ZAP-2020-08
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
8 <strong>2020</strong><br />
17. April<br />
32. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />
Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />
Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
} Mit dem <strong>ZAP</strong> Buchreport<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Art. 240 § 1 EGBGB: Niemand zahlt mehr an niemanden (S. 371)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Gesetzespaket zur Abmilderung der COVID‐19‐Folgen (S. 373) • Anregungen und Kritik der Anwaltschaft<br />
zu den Corona‐Hilfsmaßnahmen (S. 375) • Besteuerung bei Veräußerung einer Praxis (S. 380)<br />
Aufsätze<br />
Caspers, Die Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter/Besitzer (S. 401)<br />
Börstinghaus, Besonderheiten des Miet‐ und Wohnungseigentumsrechts infolge<br />
der COVID‐19‐Pandemie (S. 411)<br />
Sartorius, Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich<br />
der betrieblichen Altersversorgung (S. 417)<br />
Hillenbrand, Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB (S. 423)<br />
Rechtsprechung<br />
OLG Düsseldorf: Unterbrechung der Gas‐ und Stromversorgung (S. 393)<br />
BGH: Arbeitnehmererfindung (S. 398)<br />
VG Stuttgart: Covid‐19‐Virus – Verbot eines Late‐Night‐Shoppings (S. 399)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 371–372<br />
Anwaltsmagazin – – 373–380<br />
Buchreport – – 381–392<br />
Rechtsprechung 1 49–56 393–400<br />
Caspers, Die Räumungsklage des Vermieters gegen<br />
mehrere Mieter/Besitzer: Einstweiliger Rechtsschutz<br />
und flankierende Rechtsbehelfe 4 1873–1882 401–410<br />
Börstinghaus, Besonderheiten des Miet‐ und Wohnungseigentumsrechts<br />
infolge der COVID‐19‐Pandemie 4 1883–1888 411–416<br />
Sartorius, Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener<br />
Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Altersversorgung<br />
18 1733–1738 417–422<br />
Hillenbrand, Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />
gem. § 64 StGB 22 1029–1040 423–434<br />
Nutzen Sie die <strong>ZAP</strong> auch digital: mit der <strong>ZAP</strong> App für PC, Smartphone und Tablet. Sie finden<br />
Ihre Zugangsdaten (Aktivierungscode/Passwort) auf dem Adressaufkleber. Details unter:<br />
www.zap-zeitschrift.de/App<br />
Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />
Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />
Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • Dr. David<br />
Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer,<br />
Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA<br />
Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />
Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />
(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />
Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />
Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />
Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Art. 240 § 1 EGBGB: Niemand zahlt mehr an niemanden<br />
COVID-19 ist zweifellos eine ernsthafte Bedrohung.<br />
Jeder tut gut daran, eigenverantwortlich<br />
dafür zu sorgen, sich und seine Mitmenschen<br />
zu schützen und die Hygienevorschriften einzuhalten.<br />
An die Vernunft des Einzelnen und seine Eigenverantwortung<br />
glaubt der Staat wie immer nicht<br />
und zeigt sich paternalistisch: Gesetze und Vorschriften<br />
sollen es richten, u.a. das Gesetz zur<br />
Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie<br />
im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht<br />
(BGBl I <strong>2020</strong>, S. 569), das mit nur zwei<br />
Enthaltungen (aus der AfD-Fraktion) vom Bundestag<br />
am 25.3.<strong>2020</strong> einhellig verabschiedet<br />
wurde (Plenarprotokoll [Plen.Prot] 19/154, TOP 5).<br />
Der Abgeordnete THOMAE (FDP) hat immerhin<br />
angemerkt, seine Fraktion stehe den Änderungen,<br />
auch der hier zu besprechenden („reicht das<br />
Problem nur eine Reihe weiter“, Plen.Prot 19/152 C),<br />
teilweise kritisch und ablehnend gegenüber. Der<br />
Abgeordnete LUCZAK (CDU/CSU) will zwar „den<br />
Wirtschaftskreislauf am Laufen halten, sodass das<br />
