergesetz, im Grundbuchverfahren sowie im Kostenrecht beinhaltet, durch die Autoren neu<br />

gefasst worden. Weiterhin sind die Länderberichte in Teil 6 ergänzt und überarbeitet worden. Die<br />

21 Länderberichte sind von spezialisierten Autoren für das jeweilige Land verfasst worden, wodurch die<br />

länderspezifischen Besonderheiten konzentriert auf den Punkt gebracht werden. Das Werk „Internationales<br />

Erbrecht“ ist ein zuverlässiger Begleiter bei der Bearbeitung von Erbrechtsfällen mit internationalem<br />

Bezug. Durch eine Vielzahl von Praxis- und Formulierungshinweisen sowie den detaillierten<br />

Länderberichten wird eine effektive Mandatsbearbeitung gewährleistet, insb. bei der Beratung hinsichtlich<br />

der Wahl des anzuwendenden Erbrechts. Daher darf diese Neuauflage in keinem erbrechtlichen<br />

Bücherregal fehlen.<br />

RA Dr. LUTZ FÖRSTER, Brühl<br />

HORN (Hrsg.), Anwaltformulare Vorsorgevollmachten. Gestaltung – Widerruf – Missbrauch,<br />

1. Aufl. 2019, zerb Verlag, 616 S., 89 €<br />

Das Bewusstsein und die Bereitschaft in der Bevölkerung, eine Vorsorgevollmacht zu errichten, ist durch<br />

die zunehmende Berichterstattung in den Medien in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Insbesondere<br />

durch die Zugriffsmöglichkeit auf Mustervorsorgevollmachten im Internet findet eine Vollmachtserteilung<br />

innerhalb von wenigen Minuten ohne eine hinreichende anwaltliche oder notarielle Beratung<br />

statt. Eine Vollmachtserteilung ohne hinreichende Beratung birgt aber die Gefahr des Missbrauchs, die<br />

dann anwaltlich gelöst werden muss. Das Werk „Anwaltformulare Vorsorgevollmachten“ des Herausgebers<br />

RA Dr. CLAUS-HENRIK HORN und eines aus langjährigen und erfahrenen Praktikern bestehenden<br />

Autorenteams bietet dem Praktiker einen schnellen umfassenden Einstieg in die anwaltliche Beratung bei<br />

Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen sowie eine zielorientierte Hilfestellung bei zahlreichen<br />

Fragestellungen. Der erste Teil des Werks befasst sich mit der Gestaltung von Vorsorgedokumenten und<br />

besteht aus zehn Kapiteln (§ 1 Vorsorgevollmacht, § 2 Geschäftsfähigkeit, § 3 Vorsorgevollmacht für<br />

Unternehmer, § 4 Patientenverfügung/Bestattungsverfügung, § 5 Betreuungsverfügung, § 6 Kontrollbevollmächtigung<br />

und -betreuung, § 7 Formvorschriften, § 8 Besondere Themen für die notarielle<br />

Vorsorgevollmacht, § 9 Gebühren und Vergütung, § 10 Verwahrung, Registrierung und Ablieferung). Der<br />

zweite und dritte Teil des Werks befassen sich mit den Rechtsverhältnissen zwischen Vollmachtgeber<br />

und Bevollmächtigtem (§ 11 Gesetzliche Grundlagen und vertragliche Modifikationen, § 12 Der Anwalt<br />

als [Vorsorge-]Bevollmächtigter) und Widerruf, Kraftloserklärung und Erlöschen (§ 13 Erlöschen der<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 385


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Vollmacht, § 14 Widerruf der Vollmacht, § 15 Kraftloserklärung der Vollmacht, § 16 Gerichtliche<br />

Sicherungsmaßnahmen). Der vierte und fünfte Teil befassen sich mit der Durchsetzung von Vorsorgedokumenten<br />

(§ 17 Verwendung von Vorsorgevollmachten, § 18 Die Umsetzung der Patientenverfügung,<br />

§ 19 Rechtsfolgen einer unwirksamen Bevollmächtigung, § 20 Kollision einer erteilten<br />

Vorsorgevollmacht mit erbrechtlichen Instituten) und den gegenseitigen Ansprüchen bei Vollmachten<br />

(§ 21 Ansprüche des Bevollmächtigten und § 22 Ansprüche des Vollmachtgebers). Der sechste Teil schließt<br />

mit Hinweisen und Empfehlungen der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und<br />

Patientenverfügungen im ärztlichen Alltag. Das Werk wird durch eine Vielzahl von Musterformulierungen<br />

und Musterschriftsätzen unterstützt. Die Ausführungen zur Errichtung einer Vorsorgevollmacht<br />

enthalten Textbausteine zur Errichtung einer Vorsorgevollmacht, wobei zwischen zwei Grundmustern<br />

(Grundmuster I.: ausführlicher Text; Grundmuster II.: kurzer Text) differenziert wird. Entsprechend kann<br />

eine an den Bedürfnissen und Wünschen des Mandanten orientierte Vorsorgevollmacht errichtet werden.<br />

Durch die mitgelieferte CD-ROM können die Musterformulierungen direkt bei der Mandatsbearbeitung<br />

berücksichtigt werden. Durch die Verwendung von Mustervorlagen und die Reduzierung von<br />

wissenschaftlichen Diskussionen auf das notwendige Maß bieten die „Anwaltformulare Vorsorgevollmachten“<br />

ein hervorragendes Handwerkszeug, um die Fragen und Probleme bei der Errichtung, dem<br />

Gebrauch und dem Missbrauch einer Vorsorgevollmacht/Patientenverfügung umfassend und lösungsorientiert<br />

zu bearbeiten.<br />

RA Dr. LUTZ FÖRSTER, Brühl<br />

Zivilprozessrecht<br />

BECHTELER/RAUE, Zivilprozess für Anfänger, 1. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 291 S., 45 €<br />

Das hier vorzustellende Werk füllt eine Lücke in der prozessrechtlichen Ausbildungsliteratur: Es<br />

behandelt den Zivilprozess weder aus einer dogmatischen Perspektive, wie die klassischen Lehrbücher<br />

für Studierende, noch handelt es sich um Ausbildungsliteratur für das Referendariat, und auch nicht um<br />

ein reines Formularbuch für die Praxis. Vielmehr wendet sich das Werk gezielt an Berufseinsteiger als<br />

Rechtsanwälte, die zum ersten Mal gewissermaßen „auf eigenen Beinen stehend“ Zivilprozesse führen.<br />

Es enthält eine ausgewogene Mischung aus erläuternden Texten, Checklisten und Formulierungsvorschlägen.<br />

Beide Autoren sind als erfahrene Litigation-Experten in einer Großkanzlei tätig. Dadurch ist<br />

sichergestellt, dass die Inhalte des Werks unmittelbar in der Praxis verwertbar sind und genau die<br />

Themen adressieren, die Berufsanfängern erfahrungsgemäß immer wieder Schwierigkeiten bereiten.<br />

Inhaltlich orientiert sich das Werk am tatsächlichen Ablauf eines Zivilprozesses, beginnend mit der<br />

außergerichtlichen Tätigkeit, die so praxisrelevante Fragen wie die Recherche nach den ladungsfähigen<br />

Anschriften der Beklagtenparteien, deren „Solvenz“ und die Auswahl des zuständigen Gerichts umfasst.<br />

Es folgen Darlegungen und Formulierungsvorschläge für das Verfahren in 1. und 2. Instanz sowie ein<br />

kurzer Abriss über das Revisionsverfahren aus Sicht des begleitenden Instanzanwalts sowie zum<br />

einstweiligen Rechtsschutz, zum Urkundenprozess und dem Mahnverfahren. Alle Darlegungen widmen<br />

sich spezifisch der anwaltlichen Perspektive und sparen nicht mit praxisrelevanten Tipps, Checklisten<br />

und hilfreichen Formulierungsvorschlägen. Das Werk ist für Einsteiger im Anwaltsberuf unbedingt zu<br />

empfehlen, aber auch für alle anderen Rechtsanwälte, die nur gelegentlich Zivilprozesse führen und ihre<br />

praktischen Kenntnisse auffrischen wollen, hervorragend geeignet. Prof. Dr. THOMAS RIEHM, Passau<br />

DUVE/EIDENMÜLLER/HACKE/FRIES, Mediation in der Wirtschaft. Wege zum professionellen<br />

Konfliktmanagement, 3. Aufl. 2019, Verlag Dr. Otto Schmidt, 400 S., 49,80 €<br />

Das Autorenquartett hat vor allen Dingen das Ziel, die Lesenden mit der Methode und dem Potenzial<br />

der Mediation als Instrument eines effektiven Konfliktmanagements bei Streitigkeiten in und<br />

zwischen Unternehmen vertraut zu machen. Zunächst möchte man meinen, dass der Adressatenkreis<br />

damit auf im Wirtschaftsrecht tätige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte oder Berater beschränkt<br />

sei. Dies ist jedoch mitnichten der Fall. Denn das in drei Teile gegliederte Werk sollte an sich für alle<br />

mit Konflikten befassten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte von Interesse sein. So werden die<br />

386 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

Ursachen und Folgen von Konflikten, insb. der Konfliktverlauf, aufgefächert und veranschaulicht.<br />

Die Methode der Mediation wird griffig erklärt, zudem praxisgerecht mit dem im Anhang befindlichen<br />

Beispiel für die Eröffnungsworte begleitet. Besonders interessant dürfte auch sein, dass die<br />

Autoren eine Checkliste zur Organisation eines Mediationsverfahrens einerseits und andererseits<br />

zum Anforderungsprofil an einen Mediator oder Mediatorin eingestellt haben, um dieses Werkzeug<br />

der Konfliktbeilegung auch in die Beratungspraxis einzubringen. Das Buch begleitet eine Anzahl<br />

von Beispielen, die die Wirksamkeit der Mediation darstellen können (für eine Berlinerin natürlich<br />

besonders interessant: Flughafen Berlin-Brandenburg International, Beispiel 11, S. 174). Dass die<br />

Autoren sämtlich wissenschaftlich in der Konfliktforschung und praktisch mit der Mediation aktiv sind,<br />

lässt sich zwanglos am Literaturverzeichnis ablesen wie auch dem umfassenden Fußnotenapparat.<br />

Hierbei ist erfreulich, dass der Lesefluss des Buchteils durch die Fußnoten nicht unterbrochen wird,<br />

sondern eine kompakte Darstellung mit Zusammenfassungen am Kapitelende gelingt. So ist das<br />

umfassende Buch auch eine Fundgrube für Mediatoren, die schon mit den Beispielen ihre Perspektiven<br />

weiten und auf den aktuellen Stand der Konfliktforschung gebracht werden. Der interdisziplinäre<br />

Blick auf psychologische Hintergründe und Wirkmechanismen ist gelungen. Dieses Buch ist für alle (!)<br />

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ein „must read“. Denn es wird in der täglichen Beratungs- und<br />

Anwaltspraxis eine entscheidende Veränderung bewirken, verstärken, jedenfalls manifestieren –<br />

wenn es um Kommunikation und Konflikte geht.<br />

RAin und FAin für Straf- und Verkehrsrecht, zert. Mediatorin/Coach GESINE REISERT, Berlin<br />

Wirtschafts-/Urheber- und Medienrecht/Marken- und Wettbewerbsrecht<br />

SCHMITT/HERRMANN, Vertragsklauseln im Wirtschaftsrecht. Musterformulierungen mit<br />

Erläuterungen, 1. Aufl. 2019, C.H. Beck, 203 S., 59 €<br />

An der Uni lernen Jurastudenten zwar, welche Voraussetzungen ein wirksamer Vertrag erfüllen<br />

muss und wann Allgemeine Geschäftsbedingungen vorliegen – wie man diese Regelwerke gestaltet,<br />

das verrät einem allerdings niemand so richtig. Eine kautelarjuristische Tätigkeit ist regelmäßig<br />

„learning by doing“ bzw. „training on the job“. Und genau hier setzt dieses Werk an. Es ist in drei Teile<br />

gegliedert, wobei der erste Teil eine kurze, aber äußerst sinnvolle Einführung enthält, in welcher die<br />

grundlegenden Prinzipien (z.B. Transparenz, Umgehungsverbot oder auch Auslegungsgrundsätze)<br />

vermittelt werden. Anschließend behandelt der zweite Teil typische Vertragsklauseln, vom Vertragsschluss<br />

über Leistungsänderung, Gewährleistung oder auch Eigentumsvorbehalt bis hin zu den<br />

unvermeidlichen salvatorischen Klauseln. In insgesamt 30 Unterabschnitten findet sich in diesem<br />

Hauptteil jeweils ein Klauselmuster inklusive Erläuterungen zu einzelnen Aspekten; die Musterformulierungen<br />

sind jeweils unabhängig von speziellen Vertragstypen gestaltet. So gehen die Autoren<br />

beispielsweise in puncto Lieferzeit und Lieferverzug dezidiert auf den Beginn der Lieferfrist, den<br />

Lieferverzug sowie auf den Verzugsschaden ein. In dieser sehr informativen und zugleich praxisorientierten<br />

Weise werden die einzelnen Klauseln besprochen und in den meisten Fällen auch mit<br />

konkreten Lösungsansätzen, Regelungsalternativen und Praxisempfehlungen versehen. Zudem finden<br />

sich an der einen oder anderen Stelle auch immer mal wieder „Negativbeispiele“, die plakativ zeigen<br />

sollen, wie es eben nicht geht. Der dritte Teil des Werks stellt einzelne Besonderheiten in den<br />

Bereichen Arbeits- und Vertriebsrecht dar. Durch die im Werk mitgelieferten Musterformulierungen<br />

sowie die ergänzenden Hinweise können alle Textvorschläge sehr einfach an die individuellen<br />

Bedürfnisse angepasst werden. Da eine Vielzahl an Literatur und Rechtsprechung von Seiten der<br />

Autoren ausgewertet und im Buch verwendet wurde, gelangt der Leser zielsicher durch den<br />

Dschungel des Vertrags- bzw. AGB-Rechts und erhält am Ende die Möglichkeit, rechtssichere<br />

Verträge gestalten zu können. Schon aufgrund des absolut fairen Preis-Leistungs-Verhältnisses sollte<br />

dieses Werk in keiner anwaltlichen Literatursammlung fehlen – es sei denn, man hat mit der Gestaltung<br />

von Verträgen oder auch mit deren Prüfung überhaupt nichts zu tun.<br />

RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 387


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

DUDENBOSTEL/MARKOWSKI/OBERTHÜR/SCHLEGEL/SCHMID, Das arbeitsrechtliche Mandat: Arbeitsrecht<br />

bei Umstrukturierungen aus Arbeitnehmerperspektive, 1. Aufl. 2019, Deutscher Anwaltverlag,<br />

440 S., 54 €<br />

Das Fachbuch aus der Reihe „Das arbeitsrechtliche Mandat“ richtet sich primär an Anwälte, die<br />

entweder als Fachanwälte oder verstärkt im Bereich des Arbeitsrechts tätig sind. Es umfasst 440 Seiten<br />

und ist am 16.7.2019 im Deutschen Anwaltverlag in seiner ersten Auflage erschienen. Das Buch<br />

beleuchtet die arbeitsrechtlichen Folgen einer von Arbeitgeberseite geplanten Umstrukturierung und ist<br />

dabei in vier Hauptteile gegliedert. Blinkwinkel aller vier Teile ist, wie bereits der Titel verrät, die<br />

Arbeitnehmerperspektive. Dabei befassen sich die §§ 1 und 2 praxisnah mit kollektivrechtlichen Fragen<br />

einer Umstrukturierung, wobei § 3 eine umfangreiche Darstellung zu den Anforderungen an<br />

Massenentlassungen liefert. § 4 geht dann auf die individualrechtlichen Arbeitnehmerfragen bei einer<br />

betriebsbedingten Kündigung wegen Umstrukturierung ein. Das Buch schafft es, das komplexe Thema<br />

der Folgen einer Betriebsumstrukturierung für Betriebsräte und Arbeitnehmer umfassend aufzuarbeiten,<br />

wobei es sich im Aufbau an der Praxis orientiert und nicht nur schematisch dem Gesetzestext<br />

folgt. Vom Leser wird deshalb gerade in §§ 1 und 2 eine gewisse Vorkenntnis erwartet. Das ist allerdings<br />

auch dem Umstand geschuldet, dass ein Praktiker, der die Grundzüge des BetrVG nicht kennt,<br />

Schwierigkeiten damit haben wird, der praxisorientierten Struktur des Buches ohne Weiteres zu folgen.<br />

Sind die Grundkenntnisse beim Leser vorhanden, gehen die Autoren sehr detailliert auf die Einzelfragen<br />

ein und bearbeiten diese unter Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung erschöpfend. § 3 gibt einen<br />

umfassenden Einblick in das Thema „Massenentlassung“ und ist dabei nicht nur unter dem Gesichtspunkt<br />

der Unternehmensumstrukturierung von Interesse. Auf 55 Seiten vermag die Autorin das Thema<br />

umfänglich und absolut alltagstauglich darzustellen. Die betriebsbedingte Kündigung wird abschließend<br />

in § 4 ausgiebig durchleuchtet und in ihren Einzelheiten nicht nur unter dem Gesichtspunkt<br />

der Umstrukturierung, sondern allgemein leicht verständlich dargestellt. Praktikern, die sich mit Fragen<br />

der Unternehmensumstrukturierung konfrontiert sehen, kann das Buch nur empfohlen werden. Und<br />

wer allgemeine Fragen zur Massenentlassung oder betriebsbedingten Kündigung hat, wird hier<br />

ebenfalls fündig. RA und FA für Versicherungs- und Arbeitsrecht GEORG RUPPRECHT, LL.M., Bremen<br />

HENSSLER/GRAU (Hrsg.), Arbeitnehmerüberlassung, Solo-Selbstständige und Werkverträge,<br />

2. Aufl. <strong>2020</strong>, Deutscher Anwaltverlag, 470 S., 54 €<br />

Das Autorenteam um die Herausgeber Prof. Dr. MARTIN HENSSLER und Dr. TIMON GRAU stellt in vorliegender<br />

zweiter Auflage des Ratgebers ausführlich die durch den Koalitionsvertrag und neue Gesetze bedingte<br />

Fortentwicklung des Rechts der Arbeitnehmerüberlassung seit der AÜG-Reform von 2017 vor. Mit<br />

leichter Feder führen die Autoren den interessierten Leser gut verständlich durch die durchaus<br />

komplexen Themenfelder und geben ihm hilfreiche Lösungsansätze zur praktischen Handhabung des<br />

Fremdpersonaleinsatzes an die Hand. Kontroverse Rechtsansichten zu einzelnen Problemstellungen<br />

werden dabei ebenso aufgezeigt wie „der sichere Weg“ für den Anwalt. Wünschenswert wäre nur noch<br />

ein weiteres Kapitel betreffend die formalen Voraussetzungen der Erlaubniserteilung zur Arbeitnehmerüberlassung<br />

und die hier auftauchenden Problemstellungen. Dafür befasst sich eines der fünf Kapitel<br />

des Buches intensiv mit der in der Literatur sonst eher vernachlässigten, doch äußerst relevanten<br />

Thematik der Überlassung von (auch vermeintlichen) Solo-Selbstständigen (i.e. Freie Mitarbeiter) bei<br />

Dritten. Dem Leser wird hier mittels vier übersichtlicher Fallgruppen ein guter Überblick zur Lösung von<br />

arbeits-, sozial- und steuerrechtlichen Problemstellungen an die Hand gegeben. Zahlreiche Schaubilder,<br />

Checklisten und viele nützliche Praxisbeispiele runden das Werk ab. Fazit: Ein nach meinem Dafürhalten<br />

mehr als hilfreicher Ratgeber für den mit der Drittüberlassung von Mitarbeitern befassten Anwalt.<br />

Bestens für den Praktiker!<br />

RA BERND PONETSMÜLLER, München<br />

388 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

PAULY/OSNABRÜGGE/HUTH, Das arbeitsrechtliche Mandat: Teilzeit und geringfügige Beschäftigung,<br />

1. Aufl. 2019, Deutscher Anwaltverlag, 528 S., 69 €<br />

Das Fachbuch ist wie der oben besprochene Titel zum „Arbeitsrecht bei Umstrukturierungen“ Teil der<br />

Reihe „Das arbeitsrechtliche Mandat“, die sich primär an Praktiker richtet, die im Bereich des<br />

Arbeitsrechts tätig sind. Das 528 Seiten umfassende Buch ist dank seiner detaillierten Darstellung der<br />

besprochenen Rechtsgebiete aber auch für ein breiteres Kollegenfeld geeignet, gerade auch für<br />

diejenigen, die erst einmal einen Einstieg in die Thematik suchen. Inhaltlich gliedert sich das Buch in<br />

30 Paragrafen. In § 1 wird zunächst allgemein der Arbeitnehmerbegriff definiert. §§ 2 bis 12 befassen sich<br />

sodann umfänglich mit dem TzBfG, wobei die Untergliederungen jeweils klar abgetrennte Einzelthemen<br />

und Problemfelder des TzBfG behandeln. Dabei werden einzelne Gebiete, wie z.B. Urlaub, Mutterschutz<br />

und Elternzeit, erschöpfend besprochen, sodass die Lektüre nicht nur unter dem Gesichtspunkt der<br />

Teilzeitbeschäftigung von Vorteil ist, sondern insgesamt diese Themenbereiche sehr gut darstellt. Ab<br />

§ 13 befassen sich die Autoren mit den einschlägigen Nebengesetzen zur Reduzierung der Arbeitszeit<br />

und bleiben auch hier dem Aufbau treu, die einzelnen Themenbereiche verständlich voneinander<br />

abzutrennen. In § 18 wird auch die Neuregelung zur Arbeitszeitverlängerung berücksichtigt, die erst<br />

seit dem 1.1.2019 gilt, was der Aktualität des im August 2019 in erster Auflage erschienenen Buches<br />

zugutekommt. In den §§ 27 bis 29 wird dann auf den Themenbereich der geringfügigen Beschäftigung<br />

eingegangen, wobei gerade auch die sozialversicherungsrechtlichen und steuerlichen Aspekte leicht<br />

verständlich aufgearbeitet werden. In § 30 endet das Buch mit hilfreichen Mustern, Checklisten,<br />

Formularen und Übersichten. Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um ein hervorragendes Gesamtwerk,<br />

das sowohl als Nachschlagewerk in der alltäglichen Arbeit als auch als Lehrbuch für den<br />

Einstieg in die besprochenen Rechtsgebiete bestens geeignet ist. Dabei verstehen es die Autoren, nicht<br />

nur die Grundlagen präzise und klar darzustellen, sondern auch Spezialprobleme zu behandeln, die sogar<br />

der erfahrene Praktiker nicht ohne Weiteres in petto hat. Damit handelt es sich bei dem Werk um ein<br />

Buch, das dem Leser von den ersten Schritten im Arbeitsrecht bis zum Ende seiner arbeitsrechtlichen<br />

Tätigkeit ein wertvoller Begleiter sein kann.<br />

RA und FA für Versicherungs- und Arbeitsrecht GEORG RUPPRECHT, LL.M., Bremen<br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

GERCKE/LEIMENSTOLL/STIRNER, Handbuch Medizinstrafrecht, 1. Aufl. <strong>2020</strong>, Wolters Kluwer, 7<strong>08</strong> S., 99 €<br />

Die Autoren des nun in erster Auflage erschienenen „Handbuch Medizinstrafrecht“ GERCKE/LEIMENSTOLL/<br />

STIRNER weisen in ihrem Vorwort selbst darauf hin, dass das Medizinstrafrecht „lebt und bewegt“. Hierfür<br />

spreche nicht zuletzt der Umstand, dass es zwischenzeitlich sogar eine spezielle Fachzeitschrift<br />

(„medstra“), eine Vielzahl wegweisender höchstrichterlicher Entscheidungen in jüngerer Zeit und nicht<br />

zuletzt diverse Gesetzesnovellen bis hin zu einem Gesetz gegen Korruption im Gesundheitswesen<br />

(§§ 299a, 299b StGB) gebe. Dem ist zuzustimmen. Das Werk selbst weist eine klare Gliederung auf,<br />

wobei insb. die Unterteilung in die Abschnitte „Ärztliche (Heil-)Behandlung und strafrechtliche<br />

Verantwortlichkeit“ (klassisches Arztstrafrecht), „Wirtschaftsdelikte“ (Medizinwirtschaftsstrafrecht)<br />

und „Sonstige Delikte“ sinnvoll erscheint. Ein in der Praxis besonders wichtiger Aspekt, nämlich die<br />

„Außerstrafrechtlichen Folgen“, wird übersichtlich und weitgehend vollständig abgehandelt, wobei im<br />

Hinblick auf die „vertragsärztlichen Folgeverfahren“ der Schwerpunkt auf das Disziplinarverfahren<br />

und die Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung gelegt wird, Honorarregresse allerdings keine<br />

Erwähnung finden. Dies wäre im Rahmen einer zweiten Auflage sicher zu ergänzen. Erfreulich ist, dass<br />

auch dem zunehmend an Bedeutung gewinnenden Thema „Compliance“ ein Abschnitt gewidmet ist.<br />

Die Ausführungen dazu geben dem Praktiker gute Hinweise insb. auch zur „Notwendigkeit der<br />

Implementierung eines Compliance-Management-Systems“. Wie eingangs bereits angeführt, erfreut<br />

sich das Medizinstrafrecht derzeit großer Beachtung. Das vorliegend zu besprechende Handbuch stellt<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 389


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

insofern eine erfreuliche Ergänzung der bislang verfügbaren Literatur dar. Dies gilt umso mehr, als das<br />

bisherige Standardwerk von ULSENHEIMER bereits etwas in die Jahre gekommen ist. Diejenigen Praktiker,<br />

die sich mit medizinstrafrechtlichen Fällen zu befassen haben, ob als Rechtsanwalt, Staatsanwalt oder<br />

Kammerjurist, werden das Werk künftig regelmäßig zur Hand nehmen.<br />

RA und FA für Medizin- und Strafrecht Dr. ALEXANDER DORN, Mainz<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

BORGMANN/JUNGK/SCHWAIGER, Anwaltshaftung. Systematische Darstellung der Rechtsgrundlagen für<br />

die anwaltliche Berufstätigkeit, 6. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 672 S., 119 €<br />

Die Erstauflage dieses Werks erschien bereits 1979, es hat also gute 40 Jahre Entwicklung im Bereich der<br />

Anwaltshaftung mitgemacht. In dieser Zeit hat es deutlich vom Umfang her zugelegt, was nicht zuletzt<br />

natürlich an den Veränderungen des anwaltlichen Berufsrechts und der Fülle an gerichtlichen<br />

Entscheidungen liegt. Der Inhalt sollte eigentlich Standard-Basiswissen für Rechtsanwälte sein, was<br />

allerdings auch heutzutage noch immer nicht in ausreichendem Maße der Fall ist. Aus diesem Grund ist<br />

der Stoff nahezu als Pflichtlektüre zu betrachten. Denn dieses Werk behandelt nicht nur die Fälle, in<br />

denen etwas schiefgelaufen ist, in denen Fehler passiert sind. Nach einem kurzen Überblick über die<br />

Stellung des Anwalts sowie einer Abgrenzung zu vergleichbaren Berufen (z.B. Notaren), erfolgt eine<br />

dezidierte Ausarbeitung der vertraglichen Grundlagen in der Beziehung zum Mandanten sowie der<br />

daraus resultierenden anwaltlichen Pflichten. Nachdem also aufgezeigt wird, wie es eigentlich laufen<br />

soll, folgen gleich im Anschluss Ausführungen zur Haftung aus dem Mandatsverhältnis, gegenüber<br />

Dritten und für andere Personen, wie beispielsweise für Mitgesellschafter oder für Angestellte. Man ist<br />

geneigt zu sagen, dass selbstverständlich auch Informationen rund um die Berufshaftpflichtversicherung<br />

nicht fehlen. Abgerundet wird der erste Teil des Werks von nützlichem Hintergrundwissen zu<br />

den praxisrelevanten Beweis- und Verjährungsfragen. Der zweite Teil behandelt dagegen die typischen<br />

gerichtlichen und außergerichtlichen Haftungsfallen, sowohl materiellrechtlicher als auch prozessrechtlicher<br />

Natur. Damit kristallisiert sich insb. dieser zweite Part des Werks als besonders wertvoll heraus.<br />

Nicht zuletzt aufgrund der enorm langen Präsenz auf dem Markt kann dieses Buch wohl als<br />

Standardwerk zum Thema Anwaltshaftung bezeichnet werden. Diesen Reichtum an Erfahrung merkt<br />

man ihm auch wohltuend an, es wird sich auf das Wesentliche und praktisch Bedeutsame konzentriert.<br />

Vielleicht würden aber Formulierungsbeispiele bzw. -muster, etwa für Klauseln in Mandatsbedingungen<br />

oder für Antwortschreiben auf Regressforderungen, in einer der kommenden Auflagen einen willkommenen<br />

Zusatz bedeuten. Aber das ist „Jammern auf hohem Niveau“, bereits jetzt kann, nein muss<br />

man mit diesem Werk insgesamt äußerst zufrieden sein. Die Investition des Kaufpreises lohnt sich auf<br />

jeden Fall – und das nicht erst, wenn „das Kind schon in den Brunnen gefallen“ ist.<br />

RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />

BÖS/JURKAT/NEIE/STRANGMÜLLER, Praxishandbuch für Notarfachangestellte, 4. Aufl. 2019, <strong>ZAP</strong> Verlag,<br />

2.240 S., 99 €<br />

Was spricht mehr und überzeugender für ein Fachbuch als die Nachfrage aus dem Adressatenkreis an<br />

den Notar, ob man die soeben erschienene Neuauflage des Praxishandbuchs für Notarfachangestellte<br />

nicht umgehend bestellen könne? In der Tat hat das nunmehr in der 4. Auflage mit erweitertem und<br />

bearbeitetem Umfang erschienene Werk sich eine beachtliche Fangemeinde – völlig zu Recht –<br />

geschaffen. Dies ist allerdings nicht nur eine Freude für die Notarfachangestellten, den im Titel<br />

angesprochenen Adressatenkreis, sondern auch für die Notare und Anwaltsnotare, die durch die mit<br />

diesem Buch weitestgehend selbstständig arbeitenden Mitarbeiter zunehmend und zuverlässig<br />

entlastet werden. Und wenn der „Kanzleiinhaber“ selbst auf die Schnelle etwas sucht, sind auch für<br />

ihn eine Lösung oder weitere Hinweise vorzufinden. Nach der letzten – dritten – Auflage vor zwei<br />

Jahren verdienen insb. die Gesellschafterlistenverordnung, die Neufassung des Geldwäschegesetzes mit<br />

Schaffung des Transparenzregisters und die Zulässigkeit des Online-Bankings bei Notar-Anderkonten<br />

aufgrund entsprechender Änderung des § 27 DONot besondere Aufmerksamkeit. Beeindruckend sind<br />

390 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

die zahlreichen Musterformulierungen. Die Klippen und Untiefen des notariellen Kostenrechts finden in<br />

dem Buch einen zuverlässigen Navigator. Oftmals heißt es, die Praxistauglichkeit eines Fachbuchs hänge<br />

auch von der sorgfältigen Bearbeitung des Stichwortverzeichnisses ab. Auch hier setzt die 4. Auflage<br />

wieder Maßstäbe. Alles in allem ein Werk, das man nicht nur seinen Mitarbeitern, sondern auch sich<br />

selbst schnellstens „gönnen“ sollte.<br />

RA und Notar HERBERT P. SCHONS, Duisburg<br />

COSACK, Digitalisierung erfolgreich umsetzen. Ein Leitfaden für jede Anwaltskanzlei, 1. Aufl. 2019,<br />

Deutscher Anwaltverlag, 256 S., 39 €<br />

Der Untertitel dieses Werks lautet: „Ein Leitfaden für jede Anwaltskanzlei“ –und genau das bekommt<br />

man auch. Das Vorwort der Autorin startet völlig zu Recht mit dem bekannten Spruch „Wer nicht mit<br />

der Zeit geht, geht mit der Zeit“. Und um das zu verhindern, geleitet dieses Werk seine Leser zielsicher<br />

durch die Planung, Umstellung und die Prozesse der Digitalisierung in einer Rechtsanwaltskanzlei. Das<br />

Werk startet mit einer kurzen Einführung in die Thematik, nennt die verschiedenen Vorteile und<br />

Möglichkeiten der Digitalisierung für Anwälte, für Mitarbeiter und letztlich auch für (potenzielle)<br />

Mandanten. Anschließend erfolgt ein kurzer Überblick über die notwendigen Schritte, bevor das Werk<br />

dann zum „Kern der Sache“ vorstößt – praktische Lösungsvorschläge zur Umsetzung in der Kanzlei.<br />

Zentraler Aspekt ist hierbei natürlich das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), dessen aktive<br />

Nutzungspflicht spätestens ab dem 1.1.2022 für alle Anwälte verpflichtend wird. Allerdings ist das beA<br />

nicht der einzige Aspekt, den man in diesem Kontext beachten sollte. Die digitale Kommunikation mit<br />

Mandanten, beispielsweise via E-Mail, Social Media, Chatbots oder Messenger, die diversen Legal-Tech-<br />

Angebote und letztlich auch effiziente Arbeitsabläufe in der Kanzlei sollten ebenfalls nicht unter den<br />

Tisch fallen. Weiter geht es dann mit „best practice“-Vorschlägen anhand von konkreten Fallbeispielen<br />

verschiedener Anwälte bzw. Kanzleien. Dabei wird sinnvollerweise unterschieden zwischen Einzelanwälten<br />

und kleineren Kanzleien, mittelständischen Kanzleien sowie größeren und international<br />

tätigen Kanzleien. Denn der Digitalisierungsprozess kann naturgemäß nicht überall gleich ablaufen,<br />

bedingt durch die individuellen Anforderungen, unterschiedliche Tätigkeitsfelder bzw. einen unterschiedlichen<br />

Mandantenstamm und letztlich auch aufgrund verschiedener finanzieller Möglichkeiten.<br />

Abschließend gibt es noch gezielte Handlungsempfehlungen sowie eine umfangreiche Checkliste.<br />

Abgerundet wird das wirklich lesenswerte Buch dann mit einer Übersicht u.a. von wichtigen Personen,<br />

Adressen und Websites. Mit Blickrichtung auf die beA-Verpflichtung spätestens ab 2022 ist dieses Werk<br />

im Grunde für jeden Anwalt ein Muss, der sich bislang noch nicht ausreichend oder sogar noch<br />

überhaupt nicht mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt hat. Für relativ kleines Geld bekommt<br />

man hier einen wertvollen Leitfaden an die Hand, der gute und praxisrelevante Lösungsvorschläge<br />

bereithält.<br />

RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />

SASSENBERG/FABER (Hrsg.), Rechtshandbuch Industrie 4.0. und Internet of Things. Praxisfragen und<br />

Perspektiven der digitalen Zukunft, 2. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck/Vahlen, 798 S., 189 €<br />

„Heute schon an morgen denken“ –das klingt natürlich in erster Linie nach einem Werbespruch,<br />

beschreibt das Thema dieses Werks aber in zutreffender Weise. Für nicht gerade wenig Geld erhält<br />

man hier jedoch auch nicht gerade wenig Fachwissen. Das Thema Industrie 4.0 bzw. Internet of Things<br />

(IoT) geht uns letztlich alle an, auch wenn man kein Ingenieur in der Energiewirtschaft (Stichwort:<br />

„smart grids“, also schlaue Netze) oder spezialisierter Rechtsanwalt ist. Es gibt jetzt bereits zahlreiche<br />

sog. „Smart Home“-Produkte, also z.B. die im WLAN eingebundene Glühbirne, der selbsttätig bestellende<br />

Kühlschrank oder das per App steuerbare Heizungsthermostat. Die Themen Digitalisierung<br />

und Automatisierung sind im Industriesektor noch viel wichtiger und zugleich brisanter als im<br />

Privatbereich. Dieses umfassende Rechtshandbuch beleuchtet die Materie eingehend von nahezu allen<br />

Seiten. Ein Schwerpunkt wird dabei auf die Behandlung von typischen Rechtsfragen gelegt. Es werden<br />

also Aspekte wie Datenschutz, IT-Sicherheit, Arbeitsrecht oder auch Telekommunikationsrecht behandelt.<br />

Ein weiterer, praktisch sehr bedeutsamer Gesichtspunkt ist die Vertragsgestaltung bzw. das<br />

Momentum des Vertragsschlusses. Auch wenn das Hauptaugenmerk auf dem Verhältnis von<br />

Unternehmen zu Unternehmen (Business-to-Business, kurz: B2B) liegt, geht das Werk an einigen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 391


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Stellen auch auf Besonderheiten gegenüber Verbrauchern (Business-to-Consumer, kurz: B2C) ein.<br />

Darüber hinaus werden die Besonderheiten ausgewählter Branchen behandelt, u.a. die Autoindustrie,<br />

der Energiesektor, die Versicherungswirtschaft, die Finanzbranche oder auch die Aviation (unbemannte<br />

Luftfahrzeuge, also Drohnen & Co.). Zu guter Letzt fehlt auch die internationale Perspektive nicht, es<br />

gibt jeweils ein Überblickskapitel zur Regulierung in Europa und in den USA. Es liegt in der Natur<br />

der Sache, dass die Darstellung der juristischen Inhalte auch die Erläuterung der technischen<br />

Grundlagen in Bezug nehmen muss, weil ansonsten das Verständnis auf Seiten der Leser nicht zu gewährleisten<br />

wäre. Daher erfährt der geneigte Leser „nebenbei“ auch etwas über Künstliche Intelligenz<br />

(KI), Machine Learning oder Blockchain. Neben der ausführlichen und sehr gut verständlichen<br />

Behandlung der Materie enthält dieses Werk diverse Beispiele, Praxistipps, Checklisten und auch<br />

Schaubilder, wodurch die Darstellung umso anschaulicher wird. Zudem warten die Autoren an zahlreichen<br />

Stellen mit konkreten Lösungsansätzen auf. Ein Muss für alle Juristen, die auf den bezeichneten<br />

Gebieten tätig sind.<br />

RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />

SPECHT-RIEMENSCHNEIDER/WERRY/WERRY (Hrsg.), Datenrecht in der Digitalisierung, 1. Aufl. 2019, Erich<br />

Schmidt Verlag, 1.0<strong>08</strong> S., 134 €<br />

Die zentrale Frage, die sich stellt, wenn man den Titel dieses Werks liest, zielt auf den doch eher<br />

unbekannten Begriff „Datenrecht“ ab. Was es damit auf sich hat, wird bereits im Rahmen des Vorworts<br />

(„Datenrecht – Ein Definitionsversuch“) erläutert. Daten sind unkörperlich und unterliegen damit<br />

unterschiedlichen Problemen tatsächlicher wie rechtlicher Natur. Die Autoren sehen das Datenrecht als<br />

Querschnittsmaterie an, wobei die Daten als einendes Element angesehen werden können. Ein Blick ins<br />

Inhaltsverzeichnis zeigt auf, welche Rechtsgebiete als Teil des Datenrechts in diesem Werk behandelt<br />

werden. Nach einer kurzen rechtspolitischen Einordnung findet sich zunächst – schon erwartungsgemäß<br />

– das Datenschutzrecht. Es folgen Kapitel zu Vermögensrechten an Daten, vertragsrechtlichen<br />

Aspekten, Haftungsfragen sowie zum Problemkreis von Datenbeständen in der Zwangsvollstreckung<br />

bzw. der Insolvenz. Darüber hinaus aber auch Themen wie z.B. Privacy Paradox, Kryptowährungen oder<br />

digitale Geschäftsmodelle eingehend unter die Lupe genommen. Insgesamt ist der Ansatz dieses Werks,<br />

personenbezogene und andere Arten von Daten in den Fokus zu stellen und die einschlägigen<br />

Rechtsprobleme zu erörtern, innovativ und äußerst spannend. Denn im Zeitalter der Digitalisierung, in<br />

dem das Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz (KI), dezentrale Netzwerke sowie Blockchain- und<br />

ähnliche Technologien immer mehr an Bedeutung gewinnen, ist die Frage „Wem gehören welche<br />

Daten?“ ganz entscheidend. Das Werk hält nicht nur juristische Einordnungen der verschiedenen<br />

Problemstellungen bereit, sondern erläutert sozusagen „nebenbei“ auch noch auf verständliche Art und<br />

Weise diverse Technologien, etwa einzelne Formen des Onlinemarketings, Verschlüsselungsmethoden<br />

oder auch Kryptowährungen. Dabei ist es durchaus von Vorteil, dass über 30 spezialisierte Autoren an<br />

diesem Werk mitgearbeitet haben. Denn die Frage der Haftung bei Schäden durch selbst-fahrende<br />

Autos erfordert ein (technisches und juristisches) Fachwissen auf einem anderen Sektor als die Frage<br />

nach dem Phänomen, dass die Verbreitung von Daten durch die Nutzung von Onlineshops oder auch<br />

von sozialen Medien dem zugleich gestiegenen, subjektiven Verlangen nach mehr Datenschutz<br />

scheinbar unerklärlich gegenübersteht. Checklisten oder Musterformulierungen finden sich keine in<br />

diesem Werk, allerdings lockern einige Praxishinweise und Abbildungen die Ausführungen auf den über<br />

1.000 Seiten auf. Im Vordergrund steht die eingehende und möglichst umfassende Darstellung<br />

einschlägiger Rechtsgebiete bzw. -probleme. Wer als Rechtsanwalt in einem oder gar mehreren der<br />

hier behandelten Bereichen tätig ist und auch für die Fragen der Zukunft gerüstet sein will, kommt an<br />

diesem Werk sicherlich nicht vorbei.<br />

RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />

392 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 49<br />

Rechtsprechung<br />

aktuell und kompakt<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zur <strong>ZAP</strong> Rechtsprechung können Sie online kostenlos bei<br />

unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />

finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />

schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />

und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />

Allgemeines Zivilrecht<br />

Arztbrief: Einfache postalische Übersendung<br />

(OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.3.<strong>2020</strong> – 7 U 10/19) • Die postalische Übersendung eines Arztbriefs stellt ein<br />

gängiges Mittel zur Aufrechterhaltung des Informationsflusses dar. Es ist nicht zumutbar, sich bei jedem<br />

Arztbrief zu vergewissern, dass dieser ankommt. Anders verhält es sich nur, wenn aus früheren Fällen<br />

Probleme bei der Zustellung bekannt sind oder wenn ein hochpathologischer Befund mitzuteilen ist, der<br />

weitere zeitliche Behandlungsschritte erforderlich macht. Der Zweck des Krebsregistergesetzes besteht<br />

darin, eine für die wissenschaftliche Krebsforschung nötige Datenbasis zu schaffen, nicht in einer<br />

therapeutischen Behandlungsoptimierung. Hinweis: Ein Patient hat einen Anspruch auf Unterrichtung<br />

über die im Rahmen einer ärztlichen Behandlung erhobenen Befunde und Prognosen. Das gilt in<br />

besonderem Maße, wenn ihn erst die zutreffende Information in die Lage versetzt, eine medizinisch<br />

gebotene Behandlung durchführen zu lassen (Therapeutische Aufklärung/Sicherungsaufklärung). Es ist ein<br />

(schwerer) ärztlicher Behandlungsfehler, wenn der Patient über einen bedrohlichen Befund, der Anlass zu<br />

umgehenden und umfassenden ärztlichen Maßnahmen gibt, nicht informiert und ihm die erforderliche<br />

ärztliche Beratung versagt wird (BGH NJW 2018, 3382 ff., Tz. 11, juris). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 185/<strong>2020</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Dieselskandal Motor EA 189: Anrechnung gezogener Nutzungsvorteile<br />

(OLG Stuttgart, Urt. v. 30.1.<strong>2020</strong> – 2 U 306/19) • Im Rahmen des Schadenersatzanspruchs muss sich der<br />

Geschädigte (Käufer) gezogene Nutzungen anrechnen lassen. Ein Zinsanspruch aus § 849 BGB besteht<br />

nicht, wenn der Geschädigte (Käufer) im Gegenzug für die Hingabe des Geldes eine als gleichwertig<br />

anzusehende Nutzungsmöglichkeit eines Gegenstandes erhalten hat. Bei einer vorgerichtlichen Zuvielforderung<br />

fehlt es an dem für den Schuldnerverzug erforderlichen Verschulden, wenn der Schuldner die<br />

wirklich geschuldete Forderung nicht berechnen kann, weil sie von ihm unbekannten internen Daten des<br />

Gläubigers (hier: aktueller km-Stand) abhängt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 186/<strong>2020</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Unterbrechung der Gas- und Stromversorgung: Schadenersatzansprüche<br />

(OLG Düsseldorf, Urt. v. 12.2.<strong>2020</strong> – 27 U 8/19) • Es ist nicht anzunehmen, dass eine Versorgungsunterbrechung<br />

bei der Gas- und Stromversorgung bereits einen Tag später zu einer Erkältungserkrankung<br />

führt und dass die Ursache für die Erkältung nicht auch in einer Ansteckung durch andere<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 393


Fach 1, Seite 50 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Personen liegen kann. Ein Defekt an einem Gasfeuerungsautomat zwei Wochen nach der Versorgungsunterbrechung<br />

lässt nicht den sicheren Rückschluss auf eine Mitursächlichkeit der Versorgungsunterbrechung<br />

zu. Praxishinweis: Eine Leistungsklage ist die vorrangige Rechtsschutzmöglichkeit vor einer<br />

Feststellungsklage. Die Bezifferung eines Schadens ist auch möglich, wenn die Dauer der Arbeitsunfähigkeit<br />

und des Kanzleibetriebsausfalls feststeht und auch die Rechnung für die Erneuerung des<br />

Heizgeräts vorliegt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 187/<strong>2020</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Prüfungsumfang eines Projektsteuerers: Schimmelpilzsanierung<br />

(OLG Celle, Urt. v. 11.3.<strong>2020</strong> – 14 U 32/16) • Bei der Prüfung eines Sanierungskonzeptes zur Beseitigung von<br />

Schimmelpilzbefall in einem geschlossenen Rohbau sind Schimmelpilz- und Schimmelpilzsanierungsleitfäden<br />

zu Rate zu ziehen, auch wenn sie keine allgemein anerkannten Regeln der Technik sind, weil sie<br />

das derzeit einzige Regelwerk bilden, das die wesentlichen Erkenntnisse von Medizinern und Biologen<br />

zum Schimmelpilzbefall und seiner Beseitigung darstellen. Die Pflichten eines Projektsteuerers – auch in<br />

Abgrenzung zu einem mit der Bauüberwachung beauftragten Architekten – bestimmen sich nach den<br />

im Einzelfall getroffenen vertraglichen Vereinbarungen der Parteien des Projektsteuerungsvertrags.<br />

Wenn der Projektsteuerer typische Architektenziele der Bauüberwachung und Qualitätskontrolle der<br />

Ausführungsleistung übernimmt und zusagt, auf die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der<br />

Technik zu achten, und bei der Auswahl einer geeigneten Sanierungsmethode zur Beseitigung von<br />

Schimmelpilzbefall in einem geschlossenen Rohbau eines Schulgebäudes keine Bedenken gegen ein<br />

Sanierungskonzept anmeldet, das die Empfehlungen des Schimmelpilzsanierungsleitfadens missachtet,<br />

haftet er gesamtschuldnerisch neben dem Architekten auf Schadenersatz.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 188/<strong>2020</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Pferdekauf: Baldige Erkrankung<br />

(BGH, Urt. v. 30.10.2019 – VIII ZR 69/18) • Der Verkäufer eines Tiers hat, sofern eine anderslautende<br />

Beschaffenheitsvereinbarung nicht getroffen wird, (lediglich) dafür einzustehen, dass das Tier bei<br />

Gefahrübergang nicht krank ist und sich auch nicht in einem (ebenfalls vertragswidrigen) Zustand<br />

befindet, aufgrund dessen bereits die Sicherheit oder zumindest die hohe Wahrscheinlichkeit besteht,<br />

dass es alsbald erkranken wird (Bestätigung von BGH, Urt. v. 18.10.2017 – VIII ZR 32/16, NJW 2018, 150<br />

Rn 26 m.w.N.) und infolgedessen für die gewöhnliche (oder die vertraglich vorausgesetzte) Verwendung<br />

nicht mehr einsetzbar wäre. Demgemäß wird die Eignung eines klinisch unauffälligen Pferdes für die<br />

gewöhnliche oder die vertraglich vorausgesetzte Verwendung als Reitpferd nicht schon dadurch<br />

beeinträchtigt, dass aufgrund von Abweichungen von der „physiologischen Norm“ eine (lediglich) geringe<br />

Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass das Tier zukünftig klinische Symptome entwickeln wird,<br />

die seiner Verwendung als Reitpferd entgegenstehen (Bestätigung von BGH, Urt. v. 7.2.2007 – VIII ZR<br />

266/06, NJW 2007, 1351 Rn 14; v. 18.10.2017 – VIII ZR 32/16, a.a.O. Rn 24). Hinweis: Diese Grundsätze<br />

gelten auch für folgenlos überstandene Krankheiten und Verletzungen, wie ausgeheilte Rippenfrakturen<br />

eines als Reittier verkauften erwachsenen Pferdes, das nach Ablauf des Heilungsprozesses klinisch<br />

unauffällig ist. Weder kommt es insoweit darauf an, ob die vollständig ausgeheilten Rippenfrakturen auf<br />

einem „traumatischen Ereignis“ beruhen, noch kann die Verletzung eines Tiers in jeder Hinsicht einem<br />

Schaden an einer Sache, etwa einem Kfz, gleichgestellt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 189/<strong>2020</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Grundstückskaufvertrag: Vereinbarung einer Nutzungsbeschränkung<br />

(BGH, Urt. v. 11.10.2019 – V ZR 7/19) • Eine Vereinbarung, mit der die Parteien eines Grundstückskaufvertrags<br />

die Möglichkeit zur Nutzung des Grundstücks beschränken (hier: Verbot der Milchverarbeitung),<br />

394 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 51<br />

führt nicht zu einer Änderung oder Neubegründung von Erwerbs- oder Veräußerungspflichten und ist<br />

daher nach bindend erklärter Auflassung formlos möglich. Hinweis: Die Vereinbarung hatte folgenden<br />

Inhalt: „Der Käufer verpflichtet sich, auf dem Kaufgrundstück zeitlich unbeschränkt keine Verarbeitung von Milch<br />

vorzunehmen. Dieses Verbot gilt für die Milch von Kühen, Schafen und Ziegen. Das Verbot trifft den Käufer als<br />

Eigentümer dieses Grundstücks und das Verbot gilt insb. auch für etwaige Mieter oder Pächter des Grundstücks sowie<br />

für jeden Rechtsnachfolger des Käufers.“ <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 190/<strong>2020</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Überbreite und große Masse eines Fahrzeugs: Haftungsverhältnis aus erhöhter Betriebsgefahr<br />

(OLG Celle, Urt. v. 4.3.<strong>2020</strong> – 14 U 182/19) • Bei Dunkelheit auf einer nur 4,95 m breiten Straße ohne<br />

Fahrbahnmarkierungen und nicht befestigtem Seitenstreifen sowie erkennbaren Gegenverkehr (landwirtschaftliches<br />

Gespann mit Überbreite) in einer leichten Rechtskurve ist gem. § 3 Abs. 1 S. 5 StVO auf<br />

halbe Sicht zu fahren. Wer ein landwirtschaftliches Gespann mit Überbreite auf einer schmalen Straße, die<br />

er befahren darf, so weit nach rechts steuert, wie es tatsächlich möglich ist, verstößt nicht gegen § 1 Abs. 2<br />

StVO. Kommt es im Begegnungsverkehr auf einer nur 4,95 m breiten Straße ohne Fahrbahnmarkierungen<br />

bei Dunkelheit zu einer Kollision … mit einem Pkw, der die Fahrbahnmitte grundlos leicht überschreitet, so<br />

tritt die Haftung aus Betriebsgefahr für das landwirtschaftliche Gespann nicht zurück, sondern fließt mit<br />

30 % in die Haftungsquote gem. § 17 Abs. 1 StVG ein. Hinweis: Das klägerische Gespann wies eine Breite<br />

von 2,95 m auf bei einer Masse von 18.000 kg. Im Gegenverkehr steuerte die Versicherungsnehmerin der<br />

Beklagten einen Skoda Fabia mit einer Geschwindigkeit von 75–85 km/h. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 191/<strong>2020</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Rechtsschutzversicherung: Auskunftsanspruch gegen beauftragten Rechtsanwalt<br />

(BGH, Urt. v. 13.2.<strong>2020</strong> – IX ZR 90/19) • Dem Rechtsschutzversicherer, der einen Prozess vorfinanziert hat,<br />

steht zur Ermittlung eines möglichen Herausgabeanspruchs ein Auskunftsanspruch gegen den durch<br />

seinen Versicherungsnehmer beauftragten Rechtsanwalt zu. Finanziert der Rechtsschutzversicherer mit<br />

Einverständnis seines Versicherungsnehmers einen Prozess und überlässt der Mandant dem beauftragten<br />

Rechtsanwalt den Verkehr mit dem Rechtsschutzversicherer, ist von einer konkludenten Entbindung des<br />

Rechtsanwalts von der Verschwiegenheitsverpflichtung durch den rechtsschutzversicherten Mandanten<br />

auszugehen, soweit es die Abrechnung des Mandats betrifft. Hinweis: Leistet der Prozessgegner an den<br />

von dem Versicherungsnehmer beauftragten Rechtsanwalt Zahlungen, so geht der vertragliche Anspruch<br />

des Versicherungsnehmers auf Herausgabe des Erlangten aus §§ 675 Abs. 1, 667 BGB gegen seinen<br />

Rechtsanwalt gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf den Rechtsschutzversicherer über. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 192/<strong>2020</strong><br />

Familienrecht<br />

Paritätisches Wechselmodell: Kontinuitätsgrundsatz<br />

(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.2.<strong>2020</strong> – 5 UF 6/20) • Der gerichtlichen Anordnung eines paritätischen<br />

Wechselmodells steht i.d.R. der Kontinuitätsgrundsatz entgegen, wenn die Eltern zuvor eine außergerichtliche<br />

Umgangsvereinbarung mit einem nicht ganz so weitgehenden Umgangsrecht des nicht<br />

betreuenden Elternteils getroffen hatten und diese auch praktiziert worden ist. Hinweis: Haben die Eltern<br />

in noch nicht weit zurückliegender Zeit eine einvernehmliche Regelung zum Umgangsrecht getroffen,<br />

sprechen i.d.R. unter Kindeswohlgesichtspunkten triftige Gründe für eine Beibehaltung der vereinbarten<br />

Besuchskontakte, wie z.B. Kontinuitätsgesichtspunkte und das Vertrauen des Kindes in die Verlässlichkeit<br />

getroffener Regelungen (OLG Köln, Beschl. v. 15.3.2012 – II-4 UF 18/12, 4 UF 18/12, juris LS 2). Denn eine im<br />

elterlichen Konsens getroffene Entscheidung lässt vermuten, dass sie dem Kindeswohl entsprochen hat<br />

und noch entspricht (vgl. BGH, Beschl. v. 16.3.2011 – XII ZB 407/10, juris Rn 77 ff.).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 193/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 395


Fach 1, Seite 52 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Auslegung von Testamenten: Nichterwähnung eines Erbprätendenten<br />

(OLG München, Beschl. v. 19.2.<strong>2020</strong> – 31 Wx 231/17) • In der Nichterwähnung eines Erbprätendenten im<br />

Rahmen einer Testierung, die sich auf die Zuwendung von einzelnen Nachlassgegenständen beschränkt,<br />

ohne dass eine Gesamtverteilung des Nachlasses erfolgt, ist dessen (etwaige) Enterbung durch den<br />

Erblasser nicht angedeutet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 194/<strong>2020</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Fristgerechte Berufungsbegründung: Eidesstattliche Versicherung<br />

(BGH, Beschl. v. 28.1.<strong>2020</strong> – VI ZB 38/17) • Wenn das Berufungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass die<br />

anwaltliche und eidesstattliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten einer Partei keinen vollen<br />

Beweis für die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung erbringt, hat es die Partei darauf<br />

hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel<br />

zurückzugreifen (st. Rspr., vgl. nur Senatsbeschl. v. 8.5.2007 – VI ZB 80/06, NJW 2007, 3069; BGH,<br />

Beschl. v. 16.1.2007 – VIII ZB 75/06, NJW 2007, 1457). Allein der Hinweis, dass das Berufungsgericht im<br />

Freibeweisverfahren entscheiden will, genügt dafür nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 195/<strong>2020</strong><br />

Anerkenntnis: Unschlüssige Klage<br />

(BGH, Beschl. v. 16.1.<strong>2020</strong> – V ZB 93/18) • Erkennt die beklagte Partei den Klageanspruch an, ist für die<br />

Kostenentscheidung nach § 93 ZPO grds. nicht zu prüfen, ob die Klage im Zeitpunkt des Anerkenntnisses<br />

schlüssig und begründet war. Die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugelassene Ausnahme,<br />

wonach die beklagte Partei trotz Verstreichenlassens der Klageerwiderungsfrist noch mit der<br />

Wirkung des § 93 ZPO anerkennen kann, wenn die Klage zunächst in unschlüssiger Weise erhoben<br />

wurde, setzt voraus, dass der Kläger diesen Mangel durch ergänzten Sachvortrag vor dem Anerkenntnis<br />

behoben hat. Sie gilt nicht, wenn die beklagte Partei den geltend gemachten Anspruch bei unverändert<br />

gebliebenem Klagevorbringen anerkennt (Abgrenzung zu BGH, Beschl. v. 3.3.2004 – IV ZB21/03, NJW-<br />

RR 2004, 999; Beschl. v. 1.2.2007 – IX ZB 248/05, NZI 2007, 283). Hinweis: Auch die beklagte Partei, die<br />

auf die Geltendmachung eines Anspruchs schweigt, kann nach den Umständen des Einzelfalls<br />

Veranlassung zur Klage geben (vgl. OLG Hamburg, GRUR-RR 2007, 175; OLG München, OLGR 2000,<br />

229, 230; OLG Stuttgart, NJW-RR 2012, 763; BeckOK ZPO/JASPERSEN [1.3.2019], § 93 Rn 34; MüKoZPO/<br />

SCHULZ, 5.Aufl., § 93 Rn 8; LOOF, JurBüro 20<strong>08</strong>, 65, 68). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 196/<strong>2020</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Verbindlichkeiten aus unerlaubter Handlung: Keine Stundung von Verfahrenskosten<br />

(BGH, Beschl. v. 13.2.<strong>2020</strong> – IX ZB 39/19) • Verbindlichkeiten des Schuldners aus einer vorsätzlich begangenen<br />

unerlaubten Handlung i.H.v. mehr als 1.800.000 € schließen eine Stundung der Verfahrenskosten aus.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 197/<strong>2020</strong><br />