Vertrauen in den Fortbestand von Verträgen erhalten<br />
bleibt“ (Plen.Prot 19/151 C), das Gegenteil wird<br />
aber eintreten.<br />
Art. 240 § 1 EGBGB (Art. 5 des COVID-19-<br />
Gesetzes, BGBl I <strong>2020</strong>, S. 572) könnte einen<br />
verhängnisvollen Prozess in Gang setzen: Niemand<br />
zahlt mehr an niemanden. Oder wie es der<br />
Abgeordnete LUCZAK formuliert: „Es geht … darum,<br />
Verbraucher bei Dauerschuldverhältnissen zu schützen,<br />
sodass ihnen nicht der Strom, das Internet, das<br />
Wasser abgestellt wird. Sie können für drei Monate<br />
etwas Luft schnappen und die Zahlungen einstellen“<br />
(Plen.Prot 19/151 D). Steht das wirklich im Gesetz?<br />
Oder ist es in Wahrheit ein zahnloser Tiger und<br />
Ausdruck gesetzgeberischer Schnappatmung?<br />
Beides ist richtig: Der rechtlich gut informierte<br />
Gläubiger wird seine Forderungsbeitreibung fortsetzen,<br />
tunlichst sogar forcieren. Gleichwohl<br />
werden die Zahlungsströme ins Stocken geraten,<br />
denn viele Schlauberger (eher grüne Lehrer als<br />
wirklich Bedürftige) werden sich auf das Gesetz<br />
berufen und ihre laufenden Verpflichtungen<br />
gegenüber Energieversorgern, Telekommunikationsunternehmen,<br />
Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen<br />
usw. nicht erfüllen. Jedenfalls die beiden<br />
ersten sind „systemrelevant“, wie man heute zu<br />
sagen pflegt.<br />
Was aber ist nun der genaue Inhalt von Art. 240<br />
§ 1 EGBGB? Jedenfalls nicht, dass Strom, Internet<br />
und Wasser nicht abgestellt werden dürfen, wenn<br />
die Voraussetzungen hierfür vorliegen; ein dahingehender<br />
Entschließungsantrag der LINKEN (19/<br />
18142) wurde ausdrücklich abgelehnt. Vielmehr<br />
haben Verbraucher und Kleinstunternehmer (das<br />
sind ausweislich Empfehlung 2003/361/EG Unternehmen,<br />
die weniger als zehn Personen beschäftigen<br />
und deren Jahresumsatz bzw. Jahresbilanz<br />
zwei Mio. Euro nicht überschreitet) das Recht,<br />
Leistungen zur Erfüllung eines Anspruchs, der<br />
im Zusammenhang mit einem Dauerschuldverhältnis<br />
steht, das vor dem 8.3.<strong>2020</strong> geschlossen<br />
wurde, bis zum 30.6.<strong>2020</strong> zu verweigern. Nach<br />
Art. 240 § 4 EGBGB kann die Regelung von<br />
der Bundesregierung durch Rechtsverordnung<br />
bis zum 30.9.<strong>2020</strong> verlängert werden.<br />
Es gibt aber noch weitere, in der Praxis kaum<br />
überprüfbare Voraussetzungen für die Ausübung<br />
dieses Rechts: Die Leistungshinderung muss aus<br />
„Umständen“ folgen, „die auf die Ausbreitung der<br />
Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-<br />
Pandemie) zurückzuführen sind“ und (kumulativ) die<br />
Erbringung der Leistung müsste den „angemesse-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 371
Kolumne<br />
<strong>ZAP</strong><br />
nen Lebensunterhalt“ des Verbrauchers bzw. die<br />
„wirtschaftlichen Grundlagen des Erwerbsbetriebs“ des<br />
Schuldners „gefährden“.<br />
Für Nicht-Verbraucher und -Unternehmer (Wohnungseigentümergemeinschaften,<br />
Vereine, Kirchengemeinden,<br />
Behörden usw.) gilt das alles<br />
von vorneherein nicht; diesen steht das Leistungsverweigerungsrecht<br />
nicht zu.<br />
Wohnungseigentümergemeinschaften können in<br />
die missliche Lage kommen, dass Hausgelder<br />
nicht mehr bezahlt werden, der Energielieferant<br />
aber gleichwohl Anspruch auf seine Abschlagszahlungen<br />
hat und den auch durchsetzt. Man<br />
kann zwar darüber streiten, ob es sich bei der<br />
Pflicht zur Hausgeldzahlung um ein Dauerschuldverhältnis<br />
i.S.d. Art. 240 § 1 EGBGB handelt,<br />
und man darf vermuten, dass der V. Zivilsenat des<br />
BGH dies irgendwann in ein paar Jahren im<br />
Hinblick auf die Besonderheiten des Wohnungseigentumsrechts<br />
verneinen wird, gleichwohl wird<br />
es Wohnungseigentümer geben, die es damit<br />
einfach mal versuchen.<br />
In rechtlicher Hinsicht handelt es sich bei dem<br />
vorübergehenden Leistungsverweigerungsrecht<br />
eindeutig um eine Einrede, die zwar vorgerichtlich<br />
und gerichtlich vom Schuldner geltend gemacht<br />
werden kann, die gerichtliche Verfolgung von<br />
Forderungen, deren Bestand als solcher vom<br />
Gesetz nicht in Frage gestellt wird, aber nicht<br />
hindert. Das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen<br />
(Umstände, die auf die COVID-19-Pandemie<br />
zurückzuführen sind; Gefährdung des angemessenen<br />
Lebensunterhalts) kann der Gläubiger<br />
zulässigerweise im Prozess mit Nichtwissen bestreiten.<br />
Dann muss der Schuldner nach allgemeinen<br />
Beweisregeln diese ihm günstigen Tatsachen<br />
darlegen und beweisen. Gelingt ihm dies nicht,<br />
scheitert die Klage des Gläubigers nicht daran.<br />
Gelingt es ihm, ist die Klage als derzeit unbegründet<br />
zurückzuweisen – aber nur, wenn zum<br />
Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung<br />
die Regelung noch gilt.<br />
Ganz abstrus wird die Sache, wenn man Art. 240<br />
§ 1 Abs. 3 EGBGB in die Betrachtung einbezieht:<br />
Danach gilt das alles nicht, „wenn die Ausübung<br />
des Leistungsverweigerungsrechts für den Gläubiger<br />
seinerseits unzumutbar ist“. Was ist das jetzt<br />
rechtlich? Die Einrede gegen die Einrede? Allen<br />
Gläubigern ist jedenfalls dringend zu empfehlen,<br />
diesen Einwand sofort geltend zu machen.<br />
Für Rückstände aus der Zeit vor dem 8.3.<strong>2020</strong><br />
(oder vielleicht auch vor dem 11.3.<strong>2020</strong>, an dem<br />
die WHO die Situation zur Pandemie erklärt hat)<br />
kann das Moratorium sowieso nicht gelten. Es ist<br />
kein Grund ersichtlich, weshalb der Gläubiger<br />
diese nicht weiterhin verfolgen kann.<br />
Dem Gläubiger kann nur geraten werden, an<br />
seinem Beitreibungswesen nichts zu ändern.<br />
Schlimmstenfalls bekommt er für die Corona-<br />
Zeit keine Zinsen, allerschlimmstenfalls wird eine<br />
Klage als derzeit unbegründet (kostenpflichtig)<br />
zurückgewiesen. Aber auch das wird eher nicht<br />
passieren, weil die Gerichte derzeit neue Klagen<br />
wohl eher nicht zügig abarbeiten werden. Das<br />
gerichtliche Mahnverfahren wird sowieso nicht<br />
beeinflusst.<br />
Der Schuldner sollte sich gut überlegen, ob er<br />
nicht weitere Kosten zu seinen Lasten provoziert,<br />
wenn er Gebrauch von Art. 240 § 1 EGBGB macht.<br />
Umso verheerender ist das Signal, das der Gesetzgeber<br />
mit dieser aus juristischer Sicht wirkungslosen<br />
(und überflüssigen, es gibt schließlich<br />
Pfändungsschutzvorschriften) Regelung aussendet.<br />
Wer einen Brand löschen will, sollte auch den<br />
Wasserschaden bedenken. Was passiert nach<br />
dem 30.9.<strong>2020</strong>? Die Verlängerung der Verlängerung?<br />
Wird dann die vertragsbasierte Wirtschaft<br />
durch die Staatswirtschaft ersetzt? Deutschland<br />
wäre damit in einem bisher nicht gekannten<br />
Zustand der Rechtsunsicherheit angelangt: Niemand<br />
kann mehr sicher sein, dass abgeschlossene<br />
Verträge erfüllt werden. Denn die Pandemie<br />
trifft jeden und gibt jedermann einen Grund an<br />
die Hand, seine Zahlungen einzustellen. Aus der<br />
Vertragswirtschaft wird Willkürwirtschaft: Der<br />
Dumme ist, wer zahlt. Denn Pandemie hin oder<br />
her: Angesichts der Millionen und Abermillionen<br />
von Verträgen ist eine gerichtliche Überprüfung,<br />
ob hinter der Zahlungseinstellung wirklich die<br />
Pandemie steht, schlicht nicht möglich, schon gar<br />
nicht in nützlicher Frist. Ohne Vorkasse oder<br />
Barzahlung läuft dann nichts mehr.<br />
Rechtsanwalt MICHAEL BRÄNDLE, Freiburg<br />
372 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Gesetzespaket zur Abmilderung<br />
der COVID-19-Folgen<br />
Um den zu erwartenden negativen Folgen der<br />
derzeit grassierenden Pandemie zu begegnen, hat<br />
der Deutsche Bundestag neben zahlreichen finanziellen<br />
Hilfen für Unternehmen, Selbstständige,<br />
den Gesundheitssektor, die Landwirtschaft<br />
und den Kulturbereich am 25.3.<strong>2020</strong> auch das<br />
von den Regierungskoalitionen eingebrachte Gesetz<br />
zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-<br />
Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht<br />
beschlossen (vgl. BT-Drucks 19/18110).<br />
Das im Eilverfahren durchgebrachte Maßnahmenpaket,<br />