Eröffnetes Insolvenzverfahren: Anscheinsbeweis<br />

(BGH, Beschl. v. 6.2.<strong>2020</strong> – IX ZR 5/19) • Es spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass in dem eröffneten<br />

Verfahren die Insolvenzmasse nicht ausreicht, um alle Gläubigeransprüche zu befriedigen. Dabei sind auch<br />

die Forderungen einzubeziehen, denen der Insolvenzverwalter widersprochen hat, weil nach der Lebenserfahrung<br />

die Möglichkeit besteht, dass jener Widerspruch durch eine Feststellungsklage (§ 179 InsO)<br />

beseitigt werden kann. Greift der Anscheinsbeweis ein, muss der Anfechtungsgegner nachweisen, dass die<br />

angemeldeten Forderungen nicht bestehen oder nicht durchsetzbar sind und eine Feststellung zur Tabelle<br />

unter jedem Gesichtspunkt ausscheidet. Der Anscheinsbeweis ist erschüttert, wenn die ernsthafte<br />

Möglichkeit eines atypischen Verlaufs feststeht. Dies kommt beispielsweise in Betracht, wenn es sich bei<br />

den bestrittenen Insolvenzforderungen um eine Vielzahl, auf vergleichbarem Sachverhalt beruhender<br />

Forderungen mehrerer Insolvenzgläubiger handelt, der Insolvenzverwalter sämtlichen dieser angemeldeten<br />

Forderungen widersprochen hat, seit dem Prüfungstermin und dem Widerspruch des Insolvenzverwalters<br />

396 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 53<br />

eine erhebliche Zeit verstrichen ist, keiner der betreffenden Gläubiger eine Feststellungsklage erhoben hat,<br />

ein – nicht notwendig das Insolvenzverfahren betreffender – Musterprozess über die Feststellung einer<br />

solchen Insolvenzforderung rechtskräftig verloren gegangen ist und der rechtliche Bestand der Insolvenzforderungen<br />

erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 198/<strong>2020</strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

Abfindungsforderung: Vor Insolvenz ausgeschiedener Gesellschafter<br />

(BGH, Urt. v. 28.1.<strong>2020</strong> – II ZR 10/19) • Die Abfindungsforderung eines vor der Insolvenz ausgeschiedenen<br />

Gesellschafters einer GmbH & Co. KG, deren Auszahlung gegen das Kapitalerhaltungsgebot der §§ 30, 31<br />

GmbHG analog verstoßen würde, ist erst bei der Schlussverteilung nach § 199 InsO zu berücksichtigen. § 30<br />

Abs. 1 GmbHG steht einer Auszahlung der Abfindungsforderung auch dann entgegen, wenn die Abfindung<br />

zum Zeitpunkt des Ausscheidens und auch noch ein Jahr danach aus dem freien Vermögen der Gesellschaft<br />

hätte bedient werden können. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO ist insoweit nicht entsprechend anwendbar.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 199/<strong>2020</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber- und Medienrecht/ Marken- und Wettbewerbsrecht<br />

Amazon: Wettbewerbsrechtliche Haftung für Kundenbewertungen<br />

(BGH, Urt. v. 20.2.<strong>2020</strong> – I ZR 193/18) • Den Anbieter eines auf der Online-Handelsplattform Amazon<br />

angebotenen Produkts trifft für nicht von ihm veranlasste Kundenbewertungen keine wettbewerbsrechtliche<br />

Haftung, wenn er sich diese Bewertungen nicht zu eigen macht. Für die Beurteilung, ob eine wegen<br />

wettbewerbswidriger Werbung in Anspruch genommene Person sich fremde Äußerungen zu eigen macht,<br />

kommt es entscheidend darauf an, ob sie nach außen erkennbar die inhaltliche Verantwortung für die<br />

Äußerungen Dritter übernimmt oder den zurechenbaren Anschein erweckt, sie identifiziere sich mit ihnen.<br />

Dieser Maßstab gilt auch im Heilmittelwerberecht. Ob das Angebot auf der Online-Handelsplattform<br />

Amazon eine Garantenstellung mit der Rechtspflicht begründet, eine Irreführung durch Kundenbewertungen<br />

abzuwenden, bestimmt sich nach den Umständen des konkreten Einzelfalls und bedarf einer<br />

Abwägung. Bei dieser Abwägung ist zu berücksichtigen, dass Kundenbewertungssysteme auf Online-<br />

Handelsplattformen gesellschaftlich erwünscht sind und verfassungsrechtlichen Schutz genießen. Das<br />

Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern, sich zu Produkten zu äußern und sich vor dem Kauf<br />

über Eigenschaften, Vorzüge und Nachteile eines Produkts aus verschiedenen Quellen, zu denen auch<br />

Bewertungen anderer Kunden gehören, zu informieren oder auszutauschen, wird durch die Meinungs- und<br />

Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt. Bei einem Angebot von Arzneimitteln oder<br />

Medizinprodukten kann allerdings das Rechtsgut der öffentlichen Gesundheit bei der Abwägung zu<br />

berücksichtigen sein. Gibt der Anbieter eines auf einer Online-Handelsplattform angebotenen Produkts<br />

selbst irreführende oder gefälschte Kundenbewertungen ab, bezahlt er dafür oder können ihm die<br />

Kundenbewertungen aus anderen Gründen als Werbung zugerechnet werden, haftet er als Täter, ggf.<br />

Mittäter, eines Wettbewerbsverstoßes. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 200/<strong>2020</strong><br />

Schienenkartell II: Kartellrechtliche Betroffenheit<br />

(BGH, Urt. v. 28.1.<strong>2020</strong> – KZR 24/17) • Dem Merkmal der Betroffenheit i.S.d. § 33 Abs. 1 S. 1 GWB a.F., welches<br />

mit dem Beweismaß des § 286 ZPO festzustellen ist, kommt bei der Prüfung des haftungsbegründenden<br />

Tatbestands eines kartellrechtlichen Schadenersatzanspruchs Bedeutung nur für die Frage zu, ob dem<br />

Anspruchsgegner ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anzulasten ist, das – vermittelt durch den<br />

Abschluss von Umsatzgeschäften oder in anderer Weise – geeignet ist, einen Schaden des Anspruchstellers<br />

mittelbar oder unmittelbar zu begründen. Die Feststellung des haftungsbegründenden Tatbestands setzt<br />

nicht voraus, dass sich die Kartellabsprache auf einen Beschaffungsvorgang, auf den der Anspruchsteller<br />

sein Schadenersatzbegehren stützt, tatsächlich ausgewirkt hat und das Geschäft damit „kartellbefangen“<br />

war; dieser Gesichtspunkt betrifft die Schadensfeststellung und damit die haftungsausfüllende Kausalität,<br />

für die das Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO gilt. Etablieren Kartellanten ein System, bei dem von einem<br />

„Spielführer“ i.R.v. Ausschreibungen die Preise von „Schutzangeboten“ oder der angestrebte Zuschlagspreis<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 397


Fach 1, Seite 54 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

mitgeteilt werden, ist es wegen der bestehenden Preistransparenz wahrscheinlich, dass von einem solchen<br />

System ein allgemeiner Effekt auf die Angebotspreise der Kartellanten ausgeht; diese Wahrscheinlichkeit ist<br />

umso höher, je umfassender die Quoten- oder Kunden-„Zuteilung“ auf dem Markt praktiziert wird und je<br />

mehr die an der Kartellabsprache beteiligten Unternehmen aufgrund wechselseitiger Rücksichtnahme der<br />

Notwendigkeit enthoben sind, um einen einzelnen Auftrag zu kämpfen und hierzu ggf. Preiszugeständnisse<br />

zu machen. I.R.d. Feststellung eines kartellbedingten Schadens wird ein unmittelbarer Beweis einer<br />

Haupttatsache oder ihres Gegenteils i.d.R. nicht dadurch angetreten, dass für die Entstehung oder das<br />

Fehlen eines Schadens Sachverständigenbeweis angeboten wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 201/<strong>2020</strong><br />

Lauterkeitsrechtlicher Unterlassungsanspruch: Gesonderte Ausweisung von Flaschenpfand<br />

(OLG Köln, Urt. v. 6.3.<strong>2020</strong> – 6 U 89/19) • Die gesonderte Ausweisung von Flaschenpfand neben dem Preis<br />

für die Ware und damit die Einhaltung des § 1 Abs. 4 PAngV kann im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG keinen<br />

lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanspruch auslösen, auch wenn die Norm keine Grundlage im Unionsrecht<br />

hat. Eine richtlinienkonforme Auslegung des § 1 Abs. 4 PAngV dahingehend, dass das Pfand in den<br />

Gesamtpreis einzurechnen ist, ist nicht möglich. Aus §§ 8, 3, 5a Abs. 3 Nr. 3 UWG kann kein weitergehender<br />

Anspruch als aus §§ 8, 3, 3a UWG i.V.m. § 1 Abs. 4 PAngV hergeleitet werden. Das Flaschenpfand ist nicht Teil<br />

des Verkaufspreises i.S.d. Art. 1 der Preisangaben-RL 98/6/EG und damit auch nicht Teil des Gesamtpreises<br />

i.S.d. § 1 Abs. 1 PAngV und des § 5a Abs. 3 Nr. 3 UWG. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 202/<strong>2020</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Arbeitnehmererfindung: Meldung an den Arbeitgeber<br />

(BGH, Urt. v. 17.12.2019 – X ZR 148/17) • Dem Schriftformerfordernis nach § 5 Abs. 1 S. 1 ArbNErfG a.F. ist<br />

Genüge getan, wenn dem Arbeitgeber eine vom Arbeitnehmer unterschriebene Meldung im Original<br />

zugeht. Darüber hinausgehende Vorgaben in Bezug auf die Adressierung oder die Übermittlung der<br />

Meldung an den Arbeitgeber ergeben sich aus dieser Vorschrift nicht. Der Annahme einer gesonderten<br />

Meldung nach § 5 Abs. 1 S. 1 ArbNErfG a.F. steht es nicht entgegen, wenn der Arbeitnehmer verschiedene<br />

Formulierungskonzepte, Verfahren und Darreichungsformen in einem Schreiben zusammenfasst,<br />

solange diese dasselbe technische Problem betreffen und auf einem gemeinsamen Lösungsansatz<br />

beruhen und die Erfindungsmeldung in der Fülle des innerbetrieblichen Schriftverkehrs als solche<br />

erkennbar ist (im Anschluss an BGH, Urt. v. 12.4.2011 – X ZR 72/10, GRUR 2011, 733 – Initialidee). Bei<br />

Beteiligung mehrerer Mitarbeiter an einer Erfindung genügt die Meldung eines Mitarbeiters den<br />

Anforderungen nach § 5 Abs. 2 S. 3 ArbNErfG a.F., wenn der Arbeitgeber ihr entnehmen kann, dass<br />

Miterfinder beteiligt waren und wie er diese und deren Anteile ermitteln kann. Welchen Detaillierungsgrad<br />

die Meldung insoweit aufweisen muss, hängt insb. davon ab, welche Kenntnisse der Arbeitnehmer<br />

hat oder sich unschwer verschaffen kann. Danach ist der Arbeitnehmer i.d.R. gehalten, die Miterfinder<br />

aus seinem eigenen Verantwortungsbereich konkret zu benennen. Hinsichtlich der Beteiligung von<br />

Mitarbeitern aus anderen Bereichen des Unternehmens genügt grds. die Angabe der betreffenden<br />

Organisationseinheit (Fortführung von BGH, Urt. v. 18.3.2003 – X ZR 19/01, GRUR 2003, 702 ff. –<br />

Gehäusekonstruktion). Eine Vereinbarung, in der ein Arbeitnehmer Rechte an einer Erfindung auf den<br />

Arbeitgeber überträgt mit dem Zweck, diesem die Anmeldung von Schutzrechten zu ermöglichen, stellt<br />

kein Scheingeschäft dar. Überträgt der Arbeitnehmer auf der Grundlage einer solchen Vereinbarung<br />

Rechte an einer Erfindung, weil er von einer wirksamen Inanspruchnahme als Diensterfindung ausgeht,<br />

kann er gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Fall1 BGB die Rückübertragung der abgetretenen Rechte und die<br />

Übertragung der Rechtspositionen verlangen, die der Arbeitgeber durch die aufgrund der Übertragung<br />

getätigten Anmeldungen erlangt hat, wenn sich später herausstellt, dass die Erfindung nicht wirksam in<br />

Anspruch genommen wurde. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 203/<strong>2020</strong><br />

Sozialrecht<br />

Krankengeldanspruch: Ruhen<br />

(SG Stralsund, Urt. v. 28.2.<strong>2020</strong> – S 3 KR 183/18) • Die Meldung der AU ist nach st. Rspr. des BSG eine<br />

Tatsachenmitteilung, die telefonisch, schriftlich, mündlich oder auch in elektronischer Form erfolgen kann.<br />

398 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 55<br />

Sie ist in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 1 und 3 BGB erst dann erfolgt, wenn sie der<br />

Krankenkasse zugegangen ist. Der rechtzeitige Zugang ist ein anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal,<br />

das von dem Versicherten im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen werden muss. Das nach<br />

Halbsatz 2 des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V regelmäßige Ruhen des Krankengeldanspruchs knüpft grds. an den<br />

negativen Tatbestand („solange … nicht gemeldet wird“) an, und bewirkt mit der im nachfolgenden Halbsatz 2<br />

geregelten „Heilungsmöglichkeit“ mittelbar eine Meldefrist von einer Woche (NOFTZ in Hauck/Noftz,<br />

Sozialgesetzbuch Gesamtkommentar, SGB V, Stand August 2015, Rn 63). Aus dem Zusammenspiel der<br />

Regelungen in §§ 44 Abs. 1, 46 S. 1 Nr. 2 und S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V folgt, dass das in Halbs. 2 des § 49<br />

Abs. 1 Nr. 5 SGB V verwendete Tatbestandsmerkmal „Beginn der Arbeitsunfähigkeit“ entgegen dem Wortlaut<br />

so zu verstehen ist, das hiermit tatsächlich der Tag der ärztlichen Feststellung gemeint, d.h. dass zur<br />

Berechnung der Meldefrist maßgeblich auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit<br />

abzustellen ist. Die Meldefrist im Sinne des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V beginnt unter Heranziehung der<br />

Berechnungsvorschriften des § 26 Abs. 1 und 3 SGB X i.V.m. §§ 187 Abs. 1 u. 188 Abs. 2 BGB mit dem Tage,<br />

der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt, und endet eine Woche später mit<br />

dem Ablauf des Tages, der dem Tag entspricht, an dem die ärztliche Feststellung erfolgt ist – bzw. am<br />

nächsten Werktag bei Fristende auf einem Samstag, Sonn- und Feiertag. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 204/<strong>2020</strong><br />

Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />

Covid-19-Virus: Verbot eines Late-Night-Shoppings<br />

(VG Stuttgart, Beschl. v. 14.3.<strong>2020</strong> – 16 K 1466/20) • Das Verbot eines Late-Night-Shoppings stellt eine<br />

notwendige Schutzmaßnahme dar, um die rasche Ausbreitung des Covid-19-Virus zu verhindern. Aufgrund<br />

der bestehenden hohen Infektionsgefahr und der Vielzahl der zu erwartenden Besucher aus einem großen<br />

Einzugsgebiet ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine infizierte Person unter den Besuchern befinden<br />

könnte, sehr groß, sodass bei einer solchen Veranstaltung von einer hohen Ansteckungsgefahr auszugehen<br />

ist. Late-Night-Shopping als besonderes, zeitlich begrenztes Event mit seiner großen Anziehungskraft für<br />

einen großen Kundenkreis unterscheidet sich insoweit vom klassischen Einzelhandel, für den (Stand:<br />

14.3.<strong>2020</strong>, Anm. der Red.) bislang keine Einschränkungen vorgesehen sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 205/<strong>2020</strong><br />

Entfernung aus dem Beamtenverhältnis: Verwaltungsakt<br />

(BVerfG, Beschl. v. 14.1.<strong>2020</strong> – 2 BvR 2055/16) • Ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums,<br />

wonach eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nur durch Richterspruch erfolgen darf, besteht nicht.<br />

Gleichfalls besteht kein hergebrachter Grundsatz, wonach die Entfernungsentscheidung der unmittelbaren<br />

alleinigen Disziplinargewalt des Dienstvorgesetzten entzogen und immer einem Gremium zu überantworten<br />

ist. Das Lebenszeitprinzip gem. Art. 33 Abs. 5 GG erfordert keinen Richtervorbehalt für Entfernungen aus dem<br />

Beamtenverhältnis, wenn effektiver nachgelagerter Rechtsschutz sichergestellt ist. Hinweis: In den §§ 26 ff.<br />

LDG BW sind die Bemessungsgrundlagen für die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme explizit normiert,<br />

sodass das Verwaltungshandeln legislativ enger als zuvor (vgl. §§ 5 ff. LDO BW) gesteuert ist. Hiernach sind je<br />

nach Disziplinarmaßnahme in gradueller Abstufung bei feststehendem Dienstvergehen dessen Schwere, die<br />

Beeinträchtigung des Vertrauens sowie das Persönlichkeitsbild des Beamten maßgeblich. Außer bei der<br />

Entfernung aus dem Beamtenverhältnis und der Aberkennung des Ruhegehalts ist auf Rechtsfolgenseite<br />

behördliches Ermessen eingeräumt. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nach § 31 Abs. 1 LDG BW ist<br />

als gebundene Entscheidung ausgestaltet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 206/<strong>2020</strong><br />

Gewerberechtliche Unzuverlässigkeit: Straftatbegehung<br />

(OVG NRW, Beschl. v. 8.1.<strong>2020</strong> – 4 B 1100/19) • Die Typik der in § 34d Abs. 5 S. 1 Nr. 1, S. 2 GewO genannten<br />

vermögensrelevanten Straftatbestände indiziert nach dem klaren Willen des Gesetzgebers regelmäßig die<br />

Annahme der gewerberechtlichen Unzuverlässigkeit. Die Regel kann nur aufgrund besonderer Umstände<br />

ausnahmsweise als widerlegt angesehen werden. Dafür muss der Erlaubnisinhaber Umstände vortragen,<br />

die trotz einer einschlägigen Verurteilung ausnahmsweise eine andere Beurteilung zulassen. § 34d Abs. 5<br />

S. 1 Nr. 1, S. 2 GewO differenziert nicht nach Straftaten, die im privaten oder im gewerblichen Bereich<br />

begangen wurden. § 34d Abs. 5 S. 1 Nr. 1, S. 2 GewO dient der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 399


Fach 1, Seite 56 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Nach den europarechtlichen Vorgaben ist eine einschlägige Eintragung im innerstaatlichen Strafregister –<br />

unabhängig davon, ob die Straftat im privaten oder gewerblichen Bereich begangen wurde – ein den<br />

guten Leumund bzw. die Zuverlässigkeit ausschließender Tatbestand. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 207/<strong>2020</strong><br />

Steuerrecht<br />

Kindergeldprozess: Kein Zeugnisverweigerungsrecht volljähriger Kinder<br />

(BFH, Urt. v. 18.9.2019 – III R 59/18) • Die Mitwirkungspflicht volljähriger Kinder in Kindergeldsachen<br />

(§ 68 Abs. 1 S. 2 EStG) erstreckt sich auch auf das finanzgerichtliche Verfahren. Aufgrund des dadurch<br />

angeordneten Ausschlusses des § 101 AO hat das Kind insoweit im finanzgerichtlichen Verfahren kein<br />

Zeugnisverweigerungsrecht. Hinweis: Den Antrag des Klägers, das Kindergeld zu seinen Gunsten<br />

festzusetzen, weil der Sohn den Haushalt der geschiedenen Ehefrau verlassen habe und er – der Vater –<br />

die höhere Unterhaltsrente zahle, wenn bei den Zahlungen der Mutter das weitergeleitete Kindergeld<br />

abgezogen würde, lehnte die Familienkasse ab. Das FG hat trotz Beweisangebot durch den Kläger den<br />

Sohn verfahrensfehlerhaft als unerreichbaren Zeugen angesehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 2<strong>08</strong>/<strong>2020</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Anwaltsbriefkopf: Kanzleistandorte<br />

(OLG Köln, Urt. v. 17.1.<strong>2020</strong> – 6 U 101/90) • Die Nutzung eines Anwaltsbriefbogens, der im Briefkopf unter<br />

der Namensbezeichnung vier deutsche Großstädte hervorgehoben aufführt, obwohl die Rechtsanwaltsgesellschaft<br />

nur in einer der Städte einen Sitz unterhält, stellt eine erhebliche Irreführung der angesprochenen<br />

Verkehrskreise i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 UWG dar. Hinweis: Der BGH hat vorausgesetzt, dass die<br />

Darstellung eines Briefkopfs auf dem Briefbogen eines Rechtsanwalts eine geschäftliche Handlung darstellt<br />

(vgl. BGH, Urt. v. 16.6.1994 – I ZR 67/92, GRUR 1994, 825 – Strafverteidigungen; Urt. v. 16.5.2012 – I ZR 74/11,<br />

GRUR 2012, 1275 – Zweigstellenbriefbogen; Urt. v. 20.2.2013 – I ZR 146/12, GRUR 2013, 950 – auch zugelassen<br />

am OLG E.). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 209/<strong>2020</strong><br />

EU-Recht/IPR<br />

Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln: Umfassende gerichtliche Prüfung<br />

(EuGH, Urt. v. 11.3.<strong>2020</strong> – C–511/17) • Ein Gericht, vor dem ein Verbraucher die Missbräuchlichkeit bestimmter<br />

Vertragsklauseln geltend macht, muss von sich aus weitere Klauseln des Vertrags prüfen, soweit sie mit dem<br />

Streitgegenstand des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zusammenhängen. Es hat ggf. Untersuchungsmaßnahmen<br />

zu ergreifen, um sich die für diese Prüfung erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen<br />

zu verschaffen. Hinweis: In diesem Fall ging es um einen mit der UniCredit Bank Hungary, einer ungarischen<br />

Bank, auf eine Fremdwährung geschlossenen Hypothekendarlehensvertrag. Dieser Vertrag enthielt bestimmte<br />

Klauseln, die der UniCredit Bank das Recht einräumen, den Vertrag später zu ändern.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 210/<strong>2020</strong><br />

Ausgleichsleistung für Annullierung eines Flugs: Verspätung des Alternativflugs<br />

(EuGH, Urt. v. 12.3.<strong>2020</strong> – C-832/18A) • Ein Fluggast, der eine Ausgleichsleistung für die Annullierung<br />

eines Fluges erhalten und einen Alternativflug akzeptiert hat, hat Anspruch auf eine Ausgleichszahlung<br />

wegen Verspätung des Alternativflugs. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 211/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong>-Service: Die <strong>ZAP</strong> Rechtsprechung kann und soll nur eine stark komprimierte Wiedergabe der Originaltexte sein. Die<br />

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400 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1873<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

Wohnraummietrecht<br />

Die Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter/Besitzer:<br />

Einstweiliger Rechtsschutz und flankierende Rechtsbehelfe<br />

Von Dr. SVEN CASPERS, Richter am Amtsgericht München<br />

Inhalt<br />

I. Vorbemerkung<br />

II. Probleme der Räumungsklage gegen<br />

mehrere Mieter/Besitzer der Wohnung<br />

1. Ausgangsfall<br />

2. Variante I<br />

3. Variante II<br />

III. Voraussetzungen der Erteilung einer vollstreckbaren<br />

Ausfertigung für und gegen den<br />

Rechtsnachfolger nach § 727 ZPO und der<br />

sog. Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />

1. Die Erteilung einer vollstreckbaren<br />

Ausfertigung für und gegen den<br />

Rechtsnachfolger nach § 727 ZPO<br />

2. Die Voraussetzungen der sog. Klauselerteilungsklage<br />

nach § 731 ZPO<br />

IV. Die Räumungsregelungsverfügung nach<br />

§ 940a Abs. 2 ZPO<br />

1. Die Voraussetzungen einer Räumungsregelungsverfügung<br />

nach § 940a Abs. 2 ZPO<br />

2. Fazit<br />

V. Zusammenfassung und Ratschläge für Praxis<br />

I. Vorbemerkung<br />

In der mietrichterlichen Praxis kommt es häufig vor, dass sich erst im Laufe eines Räumungs- und Herausgabeprozesses<br />

gegen einen Mieter herausstellt, dass dieser weitere Untermieter, eine (Ehe-/Lebens-)<br />

Partnerin oder sonstige Dritte in die Wohnung mit aufgenommen hat, sodass sich für die Vermieterseite<br />

die Problematik auftut, dass sie selbst mit einem rechtskräftigen Räumungstitel gegen den einen Mieter<br />

nicht das von ihr gewünschte Rechtsschutzziel erreichen kann, nämlich jeglichen Fremdbesitz an der<br />

vermieteten Wohnung ggf. im Wege der Zwangsvollstreckung beseitigen zu können. Dies folgt rein<br />

praktisch aus zwangsvollstreckungsrechtlichen Gesichtspunkten, da die oder der zuständige Gerichtsvollzieher<br />

eine Zwangsräumung aufgrund eines Räumungstitels gegen eine Person nicht durchführen kann<br />

und wird, wenn diese(r) beim Räumungstermin weitere Personen in der Wohnung vorfindet, die glaubhaft<br />

mitteilen, ebenfalls in der Wohnung zu leben. Der nachfolgende Beitrag wird sich mit den hieraus resultierenden<br />

rechtlichen Problemfeldern auseinandersetzen und insb. mögliche zivilprozessuale Möglichkeiten<br />

aufzeigen, um diese zu lösen.<br />

II. Probleme der Räumungsklage gegen mehrere Mieter/Besitzer der Wohnung<br />

In der Praxis häufig anzutreffen ist, dass ein langjähriger Mietvertrag zwischen zwei Mietvertragsparteien<br />

besteht, in welchem beispielsweise der Sohn des ursprünglichen Vermieters in Folge des Erbgangs nach<br />

§§ 1922 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB als neuer Vermieter eingetreten ist, der die Wohnung sodann beispielsweise<br />

wegen Eigenbedarfs für sich selbst ordentlich gem. § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB kündigt. Nicht selten stellt sich<br />

erst i.R.d. Räumungsprozesses heraus, dass weitere Personen in der Wohnung leben, wobei die verschiedenen<br />

prozessualen Probleme dabei anhand von Fallbeispielen erläutert werden sollen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 401


Fach 4, Seite 1874<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

Miete/Nutzungen<br />

1. Ausgangsfall<br />

Vermieter A ist Alleineigentümer einer 4-Zimmer-Wohnung in München-Laim, welche er an den Mieter B durch<br />

unbefristeten schriftlichen Wohnraummietvertrag aus dem Jahr 2005 vermietet hat. Mieter B kommt mit der vollen<br />

Mietzahlung für zwei aufeinanderfolgende Mieten in Verzug und erhält eine außerordentliche Kündigung durch den<br />

anwaltlichen Vertreter des Vermieters gestützt auf § 543 Abs. 2 Nr. 3a BGB mit einer angemessenen Auszugsfrist<br />

von 10 Tagen. Nachdem Mieter B nicht innerhalb der Auszugsfrist die Wohnung geräumt hat, erhebt Vermieter A<br />

Räumungs- und Herausgabeklage gegen Mieter B vor dem zuständigen Amtsgericht, Mietabteilung. In der<br />

anberaumten Güteverhandlung erklärt der Mieter B, dass bereits seit ca. 1 Jahr vor Zustellung der Räumungs- und<br />

Herausgabeklage, der volljährige Freund C als Untermieter mit in der Wohnung wohnt, wovon Vermieter A keinerlei<br />

Kenntnis hatte.<br />

Frage: Wie sollte sich der Prozessbevollmächtigte des Vermieters in dieser Situation verhalten?<br />

a) Rechtliche Vorbetrachtungen<br />

Dogmatischer Ausgangspunkt ist, dass die Beendigung des Hauptmietvertrages aufgrund der Relativität<br />

der Schuldverhältnisse nicht zur Folge hat, dass der zwischen dem Hauptmieter und dem Untermieter<br />

geschlossene Untermietvertrag ebenfalls beendet wird. Dieser bleibt vielmehr wirksam (Staudinger/<br />

ROLFS, Neubearbeitung 2018, Stand v. 3.5.2019, § 546 BGB Rn 86 m.w.N. aus der Rspr.).<br />

Der Gesetzgeber hat die vollstreckungsrechtliche Problematik für den Vermieter gesehen und aus<br />

praktischen Gründen in § 546 Abs. 2 BGB eine vertragliche Anspruchsgrundlage gegen jeden Dritten<br />

aufgenommen, dem Mitbesitz an der vermieteten Wohnung durch den Mieter überlassen wurde.<br />

Anspruchsvoraussetzungen von § 546 Abs. 2 BGB sind die Beendigung des Hauptmietvertrags, die<br />

Gebrauchsüberlassung an einen Dritten und die Geltendmachung des Rückgabeanspruchs gegenüber<br />

dem Dritten durch den Vermieter (Schmidt-Futterer/STREYL, 14. Aufl. 2019, § 546 BGB Rn 89). Ohne § 546<br />

Abs. 2 BGB hätte der Vermieter einen derartigen Anspruch nur dann, wenn er aufgrund seines<br />

Eigentumsrechts oder eines anderen dinglichen Rechts (z.B. Nießbrauch) von jedem Besitzer die<br />

Herausgabe der Sache verlangen könnte (Staudinger/ROLFS, a.a.O., § 546 BGB Rn 86).<br />