dem auch der Bundesrat Ende März<br />
zugestimmt hat, beinhaltet u.a. das Gesetz zur<br />
vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht<br />
und zur Begrenzung der Organhaftung<br />
bei einer durch die COVID-19-Pandemie<br />
bedingten Insolvenz, das Gesetz über Maßnahmen<br />
im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-,<br />
Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht<br />
sowie weitere Änderungen im Strafprozessrecht<br />
und im EGBGB.<br />
Ein Kernbereich des Gesetzes ist der Schutz von<br />
Schuldnern. So werden – zeitlich befristet bis<br />
zum 30. Juni <strong>2020</strong> – in Art. 240 EGBGB neue<br />
Regelungen eingeführt, die Schuldnern, die wegen<br />
der COVID-19-Pandemie ihre vertraglichen<br />
Pflichten nicht erfüllen können, die Möglichkeit<br />
einräumen, die Leistung einstweilen – ohne<br />
nachteilige rechtliche Folgen befürchten zu<br />
müssen – zu verweigern oder einzustellen. Für<br />
Verbraucher und Kleinstunternehmen wird gewährleistet,<br />
dass sie insb. von Leistungen der<br />
Grundversorgung wie Strom, Gas und Telekommunikation<br />
nicht abgeschnitten werden. Zum<br />
Schutz von Mietern wird das Recht der Vermieter<br />
zur Kündigung von Mietverhältnissen<br />
eingeschränkt. Für Verbraucherdarlehensverträge<br />
wird eine gesetzliche Stundungsregelung<br />
und eine Vertragsanpassung nach Ablauf der<br />
Stundungsfrist eingeführt, mit der Möglichkeit<br />
für die Vertragsparteien, eine abweichende Vertragslösung<br />
zu finden. Der Bundesregierung<br />
wird zudem die Befugnis eingeräumt, den vorgenannten<br />
Schutzzeitraum für die Schuldner<br />
per Rechtsverordnung auch über den 30.6.<strong>2020</strong><br />
hinaus auszudehnen, sollte eine Verlängerung<br />
erforderlich werden.<br />
Im Insolvenzrecht wird die Insolvenzantragspflicht<br />
und das Zahlungsverbot bis zum 30.9.<strong>2020</strong> ausgesetzt,<br />
vorausgesetzt, der betreffende Insolvenzfall<br />
beruht auf den Auswirkungen der COVID-19-<br />
Pandemie. Zudem sollen Anreize geschaffen werden,<br />
den betroffenen Unternehmen neue Liquidität<br />
zuzuführen und die Geschäftsbeziehungen zu<br />
diesen aufrechtzuerhalten. Für einen dreimonatigen<br />
Übergangszeitraum wird auch das Recht der<br />
Gläubiger suspendiert, die Eröffnung von Insolvenzverfahren<br />
zu beantragen.<br />
Erleichterungen gibt es auch im Gesellschaftsrecht:<br />
Um Unternehmen in die Lage zu versetzen,<br />
auch bei weiterhin bestehenden Beschränkungen<br />
der Versammlungsmöglichkeiten erforderliche Beschlüsse<br />
zu fassen und handlungsfähig zu bleiben,<br />
werden vorübergehend Vereinfachungen für die<br />
Durchführung von Hauptversammlungen, Gesellschafterversammlungen,<br />
General- und Vertreterversammlungen<br />
der Genossenschaften sowie von<br />
Mitgliederversammlungen von Vereinen geschaffen.<br />
Um den Auswirkungen der Pandemie auf die<br />
Strafverfahren Rechnung zu tragen, wird in das<br />
Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung ein<br />
auf ein Jahr befristeter zusätzlicher Hemmungs-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 373
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
tatbestand für die Unterbrechungsfrist einer<br />
strafgerichtlichen Hauptverhandlung eingefügt.<br />
Er soll es den Gerichten erlauben, die Hauptverhandlung<br />
für maximal drei Monate und zehn<br />
Tage zu unterbrechen, wenn diese aufgrund von<br />
Maßnahmen zur Vermeidung der Verbreitung der<br />
COVID-19-Pandemie nicht durchgeführt werden<br />
kann.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Zugang zu Sozialleistungen<br />
vereinfacht<br />
Um zu verhindern, dass insb. kleine Selbstständige<br />
aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen<br />
der Corona-Pandemie in existenzielle Not geraten,<br />
hat der Bundestag am 25.3.<strong>2020</strong> auch ein<br />
„Sozialpaket“ beschlossen, das den Zugang betroffener<br />
Kleinunternehmer und Solo-Selbstständiger<br />
zu sozialer Sicherung erleichtern soll.<br />
Gerade für diese Personengruppe wirkt sich die<br />
schnelle Verbreitung des Coronavirus besonders<br />
negativ aus. Einzelne Branchen stehen vor großen<br />
oder gar vollständigen Ausfällen ihres Geschäftsbetriebs.<br />
Oft brechen sämtliche ihrer Aufträge<br />
weg. Gründe sind z.B. die Absage von Messen<br />
und Veranstaltungen, wegbrechende Lieferketten<br />
oder Ladenschließungen. Auch soziale Dienste<br />
haben ihre Arbeit ganz oder zum Teil einstellen<br />
müssen. Ausgerechnet dieser Personenkreis hat<br />
jedoch keinen Zugang zu sozialen Absicherungen<br />
wie Arbeitslosen-, Kurzarbeiter- oder Insolvenzgeld.<br />
Ihm soll deshalb mit dem nun beschlossenen<br />
Gesetz der Zugang zu Sozialleistungen<br />
erleichtert werden.<br />
Zu diesem Zweck sollen Selbstständige, v.a. Kleinunternehmer<br />
und sog. Solo-Selbstständige, die<br />
Grundsicherung für Arbeitsuchende in einem<br />
vereinfachten Verfahren schnell und unbürokratisch<br />
erhalten. Dazu werden u.a.<br />
• die Vermögensprüfungen ausgesetzt und<br />
• die tatsächlichen Aufwendungen für die Miete<br />
als angemessen anerkannt.<br />
Auch ältere und erwerbsgeminderte Menschen<br />
können erhebliche Einkommenseinbußen treffen.<br />
Dies gilt insb. im Fall einer gemischten Bedarfsgemeinschaft,<br />
wenn das Einkommen des Hauptverdienenden<br />
wegfällt. Berechtigte im Sozialen<br />
Entschädigungsrecht können ebenso betroffen<br />
sein. Auch in diesen Fällen sollen die geplanten<br />
Maßnahmen greifen. Die Regelungen gelten<br />
zunächst bis zum 30. Juni. Bei Bedarf können sie<br />
bis zum 31. Dezember verlängert werden.<br />
Familien, die Einkommenseinbrüche durch die<br />
Corona-Krise erleiden, erhalten zeitlich befristet<br />
leichteren Zugang zum Kinderzuschlag. Geprüft<br />
werden soll nicht mehr das Einkommen aus den<br />
vergangenen sechs Monaten, sondern nur das vom<br />
vergangenen Monat. Außerdem wird die Vermögensprüfung<br />
ausgesetzt. Für Familien, die im<br />
ablaufenden Bewilligungszeitraum den höchstmöglichen<br />
Gesamtkinderzuschlag bezogen haben,<br />
soll – ohne erneute Einkommensprüfung – eine<br />
einmalige Verlängerung des Kinderzuschlags um<br />
sechs Monate eingeführt werden. So können die<br />
Leistungen ohne Unterbrechung gewährt werden.<br />
Dies soll für die Zeit vom 1.4. bis 30.9.<strong>2020</strong> gelten.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Rekord-Nachtragshaushalt<br />
beschlossen<br />
Um die inzwischen beschlossenen Milliardenhilfen<br />
für die Wirtschaft (s. dazu bereits Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, S. 326 f.) sowie für kleinere<br />
Selbstständige und Familien (s. dazu die vorstehende<br />
Meldung) finanzieren zu können, ist<br />
ein Nachtragshaushalt des Bundes notwendig<br />
geworden, den der Bundestag Ende März ebenfalls<br />
im Eilverfahren gebilligt hat. Er umfasst<br />
122,5 Mrd. Euro für die geplanten Hilfsmaßnahmen.<br />
Der Bundeshaushalt sieht demzufolge<br />
für das Jahr <strong>2020</strong> statt der ursprünglich geplanten<br />
362 Mrd. Euro nun Gesamtausgaben i.H.v.<br />
484,5 Mrd. Euro vor.<br />
Hierzu müssen auch neue Kredite i.H.v. 156 Mrd.<br />
Euro aufgenommen werden. Damit wird die<br />
verfassungsrechtlich verankerte Schuldenobergrenze<br />
deutlich überschritten. Aus Sicht der<br />
Bundesregierung handelt es sich bei der derzeitigen<br />
Pandemie jedoch um eine außergewöhnliche<br />
Notsituation, die diese Überschreitung erforderlich<br />
macht. Der Deutsche Bundestag hat<br />
mit der Mehrheit seiner Mitglieder entschieden,<br />
dass die Voraussetzungen dafür vorliegen. Vorgesehen<br />
sind die Gelder des Nachtragshaushalts<br />
insb. für folgende Ausgaben:<br />
374 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
– 3,5 Mrd. Euro zusätzlich für die Beschaffung von<br />
persönlicher Schutzausrüstung, die Förderung der<br />
Entwicklung eines Impfstoffs und von Behandlungsmaßnahmen;<br />
– 55 Mrd. Euro für weitere Vorhaben der Pandemiebekämpfung;<br />
– 50 Mrd. Euro für die Unterstützung von<br />
Kleinunternehmern, insb. Überbrückungshilfen<br />
für Solo-Selbstständige und andere Kleingewerbetreibende;<br />
mit diesen nicht rückzahlbaren<br />
Zuschüssen können laufende Betriebskosten wie<br />