• Es muss ein wirksames Hauptmietverhältnis bestanden haben. Grundsätzlich belanglos ist daher, ob<br />

der Hauptmieter seinen Besitz schon vorzeitig aufgegeben hat oder ob der Mieter die Nutzung nach<br />

Vertragsende noch fortsetzt (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 91). Anders ist dies nur,<br />

wenn der Mieter nach dem rechtlichen Vertragsende noch nicht zur Räumung verpflichtet ist, etwa<br />

weil ihm eine gerichtliche Räumungsfrist nach § 721 ZPO eingeräumt wurde (OLG München, Urt.<br />

v. 29.1.2015 – 23 U 3353/14, BeckRS 2015, 3556). Da der Anspruch nach § 546 Abs. 2 BGB von<br />

demjenigen nach § 546 Abs. 1 BGB abhängt, ist er für die Zeit der gerichtlichen Räumungsfrist<br />

ebenfalls gehemmt (AG Aachen, Urt. v. 18.10.1989 – 11 C 448/89, WuM 1989, 150).<br />

• Der Mieter muss den Gebrauch der Mietsache einem Dritten überlassen haben. Bei mehreren Hauptmietern<br />

ist es bereits nach dem Wortlaut ausreichend, wenn einer von ihnen den Gebrauch überlassen<br />

hat (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 96 m.w.N.). Dritter in diesem Sinne ist jeder, der nicht<br />

personengleich mit dem Mieter oder Vermieter ist. Mitumfasst von § 546 Abs. 2 BGB sind also auch<br />

Angehörige des Mieters, die mit in der Wohnung leben. Eine eigenmächtige Besitzergreifung durch den<br />

Dritten reicht nicht aus (Staudinger/ROLFS, a.a.O., § 546 BGB Rn 90). Typischerweise Dritte sind<br />

Untermieter des oder der Hauptmieter.<br />

• Eine Gebrauchsüberlassung erfordert Mitbesitz gem. § 866 BGB oder zumindest mittelbaren<br />

Besitz nach § 868 BGB, sodass eine gewisse Dauer der Überlassung zu fordern ist (Faustformel: Ein<br />

bloßer 3-wöchiger Besuch genügt nicht). Für § 546 Abs. 2 BGB unbeachtlich ist, ob der Mieter zur<br />

Gebrauchsüberlassung berechtigt war, ob er also beispielsweise untervermieten durfte (Schmidt-<br />

Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 97). Irrelevant ist also auch, ob eine Untervermietung<br />

genehmigt bzw. ob diese genehmigungsfähig nach § 553 BGB war.<br />

402 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1875<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

• Für den Vermieter ist bei der Räumungsvollstreckung zu beachten, dass er einen Vollstreckungstitel<br />

gegen alle Besitzer und Mitbesitzer des jeweiligen Mietobjekts erwirken muss, wobei nur<br />

Besitzdiener nach § 855 BGB ausgenommen sind. Vollstreckungsrechtlich ist daher ein Titel gegen<br />

den Untermieter (BGH, Beschl. v. 18.7.2003 – IXa ZB 116/03, ZMR 2004, 324), den Ehegatten und<br />

Lebenspartner (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 98) generell erforderlich, gegen den<br />

nichtehelichen Lebensgefährten nur dann, wenn sich deren Mitbesitz an der Wohnung klar und<br />

eindeutig aus den Umständen ergibt (BGH, Beschl. v. 19.3.20<strong>08</strong> – I ZB 56/07, NJW 20<strong>08</strong>, 1959). Ein<br />

Umstand, der auf den Besitz des Lebensgefährten schließen lässt, ist die Angabe der Wohnung als<br />

Meldeadresse gegenüber dem Einwohnermeldeamt (LG Mannheim, Urt. v. 5.4.2006 – 4 S 137/05,<br />

DWW 2006, 250), eine Anzeige an den Vermieter (SPRINGER, WuM 2009, 335) oder die Anbringung<br />

des Namens am Klingelschild (OLG Hamburg, Beschl. v. 5.9.2011 – 8 W 55/11, NZM 2012, 387). Kein<br />

eigener Vollstreckungstitel ist gegen minderjährige Kinder erforderlich (BGH, a.a.O.; AG Wiesbaden,<br />

Urt. v. 21.5.2015 – 92 C 1677/15, NZM 2015, 782), im Regelfall auch nicht nach Erreichen der Volljährigkeit<br />

(BUEB, jurisPR-MietR 10/2018 Anm. 6) und nicht bei Kindern, die bei Einzug in die Wohnung<br />

schon erwachsen waren, sofern noch eine soziale Abhängigkeit von den Eltern besteht (AG Kassel,<br />

Urt. v. 18.6.2015 – 40 C 243/15, ZMR 2016, 77; FLATOW, jurisPR-MietR 2/2016 Anm. 5).<br />

Achtung: In der Praxis nicht selten anzutreffen ist, dass vermieterseits eine Räumungsklage auch<br />

gegen in der Mietwohnung lebende minderjährige Kinder oder zwar im Zeitpunkt der Klageerhebung<br />

volljährige, aber bei Begründung des Mietvertrages minderjähriger Kinder erhoben wird. Unter<br />

strenger Anwendung der oben genannten BGH-Entscheidung besteht dadurch die Gefahr, dass die<br />

Räumungsklage gegen ebengenannte Kinder wegen fehlendem Rechtsschutzbedürfnis als unzulässig<br />

abgewiesen wird, was aufgrund der nach der Baumbachschen-Formel zu berechnenden Kostentragung<br />

auf Vermieterseite dringend beachtet werden sollte.<br />

• Aus einem Räumungstitel (nur) gegen den Mieter kann nicht gegen einen Untermieter oder einen im<br />

Titel nicht aufgeführten Dritten vollstreckt werden, der selbst Besitz hat (BGH, Beschl. v. 18.7.2003 –<br />

IXa ZB 116/03, ZMR 2004, 324). Das gilt wegen des Verbots, staatliche Zwangsmaßnahmen ohne<br />

Vollstreckungstitel auszuüben, auch für den Besitzer, der ohne oder gegen Willen und Wollen des<br />

Vermieters (Mit-)Besitz begründet und wider Treu und Glauben über einen erheblichen Zeitraum<br />

gegenüber dem Vermieter verheimlicht hat, oder für den Besitzer, der rechtsmissbräuchlich ein<br />

tatsächlich nicht bestehendes Untermietverhältnis behauptet (BGH, Beschl. v. 14.8.20<strong>08</strong> – I ZB 39/<strong>08</strong>,<br />

NJW 20<strong>08</strong>, 3287; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 99 m.w.N.).<br />

• Der Vermieter muss den Rückgabeanspruch aus § 546 Abs. 2 BGB gegenüber dem Dritten geltend<br />

gemacht haben, wobei der Zugang beim Dritten maßgeblich ist. Dies geschieht durch einseitige,<br />

formlose Willenserklärung. Da es sich nicht um eine Kündigung handelt, müssen spezielle Kündigungsvoraussetzungen<br />

wie Schriftform oder Kündigungsgründe nicht erfüllt sein (Schmidt-Futterer/STREYL,<br />

a.a.O., § 546 BGB Rn 102). Wenn die Erklärung vor dem Ende des Hauptmietverhältnisses abgegeben<br />

wird, wird diese erst mit dessen Beendigung wirksam. Entsprechend den Grundsätzen bei der Kündigung<br />

ist dem Dritten eine angemessen lange Ziehfrist einzuräumen und in der Erhebung einer Räumungsklage<br />

liegt konkludent eine Rückforderungserklärung (OLG Hamburg, Urt. v. 19.8.1998 – 4 U 28/97, NZM<br />

1999, 1052). Bei der Rückforderungserklärung handelt es sich um eine echte materielle Anspruchsvoraussetzung<br />

(zu Recht Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 103 m.w.N.; a.A. Staudinger/<br />

ROLFS, a.a.O., § 546 BGB Rn 95 f., der die Geltendmachung nur als Verzugsvoraussetzung einfordert).<br />

Praxistipp:<br />

Als Vermieteranwalt ist zu berücksichtigen, dass gegenüber Dritten bereits außerprozessual die Rückforderung<br />

erklärt werden sollte, da trotz konkludentem Rückforderungsverlangen in der erhobenen<br />

Räumungsklage (siehe oben) das Risiko besteht, dass der Dritte den Anspruch aus § 546 Abs. 2 BGB<br />

sofort anerkennt, sodass die Prozesskosten insoweit nach § 93 ZPO die Vermieterpartei treffen können<br />

(OLG Schleswig, Beschl. v. 14.11.1990 – 4 W 1/90, WuM 1993, 541).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 403


Fach 4, Seite 1876<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

Miete/Nutzungen<br />

b) Lösung des Ausgangsfalls<br />

Da der Vermieter A zur erfolgreichen Räumung sowohl einen Vollstreckungstitel gegen den Mieter B als<br />

auch einen Vollstreckungstitel gegen den Untermieter C benötigt (siehe oben), sollte Untermieter C in<br />

den laufenden Prozess mit einbezogen werden, um einen ansonsten erforderlichen weiteren isolierten<br />

Räumungsprozess zu vermeiden, der zu einer weiteren erheblichen zeitlichen Verzögerung führen<br />

würde. Der Prozessbevollmächtigte des Vermieters A sollte in der mündlichen Verhandlung eine<br />

schriftliche Klageerweiterung auf den volljährigen Untermieter C vornehmen, die ggf. zusätzlich<br />

protokolliert werden kann. Alternativ sollte er eine Klageerweiterung in der Hauptverhandlung<br />

ankündigen und auf den neuen Sachvortrag des Mieters B bzgl. des Untermieters C eine Schriftsatzfrist<br />

beantragen und sodann zeitnah eine schriftliche Klageerweiterung erklären. Die Schriftsatzfrist wird<br />

aufgrund des neuen Sachvortrags des Mieters B gewährt werden und die nach ständiger Rechtsprechung<br />

des BGH gem. §§ 263 ff. ZPO analog zu behandelnde subjektive Klageerweiterung auf<br />

Beklagtenseite (Zöller/GREGER, 33. Aufl. <strong>2020</strong>, § 263 ZPO Rn 19 ff. m.w.N.) ist sodann in aller Regel auch<br />

ohne Zustimmung des Mieters B zulässig, da im Lichte der Prozessökonomie zur Vermeidung eines<br />

weiteren isolierten Räumungsrechtsstreits sachdienlich. Um vermieterseits ganz sicher zu sein, ist zu<br />

raten, beide hier genannten prozessualen Vorgehensweisen zu kombinieren.<br />

2. Variante I<br />

Anders als im Grundfall vergisst Vermieter A seinem anwaltlichen Vertreter vor Erhebung der Räumungsklage<br />

mitzuteilen, dass neben dem verklagten Mieter B auch der volljährige Untermieter C in der Wohnung wohnt, wozu der<br />

Vermieter A auch vor ca. einem Jahr seine Erlaubnis erteilt hatte. Der Mieter B teilt diese Information seinem anwaltlichen<br />

Vertreter erst nach Rechtskraft des ergangenen und erfolgreichen Räumungsurteils gegen den Mieter B mit.<br />

Frage: Wie sollte sich der Prozessbevollmächtigte des Vermieters A optimalerweise verhalten?<br />

a) Rechtliche Vorbetrachtungen<br />

Der ergangene Räumungstitel gegen den Mieter B ist wirkungslos gegenüber dem Untermieter C, insb.<br />

kommt eine Titelumschreibung nach § 727 ZPO nicht in Betracht, weil gegen den besitzenden Untermieter<br />

C ein eigener Vollstreckungstitel erforderlich ist (siehe oben).<br />

Eine einstweilige Räumungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO kann der Vermieter nicht gegen den<br />

Untermieter C erwirken, weil er vor dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung des Räumungsrechtsstreits<br />

mit dem Hauptmieter B bereits Kenntnis davon hatte, dass auch der Untermieter im Besitz<br />

der Mietsache war (vgl. zu § 940a ZPO eingehender unten).<br />

Hinzu kommt, dass nach der Rechtsprechung des BGH gilt (BGH, Urt. v. 21.4.2010 – VIII ZR 6/09, NJW<br />

2010, 22<strong>08</strong>), dass die Rechtskraft des im Räumungsrechtsstreit gegen den Hauptmieter B ergangenen<br />

Urteils nach §§ 322, 325 ZPO grds. nicht zugunsten und zulasten des Untermieters C gilt, sodass<br />

Letzterer in einem weiteren isolierten Räumungsrechtsstreit wiederum eine Beendigung des Hauptmietverhältnisses<br />

bestreiten kann, da auch keine materiell rechtliche Abhängigkeit anderer Art besteht<br />

(BGH, a.a.O.; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 99; a.A. Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 325 ZPO<br />

Rn 38, der wegen § 546 Abs. 2 BGB eine materiell-rechtliche Abhängigkeit des Untermieters vom Mieter<br />

postuliert und im Ergebnis zu einer Rechtskrafterstreckung kommt).<br />

Praxistipp:<br />

Als Folge unterliegt die erneute Räumungsklage des Vermieters A gegen den Untermieter C den gleichen<br />

Anforderungen hinsichtlich Substantiierung, Schlüssigkeit und ggf. Beweisantritt wie die bereits rechtskräftig<br />

abgeschlossene Räumungsklage gegen den Hauptmieter B. Ein schlichter Verweis auf das ergangene<br />

Räumungsurteil gegen den Hauptmieter B ist also nicht ausreichend, vielmehr muss schlüssig erneut<br />

dargelegt werden, warum der Hauptmietvertrag wirksam beendet wurde, sodass die Anspruchsvoraussetzungen<br />

des § 546 Abs. 2 BGB gegeben sind. Sachgerecht dürfte es aber sein, jedenfalls auf das ergangene<br />

Urteil gegenüber dem Mieter B zusätzlich hinzuweisen und dieses als Anlage der neuen Klage beizufügen.<br />

404 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1877<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

b) Lösung der Variante I<br />

Der Prozessbevollmächtigte des Vermieters A muss eine erneute, schlüssig begründete Räumungsklage<br />

gegenüber dem Untermieter C erheben. Sofern es sich beispielsweise um eine Räumung wegen<br />

Eigenbedarfs handelt, ist die Folge, dass ggf. auch eine umfassende Beweiswürdigung nochmals<br />

durchgeführt werden muss. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Vermieter vor Klageerhebung<br />

gegenüber dem Untermieter durch einseitige und formlose Rückforderungserklärung die Herausgabe<br />

verlangen muss, da anderenfalls der Untermieter durch sofortiges Anerkenntnis nach § 93 ZPO eine<br />

Kostentragung des Vermieters bewirken kann (s.o.).<br />

Alternativ kann der Prozessbevollmächtigte des Vermieters A versuchen, über den rechtskräftig<br />

festgestellten Räumungsanspruch gegen den Hauptmieter aus § 546 Abs. 1 BGB von diesem die<br />

Besitzübertragung an der vermieteten Wohnung vom Untermieter C direkt an den Vermieter A zu<br />

verlangen, da der Vermieter A gegen den Mieter B aus § 546 Abs. 1 BGB auch das Recht erworben hat,<br />

dass dieser durch Inanspruchnahme des Untermieters C dafür sorgt, dass der Vermieter A jeglichen<br />

Besitz an der Wohnung wiedererhält und frei über diese verfügen kann. Hierfür ist es insb. nicht<br />

erforderlich, dass der Hauptmieter B einen eigenen Räumungsanspruch gegen den Untermieter C hat,<br />

der Hauptmieter B kann ggf. vom Vermieter A fordern, dass dessen Anspruch gegen den Untermieter C<br />

nach § 546 Abs. 2 BGB abgetreten wird.<br />

Praxistipp:<br />

Der Vermieter kann von seinem Hauptmieter Auskunft darüber verlangen, welchen Dritten er die Mietsache<br />

überlassen hat, wobei dies aus einer Nebenpflicht aus dem Mietvertrag folgt, §§ 535, 241 Abs. 2 BGB. Diesen<br />

Auskunftsanspruch kann der Vermieter auch im Wege der einstweiligen Verfügung geltend machen (LG Kiel,<br />

Urt. v. 8.3.2010 – 18 O 233/09, ZMR 2010, 532; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 99 und § 940a<br />

ZPO Rn 28).<br />

Fazit: In aller Regel wird eine erneute Räumungsklage gegen den Untermieter C das Mittel der Wahl<br />

sein, da die angesprochene alternative Lösungsmöglichkeit praktisch keine hohe Erfolgsaussicht haben<br />

dürfte und gerichtlich schwer durchzusetzen ist.<br />

3. Variante II<br />

Anders als im Grundfall überlässt der Hauptmieter B den Mitbesitz an der gemieteten Wohnung erst nach Zustellung<br />

der Räumungsklage des Vermieters A gegen den Hauptmieter B an den volljährigen Untermieter C.<br />

a) Rechtliche Vorbetrachtungen<br />

Sofern eine Überlassung der Mietsache durch den Hauptmieter nach Rechtshängigkeit der gegen ihn<br />

gerichteten Räumungsklage erfolgt, was auch einen Besitzwechsel erst nach Rechtskraft des betreffenden<br />

Räumungsurteils einschließt, wirkt ein stattgebendes Urteil gem. § 325 ZPO auch gegen den oder die<br />

besitzenden Dritten, auf welche(n) der Vermieter das rechtskräftige Räumungsurteil gem. § 727 ZPO<br />

umschreiben lassen kann (BGH, Urt. v. 13.3.1981 – V ZR 115/80, NJW 1981, 1517; BGH, Urt. v. 17.2.1983 – III ZR<br />

184/81, NJW 1983, 2032; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 Rn 99 m.w.N.).<br />

Die Vorgehensweise der Titelumschreibung nach § 727 ZPO ist allerdings praktisch nur selten<br />

durchführbar, da die Gebrauchsüberlassung an den Dritten nach Rechtshängigkeit offenkundig sein<br />

muss oder durch öffentliche Urkunden nachgewiesen werden kann, was i.d.R. nur dann möglich ist,<br />

wenn ein (erfolgloser) Vollstreckungsversuch den Besitz des Dritten erwiesen hat und der Gerichtsvollzieher<br />

dies im Vollstreckungsprotokoll niedergelegt hat. Ebenfalls möglich ist die Erhebung einer<br />

Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO sowie eine erneute isolierte Räumungsklage gegen den Dritten.<br />

b) Lösung der Variante II<br />

Der Vermieteranwalt sollte i.R.d. Beauftragung des Gerichtsvollziehers zur Vollziehung des rechtskräftigen<br />

Räumungstitels gegen den Hauptmieter darauf hinweisen, dass für den Fall des Antreffens<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 405


Fach 4, Seite 1878<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

Miete/Nutzungen<br />

weiterer Personen detailliert im Vollstreckungsprotokoll dazu Stellung genommen wird, ob und warum<br />

es sich bei diesen Personen um Mitbesitzer der Mietwohnung handelt (wichtig für die Klauselumschreibung<br />

nach § 727 ZPO).<br />

Der Vermieter hat sodann die Wahl zwischen der Erhebung einer Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />

und einer erneuten Räumungsklage gegen den Dritten. Vorteil der Klauselerteilungsklage ist, dass<br />

es im Rahmen von deren Begründetheit nicht mehr auf die Wirksamkeit der Kündigung aus dem<br />

vorhergehenden Rechtsstreit mit dem Hauptmieter ankommt; Ein Nachteil ist, dass eine separate<br />

Räumungsklage i.d.R. einfacher, da üblicher zu begründen ist, kein erst nach Rechtshängigkeit des<br />

Räumungsrechtsstreits gegen den Hauptmieter begründeter (Mit-)Besitz des Dritten darzulegen und<br />

zu beweisen ist und ausnahmsweise wegen § 325 Abs. 1 ZPO das gegen den Hauptmieter ergangene<br />

Räumungsurteil auch gegen den Untermieter Rechtskraft zeitigt.<br />

III. Voraussetzungen der Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung für und gegen den<br />

Rechtsnachfolger nach § 727 ZPO und der sog. Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />

Im folgenden Abschnitt werden in einem summarischen Überblick die in der Praxis wenig beachteten<br />

Rechtsbehelfe der §§ 727, 731 ZPO kurz vorgestellt.<br />

1. Die Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung für und gegen den Rechtsnachfolger nach<br />

§ 727 ZPO<br />

Der Beginn der Zwangsvollstreckung erfordert nach allgemeinen Voraussetzungen die namentliche<br />

Bezeichnung des Gläubigers und Schuldners nach § 750 Abs. 1 ZPO, was auch bei Vorliegen einer<br />

Rechtskrafterstreckung auf Dritte nach §§ 727, 325 ZPO gilt (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 727 ZPO Rn 1). Nach<br />

vorzugswürdiger Ansicht wirkt das rechtskräftige Urteil nur in Ansehung der Hauptsache und nicht auch<br />

bzgl. des Kostenausspruchs oder Nebenforderungen gegenüber dem Rechtsnachfolger (Zöller/G.<br />

VOLLKOMMER, a.a.O., § 325 Rn 1 m.w.N.; a.A. Müko-ZPO/GOTTWALD, 5. Aufl. 2016, § 325 ZPO Rn 15, der<br />

hinsichtlich von Nebenforderungen und Kosten eine Rechtskrafterstreckung des Dritten dann annimmt,<br />

wenn eine Rechtsnachfolge nach materiellem Recht eingetreten ist).<br />

a) Verfahren und Zuständigkeit<br />

Die Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung für und gegen den Rechtsnachfolger wird ebenso wie die<br />

„normale“ vollstreckbare Ausfertigung eines Urteils nach § 724 ZPO nur auf formlosen Antrag des<br />

Gläubigers erteilt, wobei der Antrag auch mündlich erfolgen kann, im Allgemeinen ist aber eine schriftliche<br />

Antragstellung zu empfehlen. Antragsberechtigt ist jeweils die Partei, die das zu vollstreckende Urteil<br />

erstritten hat. Über den Antrag entscheidet anders als bei § 724 ZPO nicht der Urkundsbeamte der<br />

Geschäftsstelle des jeweiligen Gerichts, sondern der zuständige Rechtspfleger gem. § 20 Abs. 1 Nr. 12 RPflG<br />

(Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 727 ZPO Rn 24).<br />

Die Vollstreckungsklausel für oder gegen den genau zu bezeichnenden Rechtsnachfolger (Alt. 1) oder<br />

Besitzer der streitbefangenen Sache (Alt. 2) wird erteilt, wenn die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen<br />

nach § 724 ZPO gegeben sind (diese sind: wirksamer Bestand des Vollstreckungstitels,<br />

Vollstreckbarkeit des Titels und vollstreckungsfähiger Inhalt des Titels) und die Rechtsnachfolge oder<br />

das Besitzverhältnis urkundlich nachgewiesen oder offenkundig ist (s. dazu sogl. u.).<br />

In zeitlicher Hinsicht ist die Erteilung der Klausel schon vor Rechtskraft des Urteils möglich, also auch bei<br />

nur erstinstanzlicher vorläufiger Vollstreckbarkeit (BGH, Beschl. v. 23.5.2001 – VII ZR 469/00, MDR 2001,<br />

1190 = NJW-RR 2001, 1362).<br />

Nach § 730 ZPO kann der neue Schuldner (Dritte) vor Erlassung der vollstreckbaren Ausfertigung gehört<br />

werden. Die Frage steht im pflichtgemäßen Ermessen des zuständigen Rechtspflegers (Zöller/SEIBEL,<br />

a.a.O., § 730 ZPO Rn 1). Die Anhörung kann schriftlich, persönlich oder durch die Geschäftsstelle erfolgen<br />

und soll dem Schuldner insb. die Möglichkeit geben, Einwendungen gegen den Beweis der besonderen<br />

Voraussetzungen vorzubringen.<br />

406 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1879<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

b) Offenkundigkeit der Rechtsnachfolge gem. § 291 ZPO oder Nachweis durch öffentliche oder<br />

öffentlich beglaubigte Urkunden<br />

Die Rechtsnachfolge des Dritten bzw. die Besitzerlangung der streitbefangenen Sache muss nach<br />

Rechtshängigkeit (vgl. § 261 Abs. 1, Abs. 2 ZPO) des Hauptsacheverfahrens (hier: Räumungsklage gegen<br />

den Hauptmieter) eingetreten sein.<br />

Eine Offenkundigkeit der Rechtsnachfolge i.S.v. § 291 ZPO liegt nicht schon bei schlichter Aktenkundigkeit<br />

vor (BGH, Beschl. v. 10.5.2012 – V ZB 156/11, MDR 2012, 1121). Ein Schweigen des Dritten bei der<br />

optionalen Anhörung hat keine Geständniswirkung, da keine Erklärungslast im Klauselerteilungsverfahren<br />

gilt, sodass § 138 Abs. 3 ZPO keine Anwendung findet (BGH, Beschl. v. 5.7.2005 – VII ZB 16/05,<br />

MDR 2006, 53).<br />

Praxistipp:<br />

Der Gläubiger sollte möglichst aussagekräftige schriftliche Erklärungen des Gerichtsvollziehers zur Besitzerlangung<br />

des Dritten erholen und für den Zeitpunkt der Besitzerlangung des Dritten eine Auskunft<br />

des Einwohnermeldeamtes vorlegen.<br />

c) Rechtsfolge und Rechtsbehelfe des Schuldners<br />

Das Verfahren nach § 727 ZPO ist grds. gebührenneutral, sowohl im Hinblick auf Gerichts- als auch auf<br />

Rechtsanwaltskosten (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 727 ZPO Rn 40 m.w.N.).<br />

Der Schuldner hat die Möglichkeiten der Erinnerung gegen die Vollstreckungsklausel nach § 732 ZPO<br />

und der Klage gegen die Vollstreckungsklausel nach § 768 ZPO. Im ersteren Fall hat der Rechtspfleger<br />

sodann die Möglichkeit, der Erinnerung abzuhelfen oder sie dem zuständigen Richter zur Entscheidung<br />

vorzulegen (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 732 ZPO Rn 14).<br />

2. Die Voraussetzungen der sog. Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />

§ 731 ZPO ist ein subsidiärer Rechtsbehelf für den Fall, dass ein für die Klauselerteilung nach § 727<br />

ZPO notwendiger urkundlicher Nachweis in der erforderlichen Form nicht beigebracht werden kann,<br />

der einfachere Weg über § 727 ZPO somit keine Erfolgsaussichten bietet. Die mit fortbestehender<br />

Rechtskraftwirkung mögliche Vollstreckung des Titels auch gegen den Dritten beschränkt den<br />

Streitgegenstand auf die Zulässigkeit der Klauselerteilung, wobei hier anders als bei § 727 ZPO alle<br />

Beweismittel zulässig sind (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 731 ZPO Rn 1).<br />

a) Verfahren und Zuständigkeit<br />

Der Streitgegenstand der Klauselerteilungsklage ist auf die Zulässigkeit der Klauselerteilung reduziert,<br />

wobei die fehlende Voraussetzung nunmehr – anders als bei § 727 ZPO – durch jedes Beweismittel<br />

möglich ist.<br />

Die Klage setzt voraus, dass der Kläger die öffentlichen oder öffentlich beglaubigten Urkunden nicht mit<br />

zumutbarem Aufwand beschaffen kann, wofür es als ausreichend erachtet wird, wenn die nach § 727<br />

ZPO beantragte Titelergänzung wegen Unzulänglichkeit vorgelegter Urkunden abgewiesen wurde. Die<br />

Beweislast für die Nichtbeschaffungsmöglichkeit der Urkunden mit angemessen geringem Aufwand<br />

liegt beim Kläger (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 731 ZPO Rn 2).<br />

Zuständig ist das Prozessgericht erster Instanz des früheren Erkenntnisverfahrens und zwar ausschließlich<br />

nach § 802 ZPO und unabhängig davon, von welcher Instanz das zu vollstreckende Urteil erlassen<br />

wurde (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 731 ZPO Rn 3).<br />

Die Klage ist prozessual eine Feststellungsklage, sodass die Voraussetzungen von § 256 ZPO für deren<br />

Zulässigkeit gegeben sein müssen. Das Prozessgericht erteilt die Klausel nicht, sondern stellt nur fest,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 407


Fach 4, Seite 1880<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

Miete/Nutzungen<br />

dass ihre Erteilung zulässig ist (strittig: LG Hildesheim, Beschl. v. 25.2.1964 – 5 T 98/64, NJW 1964, 1232;<br />

Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 731 ZPO Rn 4 m.w.N. auch zur Gegenauffassung „prozessuale Gestaltungsklage“). Zu<br />

klagen ist im ordentlichen Verfahren, nicht im Urkunden- und Wechselprozess; zulässig ist jedoch die<br />

Geltendmachung durch Widerklage gegenüber der Klage aus § 768 ZPO.<br />

b) Rechtsfolge und Rechtsmittel<br />

Die Urteilsformel lautet im Falle des Obsiegens wie folgt:<br />

„Dem Kläger ist Vollstreckungsklausel zu dem Urteil des … vom … in Sachen … zur Zwangsvollstreckung gegen den<br />

Beklagten zu erteilen“.<br />

Nach richtiger Auffassung beseitigt alleine die Möglichkeit einer Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />

für eine neue Klage aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis nicht deren Rechtsschutzbedürfnis<br />