Mieten, Kredite für Betriebsräume oder Leasingraten<br />
bezahlt werden. Kleinstunternehmen mit<br />
bis zu fünf Beschäftigten erhalten danach bis<br />
9.000 Euro Einmalzahlung für drei Monate; bei<br />
bis zu zehn Beschäftigten fließen bis 15.000 Euro<br />
Einmalzahlung für drei Monate;<br />
– 7,7 Mrd. Euro für die Aufstockung der Mittel für<br />
das Arbeitslosengeld II und die Grundsicherung;<br />
– 5,9 Mrd. Euro für die Aufstockung der Vorsorge<br />
für mögliche Schadensfälle im Gewährleistungsund<br />
Garantiebereich, die insb. infolge der konjunkturellen<br />
Verwerfungen entstehen können.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Anregungen und Kritik der<br />
Anwaltschaft zu den Corona-<br />
Hilfsmaßnahmen<br />
Die im März in aller Eile vorangetriebenen Gesetzgebungsmaßnahmen<br />
im Zusammenhang mit<br />
der COVID-19-Pandemie, die zum großen Teil<br />
ohne die übliche Beteiligung externer Experten<br />
erarbeitet und beschlossen wurden, waren für die<br />
Interessenvertreter der Anwaltschaft Anlass, sich<br />
mit Anregungen und teils auch Kritik an die Politik<br />
und die Öffentlichkeit zu wenden. In Schreiben<br />
etwa an das Bundesjustizministerium und in<br />
mehreren Pressemitteilungen haben sowohl die<br />
Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) als auch<br />
der Deutsche Anwaltverein (DAV) versucht, ihre<br />
Bedenken gegen einzelne Regelungen der Pandemiebekämpfung<br />
und auch der wirtschaftlichen<br />
Hilfspakete noch in die laufenden Gesetzgebungsverfahren<br />
einzubringen.<br />
Als sich die Beschränkungen in der Bewegungsfreiheit<br />
der Bürger sowie die Schließung öffentlicher<br />
Einrichtungen abzeichneten, mahnte etwa<br />
der DAV, die Anwaltschaft nicht zu vergessen:<br />
„Anwälte und ihre Mitarbeiter gehören den systemrelevanten<br />
Berufen an. Deshalb müssen auch sie Anspruch<br />
auf Notbetreuung ihrer Kinder haben“, forderte DAV-<br />
Präsidentin KINDERMANN Mitte März. Des Weiteren<br />
mahnte sie Liquiditätshilfen und Steueraufschübe<br />
auch für Anwältinnen und Anwälte an, da viele<br />
kleine und mittlere Kanzleien – anders als allgemein<br />
geglaubt werde – nur knappe Liquidität für<br />
kurze Zeit hätten.<br />
Auch die BRAK warnte mit Blick auf die wirtschaftliche<br />
Lage vieler Kollegen: „Es wird eine<br />
Zeit nach Corona geben. Für diese Zeit muss schon<br />
jetzt vorgesorgt werden. Der Zugang zum Recht für<br />
Bürgerinnen und Bürger ist massiv gefährdet, wenn wir<br />
jetzt bei Maßnahmenpaketen von Bund und Ländern<br />
die Anwaltschaft nicht berücksichtigen. Gerade kleine<br />
Kanzleien werden in den nächsten Wochen um ihr<br />
Überleben kämpfen müssen“, befürchtete BRAK-<br />
Präsident WESSELS.<br />
Das im Rekordtempo von Bundestag und Bundesrat<br />
beschlossene Gesetz zur Abmilderung der<br />
Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz-<br />
und Strafverfahrensrecht (s. dazu oben<br />
<strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, S. 373) hat die Wünsche und Anregungen<br />
der Anwaltschaft nach Auffassung des DAV<br />
nur teilweise aufgegriffen. Der Verein übte deshalb<br />
– trotz grundsätzlicher Zustimmung – im<br />
Detail heftige Kritik an einzelnen Maßnahmen. So<br />
begrüßte er etwa die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht<br />
bis zum 30.9.<strong>2020</strong>, forderte aber,<br />
dass dies auch für Organe von Vereinen gelten<br />
müsse und dass die Geschäftsleiter von der Krise<br />
betroffener Unternehmen diese fortführen können<br />
müssten, ohne sich erheblichen Haftungsrisiken<br />
auszusetzen.<br />
Die Hilfen für existenzbedrohte Unternehmen<br />
gehen dem DAV ebenfalls nicht weit genug. Er<br />
fordert u.a., die Finanzierer-Haftung für in der<br />
Krise ausgereichte Darlehen zu begrenzen, die<br />
Gesellschafter-Finanzierung in der Krise zu erleichtern<br />
sowie die Unternehmen steuerlich weiter<br />
zu entlasten. An den zivilrechtlichen Schutzmaßnahmen<br />
für Mieter, Darlehensnehmer u.a. kritisierte<br />
die BRAK, dass diese nur auf Verbraucher<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 375