(BGH, Urt. v. 9.4.1987 – IX ZR 138/86, NJW 1987, 2863).<br />

IV. Die Räumungsregelungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO<br />

In der Praxis ist aufgrund der oben geschilderten Probleme im Zusammenhang mit mehreren Besitzern<br />

einer vermieteten Wohnung der Rechtsbehelf des § 940a Abs. 2 ZPO für die anwaltliche Beratungspraxis<br />

von entscheidender Bedeutung.<br />

Wohnungen können durch den Vermieter – wie bereits mehrfach erwähnt – nur dann zwangsgeräumt<br />

werden, wenn ein Räumungstitel gegen alle Besitzer vorliegt, die nicht bereit sind, freiwillig zu räumen<br />

(BGH, Beschl. v. 25.6.2004 – IXa ZB 29/04, NJW 2004, 3041). Das gilt nach der Rechtsprechung des BGH<br />

auch im Fall der Besitzüberlassung zur Vollstreckungsvereitelung (BGH, Beschl. v. 14.8.20<strong>08</strong> – I ZB 39/<strong>08</strong>,<br />

NJW 20<strong>08</strong>, 3287).<br />

Um dem Vermieter insb. bei Fällen von Rechtsmissbrauch im beschriebenen Sinne eine effektive<br />

Durchsetzung seines Räumungsanspruchs zu ermöglichen, wurde vom Gesetzgeber § 940a Abs. 2 ZPO<br />

geschaffen. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es, einem Missbrauch des Mieters vorzubeugen, der sich<br />

gegen die Räumung dadurch zu wehren versucht, dass er die Wohnung einem oder mehreren Dritten<br />

(bedingt vorsätzlich) überlässt, der mangels Kenntnis des Vermieters nicht mit verklagt werden konnte<br />

und deshalb im Räumungstitel nicht aufgeführt wird (Gesetzesbegründung BT-Drucks 17/10485, S. 34).<br />

Dem Vermieter soll es ermöglicht werden, im Wege der einstweiligen Verfügung einen Räumungstitel<br />

gegen den (weiteren) Besitzer zu erlangen, weil die Anspruchsprüfung i.d.R. „reine Formsache“ sei<br />

(so explizit die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 17/10485, S. 34).<br />

1. Die Voraussetzungen einer Räumungsregelungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO<br />

§ 940a Abs. 2 ZPO ermöglicht eine vereinfachte Erstreckung der Vollstreckbarkeit des gegen den Mieter<br />

ergangenen Räumungstitels auf besitzende Dritte. Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen<br />

(Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund) ist eine Abwägung der beiderseitigen Interessen – anders<br />

als bei normalen einstweiligen Verfügungen – entbehrlich.<br />

a) Anwendbarkeit nur auf Wohnraummietverhältnisse<br />

Es muss ein Wohnraummietverhältnis vorliegen, bei Mischmietverhältnissen kommt es nach allgemeinen<br />

Grundsätzen auf den Schwerpunkt des Vertragszwecks an (Schmidt-Futterer/EISENSCHMID, a.a.O., § 535<br />

BGB Rn 107 ff.). Nach vorzugswürdiger und wohl h.M. ist § 940a Abs. 2 ZPO bei Vorliegen eines<br />

Gewerbemietverhältnisses weder direkt noch analog anwendbar. Dies folgt bereits aus dem eindeutigen<br />

Wortlaut von § 940a Abs. 2 ZPO und dessen Überschrift „Räumung von Wohnraum“ (KG Berlin, Beschl.<br />

v. 5.9.2013 – 8 W 64/13, NJW 2013, 3588; OLG Celle, Beschl. v. 24.11.2014 – 2 W 237/14, NJW 2015, 711;<br />

Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 7; Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 940a ZPO Rn 4m.w.N. auch<br />

zur Gegenauffassung).<br />

4<strong>08</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1881<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

b) Vorliegen eines Verfügungsanspruchs und eines Verfügungsgrunds<br />

Da auch die Räumungsregelungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO eine einstweilige Verfügung<br />

darstellt, muss ein Verfügungsanspruch und ein Verfügungsgrund gegeben sein, mithin müssen die<br />

Voraussetzungen von § 940 ZPO inzident mit geprüft werden (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a<br />

ZPO Rn 16 m.w.N. auch zur Gegenauffassung). Anders als bei normalen einstweiligen Verfügungen gilt<br />

bei § 940a Abs. 2 ZPO hingegen, dass bei Vorliegen von Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund die<br />

Räumungsverfügung zu erlassen ist und dem Tatrichter kein Ermessensspielraum zusteht (Schmidt-<br />

Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 16 u. 51).<br />

c) Verfügungsanspruch<br />

Der Verfügungsanspruch ist der materielle Anspruch, dessen Durchsetzung durch einstweilige Verfügung<br />

gesichert werden soll. In der Praxis sind dies regelmäßig die Ansprüche auf Räumung und Herausgabe aus<br />

§ 546 Abs. 2 BGB, aber auch §§ 985, 812 BGB (WENDT, Die einstweilige Räumungsverfügung des § 940a<br />

Abs. 2 ZPO, 2015, S. 106). Auch wenn den Dritten inhaltlich nicht dieselben Rückgabepflichten wie den<br />

Mieter treffen, hat er jedenfalls die Wohnung zu räumen. Nach richtiger Auffassung gilt § 940a Abs. 2 ZPO<br />

auch für den Herausgabeanspruch aus §§ 985, 986 BGB, da die Herausgabe (= Aufgabe jeglichen Besitzes)<br />

als Minus gegenüber der Räumung (zusätzlich: Entfernung von Gegenständen und Einrichtungen)<br />

anzusehen ist (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 19).<br />

d) Verfügungsgrund<br />

Das Tatbestandserfordernis der Unkenntnis des Vermieters von der Inbesitznahme der Wohnung<br />

durch den Dritten bzw. der Kenntnis hiervon erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung des<br />

Räumungsrechtsstreits gegen den Hauptmieter, beinhaltet bereits den erforderlichen Verfügungsgrund,<br />

der vermieterseits glaubhaft zu machen ist. Einer zusätzlichen Glaubhaftmachung eines wesentlichen<br />

Nachteils des Vermieters, wie es bei einer Regelungsverfügung nach § 940 ZPO regelmäßig erforderlich<br />

ist, bedarf es gerade nicht, da ein „anderer Grund“ i.S.v. § 940 Alt. 3 ZPO vorliegt (Schmidt-Futterer/STREYL,<br />

a.a.O., § 940a ZPO Rn 20).<br />

Dem gesetzgeberischen Willen, das einstweilige Verfügungsverfahren nach § 940a Abs. 2 ZPO „anstelle<br />

eines zeitaufwendigen Hauptsacheverfahrens“ treten zu lassen (vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks 17/10485,<br />

S. 34) kann nur dadurch Rechnung getragen werden, dass der Vermieter nicht noch zusätzlich glaubhaft<br />

machen muss, dass sein Vermögensnachteil durch die Vorenthaltung der Wohnung stärker wiegt als der<br />

Besitzentzug der Wohnung durch den Dritten. § 940a Abs. 2 ZPO stellt daher eine spezialgesetzlich<br />

geregelte Leistungsverfügung dar, die faktisch auf eine endgültige Regelung bzw. Befriedigung des<br />

Vermieters abzielt und somit ausnahmsweise eine (faktische) Vorwegnahme der Hauptsache ausdrücklich<br />

zulässt (in diesem Sinne auch Müko-ZPO/DRESCHER, a.a.O., § 940a ZPO Rn 2; FLEINDL, ZMR 2013, 679; a.A.<br />

Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 940a ZPO Rn 6).<br />

Die Tatbestandsvoraussetzungen von § 940a Abs. 2 ZPO stellen danach typisierte Bedingungen für den<br />

Verfügungsgrund dar, deren Vorliegen eine weitere Abwägung der beiderseitigen Interessen wie in § 940<br />

ZPO entbehrlich macht und zwar unabhängig davon, wann der Vermieter Kenntnis von den Voraussetzungen<br />

hatte (OLG Dresden, Urt. v. 29.11.2017 – 5 U 1337/17, MDR 2018, 204; LG Mönchengladbach,<br />

Beschl. v. 10.12.2013 – NZM 2014, 132; a.A. LG Berlin, Beschl. v. 27.10.2014 – 65 T 220/14, GE 2015, 597).<br />

e) Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelnen:<br />

Es muss ein rechtskräftiger Räumungstitel gegen den oder die Mieter der Wohnung vorliegen und<br />

zumindest Mitbesitz eines Dritten an ebendieser Wohnung, von welchem der Vermieter keine Kenntnis<br />

hat bzw. erst nach dem Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung Kenntnis erlangt hat<br />

(Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 21 m.w.N.). Dritter ist nach den oben dargelegten<br />

Umständen jeder, der nicht im Räumungstitel genannt ist, wie z.B. der Ehegatte, der Lebensgefährte,<br />

Familienangehörige oder der Untermieter (vgl. bereits oben). Wenn mehrere Mieter Vertragspartei<br />

sind, muss nicht gegen alle ein rechtskräftiger Räumungstitel vorliegen, damit die Voraussetzungen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 409


Fach 4, Seite 1882<br />

Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />

Miete/Nutzungen<br />

des § 940a Abs. 2 ZPO vorliegen (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 25; a.A. WENDT, Die<br />

einstweilige Räumungsverfügung des § 940a Abs. 2 ZPO, 2015). Anderenfalls wäre der Vermieter<br />

gezwungen, auch gegen räumungswillige Mieter Räumungsklage zu erheben, obwohl er den Missbrauch<br />

der Besitzstellung durch den Dritten noch gar nicht kennt (völlig zu Recht Schmidt-Futterer/<br />

STREYL, a.a.O.).<br />

Als weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal muss der Antragsgegner vom Mieter Besitz erworben<br />

haben und keine Besitzberechtigung gegenüber dem Vermieter haben (Zöller/VOLLKOMMER,<br />

a.a.O., § 940a ZPO Rn 5). Mittelbarer Besitz oder Mitbesitz des Dritten ist ausreichend, wobei zu<br />

beachten ist, dass ein Untermieter nur eines von mehreren Zimmern auch nur zur Räumung ebendieses<br />

Zimmers verurteilt werden kann (LG Berlin, Beschl. v. 21.7.2015 – 67 T 149/15, NZM 2016, 239).<br />

Der Besitz des Dritten muss mit Wissen und Wollen bzw. zumindest mit Duldung des Hauptmieters<br />

begründet worden sein, da nur dann eine Abhängigkeit des Besitzrechtes des neuen Besitzers vom<br />

Mieter gerechtfertigt ist (in diesem Sinne auch LG Arnsberg, Urt. v. 25.2.2014 – 3 S 11/14, NJW-RR 2014,<br />

970; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 22). Der Vermieter muss den Besitzerwerb und<br />

dessen fehlende bzw. verspätete Kenntnis glaubhaft machen, idealerweise durch Vorlage einer<br />

eidesstaatlichen Versicherung, vgl. § 294 Abs. 1 ZPO.<br />

Nach § 940a Abs. 4 ZPO ist der Antragsgegner zwingend vor Erlass einer einstweiligen Verfügung<br />

anzuhören. Dem Dritten kann das rechtliche Gehör entweder im Rahmen einer schriftlichen Anhörung<br />

gewährt werden oder in einer gem. §§ 937, 922 Abs. 1 ZPO freigestellten mündlichen Verhandlung über<br />

den Antrag auf Erlass der Räumungsverfügung (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 45). Eine<br />

gesetzgeberische Wertung, im Regelfall nicht ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, kann in<br />

§ 940a Abs. 4 ZPO hingegen nicht gesehen werden (a.A. Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 940a ZPO Rn 9).<br />

Fahrlässige oder auch grob fahrlässige Unkenntnis des Vermieters vom Besitzerwerb des Dritten<br />

stehen positiver Kenntnis nach zutreffender h.M. nicht gleich (Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 940a ZPO<br />

Rn 5; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 26 m.w.N.). Für eine Analogie fehlt es insoweit<br />

angesichts des klaren Wortlauts und des eindeutigen gesetzgeberischen Willens bereits an einer<br />

planwidrigen Regelungslücke.<br />

2. Fazit<br />

Die Räumungsregelungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO ist ein wichtiger Rechtsbehelf für die<br />

Vermieterseite, um möglichen Besitzerwechseln der vermieteten Wohnung ohne Kenntnis des<br />

Vermieters vor Erhebung einer Räumungsklage gegen den Hauptmieter effektiv und möglichst<br />

kurzfristig zu begegnen. In der Praxis scheitern Anträge auf Erlass einer solchen Räumungsverfügung<br />

nicht selten an der fehlenden Kenntnis der zwingenden Voraussetzungen und deren erforderlichen<br />

Glaubhaftmachung.<br />

V. Zusammenfassung und Ratschläge für Praxis<br />

Für die an einem Räumungsprozess Beteiligten Rechtsanwälte sind die Kenntnisse der Reichweite<br />

der Rechtskraft eines Räumungsurteils und deren Bedeutung für die Räumungsvollstreckung von<br />

elementarer Bedeutung, was naturgemäß für den Prozessbevollmächtigten des Vermieters gilt. Das<br />

Zusammenspiel zwischen den Rechtsbehelfen der §§ 727, 731 und 940a Abs. 2 ZPO spielt dabei eine<br />

herausgehobene Rolle. In der Praxis sollte vor Erhebung weiterer Räumungsklagen eruiert werden,<br />

inwieweit sich das Rechtsschutzziel nicht durch die wesentlich leichter zu begründenden Ergänzungsrechtsbehelfe<br />

der Klauselerteilungsklage (§ 731 ZPO) und Klauselerstreckung auf Dritte (§ 727 ZPO)<br />

erreichen lässt.<br />

410 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1883<br />

Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />

Allgemeines Mietrecht<br />

Besonderheiten des Miet- und Wohnungseigentumsrechts infolge der<br />

COVID-19-Pandemie<br />

Von Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Weiterer aufsichtführender RiAG, Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Die konkreten Regelungen für Wohnund<br />

Geschäftsraummietverhältnisse<br />

1. Allgemeines Leistungsverweigerungsrecht<br />

2. Beschränkung der Kündigung von<br />

Mietpachtverhältnissen<br />

III. Sonderregelungen für die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />

1. Verwalterbestellung<br />

2. Wirtschaftsplan<br />

IV. Verlängerungsmöglichkeiten<br />

I. Einleitung<br />

Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur massive Folgen für das Gesundheitssystem, sondern auch für die<br />

Wirtschaft. Hierzu zählen auch Mieter und Vermieter. Wegen möglicher Einnahmeausfälle bei Arbeitnehmern,<br />

Selbstständigen und Unternehmen kann es schwierig werden, die laufende Miete für Wohnungen,<br />

aber auch für Gewerberäume zu bezahlen. Mietverhältnisse können bekanntlich gem. § 543 Abs. 2<br />

Nr. 3 BGB bereits dann außerordentlich fristlos gekündigt werden, wenn der Mieter für zwei aufeinanderfolgende<br />

Termine mit der Entrichtung der Miete oder eines nicht unerheblichen Teils der Miete in<br />

Verzug ist oder in einem Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung der<br />

Miete in Höhe eines Betrage in Verzug ist, der die Miete für zwei Monate erreicht. Eine ordentliche<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs ist auch unterhalb dieser für die fristlose Kündigung geltenden<br />

Grenzen möglich. Eine nicht unerhebliche Pflichtverletzung des Mieters liegt bereits dann vor, wenn der<br />

Mietrückstand eine Monatsmiete beträgt und die Verzugsdauer mindestens einen Monat beträgt (BGH<br />

NZM 2013, 20 = NJW 2013, 159).<br />

Die Bundesregierung rechnet damit, dass sich die Einnahmeverluste der Mieter auf durchschnittlich mehr<br />

als zwei Monatsmieten belaufen werden (BT-Drucks 19/18110). Nur einem Teil dieser Personen dürften<br />

Sozialleistungen etwa in Form von Arbeitslosengeld, Arbeitslosengeld II oder Wohngeld zustehen. Selbst<br />

bei diesen Personen ist angesichts der Vielzahl der von den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in ihrer<br />

Leistungsfähigkeit Betroffenen nicht mit Sicherheit zu sagen, ob es den für diese Leistungen zuständigen<br />

Behörden in jedem Fall gelingen wird, den Antrag kurzfristig zu bearbeiten und die Gelder so zeitig<br />

auszuzahlen, dass ein kündigungsrelevanter Mietrückstand verhindert werden kann. Verzögerungen dieser<br />

Art hat der Mieter grds. zu vertreten (BGH BGHZ 204, 134 = WuM 2015, 152 = GE 2015, 313 = NZM 2015, 196 =<br />

DWW 2015, 89 = MDR 2015, 327 = ZMR 2015, 288 = NJW 2015, 1296 = MietPrax-AK § 543 BGB Nr. 34<br />

m. Anm. BÖRSTINGHAUS; THEESFELD, jurisPR-MietR 6/2015 Anm. 3; BÖRSTINGHAUS, LMK 2015, 367524; SCHACH,<br />

MietRB 2015, 98/109; DRASDO, NJW-Spezial 2015, 257; DERLEDER, JZ 2015, 517; FLATOW, NZM 2015, 654). Ähnlich<br />

kann die Situation für Unternehmen sein, die zur Überwindung des pandemiebedingten finanziellen<br />

Engpasses auf staatliche Hilfen angewiesen sind.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 411


Fach 4, Seite 1884<br />

Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />

Miete/Nutzungen<br />

Deshalb hat der Deutsche Bundestag (BT) ganz kurzfristig i.R.d. „Gesetzes zur Abmilderung der Folgen<br />

der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht“ vom 27.3.<strong>2020</strong> (BGBl I <strong>2020</strong>,<br />

S. 569-574) zeitlich befristete Regelungen für diesen Fall geschaffen, um Mieter zu schützen und einen<br />

Interessenausgleich mit den Vermieterinteressen zu erreichen. In Art. 240 EGBGB wurden zeitlich<br />

befristet besondere Regelungen eingeführt, welche Schuldnern, die wegen der COVID-19-Pandemie<br />

ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllen können, im Ausgangspunkt die Möglichkeit einräumen, die<br />

Leistung einstweilen zu verweigern oder einzustellen, ohne dass hieran für sie nachteilige rechtliche<br />

Folgen geknüpft werden. Für Mietverhältnisse über Grundstücke oder über Räume wird das Recht der<br />

Vermieter zur Kündigung von Mietverhältnissen eingeschränkt. Dies gilt sowohl für Wohn- als auch<br />

für Gewerberaummietverträge. Wegen Mietschulden aus dem Zeitraum vom 1.4.<strong>2020</strong> bis 30.6.<strong>2020</strong><br />

dürfen Vermieter das Mietverhältnis nicht kündigen, sofern die Mietschulden auf den Auswirkungen der<br />

COVID-19-Pandemie beruhen. Die Verpflichtung der Mieter zur Zahlung der Miete bleibt im Gegenzug<br />

im Grundsatz bestehen. Dies gilt für Pachtverhältnisse entsprechend.<br />

Außerdem wurden auch Sonderregelungen für das Wohnungseigentumsrecht geschaffen, die der<br />

Situation Rechnung tragen sollen, dass zurzeit keine Eigentümerversammlungen stattfinden können.<br />

II.<br />

Die konkreten Regelungen für Wohn- und Geschäftsraummietverhältnisse<br />

1. Allgemeines Leistungsverweigerungsrecht<br />

Art. 240 EGBGB enthält Bestimmungen über „Vertragsrechtliche Regelungen aus Anlass der COVID-19-<br />

Pandemie“. In § 1 dieses Artikels wird dem Verbraucher ein Recht zur Leistungsverweigerung bei<br />

Verträgen, die vor dem 8.3.<strong>2020</strong> geschlossen wurden, bis zum 30.6.<strong>2020</strong> eingeräumt, wenn ihm infolge<br />

von Umständen, die auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind, die Erbringung der Leistung ohne<br />

Gefährdung seines angemessenen Lebensunterhalts oder des angemessenen Lebensunterhalts seiner<br />

unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht möglich wäre. Dies gilt aber gem. Art. 240 § 1 Abs. 4 Nr. 1<br />

EGBGB ausdrücklich nicht im Zusammenhang mit Miet- und Pachtverträgen.<br />

Wichtiger Hinweis:<br />

Deshalb schulden die Mieter die Miete weiter. Das Gesetz „stundet“ die Miete nicht, wie es in der Presse<br />

teilweise heißt. Der Vermieter kann den Mieter auf Zahlung verklagen. Das geht auch im Urkundsverfahren.<br />

2. Beschränkung der Kündigung von Mietpachtverhältnissen<br />

Für diese Verträge gilt als lex specialis Art. 240 § 2 EGBGB:<br />

Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen<br />

§ 2<br />

(1) Der Vermieter kann ein Mietverhältnis über Grundstücke oder über Räume nicht allein aus dem Grund<br />

kündigen, dass der Mieter im Zeitraum vom 1.4.<strong>2020</strong> bis 30.6.<strong>2020</strong> trotz Fälligkeit die Miete nicht leistet, sofern<br />

die Nichtleistung auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht. Der Zusammenhang zwischen<br />

COVID-19-Pandemie und Nichtleistung ist glaubhaft zu machen. Sonstige Kündigungsrechte bleiben unberührt.<br />

(2) Von Absatz 1 kann nicht zum Nachteil des Mieters abgewichen werden.<br />

(3) Die Absätze 1 und 2 sind auf Pachtverhältnisse entsprechend anzuwenden.<br />

(4) Die Absätze 1 bis 3 sind nur bis zum 30.6.2022 anzuwenden.<br />

a) Gesetzeszweck<br />

Die Regelung soll Mieter von Grundstücken sowie von zu privaten oder gewerblichen Zwecken<br />

angemieteten Räumen für den Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni <strong>2020</strong> hinsichtlich des Bestands des<br />

412 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1885<br />

Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />

Vertragsverhältnisses absichern. Die Mieter sollen nicht den Verlust der Mietsache befürchten müssen,<br />

wenn sie vorübergehend die fälligen Mieten nicht fristgerecht zahlen können. Die Regelung stellt<br />

eine zeitlich begrenzte Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass eine Leistungsunfähigkeit aufgrund<br />

wirtschaftlicher Schwierigkeiten den Schuldner auch dann nicht von den Folgen des Ausbleibens der<br />

rechtzeitigen Leistung befreit, wenn sie auf unverschuldeter Ursache beruht (BGH BGHZ 204, 134 = NZM<br />

2015, 196 = NJW 2015, 1296).<br />

Hinweis:<br />

Aufgrund der außergewöhnlich kurzfristigen Abfassung des Gesetzes, der deshalb nicht möglichen<br />

Beteiligung der Praxis und der völlig neuen Situation muss bei der Auslegung und Anwendung des<br />

Gesetzes dem Gesetzeszweck eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Dabei darf nicht am<br />

Wortlaut des Gesetzestextes „geklebt“ werden.<br />

Die Vorschrift gilt für Wohn- und Geschäftsraummietverhältnisse gleichermaßen. Für die ordentliche<br />

Kündigung von Wohnraummietverhältnissen gem. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist Verschulden erforderlich.<br />

Hier kann sich der Mieter auf unvorhersehbare wirtschaftliche Engpässe berufen (BGH WuM 2016, 682).<br />

Gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB ist es dabei aber Sache des Mieters, im Einzelnen darzulegen, dass die<br />

finanzielle Notlage aufgrund einer unvorhersehbaren wirtschaftlichen Notlage eingetreten ist (BGH<br />

NZM 2013, 20 = NJW 2013, 159 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 44 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BGH WuM 2016,<br />

682 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 59 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

b) Ausschließlich erfasste Mieten<br />

Die Vorschrift erfasst nur Zahlungsrückstände, die vom 1. April bis 30. Juni <strong>2020</strong> entstanden sind oder<br />

entstehen. Nach den Voraussagen zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes ist zumindest für<br />

diesen Zeitraum mit erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen durch die COVID-19-Pandemie zu<br />

rechnen. Es geht also um zurzeit max. drei Monatsmieten (zur Verlängerungsmöglichkeit: s.u. IV).<br />

c) Der Kündigungsausschluss<br />

Mieter erhalten für diese Monate kein Leistungsverweigerungsrecht nach Art. 240 § 1 EGBGB. Sie<br />

bleiben nach allgemeinen Grundsätzen zur Leistung verpflichtet. Sie können grds. in Verzug geraten,<br />

wobei dies gem. § 286 Abs. 4 BGB dann nicht der Fall ist, wenn dies aufgrund eines Umstands geschieht,<br />

den sie nicht zu vertreten haben. Ob in der augenblicklichen Situation der Grundsatz „Geld hat man zu<br />

haben“ tatsächlich uneingeschränkt weiter gilt, darf ernsthaft bezweifelt werden.<br />

Das bedeutet, dass in den Fällen, in denen der Wohn- oder Geschäftsraummieter die im Zeitraum vom<br />

1.4.<strong>2020</strong> bis 30.6.<strong>2020</strong> fällige Miete ganz oder teilweise nicht zahlt, der Vermieter das Mietverhältnis<br />

wegen dieser Rückstände nicht kündigen darf, wenn diese auf den Auswirkungen der COVID-19-<br />

Pandemie beruhen. Derartige Mietrückstände stellen zunächst keinen wichtigen Grund zur außerordentlichen<br />

fristlosen Kündigung gem. § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB dar. Nach der Gesetzesbegründung<br />

(BT-Drucks 19/18110) bedeutet der Zahlungsrückstand für Mieten für diese Monate auch keine<br />

schuldhafte Pflichtverletzung gem. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB.<br />

Hinweis:<br />

1. Die Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses allein aufgrund solcher Mietrückstände ist deshalb<br />

ausgeschlossen.<br />

2. Strittig könnte sein, ob die Kündigung dann möglich ist, wenn der Kündigungsgrund sich aus einer Addition<br />

rückständiger Mieten aus der Zeit vor dem 1.4.<strong>2020</strong> und Mieten aus der Zeit vom 1.4. bis 30.6.<strong>2020</strong> ergibt.<br />

Der Wortlaut „allein“ könnte dafür sprechen. Sinn und Zweck der Regelung sprechen aber dafür, diese<br />

Mieten bei der Rückstandsberechnung gar nicht zu berücksichtigen, sodass<br />

• eine Kündigung auch nach dem 1.4.<strong>2020</strong> möglich ist, wenn sie ausschließlich mit Rückständen begründet<br />

wird, die bis zum 31.3.<strong>2020</strong> entstanden sind.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 413


Fach 4, Seite 1886<br />

Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />

Miete/Nutzungen<br />

• eine Kündigung nicht möglich ist, wenn entweder nur im März und April <strong>2020</strong> ein Rückstand von mehr<br />

als einer Monatsmiete entstanden ist oder in den Monaten vor dem 1.4.<strong>2020</strong> zusammen mit den Mieten<br />

für April bis Juni <strong>2020</strong> ein Rückstand von mindestens 2 Monatsmieten aufgelaufen ist. Gleiches gilt für<br />

Rückstände ab dem 1.7.<strong>2020</strong>.<br />

Strittig ist, ob gar kein Kündigungsgrund besteht oder ob die Kündigung erst später erklärt werden darf.<br />

Nach hier vertretener Auffassung wollte der Gesetzgerber den Kündigungsgrund erst gar nicht entstehen<br />

lassen.<br />

Gemäß Art. 240 § 2 Abs. 4 EGBGB ist der Kündigungsausschluss gem. Art. 240 § 2 S. 1 EGBGB nur bis zum<br />

30.6.2022 anwendbar. Dies bedeutet, dass wegen Zahlungsrückständen, die vom 1.4.<strong>2020</strong> bis zum<br />

30.6.<strong>2020</strong> eingetreten und bis zum 30.6.2022 nicht ausgeglichen sind, nach diesem Tag wieder gekündigt<br />

werden kann. Damit haben Mieter vom 30.6.<strong>2020</strong> an über zwei Jahre Zeit, einen zur Kündigung<br />

berechtigenden Mietrückstand auszugleichen. Ist der Rückstand bis zum 30.6.2022 vollständig ausgeglichen<br />

(BGH NZM 2016, 765 = GE 2016, 1272 = MDR 2016, 1257 = NJW 2016, 3437 = WuM 2016, 658 = DWW<br />

2016, 330 = ZMR 2017, 30 = MietPrax-AK § 543 BGB Nr. 42 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS, jurisPR-<br />

BGHZivilR 18/2016 Anm. 4; KAPPUS, NZM 2016, 766; SCHACH, GE 2016, 1242; ABRAMENKO, MietRB 2016, 312;<br />

SCHACH, jurisPR-MietR 24/2016 Anm. 3), kann der Vermieter gem. § 543 Abs. 2 S. 2 BGB nicht mehr kündigen.<br />

In allen Fällen ist die Kündigung aber nur dann ausgeschlossen, wenn die Nichtleistung des Mieters auf<br />

der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie beruht. Beruht die Nichtleistung des Mieters auf anderen<br />

Gründen, z.B., weil er zahlungsunwillig ist oder seine Zahlungsunfähigkeit andere Ursachen als die<br />

COVID-19-Pandemie hat, ist die Kündigung hingegen nicht ausgeschlossen. Dies ergibt sich aus Art. 240<br />

§ 2 S. 3 EGBGB.<br />

Der Vermieter kann die Kündigung auch aus sonstigen Gründen erklären, etwa wegen Vertragsverletzungen<br />

anderer Art, beispielsweise wegen unbefugter Überlassung der Mietsache an Dritte oder<br />

wegen Eigenbedarfs.<br />

d) Die Darlegungs- und Beweislast<br />

Gemäß Art. 240 § 2 S. 2 EGBGB obliegt es dem Mieter, den Zusammenhang zwischen COVID-19-<br />

Pandemie und Nichtleistung der Miete im Streitfall glaubhaft zu machen. Eine vorprozessuale<br />