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
abzielen. Der Mittelstand sei nicht berücksichtigt<br />
worden; ihm bleibe nur der Ausschluss der Leistungspflicht<br />
nach § 275 BGB oder die Störung der<br />
Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 2 BGB. Dies sei<br />
nicht zufriedenstellend.<br />
Auch die Neuregelung zur Unterbrechung von<br />
Strafverfahren (s. dazu oben <strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, S. 373 f.)<br />
ist nach Auffassung der Anwaltschaft unzureichend.<br />
So fordert etwa der DAV, das Gesetz auf<br />
größere Verfahren zu beschränken. Wie auch die<br />
BRAK ist er der Auffassung, dass der Hemmungstatbestand<br />
nur einmal im Verfahren angewendet<br />
werden dürfe. Zudem solle die Maßnahme nicht<br />
auch für die Unterbrechungsfrist für die Urteilsverkündung<br />
gelten.<br />
Des Weiteren forderten die Anwaltsvertreter den<br />
Gesetzgeber dazu auf, den Zugang zu anwaltlicher<br />
Unterstützung auch in Krisenzeiten sicherzustellen.<br />
Zur Begründung wiesen sie darauf hin,<br />
dass ein generelles Verbot, die eigene Wohnung<br />
zu verlassen, mit dem Leitbild des Grundgesetzes<br />
nicht zu vereinbaren ist.<br />
Ebenso wie bereits die BRAK (s. dazu Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> 7/<strong>2020</strong>, S. 327) hat auch der DAV auf<br />
seiner Internetseite vielfältige Hinweise für Rechtsanwälte<br />
speziell zu Problemen im Zusammenhang<br />
mit der Pandemie zusammengestellt. Regelmäßig<br />
fortgeschrieben wird hier z.B. eine FAQ-Rubrik, die<br />
sich mit Fragen rund um finanzielle Hilfen für<br />
Kanzleien, mit der Kanzleiorganisation oder mit<br />
Gerichtsterminen befasst (BRAK: www.brak.de, u.a.<br />
mit einer Sammlung aller behördlichen Erlasse,<br />
Allgemeinverfügungen und Rechtsverordnungen<br />
sowie einem Überblick über finanzielle Hilfen für<br />
Rechtsanwälte; DAV: www.anwaltverein.de, u.a. mit<br />
tagesaktueller FAQ-Rubrik).<br />
[Quellen: BRAK/DAV]<br />
Die Corona-Krise zeigt nach Auffassung des Deutschen<br />
Richterbundes (DRB) diverse Lücken in<br />
der IT-Ausstattung der Gerichte auf. Die Arbeitsfähigkeit<br />
der Justiz sei dadurch zwar nicht bedroht,<br />
betonte DRB-Geschäftsführer SVEN REBEHN Ende<br />
März gegenüber einer Presseagentur. Die Pandemie<br />
sei aber ein Weckruf, jetzt mehr Tempo bei der<br />
Digitalisierung der Gerichte an den Tag zu legen.<br />
Aus der Corona-Krise müsse die Politik jetzt<br />
die Konsequenzen ziehen, so REBEHN. Die aktuelle<br />
Krise werfe auch ein Schlaglicht auf Lücken bei<br />
der IT-Ausstattung, Engpässe in den Datennetzen<br />
und die Probleme beim Umstieg auf den<br />
elektronischen Rechtsverkehr. So brauche es in<br />
den kommenden Jahren einen deutlichen Schub<br />
bei der Digitalisierung in der Rechtspflege.<br />
Rechtsstaat und Justiz seien aber auch im aktuellen<br />
Krisenmodus handlungsfähig, betonte der<br />
Richtervertreter. Die Gerichte schlössen die wichtigen<br />
Strafverfahren wie aktuell das gegen die<br />
Neonazi-Gruppe Revolution Chemnitz ab, trieben<br />
eilige Haftsachen voran und führten dringende<br />
Anhörungen etwa in Betreuungsfällen durch. Von<br />
einem Stillstand der Rechtspflege könne deshalb<br />
keine Rede sein.<br />
[Red.]<br />
Eckpunkte für eine Reform<br />
des Namensrechts<br />
Das Bundesinnen- und das Bundesjustizministerium<br />
haben Ende März ein Eckpunktepapier für<br />
eine Novellierung des deutschen Namensrechts<br />
veröffentlicht. Es fasst die Ergebnisse der gemeinsam<br />
von beiden Ministerien 2018 eingesetzten<br />
Arbeitsgruppe mit Expertinnen und Experten aus<br />
Justiz, Forschung und Verwaltung zusammen.<br />
In der Arbeitsgruppe wirkten der Richter am BGH<br />
Dr. ANDRÉ BOTUR (XII. Zivilsenat), Prof. Dr. ANATOL<br />
DUTTA (Universität München), Prof. Dr. TOBIAS<br />
HELMS (Universität Marburg), Richter am VGH<br />
MATTHIAS HETTICH (VGH Baden-Württemberg), Verwaltungsdirektor<br />
KARL KRÖMER (Leiter des Standesamts<br />
Augsburg), Prof. Dr. KATHARINA<br />
LUGANI<br />
Pandemie zeigt IT-Lücken<br />
in der Justiz auf<br />
(Universität Düsseldorf) sowie Prof. Dr. CLAUDIA<br />