Verpflichtung zur Glaubhaftmachung besteht demgegenüber nicht. Es müssen die Tatsachen dargelegt<br />

werden, aus denen sich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, dass die Nichtleistung auf<br />

der COVID-19-Pandemie beruht. Wer eine tatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen hat, kann sich<br />

gem. § 294 Abs. 1 ZPO aller Beweismittel bedienen. Auch die Versicherung an Eides statt ist zugelassen.<br />

Geeignete Mittel können insb. der Nachweis der Antragstellung bzw. die Bescheinigung über die Gewährung<br />

staatlicher Leistungen, Bescheinigungen des Arbeitsgebers oder andere Nachweise über das<br />

Einkommen bzw. über den Verdienstausfall sein.<br />

Mieter von Gewerbeimmobilien können darüber hinaus den Zusammenhang zwischen der COVID-19-<br />

Pandemie und der Nichtleistung regelmäßig mit Hinweis darauf glaubhaft machen, dass der Betrieb ihres<br />

Unternehmens i.R.d. Bekämpfung der Pandemie durch Rechtsverordnung oder behördliche Verfügung<br />

untersagt oder erheblich eingeschränkt worden ist. Dies betrifft z.B. Gaststätten oder Hotels, deren<br />

Betrieb zumindest für touristische Zwecke in vielen Bundesländern untersagt ist. Es kommt wohl auch<br />

nicht auf die allgemeine Leistungsfähigkeit des Unternehmens an. Große Handelsketten haben bereits<br />

angekündigt, für die drei Monate keine Miete zu zahlen, weil ihre Geschäfte geschlossen sind oder Kunden<br />

schlicht nicht mehr kommen. Auch bei ihnen „beruht“ die Nichtleistung auf der Pandemie, auch wenn sie<br />

Rücklagen haben oder einen Onlineshop betreiben. Sie können aber auf Zahlung verklagt werden.<br />

Hinweis:<br />

Die Glaubhaftmachung ist im Hauptsacheprozess ein grds. nicht vorgesehenes Beweismaß. Hier helfen<br />

normalerweise die üblichen Beweiserleichterungen inkl. der Schätzung gem. § 287 ZPO.<br />

414 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1887<br />

Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />

e) Die Schonfristzahlung<br />

Obwohl der Schutzzweck der gleiche und die Problematik für den Mieter ähnlich ist, betrifft die Regelung<br />

nicht die Schonfristzahlung gem. § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB. War das Mietverhältnis also wegen eines vor dem<br />

1.4.<strong>2020</strong> entstandenen Mietrückstands außerordentlich fristlos gekündigt worden, dann kann grds. der<br />

Mieter bis zwei Monate nach Zustellung der Räumungsklage diesen Rückstand ausgleichen. Damit wird<br />

die Kündigung von Anfang an (BGH BGHZ 220, 1 = MDR 2018, 1364 = WuM 2018, 714 = GE 2018, 1389 =<br />

NJW 2018, 3517 = DWW 2018, 377 = NZM 2018, 941 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 71 m. Anm. BÖRSTINGHAUS;<br />

BÖRSTINGHAUS, jurisPR-BGHZivilR 19/2018 Anm. 1; BÖRSTINGHAUS, LMK 2018, 411605; KAPPUS, NJW 2018, 3522;<br />

BEYER, jurisPR-MietR 24/2018 Anm. 3; SINGBARTL/KRAUS, NZM 2018, 946; DRASDO, NJW-Spezial 2019, 1; DÖTSCH,<br />

MietRB 2019, 5; MEIER, ZMR 2019, 175) unwirksam. Auch zu einer solchen Schonfristzahlung ist der Mieter<br />

eventuell wegen der pandemiebedingten Zahlungsausfälle nicht in der Lage. Der Wortlaut der Norm ist<br />

aber eindeutig. Die Vorschrift kann auf diesen Fall nicht angewandt werden. Es bleibt nur die Möglichkeit<br />

einer Verpflichtungserklärung durch die zuständige Stelle.<br />

Der Mieter kann bei einer Räumungsklage nach Juni 2022, die auf Rückstände aus der Zeit 1.4. bis<br />

30.6.<strong>2020</strong> beruht, eine Schonfristzahlung bis zwei Monate nach der Zustellung der Räumungsklage<br />

erbringen. Diese Zahlung hat aber keine Auswirkungen auf eine eventuell – hilfsweise – erklärte<br />

ordentliche Kündigung (BGH BGHZ 220, 1 = MDR 2018, 1364 = WuM 2018, 714 = GE 2018, 1389 = NJW<br />

2018, 3517 = DWW 2018, 377 = NZM 2018, 941 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 71 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

III. Sonderregelungen für die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />

Ein Wohnungsverlust droht dem Wohnungseigentümer nicht. Die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />

ist aber darauf angewiesen, bestimmte Beschlüsse fassen zu können, um Ansprüche durchzusetzen<br />

und handlungsfähig bleiben zu können. Dies ist aber aufgrund der bestehenden landesgesetzlichen<br />

Beschränkungen der Versammlungsmöglichkeiten derzeit nicht möglich. Deshalb hat der Gesetzgeber<br />

hier Erleichterungen vorgesehen.<br />

Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht<br />

zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie<br />

§6<br />

Wohnungseigentümergemeinschaften<br />

(1) Der zuletzt bestellte Verwalter i.S.d. Wohnungseigentumsgesetzes bleibt bis zu seiner Abberufung oder bis<br />

zur Bestellung eines neuen Verwalters im Amt.<br />

(2) Der zuletzt von den Wohnungseigentümern beschlossene Wirtschaftsplan gilt bis zum Beschluss eines neuen<br />

Wirtschaftsplans fort.<br />

1. Verwalterbestellung<br />

Aufgrund der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Situation ist die Durchführung von Eigentümerversammlungen<br />

derzeit vielfach nicht möglich. Bei größeren Gemeinschaften ist die Zusammenkunft<br />

der Eigentümer häufig schon aufgrund behördlicher Anordnungen nicht gestattet. Auch stehen<br />

vielerorts geeignete Räumlichkeiten nicht zur Verfügung. Zudem kann es den Wohnungseigentümern<br />

wegen der damit verbundenen Gesundheitsgefährdung nicht zumutbar sein, an einer Eigentümerversammlung<br />

teilzunehmen.<br />

Handlungsfähig bleibt die Wohnungseigentümergemeinschaft in dieser Situation, wenn ein Verwalter<br />

vorhanden ist. Er kann gem. § 27 Abs. 1 Nr. 3 WEG in dringenden Fällen die zur Erhaltung des gemeinschaftlichen<br />

Eigentums erforderlichen Maßnahmen ohne vorherige Befassung der Wohnungseigentümer<br />

treffen. Ein solch dringender Fall liegt dann vor, wenn die vorherige Befassung der Eigentümer<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 415


Fach 4, Seite 1888<br />

Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />

Miete/Nutzungen<br />

in der Eigentümerversammlung nicht möglich ist. Liegt ein solcher Fall vor, ist der Verwalter gem. § 27<br />

Abs. 3 S. 1 Nr. 4 WEG auch zur Vertretung der Gemeinschaft berechtigt. Daneben ist der Verwalter<br />

gem. Nr. 2 berechtigt, Maßnahmen zu treffen, die zur Wahrung einer Frist oder zur Abwendung eines<br />

sonstigen Rechtsnachteils erforderlich sind.<br />

Damit die Gemeinschaft diesen Notbetrieb aufrechterhalten kann, ist das Vorhandensein eines<br />

Verwalters unabdingliche Voraussetzung. Denkbar sind Fälle, in denen die Amtszeit des bestellten<br />

Verwalters in dem Zeitraum endet, in dem die Durchführung einer Eigentümerversammlung nicht<br />

möglich ist. Deshalb sieht § 6 vor, dass der zuletzt bestellte Verwalter bis zu seiner Abberufung oder bis<br />

zur Bestellung eines neuen Verwalters im Amt bleibt. Dadurch werden die durch den Bestellungsbeschluss<br />

sowie durch die Höchstfristen des § 26 Abs. 1 S. 2 WEG festgesetzten Begrenzungen der<br />

Amtszeit zeitweise außer Kraft gesetzt. Die Vorschrift gilt sowohl für den Fall, dass die Amtszeit des<br />

Verwalters zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift bereits abgelaufen ist, als auch für den Fall,<br />

dass sie erst danach abläuft. Die Amtszeit endet mit der Abberufung des Verwalters oder der Bestellung<br />

eines neuen Verwalters. Die Möglichkeit der Niederlegung des Amts bleibt unberührt.<br />

2. Wirtschaftsplan<br />

Die Wohnungseigentümer sind einander zur Tragung der Lasten des Gemeinschaftseigentums sowie<br />

der Kosten seiner Verwaltung und seines gemeinschaftlichen Gebrauchs nach dem Verhältnis ihrer Anteile<br />

verpflichtet. Die anteilsmäßige Verpflichtung der Wohnungseigentümer zur Tragung der Lasten und<br />

Kosten – sog. Wohn- oder Hausgeld – hat der Verwalter in den vom ihm jeweils für ein Kalenderjahr<br />

aufzustellenden Wirtschaftsplan aufzunehmen. Die Wohnungseigentümer sind verpflichtet, entsprechende<br />

Vorschüsse zu leisten. Nach Ablauf des Kalenderjahrs hat der Verwalter eine Abrechnung zu erstellen.<br />

Über Wirtschaftsplan und Abrechnung beschließen die Wohnungseigentümer durch Stimmenmehrheit.<br />

Dieser Beschluss bildet den Geltungsgrund für die Verpflichtung des einzelnen Wohnungseigentümers.<br />

Durch ihn werden i.R.d. allgemeinen Beitragspflicht die Verbindlichkeiten jedes einzelnen Wohnungseigentümers<br />

gegenüber den anderen begründet (st. Rspr des BGH MDR 1994, 1113, 1114 m.w.N.).<br />

Die WEG-Gemeinschaft ist auf den regelmäßigen Geldeingang zur Tragung der Lasten angewiesen. Die<br />

Wohnungseigentümer haben die Kompetenz zu beschließen, dass ein konkreter Wirtschaftsplan bis zur<br />

Beschlussfassung über den nächsten Wirtschaftsplan fortgelten soll; eine abstrakt-generelle Regelung des<br />

Inhalts, dass jeder künftige Wirtschaftsplan bis zur Verabschiedung eines neuen fortgelten soll, bedarf<br />

hingegen der Vereinbarung (BGH NZM 2019, 374). Für die Fälle, in denen ein solcher Beschluss oder<br />

eine entsprechende Vereinbarung nicht vorliegen, sieht § 6 Abs. 2 vor, dass der zuletzt beschlossene<br />

Wirtschaftsplan bis zum Beschluss eines neuen Wirtschaftsplans fortgilt. Damit wird die Finanzierung<br />

der Gemeinschaft auch in den Fällen sichergestellt, in denen eine Fortgeltung des Wirtschaftsplans nicht<br />

beschlossen wurde.<br />

Über die Jahresabrechnung ist dagegen zu beschließen, sobald die Eigentümerversammlung wieder zusammentreten<br />

kann. Soweit die Jahresabrechnung als Zahlenwerk insb. für steuerliche Zwecke erforderlich<br />

ist, ist sie den Wohnungseigentümern schon zuvor zur Verfügung zu stellen (BT-Drucks 19/18110).<br />

Hinweis:<br />

Möglich ist weiterhin die Beschlussfassung im schriftlichen Umlaufverfahren gem. § 23 Abs. 3 WEG. In<br />

diesem Fall müssen aber alle Wohnungseigentümer zustimmen.<br />

IV. Verlängerungsmöglichkeiten<br />

Art. 240 § 4 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB sieht vor, dass die Bundesregierung ermächtigt wird, durch Rechtsverordnung<br />

ohne Zustimmung des Bundesrats die in Art. 240 § 2 Abs. 1 und 3 EGBGB enthaltene<br />

Kündigungsbeschränkung auf Zahlungsrückstände zu erstrecken, die im Zeitraum vom 1.7.<strong>2020</strong> bis<br />

längstens zum 30.9.<strong>2020</strong> entstanden sind.<br />

416 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1733<br />

Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />

Sozialrecht<br />

Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im<br />

Bereich der betrieblichen Altersversorgung<br />

Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht, Dr. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />

Hinweis:<br />

Der Beitrag ist eine Besprechung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.12.2019 – 1 BvR<br />

3<strong>08</strong>7/14 (stattgebender Kammerbeschluss; eingesandt von RA HARALD WEYMANN)<br />

Inhalt<br />

I. Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom 11.12.2019 – 1 BvR 3<strong>08</strong>7/14<br />

1. Einführung<br />

2. Ausgangslage des aktuellen verfassungsrechtlichen<br />

Verfahrens<br />

3. Entscheidung des BVerfG<br />

II. Fazit der Entscheidung des BVerfG<br />

I. Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.12.2019 – 1 BvR 3<strong>08</strong>7/14<br />

Die dritte Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat am 11.12.2019 eine<br />

Verfassungsbeschwerde angenommen und ihr stattgegeben, die die Gleichbehandlung von Ehe und<br />

eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Altersversorgung für die Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes betrifft.<br />

1. Einführung<br />

a) Allgemein zur Stellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft im Arbeits- und Sozialrecht<br />

(Überblick)<br />

Am 1.8.2001 ist das Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftsgesetz,<br />

LPartG) in Kraft getreten. Seitdem können gleichgeschlechtliche Paare eine Lebenspartnerschaft<br />

begründen. Ab Inkrafttreten des § 1353 Abs. 1 S. 1 BGB (Gesetz zur Einführung des Rechts auf<br />

Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.7.2017, BGBl I, S. 2787) steht die Eheschließung<br />

seit dem 1.10.2017 auch Personen gleichen Geschlechts offen. Die Möglichkeit zur Gründung einer<br />

Lebenspartnerschaft besteht seitdem nicht mehr. Das LPartG ist noch anzuwenden auf vor dem<br />

1.10.2017 begründeten Lebenspartnerschaften, wenn die Partner nicht von der in § 20a Abs. 1 LPartG<br />

eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen, die Lebenspartnerschaft in eine Ehe umwandeln zu<br />

lassen.<br />

Europarechtlich ist im Arbeitsrecht die Richtlinie 2000/78 EG des Rates vom 27.11.2000 (zur Festlegung<br />

eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf)<br />

von Bedeutung, etwa bei der Hinterbliebenenversorgung.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 417


Fach 18, Seite 1734<br />

Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />

Sozialrecht<br />

Der EuGH hat entschieden, es liege ein Verstoß gegen Art. 1 und Art. 2 dieser Richtlinie vor, wenn nach<br />

Versterben eines Lebenspartners der überlebende Partner keine Hinterbliebenenversorgung entsprechend<br />

einem überlebenden Ehegatten erhält und die Situation der Lebenspartner der von<br />

Ehegatten nach nationalem Recht vergleichbar ist (EuGH, Urt. v. 1.4.20<strong>08</strong> – C 27/06 [Maruko], NZA<br />

20<strong>08</strong>, 459; s. ferner weiter zur Hinterbliebenenversorgung von Lebenspartnern VOGELSANG in Schaub,<br />

Arbeitsrechtshandbuch, 18. Aufl. § 274, Rn 158 m.w.N.).<br />

Das BAG hat durch Urt. v. 11.2.2012 (3 AZR 684/10) entschieden, Art. 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 BeamtVG in<br />

seiner bis zum 31.12.20<strong>08</strong> geltenden Fassung, der eine Hinterbliebenenversorgung nur für Ehepartner,<br />

nicht aber für eingetragene Lebenspartner vorsah, sei eine gegen die vorgenannte Richtlinie verstoßende<br />

Ungleichbehandlung. Sie stelle jedenfalls ab dem 1.1.2005 (zur Bedeutung dieses Datums siehe Hinweis<br />

unten I 3 b bb) eine unmittelbare Diskriminierung wegen sexueller Ausrichtung nach Art. 2 Abs. 2a<br />

i.V.m. Art. 1 der Richtlinie dar; weil diese hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung bis zum 31.12.20<strong>08</strong><br />

nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt wurde, sei sie unmittelbar anwendbar. Eine entsprechende<br />

Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern und Ehegatten bei der Hinterbliebenenversorgung<br />

wird ebenso für die Gewährung von Entgeltbestandteilen, die an einen im Hausstand<br />

lebenden Ehegatten, den Bestand einer Familie oder an das Vorhandensein von Kindern anknüpfen,<br />

befürwortet (s. AHRENDT in Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 18. Aufl., § 36 Rn 14 m.w.N. in Fn 71).<br />

Auch im Sozialrecht besteht eine weitgehende Annäherung der Stellung von eingetragenen Lebenspartnern<br />

und Ehegatten, wie folgende Beispiele aufzeigen:<br />

• § 56 SGB I regelt die Sonderrechtsnachfolge fälliger Ansprüche auflaufender Geldleistungen beim<br />

Tod des Berechtigten (abweichend vom Erbrecht nach dem BGB). In § 56 S. 1 Nr. 1a SGB I wird nach<br />

dem Ehegatten auch der Lebenspartner genannt.<br />

• Die beitragsfreie Familienversicherung nach § 10 SGB V erstreckt sich nach Abs. 1 S. 1 der Vorschrift<br />

auch auf Lebenspartner. Damit sind insofern auch Kinder des Lebenspartners, der Mitglied der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung ist, in die Familienversicherung einbezogen.<br />

• In der gesetzlichen Rentenversicherung wird in der Hinterbliebenenversorgung Lebenspartnern<br />

durch § 46 Abs. 4 SGB VI die gleiche Rechtsposition eingeräumt wie Ehegatten.<br />

• Die gesetzliche Unfallversicherung sieht Hinterbliebenenleistungen ebenfalls für eingetragene<br />

Lebenspartner vor, § 63 Abs. 1a SGB VII.<br />

• Zur Gleichstellung hinsichtlich des Anspruchs auf Elterngeld wird auf § 1 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BEEG<br />

verwiesen, Entsprechendes gilt beim Wohngeld, § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 WoGG.<br />

Hinweis:<br />

Bei bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistungen geht die Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft<br />

bei der Inanspruchnahme sozialer Rechte damit einher, dass – ggf. anspruchsmindernd –<br />

auch Einkommen und Vermögen von Lebenspartnern auf den Anspruch des Partners anzurechnen ist.<br />

Dies wird mit dem Hinweis begründet, dass die Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutz<br />

der staatlichen Ordnung steht, woraus sich u.a. ein Diskriminierungsverbot ergibt, wonach Ehegatten<br />

gegenüber Lebenspartnerschaften nicht benachteiligt werden dürfen.<br />

Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) sind nicht dauernd getrenntlebende Lebenspartner<br />

nach § 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II Mitglied der Bedarfsgemeinschaft und haben damit nach Maßgabe von § 9<br />

Abs. 2 SGB II ihr Einkommen und Vermögen einzusetzen.<br />

Eine entsprechende Regelung trifft für den Bereich der Sozialhilfe § 27 Abs. 2 S. 1 SGB XII sowie für die<br />

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung § 43 Abs. 1 S. 2 SGB XII .<br />

b) Abgrenzung zur eheähnlichen Gemeinschaft<br />

Personen, die weder in einer Ehe noch in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, sind von den<br />

Ausführungen zu I 1 a) hinsichtlich der Inanspruchnahme sozialer Rechte grds. nicht betroffen. Allerdings<br />

418 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1735<br />

Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />

sieht das Sozialrecht bei bedürftigkeitsabhängigen Leistungen bei sog. eheähnlichen bzw. partnerschaftsähnlichen<br />

Gemeinschaften – zwischenzeitlich hat sich der Begriff Verantwortungs- und<br />

Einstehensgemeinschaft eingebürgert – die Anrechnung von Einkommen und Vermögen vor. Auch<br />

insoweit gilt der Grundsatz, dass Ehegatten gegenüber diesen Gemeinschaften nicht benachteiligt<br />

werden dürfen.<br />

So gehört nach § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II zur Bedarfsgemeinschaft auch eine Person, die mit der<br />

erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass<br />

nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu<br />

tragen und füreinander einzustehen.<br />

Im SGB II wird zudem vermutet – was für die Leistungsberechtigten mit einer ungünstigen Änderung<br />

der objektiven Beweislast verbunden ist –, dass ein wechselseitiger Wille besteht, Verantwortung<br />

füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wenn Partner<br />

• länger als ein Jahr zusammenleben,<br />

• mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,<br />

• Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder<br />

• befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen (§ 7 Abs. 3a SGB II).<br />

In SGB XII ist der Einkommens- und Vermögenseinsatz dieses Personenkreises in § 20 bzw. § 43 Abs. 1<br />

S. 2 SGB XII (für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) geregelt.<br />

2. Ausgangslage des aktuellen verfassungsrechtlichen Verfahrens<br />

Der Beschwerdeführer bezog von der beklagten Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL)<br />

seit 1998 eine Zusatzrente. Bei deren Berechnung wurde gem. § 41 Abs. 2a bis 2c der Satzung der<br />

Beklagten vom 11.12.1966 in der Fassung vom 20.12.2001 (VBLS a.F.) die Lohnsteuer nach der Steuerklasse<br />

I (s. § 38b Abs.1 S. 2 Nr. 1 EStG), kein Kinderfreibetrag nach § 38b Abs. 2 EStG, zugrunde gelegt. Der<br />

Beschwerdeführer begründete am 23.11.2001 eine eingetragene Lebenspartnerschaft (§ 1 LPartG),<br />

worüber er die VBL erstmals mit Schreiben vom 8.10.2006 unterrichtete. Er beantragte sodann im Jahre<br />

2011 eine Neuberechnung seiner Rente rückwirkend ab dem Zeitpunkt seiner Verpartnerung im Jahre<br />

2001. Die VBL leistete eine Nachzahlung für den Zeitraum ab dem auf die Mitteilung über die<br />

Verpartnerung folgenden Monat, lehnte dies aber weiter rückwirkend, für den Zeitraum vor der<br />

Mitteilung, ab.<br />

Die Klage des Beschwerdeführers auf eine höhere Zusatzrente für den Zeitraum vor der Mitteilung<br />

seiner Verpartnerung blieb zunächst sowohl beim LG Karlsruhe als auch beim OLG Karlsruhe ohne<br />

Erfolg. Im Revisionsverfahren hat der BGH ausgeführt, zwar müsse die eingetragene Lebenspartnerschaft<br />

wie eine Ehe behandelt und für die Berechnung der Zusatzrente daher die für Ehepaare<br />

günstigere Steuerklasse III/0 zugrunde gelegt werden, dies gelte jedoch erst ab der Mitteilung der<br />

Verpartnerung gegenüber der VBL, da § 56 Abs. 1 S. 4 VBLS a.F. einen entsprechenden Antrag<br />

voraussetze, der erst in der Mitteilung aus dem Jahre 2006 liege (BGH, Urt. v. 10.9.2014 – IV ZR 298/13).<br />

Das Antragserfordernis bewirke keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zwar sei der Rechtsprechung<br />

des BVerfG zu entnehmen, dass die Satzung der Beklagten unmittelbar am Gleichheitsgebot des Art. 3<br />

Abs. 1 GG zu messen ist und die Ungleichbehandlung von verheirateten und in einer eingetragenen<br />

Lebenspartnerschaft lebenden Beamten beim Familienzuschlag der Stufe 1 eine am allgemeinen<br />

Gleichheitssatz zu messende Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung darstellt (BVerfG,<br />

Beschl. v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, NJW 2010, 1439 hierzu VON ROETTEKEN, juris-ArbR 48/2009 Anm. 2 und<br />

SPIOLEK, jurisPR-SozR 15/2010 Anm. 5; anders noch BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 8.11.2007 – 2 BvR<br />

2466/06). Nach diesen Vorgaben führe auch die Privilegierung von verheirateten Versicherten<br />

gegenüber Versicherten, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, bei der Berechnung<br />

des fiktiven Nettoarbeitsentgelts der VBL-Satzung zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehand-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 419


Fach 18, Seite 1736<br />

Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />

Sozialrecht<br />

lung, allerdings hindere dies die Beklagte nicht, sich bei einer deshalb gebotenen Neubemessung<br />

der Rentenleistungen auf das Antragserfordernis mit der Folge zu berufen, dass eine Neuberechnung<br />

für die Zeit vor Antragstellung unterbleibt. Es bedeute keine Ungleichbehandlung, wenn die VBL<br />

das Antragserfordernis – ebenso wie bei Verheirateten – bei Versicherten anwendet, die in einer<br />

eingetragenen Lebenspartnerschaft leben; dies sei vielmehr die Konsequenz daraus, dass deren Partner<br />

mit Verheirateten gleich behandelt werden sollen (s. näher BGH a.a.O., Rn 35 ff. der Entscheidungsgründe).<br />

3. Entscheidung des BVerfG<br />

a) Annahme der Verfassungsbeschwerde, Entscheidung durch die Kammer<br />

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde erfolgte nach § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG, weil dies zur<br />

Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts des Beschwerdeführers auf Gleichbehandlung gem.<br />

Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist. Die Entscheidung konnte von der Kammer getroffen werden, weil die<br />

maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden sind. Der vorliegende Fall betrifft die<br />

Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG (das Gericht verweist insoweit auf<br />

BVerfGE 129, 49 [68 f.]; 130, 240 [252 ff.]) aufgrund der Ungleichbehandlung wegen der sexuellen<br />

Orientierung (insoweit werden die früheren Entscheidungen BVerfGE 124, 199 [218 ff.] = NJW 2010, 1439;<br />

BVerfGE 133, 377 [407 ff. Rn73ff.] = NJW 2013, 2257 mit Anm. SANDERS, S. 2236 angeführt).<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist zudem offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Die<br />

angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, soweit<br />

sie im Zeitraum vor November 2006 einen Anspruch auf Neuberechnung der Rente unter Verweis auf<br />

den fehlenden Antrag verneinen.<br />

b) Begründung der Entscheidung<br />

aa) Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab<br />

Die Prüfung des Vorbringens des Beschwerdeführers erfolgt an Hand des allgemeinen Gleichheitssatzes<br />

des Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich, sowie wesentlich<br />

Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Verboten ist daher auch ein<br />

gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt,<br />

einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird.<br />

Es gilt ein stufenloser, amGrundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher<br />

Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils<br />

betroffenen unterschiedlichen Sach-und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Je nach Regelungsgegenstand<br />

und Differenzierungsmerkmalen reicht er vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen<br />

Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Die Anforderungen verschärfen sich umso mehr, je<br />

mehr die Merkmale sich den in Art. 3 Abs. 3 GG ausdrücklich benannten annähern. Für die Kontrolle,<br />

ob ein hinreichend gewichtiger Differenzierungsgrund vorliegt, der eine Ungleichbehandlung von<br />

verheirateten und eingetragenen Lebenspartnern zu rechtfertigen vermag, gilt danach ein strenger<br />

Maßstab, da die unterschiedliche Behandlung von Menschen in einer Ehe und in einer eingetragenen<br />

Lebenspartnerschaft an das in Art. 3 Abs. 3 GG erwähnte personenbezogene Merkmal der sexuellen<br />

Orientierung anknüpft. Der Beschwerdeführer erhält im vorliegenden Fall für einen bestimmten<br />

Zeitraum keine Rentennachzahlung, weil er keinen Antrag gestellt hat, was wiederum darauf beruht,<br />

dass er nicht verheiratet war, sondern in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebte.<br />

bb) Kein Antragserfordernis vor dem 7.7.2009<br />

Das BVerfG entscheidet, die uneingeschränkte Anwendung der Vorschrift zum Antragserfordernis<br />

auf verpartnerte Versicherte benachteilige jedenfalls im Zeitraum vor dem 7.7.2009 (Erlass der<br />

Entscheidung BVerfG – 1 BvR 1164/07, a.a.O., s.o. unter 2) den Beschwerdeführer in nicht gerechtfertigter<br />

Weise und die angegriffenen Urteile verkennen insofern die Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1<br />

420 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1737<br />

Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />

GG an die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Im Ausgangspunkt zutreffend gehen<br />

die Fachgerichte allerdings davon aus, dass verpartnerte Versicherte in Bezug auf die bei der Berechnung<br />

der Zusatzrente heranzuziehenden Steuerklasse in gleicher Weise zu begünstigen sind, wie<br />

verheiratete Versicherte. Dies entspricht der Rechtsprechung des BVerfG (s. insb. BVerfGE 133, 377,<br />

wonach weder der in Art. 6 Abs. 1 GG verankerte besondere Schutz der Ehe noch die im Steuerrecht<br />

bestehende Typisierungsbefugnis eine Differenzierung zwischen den Instituten der Ehe und der<br />

eingetragenen Lebenspartnerschaft rechtfertigt).<br />

Hinweis:<br />

Mit dem zum 1.1.2005 in Kraft getretenen Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts<br />

vom 15.12.2004 wurde das Recht der eingetragenen Lebenspartnerschaft noch näher dem Eherecht<br />

angeglichen und auf die Normen zur Ehe im weitem Umfang (hinsichtlich Güterrecht, Unterhaltsrecht,<br />

Scheidungsrecht, Stiefkinderadoption, Versorgungsausgleich, Hinterbliebenenversorgung) Bezug genommen.<br />

Zum Teil hat man in der Vergangenheit die Auffassung vertreten, die Mehrzahl der für die<br />

eheliche Gemeinschaft von Erwerb und Verbrauch konstitutiven Merkmale seien erst mit jenem Gesetz<br />

auf die eingetragene Lebenspartnerschaft ausgedehnt worden, weshalb diese bis zum Inkrafttreten<br />

des Gesetzes zum 1. 1.2005 nicht als eine der Ehe vergleichbare Gemeinschaft ausgestaltet war,<br />

sodass die Privilegierung der Ehe durch Art. 6 Abs. 1 GG vor dem Jahre 2005 eine Ungleichbehandlung<br />

rechtfertigte.<br />

So etwa das BAG (Urt. v. 11.12.2012 – 3 AZR 684/10), das in Rn 21 f. ausführt, hinterbliebene eingetragene<br />

Lebenspartner befänden sich jedenfalls seit dem 1.1.2005 hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung in<br />

einer Eheleuten vergleichbaren Situation, nicht aber bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des LPartG<br />

am 1.8.2001; zustimmend offenbar AHRENDT in Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 18. Aufl., § 36 Rn 14 und<br />

VOGELSANG a.a.O., § 274, Rn 158. s. ferner das abweichende Votum, BVerfG, Beschl. v. 7.5.2013 – 2 BvR<br />

909/06 u.a., BVerfGE 133, 377, Rn 116 ff. Die Mehrheit des Senats ist dem jedoch im Jahre 2013 nicht<br />

gefolgt. Sie entschied, dass Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG vermöge allein die Ungleichbehandlung<br />

der familienrechtlichen Institute der Ehe und der Lebenspartnerschaft nicht zu rechtfertigen, da beide<br />

in vergleichbarer Weise rechtlich verbindlich verfasste Lebensformen darstellen und in ihren Grundstrukturen<br />

bereits seit Einführung der Lebenspartnerschaft im Jahre 2001 nur wenige Unterschiede<br />

aufweisen (s. Rn 90 der Entscheidungsgründe). Das BVerfG geht aktuell auf diese unterschiedliche<br />

Auffassung nicht ein.<br />

Wird die Lebenspartnerschaft wie die Ehe behandelt, gilt damit auch für verpartnerte Versicherte grds.<br />

das Antragserfordernis. Die Zivilgerichte haben jedoch verkannt, dass eine formal gleiche Anwendung<br />

einer Bestimmung auf Lebenssachverhalte, die in diskriminierender Weise ungleich geregelt waren,<br />

diese Diskriminierung fortschreiben kann. Die Anwendung des Antragerfordernisses vor Juli 2009<br />

bewirkt hier eine Ungleichbehandlung. Zwar scheint es formal gleich, sowohl verheiratete als auch<br />

verpartnerte Anspruchsberechtigte an das Antragserfordernis zu binden. Tatsächlich war die Situation<br />

der Betroffenen jedoch in dem hier streitigen Streitraum in einer Weise unterschiedlich, dass die formale<br />

Gleichbehandlung tatsächlich einer Ungleichbehandlung in der Sache bewirkt.<br />

Im Unterschied zu Eheleuten konnten verpartnerte Versicherte im fraglichen Zeitraum nach damals<br />

geltenden Recht nicht erkennen, dass sie ebenso wie Eheleute einen Antrag hätten stellen müssen,um<br />

von der für Eheleute positiven Regelung zu profitieren. Zunächst galt die Regelung zum Antragserfordernis<br />

für sie tatsächlich bereits nach dem Wortlaut nicht, weil – soweit hier von Interesse – eine<br />

Rentenberechnung auf Grundlage der günstigeren Steuerklasse III/0 nur für verheiratete Versorgungsberechtigte<br />

vorgesehen war. Zudem waren die Rechtsprechung und auch die Fachliteratur damals<br />

mehrheitlich der Auffassung, eine Gleichstellung zugunsten des Beschwerdeführers mit der Ehe sei<br />

nicht geboten. Geändert hat sich dies erst mit dem Beschluss des Ersten Senats des BVerfG vom<br />

7.7.2009 (BVerfGE 124, 199, s.o. unter I 3). Erst ab diesem Zeitpunkt war für verpartnerte Versicherte<br />

erkennbar, dass sie ebenso wie Eheleute einen Antrag stellen müssen, um von den daraus folgenden<br />

positiven Berechnungsfolgen zu profitieren.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 421


Fach 18, Seite 1738<br />

Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />

Sozialrecht<br />

c) Verpflichtung, die Rechtslage rückwirkend verfassungsgemäß umzugestalten<br />

Es entspricht st. Rspr. des BVerfG, dass aus der Feststellung des Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot<br />

grds. die Verpflichtung folgt, die Rechtslage rückwirkend verfassungsgemäß umzugestalten<br />

(Nachweise s. BVerfG, Urt. v. 11.12.2019 – 1 BvR 3<strong>08</strong>7/14, Rn 17).<br />

Von diesem Grundsatz kann nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn dies etwa im Interesse<br />

verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung haushaltswirtschaftlich bedeutsame Normen betrifft<br />

sowie für den Fall, in dem die Verfassungsrechtslage nicht hinreichend geklärt war und dem<br />

Gesetzgeber deshalb eine angemessene Frist zur Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist.<br />

Solche oder andere Gründe, die dem vorgenannten Grundsatz entgegenstehen, bestehen hier nicht.<br />

Eine auf den Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft zurückwirkende<br />

Gleichbehandlung verpartnerter und verheirateter Personen im Zeitraum vor dem 7.7.2009<br />

lässt sich nur erreichen, indem auf einen entsprechenden Antrag hin, der entweder – wie hier – bereits<br />

vor dem 7.7.2009 oder zeitnah danach gestellt wurde, eine Rentenanpassung auch rückwirkend<br />

erfolgt. Deshalb kann der Beschwerdeführer hier nach Auffassung des Gerichts eine Neuberechnung<br />

seiner Versorgungsrente unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse III/0 beginnend mit dem<br />

Zeitpunkt der Begründung seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft verlangen.<br />

Verstoßen allgemeine Versicherungsbedingungen – wie hier in Form der Satzung der VBL – gegen Art. 3<br />

Abs. 3 GG, so bewirkt dies nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Rechtsprechung der<br />

Zivilgerichte die (teilweise) Unwirksamkeit der betroffenen Klausel. Hierdurch entstehende Regelungslücken<br />

können im Wege ergänzender Vertragsauslegung geschlossen werden. Dies führt hier<br />

zur Nichtanwendung des Antragerfordernisses auf verpartnerte Versicherte vor dem 7.7.2009. Der<br />

Gleichheitsverstoß lässt sich nachträglich nur auf diese Weise beheben.<br />

II. Fazit der Entscheidung des BVerfG<br />

Der Beschwerdeführer hat deshalb einen Anspruch auf Neuberechnung seiner Versorgungsrente<br />

rückwirkend auf den Zeitpunkt der Begründung seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft im Jahre<br />

2001. Er hat mit Schreiben vom 8.10.2006 und somit bereits deutlich vor dem 7.7.2009 der VBL<br />

mitgeteilt, er habe eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründet. Sowohl die VBL als auch die von<br />

dem Beschwerdeführer angerufen Fachgerichte haben diese Mitteilung zutreffend als Antrag i.S.v.<br />

§ 56 Abs. 1 S. 4 VBLS a.F. verstanden.<br />

Schließlich weist das Gericht darauf hin, die zeitlich uneingeschränkte Nichtanwendung des Antragerfordernisses<br />

auf verpartnerte Versicherte habe keine ungerechtfertigte Begünstigung dieses Personenkreises<br />

zur Folge. Finde die Bestimmung auf sie keine Anwendung, erhalten sie zwar – anders als<br />

verheiratete Versicherte – auch rückwirkend für einen Zeitraum vor Antragstellung eine Rentennachzahlung.<br />

Verheiratete Versicherte konnten jedoch zur gleichen Zeit ohne Weiteres erkennen, dass ein<br />

solcher Anspruch auf Rentenneuberechnung bestand und ihnen war ebenso zuzumuten, zur Rechtswahrung<br />

einen solchen Antrag zu stellen.<br />

422 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1029<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

Strafverfahren<br />

Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB<br />

Von RiLG THOMAS HILLENBRAND, Stuttgart<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Praktische Bedeutung<br />

III. Hang<br />

IV. Rechtswidrige Tat<br />

V. Symptomatizität<br />

1. Tatbegehung „im Rausch“<br />

2. Tatbegehung aufgrund des Hangs/<br />

Symptomatizität<br />

VI. Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten<br />

1. Qualität der zu erwartenden Taten<br />

2. Gefahrenprognose<br />

VII. Hinreichende Erfolgsaussicht<br />

1. Erfolgsaussicht<br />

2. Erhebliche Zeit<br />

VIII. (Eingeschränktes) Ermessen<br />

IX. Aussetzung zur Bewährung<br />

X. Dauer der Unterbringung<br />

XI. Vollstreckungsreihenfolge<br />

1. Grundsatz<br />

2. Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren<br />

XII. Rechtsmittel<br />

1. Anfechtung der Unterbringungsanordnung<br />

2. Anfechtung der „Nicht-Unterbringung“<br />

3. Sonderfall: Wechselwirkung zwischen<br />

Strafe und Maßregel<br />

I. Einleitung<br />

Gemäß § 64 S. 1 StGB soll das Gericht die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt<br />

anordnen, wenn<br />

• dieser den Hang hat, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu<br />

nehmen,<br />

• er wegen einer rechtswidrigen, im Rausch begangenen oder auf den Hang zurückgehenden Tat<br />

verurteilt oder nur wegen erwiesener oder nicht ausgeschlossener Schuldunfähigkeit nicht verurteilt<br />

wird und<br />

• die Gefahr besteht, dass er auch in Zukunft infolge seines Hangs erhebliche rechtswidrige Taten<br />

begehen wird.<br />

Hinzukommen muss zudem eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht, den Angeklagten durch die<br />

Behandlung in der Entziehungsanstalt zu heilen oder ihn jedenfalls über eine erhebliche Zeit vor dem<br />

Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten,<br />

die auf den Hang zurückgehen, § 64 S. 2 StGB.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 423


Fach 22, Seite 1030<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Sie<br />

dient dem Schutz der Allgemeinheit durch eine Behandlung des Untergebrachten, die darauf abzielt,<br />

ihn von seinem Hang zu heilen und die zugrunde liegende Fehlhaltung zu beheben (BVerfG, Beschl.<br />

v. 25.11.2005 – 2 BvR 1368/05).<br />

Hinweis:<br />

Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt geht der bei betäubungsmittelabhängigen Tätern grds.<br />

auch in Betracht kommenden Zurückstellung der (ggf. weiteren) Strafvollstreckung gem. § 35 BtMG vor.<br />

Von der Anordnung der Maßregel darf daher nicht abgesehen werden, weil der Angeklagte erklärt, er sei<br />

nicht zu einer Maßnahme nach § 64 StGB, wohl aber zu einer solchen nach § 35 BtMG bereit. Er hat insoweit<br />

aufgrund des Vorrangs der Unterbringung kein Wahlrecht (BGH NStZ-RR 2016, 209).<br />

II. Praktische Bedeutung<br />

Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt kommt nicht nur in „großen“ Verfahren in Betracht,<br />

sondern kann auch vom Amtsgericht angeordnet werden; § 74 Abs. 1 GVG weist lediglich die<br />

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, nicht aber jene in einer Entziehungsanstalt der<br />

großen Strafkammer beim Landgericht zu. Der Verteidiger muss deshalb in jedem Strafverfahren, in<br />

dem ein übermäßiger Alkohol- und/oder Drogenkonsum seines Mandanten im Raum steht, die<br />

Möglichkeit einer Maßregel gem. § 64 StGB im Blick haben.<br />

Die Zahl der in einer Entziehungsanstalt untergebrachten Personen hat in den letzten Jahren enorm<br />

zugenommen. Allein in der Zeit von 1996–2014 kam es im Maßregelvollzug zu einer Verdreifachung der<br />

Belegungszahlen (Schönke/Schröder/KINZIG, StGB, 30. Aufl. 2019, § 64 Rn 2 [im Folgenden kurz: S/S/KINZIG]).<br />

Geschuldet ist diese Entwicklung insb. einer ausgesprochen unterbringungsfreundlichen Rechtsprechung<br />

des BGH, die dieser gegenüber den Instanzgerichten mit großem Nachdruck durchsetzt. So<br />

werden, und dies in den letzten Jahren verstärkt, immer wieder Urteile beanstandet, in denen die<br />

Anordnung der Unterbringung unterblieben war. Umgekehrt sind Urteilsaufhebungen wegen einer<br />

Nichtanordnung der Maßregel eher selten.<br />

Hinweis:<br />

Die Gründe für die Unterbringung einschließlich der Prognosetatsachen muss das Gericht im Urteil<br />

darlegen, § 267 Abs. 6 S. 1 StPO. Im umgekehrten Fall, wenn die Anordnung unterbleibt, sind die maßgeblichen<br />

Erwägungen hierfür ebenfalls darzulegen, wenn sich die Prüfung des § 64 StGB anhand der<br />

festgestellten Einzelfallumstände, insb. wegen eines langjährigen BtM-Konsums des Angeklagten, aufdrängte<br />

(BGH, Beschl. v. 22.10.2019 – 4 StR 171/19). In diesem Fall sind Ausführungen zur Unterbringung<br />

auch dann erforderlich, wenn sie keiner der Verfahrensbeteiligten beantragt hat (BGH, Beschl. v. 2.10.2019<br />

– 3 StR 406/19).<br />

Trotz des recht eindeutigen Kurses des BGH tun sich viele Tatgerichte im Umgang mit § 64 StGB schwer,<br />

mitunter wird gar eine „Ignoranz der Tatgerichte“ gegenüber der Existenz der Maßregel beklagt (vgl. S/S/<br />

KINZIG, § 64 Rn 2 m.w.N.). Allerdings wird man den so gescholtenen Tatgerichten zumindest zugutehalten<br />

müssen, dass die vom BGH mit so großem Nachdruck verfochtene Marschrichtung nicht nur positive<br />

Wirkungen hat, sondern, was schon die enorm hohe Abbruchquote von rund 50 % (QUERENGÄSSER/ROSS/<br />

BULLA/HOFFMANN NStZ 2016, 58) nahelegt, anscheinend auch dazu führt, dass in den Therapieeinrichtungen<br />

in erheblichem Maße durch für die Behandlung ungeeignete Patienten Kapazitäten gebunden werden.<br />

Für die Verteidigung ist der Kurs des BGH Fluch und Segen zugleich:<br />

Einerseits ist eine vom Angeklagten angestrebte Unterbringung relativ leicht zu erreichen. Dies kann in<br />

Verfahren, in denen lange Haftstrafen drohen, die Chance eröffnen, dass der Angeklagte gem. § 67 Abs. 5<br />

424 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1031<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

StGB bereits nach Verbüßung der Hälfte der Strafe und damit mitunter wesentlich früher als bei einer<br />

Vollstreckung im allgemeinen Strafvollzug die Freiheit wiedererlangt, zumal bei vielen Tatgerichten<br />

die Neigung verbreitet ist, Einlassungen des Angeklagten zu seinem (vermeintlichen) Rauschmittelkonsum<br />

recht schnell als „unwiderlegbar“ einzustufen und damit letztlich ohne die gebotene kritische<br />

Überprüfung zu übernehmen.<br />

Andererseits führt die Maßregel in Verfahren mit eher überschaubarer Straferwartung mitunter umgekehrt<br />

dazu, dass sich die Dauer der Freiheitsentziehung insgesamt verlängert, und zwar namentlich<br />

dann, wenn die voraussichtliche Therapiedauer die Dauer der Freiheitsstrafe übersteigt.<br />

Hinweis:<br />

Unabhängig vom jeweiligen Verteidigungsziel im Einzelfall empfiehlt es sich, die Problematik des § 64<br />

StGB frühzeitig, nämlich bereits bei der Prüfung der Frage, ob sich der Angeklagte zur Person und zur<br />

Sache einlassen oder vom Schweigerecht Gebrauch machen soll, in die Erwägungen zur Verteidigungsstrategie<br />

einzubeziehen.<br />

Wird für den Mandanten eine Unterbringung angestrebt, dürfte es regelmäßig naheliegen, sich insb.<br />

zum Suchtverlauf umfassend zu äußern und auch an der Begutachtung durch einen Sachverständigen<br />

(§ 246a Abs. 1 S. 2 StPO) mitzuwirken.<br />

Soll eine Unterbringung dagegen vermieden werden, wird es oftmals sachgerecht sein, insb. zum<br />

Rauschmittelkonsum keine Angaben zu machen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Angeklagte<br />

dem Gericht die zu seiner Unterbringung führenden Gründe „frei Haus“ liefert.<br />

Drängt sich allerdings die Suchtproblematik bereits anhand des Akteninhalts geradezu auf, etwa<br />

aufgrund zahlreicher Voreintragungen wegen Betäubungsmitteldelikten, verspricht auch Schweigen<br />

häufig keinen Erfolg. Das Gericht wird den Hang ggf. bereits aufgrund des Vorlebens des Angeklagten<br />

feststellen können. In derartigen Fällen empfiehlt es sich, das Hauptaugenmerk eher auf Faktoren zu<br />

richten, die für eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung sprechen könnten (s.u. IX).<br />

Hinweis:<br />

Bedacht werden muss aber, dass sich Vorgehensweisen, die im Hinblick auf das zu erwartende Strafmaß<br />

regelmäßig durchaus erfolgversprechend sind, im Falle einer drohenden Unterbringung ausnahmsweise<br />

nachteilig auswirken können. So wird beispielsweise ein Angeklagter, bei dem eine Alkoholproblematik im<br />

Raum steht, häufig eine Strafmilderung und/oder eine Bewährungschance erhalten, wenn er sich bereits<br />

vor der Hauptverhandlung mit einer Suchtberatungsstelle o.Ä. in Verbindung setzt und so Problembewusstsein<br />

und Behandlungseinsicht erkennen lässt. Steht aber eine Maßregel gem. § 64 StGB im Raum,<br />

kann ein solches Vorgehen dazu führen, dass die Erfolgsaussicht der Unterbringung zwanglos bejaht<br />

werden kann, nachdem sich der Angeklagte schon im Vorfeld behandlungsbereit zeigt.<br />

III. Hang<br />

Zentrale Voraussetzung für die Anordnung der Maßregel ist ein Hang des Angeklagten, alkoholische<br />

Getränke oder andere berauschende (bzw. betäubende) Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen.<br />

Anderweitige Abhängigkeiten, wie beispielsweise Spiel- oder Internetsucht, scheiden dagegen als<br />

Anordnungsgrund für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aus. § 64 StGB bezieht sich<br />

ausschließlich auf stoffgebundene Suchterkrankungen.<br />

Hinweis:<br />

Den Hang muss der Tatrichter positiv feststellen; eine bloße (auch hohe) Wahrscheinlichkeit rechtfertigt<br />

die Anordnung der Maßregel nicht (BGH, Beschl. v. 8.5.2012 – 3 StR 98/12).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 425


Fach 22, Seite 1032<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH liegt ein Hang vor, wenn der Täter eine eingewurzelte, auf<br />

psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung hat, immer<br />

wieder Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren, sodass er aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet<br />

oder gefährlich erscheint (BGH, Beschl. v. 7.9.2019 – 3 StR 252/19). Dies kann bereits bei jungen Tätern<br />

der Fall sein (BGH, Beschl. v. 7.8.2019 – 3 StR 252/19 für einen zur Tatzeit 18-Jährigen).<br />

Hinweis:<br />

Diente die Tat dem Erwerb von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum oder zu dessen Finanzierung<br />

(Beschaffungskriminalität) oder hat der Angeklagte bereits früher solche Straftaten begangen, liegt ein<br />

Hang regelmäßig nahe (BGH, Beschl. v. 21.3.2019 – 3 StR 81/19 und Beschl. v. 11.12.2019 – 5 StR 469/19).<br />

Bei der Prüfung des Hangs kommt es in der Praxis häufig zu Rechtsfehlern. Insbesondere beanstandet<br />

der BGH immer wieder, dass das Tatgericht von einem zu engen Begriff des Hangs ausgegangen sei<br />

(vgl. z.B. BGH, Beschl. v. 2.4.2015 – 3 StR 103/15). Offenbar wird in der Praxis nicht selten verkannt, dass<br />

der Anwendungsbereich des § 64 StGB nicht auf Schwerstabhängige beschränkt ist. Es ist aber gerade<br />

nicht erforderlich, dass die Suchterkrankung des Angeklagten bereits so weit fortgeschritten ist, dass er<br />

seinen Lebensalltag nicht mehr bewältigen kann. Ein Hang darf deshalb nicht abgelehnt werden,<br />

weil der Substanzmissbrauch des Angeklagten „nicht in einem solchen Ausmaß im zentralen Mittelpunkt von<br />

dessen Lebensführung stehe, dass sich daraus ein unmittelbarer, ständiger, seine soziale und persönliche Handlungsfähigkeit<br />

beeinträchtigender störender oder schädlicher Einfluss“ ergeben habe.<br />

Auch Urteile, in denen ein Hang allein deshalb verneint wird, weil der Angeklagte noch in der Lage<br />

war, beruflichen Verpflichtungen nachzukommen, haben in aller Regel keinen Bestand (vgl. BGH, Beschl.<br />

v. 25.9.2019 – 5 StR 264/19). Beeinträchtigungen der Arbeits- und Leistungsfähigkeit oder der Gesundheit<br />

können zwar Anhaltspunkte für einen Hang darstellen, ihr Fehlen steht der Unterbringung aber nicht<br />

entgegen (st. Rspr. des BGH, vgl. Beschl. v. 19.9.2019 – 3 StR 355/19 m.z.N.).<br />

Ebenso wenig ist Voraussetzung, dass bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (BGH,<br />

Beschl. v. 27.8.2019 4 – StR 330/19). Auch muss noch nicht der Grad einer physischen Abhängigkeit<br />

erreicht sein (BGH, Beschl. v. 7.8.2019 – 3 StR 252/19), und es ist auch nicht erforderlich, dass bei der<br />

Begehung der Anlasstat die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vorlagen (FISCHER, StGB, 66. Aufl. 2019,<br />

§ 64 Rn 4 [im Folgenden kurz: FISCHER]).<br />

Zudem verlangt die Annahme eines Hangs keinen täglichen Konsum. Die Anwendung des § 64 StGB<br />

darf deshalb nicht unter Hinweis darauf abgelehnt werden, dass der Angeklagte in der Lage gewesen sei,<br />

seinen Rauschmittelkonsum zu steuern, immer wieder zu verringern oder einzustellen (BGH, Beschl.<br />

v. 20.12.2011 – 3 StR 421/11).<br />

Hinweis:<br />

Ein nur gelegentlicher, und sei es missbräuchlicher, Alkohol- oder Drogenkonsum genügt allerdings noch<br />

nicht. Vielmehr liegt ein Konsum „im Übermaß“ erst vor, wenn sich die Neigung zum Suchtmittelkonsum<br />

handlungsleitend auswirkt (FISCHER, § 64 Rn 8). Ist dies nicht der Fall, scheidet eine Unterbringung in der<br />

Entziehungsanstalt auch dann aus, wenn die Tat im Rausch begangen wurde (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 365).<br />

Auch bei Entzugserscheinungen verbietet sich eine schematische Betrachtungsweise. Zwar kann die<br />

Annahme eines Hangs naheliegen, wenn es bei dem Angeklagten, insb. zum Tatzeitpunkt, aber auch<br />

nach Festnahme und Inhaftierung, zu Entzugserscheinungen kommt (vgl. BGH, Beschl. v. 2.10.2019 –<br />

3 StR 406/19). Im umgekehrten Fall, wenn keine Entzugserscheinungen auftreten, darf ein Hang jedoch<br />

nicht allein deshalb verneint werden (vgl. BGH, Beschl. v. 27.3.20<strong>08</strong> – 3 StR 38/<strong>08</strong>, für Kokain).<br />

426 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1033<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

Hinweis:<br />

Allerdings kann das Fehlen von Entzugserscheinungen indizielle Wirkung haben. Gleiches gilt für eine sich<br />

über einen längeren Zeitraum erstreckende Substitutionsbehandlung (vgl. BGH NStZ-RR 2018, 13).<br />

IV. Rechtswidrige Tat<br />

Als Anlasstat für die Unterbringung genügt grds. eine beliebige, i.S.d. § 11 Abs. 5 StGB rechtswidrige, Tat.<br />

Insoweit existiert nach h.M. keine Beschränkung auf erhebliche oder gar besonders schwerwiegende<br />

Delikte; vielmehr kann u.U. im Einzelfall auch ein Fahrlässigkeitsdelikt oder eine Versuchstat die<br />

Anordnung der Maßregel rechtfertigen (S/S/KINZIG, § 64 Rn 8).<br />

Hinweis:<br />

Wie bei allen Maßregeln ist aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten, § 62 StGB. Insbesondere<br />

Bagatelltaten scheiden als Grundlage für die Anordnung der Maßregel aus (vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2019 –<br />

3 StR 443/18).<br />

Eine Verurteilung wegen einer schuldhaften Begehung der Anlasstat ist nicht erforderlich, es genügt<br />

deren Rechtswidrigkeit. Jedoch kann die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auch gegen einen<br />

voll schuldfähigen Angeklagten angeordnet werden; § 64 StGB setzt nicht voraus, dass der Täter zur<br />

Tatzeit vermindert schuldfähig i.S.d. § 21 StGB oder gar schuldunfähig war (FISCHER, § 64 Rn 14).<br />

V. Symptomatizität<br />

Die Tat (oder zumindest eine von mehreren Taten) muss im Rausch begangen worden sein oder auf<br />

den Hang des Angeklagten zurückgehen, wobei der Hang insoweit den Oberbegriff darstellt; die<br />

Tatbegehung im Rausch ist ein Unterfall (BGH NStZ-RR 2016, 169).<br />

Diese sog. Symptomatizität muss positiv festgestellt werden, für die Anwendung des Zweifelssatzes ist<br />

hier kein Raum (BGH, Beschl. v. 27.6.2019 – 3 StR 443/18). Können entsprechende sichere Feststellungen<br />

nicht getroffen werden, scheidet eine Unterbringung aus.<br />

Hinweis:<br />

Das Gericht hat die Grundlagen, aufgrund derer es die Symptomatizität, also den symptomatischen<br />

Zusammenhang zwischen Hang und Tat, bejaht, in den Urteilsgründen sorgfältig darzulegen. Dem ist<br />

nicht Genüge getan, wenn lediglich festgestellt wird, dass der Angeklagte vor der Tat erhebliche Mengen<br />

Alkohol zu sich genommen habe und es zu deutlich wahrnehmbaren Ausfallerscheinungen gekommen sei<br />

(BGH NStZ 2013, 37). Derartiges kann auch bei einem einmaligen Rausch auftreten.<br />

1. Tatbegehung „im Rausch“<br />

Eine Tat ist „im Rausch“ begangen, wenn sich der Täter während ihrer Begehung in dem für das jeweilige<br />

Rauschmittel typischen, die geistig-psychischen Fähigkeiten beeinträchtigenden Intoxikationszustand<br />

befand (BGH NStZ-RR 2012, 739).<br />

2. Tatbegehung aufgrund des Hangs/Symptomatizität<br />

Die Symptomatizität liegt nach ständiger Rechtsprechung des BGH vor, wenn der Hang zum Missbrauch<br />

von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln allein oder zusammen mit anderen Umständen<br />

dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies<br />

bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist. Die konkrete Anlasstat muss in dem<br />

Hang ihre Wurzeln finden, also Symptomwert für diesen haben, indem sich in ihr die hangbedingte<br />

Gefährlichkeit des Täters äußert (vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2019 – 3 StR 443/18 m.w.N.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 427


Fach 22, Seite 1034<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

Hinweis:<br />

Die Symptomatizität kommt nicht nur bei typischen Betäubungsmitteldelikten in Betracht, sondern kann<br />

grds. bei jeder Straftat gegeben sein. In Betracht kommen insb. unter Rauschmitteleinfluss begangene<br />

Taten gegen Leib und Leben, hier wird oftmals eine rauschbedingte Enthemmung (mit-)ursächlich für die<br />

Tat sein. Aber auch bei Sexualdelikten kann, wenngleich eher selten, ein symptomatischer Zusammenhang<br />

zwischen Hang und Tat gegeben sein (vgl. BGH, Beschl. v. 20.12.2018 – 1 StR 600/18).<br />

Insbesondere in Fällen der sog. Beschaffungskriminalität liegt die Symptomatizität regelmäßig nahe<br />

(BGH NStZ-RR 2017, 198). Dabei muss es sich nicht zwingend um reine Drogendelikte nach dem BtMG<br />

handeln. Vielmehr kann „mittelbare“ Beschaffungskriminalität genügen, etwa wenn sich der Angeklagte<br />

durch Diebstähle Wertgegenstände verschafft, um sich durch deren spätere Veräußerung Mittel u.a. für<br />

den Rauschgifterwerb zu besorgen (BGH NStZ-RR 2018, 273).<br />

Hinweis:<br />

Einen Automatismus dahingehend, dass bei Betäubungsmitteltaten immer von einem Hang bzw. von der<br />

Symptomatizität auszugehen sei, gibt es indes nicht. Dient etwa der Drogenhandel ausschließlich der<br />

Beschaffung von Geldmitteln zur Bestreitung des allgemeinen Lebensunterhalts, ist für die Anwendung<br />

des § 64 StGB kein Raum (vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2019 – 3 StR 443/18).<br />

Der Hang muss nicht die alleinige Tatursache sein. Es ist deshalb verfehlt, den symptomatischen<br />

Zusammenhang allein deshalb zu verneinen, weil die Tat „nicht unmittelbar“ auf eine Suchterkrankung<br />

zurückgeht, sondern daneben auch auf allgemeine charakterliche Mängel oder auf eine dissoziale<br />

Verhaltensbereitschaft des Angeklagten (BGH NStZ-RR 2018, 273 und Beschl. v. 21.3.2019 – 3 StR 81/19)<br />

oder auf eine Persönlichkeitsdisposition (BGH, Beschl. v. 27.8.2019 – 4 StR 330/19). Auch kann es<br />

genügen, wenn der Hang „nur“ Einfluss auf die Qualität und Intensität der Anlasstat hatte (FISCHER, §64<br />

Rn 13a). Ein bloßes „Mut-Antrinken“ erleichtert dagegen lediglich die Tatausführung und begründet die<br />

Symptomatizität nicht (BGH, Beschl. v. 17.7.2018 – 4 StR 173/18).<br />

VI. Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten<br />

Als weitere Voraussetzung für die Unterbringung muss die Gefahr bestehen, dass der Angeklagte<br />

zumindest auch infolge seines Hangs weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.<br />

1. Qualität der zu erwartenden Taten<br />

Die zu befürchtenden Taten müssen erheblich und mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität<br />

zuzuordnen sein, sodass reine Bagatelltaten ausscheiden. Insbesondere rechtfertigt nicht jedes Drogendelikt<br />

die Unterbringung, der Erwerb kleiner Rauschgiftmengen zum Eigenkonsum genügt nicht. Bei<br />

drohenden gewichtigen Verstößen gegen das BtMG ist die Unterbringung hingegen regelmäßig gerechtfertigt<br />

(BGH NStZ-RR 20<strong>08</strong>, 234). Gleiches gilt bei Gewalttaten.<br />

Eine „Einschlägigkeit“ der zu befürchtenden neuerlichen Taten ist nicht erforderlich. § 64 StGB setzt<br />

lediglich einen symptomatischen Zusammenhang zwischen dem Hang, der Anlasstat und zukünftiger<br />

Gefährlichkeit voraus; eine darüber hinausgehende „Konnexität“ zwischen der Abhängigkeit und den zu<br />

erwartenden Straftaten ist jedoch nicht vorausgesetzt (FISCHER, § 64 Rn 15 m.w.N.). Auch muss die<br />

Abhängigkeit nicht der einzige Grund für die Gefahr neuer Straftaten seien (BGH NStZ 2003, 86).<br />

2. Gefahrenprognose<br />

Die Unterbringung darf nur angeordnet werden, wenn dem Angeklagten eine negative Gefahrenprognose<br />

zu stellen ist. Hierfür genügt die bloße Möglichkeit weiterer Taten nicht, vielmehr bedarf es<br />

einer „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ (BGH NStZ-RR 2006, 265). Einer Gefahr für die Allgemeinheit<br />

bedarf es aber, anders als im Anwendungsbereich des § 63 StGB, nicht (FISCHER, a.a.O.).<br />

428 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1035<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

Hinweis:<br />

Die Prognose ist für den jeweiligen Einzelfall zu treffen; ein Erfahrungssatz dahingehend, dass bei einem<br />

Drogenabhängigen regelmäßig die Gefahr neuer erheblicher Straftaten bestehe, existiert nicht (FISCHER,<br />

§ 64 Rn 15).<br />

VII. Hinreichende Erfolgsaussicht<br />

1. Erfolgsaussicht<br />

Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf nur dann angeordnet werden, wenn eine hinreichend<br />

konkrete Aussicht besteht, der Angeklagte werde durch die Behandlung geheilt oder eine erhebliche<br />

Zeit vor dem Rückfall in den Hang bewahrt und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten<br />

abgehalten werden, § 64 S. 2 StGB.<br />

Diese hinreichend konkrete Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn unter Berücksichtigung der Art und des<br />

Stadiums der Sucht sowie bereits eingetretener physischer und psychischer Veränderungen und<br />

Schädigungen in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Angeklagten konkrete Anhaltspunkte<br />

vorliegen, die dafür sprechen, dass es zumindest innerhalb eines erheblichen Zeitraums nicht<br />

(mehr) zu einem Rückfall kommen wird. Einer sicheren oder unbedingten Gewähr des Behandlungserfolgs<br />

bedarf es aber nicht (BGH, Beschl. v. 14.8.2019 – 4 StR 147/19).<br />

Hinweis:<br />

Die frühere Streitfrage, ob ein voraussichtlicher Therapiebedarf von mehr als zwei Jahren der Anordnung<br />

der Maßregel entgegensteht, hat sich durch die Änderung des § 64 StGB zum 1.8.2016 erledigt. Seither<br />

verweist die Vorschrift ausdrücklich auf § 67d Abs. 1 S. 1 oder S. 3 StGB, sodass für die Behandlung auch ein<br />

längerer Zeitraum zur Verfügung stehen kann (FISCHER, § 64 Rn 19a).<br />

a) Positive Faktoren<br />

Für eine Erfolgsaussicht kann insb. sprechen, dass der Angeklagte sich der negativen Folgen seiner Sucht<br />

bewusst ist und in der Vergangenheit keine gescheiterten Therapieversuche unternommen wurden<br />

(vgl. BGH NStZ-RR 2007, 372). Gleiches gilt für eine zwischenzeitlich eingetretene Abstinenz (S/S/KINZIG,<br />

§ 64 Rn 17). Auch eine ausdrücklich erklärte Therapiebereitschaft kann für eine hinreichend konkrete<br />

Erfolgsaussicht sprechen (BGH NStZ-RR 2010, 307).<br />

Erklärt der Angeklagte dagegen umgekehrt, er sei zu einer Mitwirkung bei der Behandlung nicht bereit,<br />

steht dies der Annahme einer Erfolgsaussicht nicht zwingend entgegen. Vielmehr hat das Tatgericht in<br />

diesen Fällen zu prüfen, ob die konkrete Aussicht besteht, dass die Bereitschaft für eine erfolgversprechende<br />

Behandlung während der Therapie geweckt werden kann (st. Rspr., vgl. nur BGH NStZ-<br />

RR 2013, 239). Die Anordnung der Unterbringung soll grds. nicht vom Therapiewillen des Betroffenen<br />

abhängen (BGH NStZ 2017, 107). Allerdings kann eine mangelnde Therapiemotivation im Einzelfall<br />

durchaus ein Indiz für eine fehlende Erfolgschance sein (S/S/KINZIG, § 64 Rn 16), insb. wenn zu einer<br />

kategorischen Weigerung des Angeklagten, sich therapieren zu lassen, die auf ein Sachverständigengutachten<br />

gestützte Erkenntnis, auch der Vorwegvollzug einer Freiheitsstrafe werde eine Therapiebereitschaft<br />

nicht hervorrufen können, hinzukommt (BGH NStZ-RR 2014, 213).<br />

Hinweis:<br />

Die Behauptung, man sei zu einer Maßnahme nach § 64 StGB nicht bereit, erweckt beim BGH meist<br />

ein nicht unerhebliches Misstrauen, insb. wenn zugleich erklärt wird, dass man stattdessen einer Zurückstellung<br />

der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG offen gegenüberstehe. Offensichtlich wittern die<br />

Senate hier, und damit dürften sie häufig richtig liegen, eine Umgehung des Vorrangs der Unterbringung.<br />

Nicht zuletzt deshalb akzeptiert es der BGH nicht, wenn ein Gericht einerseits die Erfolgsaussicht i.S.d. § 64<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 429


Fach 22, Seite 1036<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

S. 2 StGB verneint und andererseits im Urteil die Zustimmung zu einer Zurückstellung der Strafvollstreckung<br />

gem. § 35 BtMG erteilt (BGH, Beschl. v. 9.10.2019 – 4 StR 367/19). Mit einer solchen Zustimmung bejahe der<br />

Tatrichter der Sache nach nicht nur den Hang des Angeklagten, sondern auch die Symptomatizität, sodass<br />

zwingend die weiteren Voraussetzungen der – vorrangigen – Unterbringung gem. § 64 StGB zu prüfen seien<br />

(BGH, Beschl. v. 1.10.2019 – 2 StR 1<strong>08</strong>/19).<br />

b) Negative Faktoren<br />

Gegen eine hinreichende Erfolgsaussicht werden in der Praxis oftmals insb. frühere Behandlungsversuche<br />

und, v.a. bei ausländischen Tätern, Sprachprobleme angeführt.<br />

aa) Frühere Behandlungen/Rückfall<br />

Hat der Angeklagte in der Vergangenheit mehrere Therapien abgebrochen oder wurde er nach erfolgreichen<br />

Behandlungen immer wieder alsbald rückfällig, spricht dies gegen die Erfolgsaussicht einer<br />

nochmaligen Behandlung (vgl. BGH NJW 2014, 1978).<br />

Hinweis:<br />

Gerade in solchen Fällen dürfen die Erfolgsaussichten im Urteil nicht ohne Weiteres unterstellt werden.<br />

Vielmehr bedarf die Anordnung der Unterbringung im Gegenteil dann einer besonders eingehenden<br />

Begründung, wenn mehrere prognoseungünstige Umstände (langjährige Drogenabhängigkeit, mehrere<br />

erfolglose Langzeittherapien, fehlender sozialer Empfangsraum, berufliche Perspektivlosigkeit) vorliegen<br />

(BGH NStZ-RR 2018, 13). Die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung genügt nicht (BGH<br />

NStZ-RR 2018, 275).<br />

Ein Automatismus dahingehend, dass frühere erfolglose Therapieversuche hinreichenden Erfolgsaussichten<br />

einer abermaligen Behandlung zwingend entgegenstehen, existiert jedoch nicht. Auch ein<br />

Rückfall steht für sich allein der (ggf. abermaligen) Anordnung der Unterbringung nicht zwingend<br />

entgegen, insb. wenn zwei stationäre Entwöhnungsmaßnahmen in der Vergangenheit jedenfalls dazu<br />

geführt haben, dass der Angeklagte über mehrere Jahre hinweg straffrei blieb (BGH NStZ-RR 2009, 78).<br />

Hinweis:<br />

Dagegen kann es der Erfolgsaussicht entgegenstehen, wenn der Angeklagte nicht „nur“ an einer<br />

Suchterkrankung leidet, sondern zudem auch an einer Psychose oder einer dissozialen Persönlichkeitsstörung.<br />

Derartige Erkrankungen sind in aller Regel in einer Entziehungsanstalt nicht erfolgreich<br />

behandelbar. Hier wird, sofern die Voraussetzungen des § 63 StGB vorliegen, eher die Unterbringung<br />

in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommen.<br />

bb) Sprachprobleme<br />

Der BGH geht davon aus, dass Sprachprobleme der Maßregelanordnung regelmäßig nicht entgegenstehen<br />

(so zuletzt BGH, Beschl. v. 21.3.2019 – 3 StR 81/19). Es genügten Grundkenntnisse der deutschen<br />

Sprache, die eine Verständigung im Alltag ermöglichen. Sind diese vorhanden, ist nach der Rechtsprechung<br />

von hinreichender Erfolgsaussicht auszugehen, auch wenn der Angeklagte seine Sprachkenntnisse<br />

erst während der Untersuchungshaft oder während des Vorwegvollzugs vertiefen konnte bzw. kann<br />

(vgl. BGH NStZ-RR 2019, 174). Nur bei völlig fehlenden Sprachkenntnissen wird – ausnahmsweise – von<br />

der Anordnung der Unterbringung abgesehen werden dürfen (vgl. BGH, Beschl. v. 13.6.2018 – 1 StR 132/18).<br />

Hinweis:<br />

Reichen die Sprachkenntnisse für eine Behandlung in Deutschland nicht aus, kann eine Überstellung des Angeklagten<br />

in seinen Heimatstaat zu prüfen sein, sofern dort geeignete Einrichtungen existieren (BGH a.a.O).<br />

430 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1037<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

2. Erhebliche Zeit<br />

Was unter einer erheblichen Zeit i.S.d. § 64 StGB zu verstehen ist, kann nicht allgemein, sondern nur in<br />

Bezug auf den jeweiligen Einzelfall bestimmt werden (FISCHER, § 64 Rn 19). Jedenfalls in Fällen, in denen<br />

fast unmittelbar nach der Entlassung im Abstand von wenigen Tagen oder Wochen mit einem Rückfall<br />

gerechnet werden müsste, wird es aber an einer hinreichenden Erfolgsaussicht fehlen.<br />

VIII. (Eingeschränktes) Ermessen<br />

Nach dem Wortlaut des § 64 StGB soll das Gericht die Unterbringung anordnen, wenn die Voraussetzungen<br />

hierfür vorliegen. Hiernach bleibt im Einzelfall die Möglichkeit, trotz des Vorliegens der Anordnungsvoraussetzungen<br />

von einer Unterbringung abzusehen.<br />

Hinweis:<br />

Die Vorschrift verschafft dem Gericht indes kein freies Ermessen. Vielmehr kommt ein Absehen von der<br />

Anordnung der Maßregel nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht (statt aller S/S/KINZIG, § 64 Rn 18<br />

m.z.N.).<br />

Mit der Regelung sollte die Möglichkeit geschaffen werden, in Fällen, in denen die Ausgangsbedingungen<br />

sehr ungünstig sind, von der Unterbringung des Angeklagten abzusehen und den Maßregelvollzug von<br />

einem faktisch nicht zu leistenden Therapieaufwand zu entlasten.<br />

Zuvor ist jedoch sorgfältig zu prüfen, ob überhaupt eine hinreichende Erfolgsaussicht bejaht werden kann.<br />

Hieran wird es in vielen Fällen bereits fehlen (FISCHER, § 64 Rn 23a, zieht deshalb einen eigenständigen<br />

Regelungsgehalt der „Soll“-Formulierung in Zweifel). Dies gilt insb. im Falle nicht überwindbarer Sprachprobleme<br />

(s.o. VII 1 b bb).<br />

Erkennt man dagegen einen eigenständigen Regelungsgehalt an, wird etwa in Fällen, in denen bei dem<br />

Täter eine Disposition für die Begehung von Straftaten nicht wesentlich durch den Hang zu übermäßigem<br />

Drogenkonsum, sondern überwiegend durch weitere Persönlichkeitsmängel begründet wird und deshalb<br />

Erprobungen unter Lockerungsbedingungen nicht möglich sind, von einer Unterbringung abgesehen<br />

werden können (vgl. S/S/KINZIG, § 64 Rn 18). Auch eine baldige Ausweisung (BGH NStZ 2009, 204)<br />

oder eine bereits bewilligte Auslieferung können einer Unterbringung entgegenstehen (BGH, Beschl.<br />

v. 21.6.2017 – 1 StR 193/17).<br />

IX. Aussetzung zur Bewährung<br />

Sofern dem nicht eine neben der Maßregel verhängte Freiheitsstrafe ohne Bewährung (§ 67b Abs. 2<br />

StGB) entgegensteht, ist zu prüfen, ob die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt<br />

werden kann. Dies ist gem. § 67b StGB möglich, wenn besondere Umstände die Erwartung<br />

rechtfertigen, dass der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann.<br />

Besondere Umstände i.S.d. § 67b StGB sind solche Umstände in der Tat oder in der Person des<br />

Angeklagten, die erwarten lassen, dass die von ihm ausgehende Gefahr weiterer Taten abgewendet<br />

oder so abgeschwächt wird, dass zunächst ein Verzicht auf den Vollzug der Maßregel gewagt werden<br />

kann (FISCHER, § 67b Rn 3 m.w.N.).<br />

Bei der Feststellung derartiger Umstände steht dem Tatrichter ein weiter Beurteilungsspielraum zu<br />

(BGH, Urt. v. 28.8.20<strong>08</strong> – 2 StR 140/<strong>08</strong>). Allerdings sind der Eintritt von Führungsaufsicht gem. § 67b Abs. 2<br />

sowie die Möglichkeit, Weisungen zu erteilen, noch keine besonderen Umstände (BGH NStZ 2007, 465).<br />

Dagegen können beispielsweise der freiwillige Eintritt in eine Therapieeinrichtung, eine erfolgversprechende<br />

ambulante Therapie, die Aufnahme in einer betreuten Wohngruppe oder die Betreuung und<br />

Aufsicht durch einen Berufsbetreuer eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung rechtfertigen.<br />

Allerdings darf sich das Gericht insb. bei im Raum stehenden freiwilligen Behandlungsmaßnahmen nicht<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 431


Fach 22, Seite 1038<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

mit bloßen Absichtserklärungen des Angeklagten zufriedengeben; vielmehr sind konkrete Schritte zu<br />

verlangen, beispielsweise eine Kostenzusage oder die Bestätigung der behandelnden Einrichtung, dass der<br />

Angeklagte dort aufgenommen werden wird.<br />

X. Dauer der Unterbringung<br />

Gemäß § 67d Abs. 1 S. 1 StGB darf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zwei Jahre nicht<br />

übersteigen. Diese Frist, die mit dem Beginn der Unterbringung zu laufen beginnt, verlängert sich<br />

jedoch gem. § 67d Abs. 1 S. 3 StGB um die Dauer der Freiheitsstrafe, soweit die Zeit des Vollzugs der<br />

Maßregel auf die Strafe angerechnet wird.<br />

Nach wohl h.M. liegt die Höchstfrist daher bei zwei Jahren zuzüglich zwei Drittel der Strafe (vgl. § 67<br />

Abs. 4 StGB) abzüglich des Teils, der anderweitig, etwa durch Anrechnung von zuvor erlittener<br />

Untersuchungshaft, erledigt wurde (S/S-KINZIG, § 67d Rn 12). Wird also gegen den Angeklagten die<br />

Maßregel angeordnet und parallel eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt, kann sich die Höchstfrist<br />

um zwei Drittel dieser Strafe, mithin um zwei Jahre, verlängern.<br />

Allerdings stellt sich bei einer zwei Jahre übersteigenden Therapiedauer zunehmend die Frage, ob angesichts<br />

des dann in doch recht weiter Ferne liegenden Behandlungsfortschritts überhaupt hinreichende<br />

Erfolgsaussichten vorliegen. So ist auch der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass ein Behandlungszeitraum<br />

von mehr als drei Jahren regelmäßig nicht sinnvoll sein wird (BT-Drucks 18/7244, S. 25).<br />

XI.<br />

Vollstreckungsreihenfolge<br />

1. Grundsatz<br />

Wird neben der Unterbringung auch eine Freiheitsstrafe ausgeurteilt, bestimmt sich die Reihenfolge der<br />

Vollstreckung nach § 67 StGB. Nach dessen Abs. 1 wird die Maßregel grds. vor der Strafe vollzogen. Es<br />

soll möglichst umgehend mit der Behandlung des süchtigen Täters begonnen werden, weil dies am<br />

ehesten einen dauerhaften Erfolg verspricht (BGH NStZ-RR 2001, 295).<br />

Allerdings kann – in Ausnahmefällen (vgl. FISCHER, § 67 StGB Rn 5) – abweichend von Abs. 1 der Vorwegvollzug<br />

der Strafe oder eines Teils hiervon angeordnet werden, wenn der Zweck der Maßregel<br />

dadurch leichter erreicht wird, § 67 Abs. 2 S. 1 StGB. Dies ist jedoch nicht schon dann der Fall, wenn es<br />

dem Angeklagten (noch) an der für einen Therapieerfolg erforderlichen selbstkritischen Einstellung fehlt<br />

(BGH, Beschl. v. 1.3.2001 – 4 StR 36/01).<br />

Hinweis:<br />

Ist der Angeklagte vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und ist zu erwarten, dass sein Aufenthalt während<br />

oder unmittelbar nach der Verbüßung der Strafe tatsächlich beendet werden wird, soll das Gericht bestimmen,<br />

dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, § 67 Abs. 2 S. 4 StGB.<br />

2. Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren<br />

Wird eine zeitige Freiheitsstrafe von über drei Jahren verhängt, soll das Gericht gem. § 67 Abs. 2 S. 2<br />

StGB bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, es sei denn der vorweg zu<br />

vollziehende Teil der Strafe ist bereits vollständig durch Anrechnung von Untersuchungshaft erledigt<br />

(hierzu BGH, Beschl. v. 8.5.2018 – 2 StR 72/18).<br />

Dieser vorweg zu vollstreckende Teil der Strafe ist – zwingend (FISCHER, § 67 Rn 11a) – so zu bemessen,<br />

dass nach seiner Vollziehung und der anschließenden Unterbringung eine Entscheidung über eine<br />

vorzeitige Entlassung nach Verbüßung der Hälfte der Strafe gem. § 67 Abs. 5 StGB möglich ist, § 67<br />

Abs. 2 S. 3 StGB. Mit dieser Regelung soll verhindert werden, dass der Verurteilte nach erfolgreichem<br />

Abschluss der Behandlung zur Verbüßung eines Strafrestes wieder in den allgemeinen Strafvollzug zurückverlegt<br />

und hierdurch der Behandlungserfolg gefährdet wird.<br />

432 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1039<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

Hinweis:<br />

Insbesondere diese Regelung lässt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in Fällen, in denen<br />

lange Haftstrafen zu erwarten sind, aus Sicht des Angeklagten attraktiv erscheinen, lässt sich so doch im<br />

günstigsten Fall eine deutlich frühere Entlassung erreichen als im Verfahren nach § 57 StGB, in dem eine<br />

Reststrafenaussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt nur selten bewilligt wird.<br />

Absolut zwingend ist die Anordnung des Vorwegvollzugs jedoch nicht. Der Gesetzgeber hat § 67 Abs. 2<br />

S. 3 StGB vielmehr als Soll-Regelung ausgestaltet, sodass dem Gericht im Einzelfall die Möglichkeit<br />

verbleibt, eine abweichende Entscheidung zu treffen und es bei der Grundregel des § 67 Abs. 1 StGB,<br />

wonach zunächst die Maßregel und eben nicht die Strafe zu vollziehen ist, zu belassen. Dies kommt insb.<br />

bei aktuell dringender Therapiebedürftigkeit des Angeklagten in Betracht (BGH NStZ-RR 2019, 10).<br />

XII. Rechtsmittel<br />

Die sachgerechte Vorgehensweise bei der Einlegung von Rechtsmitteln hängt von der jeweiligen Fallkonstellation<br />

und dem konkreten Ziel des Angeklagten ab:<br />

1. Anfechtung der Unterbringungsanordnung<br />

Ordnet das erstinstanzliche Gericht die Unterbringung an, kann der Angeklagte nach den allgemeinen<br />

Regeln das Berufungs- bzw. das Revisionsgericht anrufen und überprüfen lassen, ob die Anordnung zu<br />

Recht erfolgte. Das Rechtsmittel kann grds. hierauf beschränkt werden (MüKo-StGB/VAN GEMMEREN,<br />

3. Aufl. 2016, § 64 Rn 17), es sei denn es besteht im Einzelfall eine untrennbare Wechselwirkung zum<br />

Strafausspruch (s. u. 3).<br />

Hinweis:<br />

Im Revisionsverfahren genügt die Erhebung der allgemeinen Sachrüge, um eine Überprüfung der Anordnung<br />

der Unterbringung zu erreichen (FISCHER, § 64 Rn 28).<br />

2. Anfechtung der „Nicht-Unterbringung“<br />

Strebt der Angeklagte die Unterbringung an, unterbleibt diese aber, kann er dies ebenfalls mit einem<br />

Rechtsmittel angreifen. Dieses muss sich dann aber zwingend gegen das Urteil insgesamt richten; eine<br />

isolierte Anfechtung nur der Nichtanordnung durch den Angeklagten ist nach ständiger Rechtsprechung<br />

unzulässig. Der Angeklagte ist durch die Nichtanordnung der ihn belastenden Maßregel<br />

nicht beschwert (FISCHER, § 64 Rn 28 m.w.N.).<br />

3. Sonderfall: Wechselwirkung zwischen Strafe und Maßregel<br />

Die besondere Aufmerksamkeit des Verteidigers ist gefordert, wenn der Angeklagte zwar mit der<br />

Nichtanordnung der Unterbringung zufrieden ist, nicht aber mit der verhängten Strafe. Agiert der<br />

Verteidiger hier nachlässig, „verhilft“ er seinem Mandanten im schlechtesten Fall zu einem insgesamt<br />

längeren Freiheitsentzug als im erstinstanzlichen Urteil vorgesehen. Kommt nämlich das Rechtsmittelgericht<br />

zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des § 64 StGB vorliegen, kann es die<br />

Unterbringung selbst dann „nachholen“, wenn nur der Angeklagte gegen das erstinstanzliche Urteil<br />

ein Rechtsmittel eingelegt hat (BGH, Beschl. v. 31.7.2019 – 5 StR 286/19).<br />

Hinweis:<br />

Dies ergibt sich für das Berufungsverfahren aus § 331 Abs. 2 StPO und für die Revision aus § 358 Abs. 2<br />

S. 3 StPO. Die beiden Vorschriften beinhalten hinsichtlich der Anordnung der Unterbringung in einem<br />

psychiatrischen Krankenhaus bzw. in einer Entziehungsanstalt jeweils eine Ausnahme vom Schlechterstellungsverbot.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 433


Fach 22, Seite 1040<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Unterbringung gem. § 64 StGB<br />

Um solche Nachteile zu vermeiden, bietet es sich an, das Rechtsmittel dahingehend zu beschränken,<br />

dass die Nichtanordnung der Unterbringung gem. § 64 StGB vom Rechtsmittelangriff ausgenommen<br />

wird. Eine solche Beschränkung lässt der BGH in ständiger Rechtsprechung grds. zu (so schon BGHSt 38,<br />

362). Es gibt jedoch auch immer wieder Konstellationen, in denen die Rechtsmittelbeschränkung<br />

ausnahmsweise unwirksam ist, namentlich dann, wenn sich den Urteilsgründen oder der Höhe der<br />

verhängten Strafe entnehmen lässt, dass die Strafe vom Unterbleiben der Maßregel beeinflusst worden<br />

sein kann (OLG Köln, Beschl. v. 3.7.2018 – 1 RVs 139/18).<br />

Ob ein solcher Einfluss vorliegt oder nicht, ist im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, eine Wechselwirkung<br />

zwischen Strafe und Unterbringung kann weder allgemein bejaht noch verneint werden (S/S/<br />

KINZIG, § 64 Rn 129). Unzulässig kann die Beschränkung etwa sein, wenn die Entscheidung über eine<br />

Strafrahmenmilderung wegen alkoholbedingter Enthemmung gem. § 21 StGB und die Versagung der<br />

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf denselben Gesichtspunkten beruhen und eine getrennte<br />

Beurteilung nicht möglich ist oder es im Einzelfall sowohl für § 64 StGB als auch für § 21 StGB darauf<br />

ankommt, aus welchem Grund der Angeklagte Drogen zu sich nimmt (hierzu BGH, Beschl. v. 16.2.2012 –<br />

2 StR 29/12). Auch kann es einer Herausnahme der Nichtanordnung der Maßregel entgegenstehen,<br />

wenn der Angeklagte den Schuldspruch zu einem der Anlassdelikte (Symptomtat) angreift. Die Feststellung<br />

einer Symptomtat geht der Anordnung der Maßregel zwingend voraus (S/S/KINZIG, a.a.O.).<br />

Zudem kann die Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung hinsichtlich der anzustellenden<br />

Sozialprognose eines unter Suchtdruck handelnden Angeklagten auf denselben Gesichtspunkten<br />

beruhen wie die Täterprognose bei der Entscheidung über die Anwendung des § 64 StGB. Eine rechtlich<br />

und tatsächlich selbstständige Beurteilung der Entscheidung über die Unterbringung ist nach der<br />

Rechtsprechung deshalb losgelöst von der Entscheidung über die Versagung der Strafaussetzung nicht<br />

möglich (OLG München NStZ-RR 2009, 10).<br />

Hinweis:<br />

Insbesondere in Berufungsverfahren wird regelmäßig darauf hingewiesen, dass für den Fall, dass eine<br />

vom Gericht angeregte Rücknahme nicht erfolgt, dann eben eine Unterbringung des Angeklagten in einer<br />

Entziehungsanstalt zu prüfen sei. Hinweisen der Verteidigung auf die Beschränkung des Rechtsmittels<br />

werden dann gerne Fundstellen aus der Rechtsprechung insb. der Oberlandesgerichte entgegengehalten,<br />

aus denen sich die Unwirksamkeit der Beschränkung ergeben soll.<br />

Derartigen Ausführungen und Fundstellenparaden sollte seitens der Verteidigung mit einer gewissen<br />

Vorsicht begegnet werden. Zwar wird ein solcher Hinweis im Normalfall pflichtgemäß erteilt werden,<br />

um den Angeklagten nicht „ins offene Messer“ laufen zu lassen, und stellt sich heraus, dass die Wirksamkeit<br />

der Rechtsmittelbeschränkung tatsächlich zweifelhaft sein könnte, sollte, um einen weiterreichenden<br />

Schaden für den Mandanten zu vermeiden, tatsächlich eine Rechtsmittelrücknahme<br />

erwogen werden.<br />

Hin und wieder wird aber auch geflissentlich außer Acht gelassen, dass eine Wechselwirkung zwischen<br />

Strafe und Maßregel nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht besteht (BGH, Beschl. v.<br />

2.2.2017 – 4 StR 433/16). Hier werden solche Hinweise dann als – unzulässiges – Druckmittel<br />

missbraucht, um die Rücknahme der Berufung zu erzwingen. In diesem Fall muss ein verständiger<br />

Angeklagter befürchten, dass dem Gericht nicht an einer ordnungsgemäßen Durchführung des<br />

Berufungsverfahrens gelegen ist, sondern daran, sich des Verfahrens mit möglichst geringem Aufwand<br />

zu entledigen. Es kann daher die Besorgnis der Befangenheit entstehen.<br />

434 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>

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