MAYER (Universität Regensburg) mit.<br />
In der Praxis habe sich, so die Argumentation,<br />
gezeigt, dass das deutsche Namensrecht zu kompliziert,<br />
zu unübersichtlich und in Teilen sogar in<br />
sich widersprüchlich sei. Die Bürger wünschten<br />
sich klare Regeln und einfachere Möglichkeiten<br />
zur Namensänderung. Dies sei in vielen anderen<br />
europäischen Ländern bereits der Fall.<br />
376 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Die jetzt vorgelegten Ergebnisse der Experten<br />
sehen deshalb eine umfassende Reform des Namensrechts<br />
mit folgenden Eckpunkten vor:<br />
Die namensrechtlichen Regelungen sollen in einem<br />
Gesetz zusammengefasst und gleichzeitig<br />
die unterschiedlichen Zuständigkeiten bei einer<br />
Behörde zusammengeführt werden. Bisher finden<br />
sich namensrechtliche Regelungen in verschiedenen<br />
Gesetzen. Die Zuständigkeit für namensrechtliche<br />
Fragen ist zwischen den Standesämtern und<br />
den Verwaltungsbehörden geteilt.<br />
Namensänderungen sollen erleichtert und die<br />
Möglichkeiten zur Wahl des Namens erweitert<br />
werden. Vorgeschlagen wird beispielsweise, zweigliedrige<br />
Doppelnamen als gemeinsamen Namen<br />
eines Ehepaares oder eines gemeinsamen Kindes<br />
zuzulassen. Dies sei ein Wunsch, den viele Eltern<br />
und Ehepaare hegten.<br />
Die Vorschläge sollen nun der Öffentlichkeit präsentiert<br />
und zur fachlichen Diskussion gestellt<br />
werden. Die Bundesregierung will in der nächsten<br />
Legislaturperiode über einen Reformvorschlag entscheiden.<br />
[Quelle: BMI]<br />
Bundesrat will Nachbesserungen<br />
im Kampf gegen Hasskriminalität<br />
Mit Änderungen im Straf- und Strafprozessrecht<br />
will die Bundesregierung Morddrohungen in sozialen<br />
Medien, Hetze oder Beleidigungen gegen<br />
Kommunalpolitiker und Rettungskräfte sowie<br />
antisemitisch motivierte Straftaten künftig effektiver<br />
verfolgen und härter bestrafen lassen<br />
(vgl. dazu zuletzt Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 22/2019,<br />
S. 1158). Dazu hat sie kürzlich einen Gesetzentwurf<br />
vorgelegt. Danach sollen antisemitische<br />
Motive künftig grds. strafschärfend wirken.<br />
Auch üble Nachrede und Verleumdung gegen<br />
Kommunalpolitiker sollen künftig härter bestraft<br />
werden. Für Personen, die aufgrund ihrer<br />
beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit Anfeindungen<br />
und Bedrohungen ausgesetzt sind,<br />
sollen entsprechende Auskunftssperren im Melderegister<br />
eingerichtet werden.<br />
Anbieter sozialer Netzwerke sollen verpflichtet<br />
werden, strafbare Inhalte künftig bei einer neuen<br />
Zentralstelle im Bundeskriminalamt zu melden.<br />
Richten sie nur unzureichende Meldesysteme<br />
ein, könnte dies mit einem Bußgeld sanktioniert<br />
werden. Bislang müssen Anbieter entsprechende<br />
Veröffentlichungen löschen oder sperren – eine<br />
Aufklärung und Strafverfolgung ist dadurch nicht<br />
möglich.<br />
Die Bundesregierung begründet ihren Entwurf<br />
mit der zunehmenden Verrohung in den sozialen<br />
Medien. Hierdurch würden nicht nur die Persönlichkeitsrechte<br />
der Betroffenen verletzt, sondern<br />
auch der freie Meinungsaustausch sei gefährdet.<br />
Schon jetzt sei zu beobachten, dass Menschen<br />
sich aus Angst vor den Reaktionen nicht mehr<br />
äußerten.<br />
In seiner Stellungnahme zu dem Vorhaben mahnt<br />
der Bundesrat allerdings Nachbesserungen an –<br />
sowohl am Gesetzentwurf allgemein als auch an<br />
zahlreichen Detailregelungen.<br />
So fordert die Ländervertretung etwa, für Anbieter<br />
von sozialen Medien das sog. Marktortprinzip<br />
einzuführen; die Anbieter könnten sich dann nicht<br />
mehr darauf berufen, dass die von den Behörden<br />
abgefragten Daten im Ausland gespeichert sind,<br />
da sie ihre Leistungen in Deutschland anbieten.<br />
Insgesamt sei auch zu prüfen, ob es neben den<br />
punktuellen Änderungen im Gesetzentwurf nicht<br />
einer grundlegenden Modernisierung der Normen<br />
zum Schutz der Ehre bedürfe.<br />
Weitere Änderungswünsche der Länder beziehen<br />
sich auf die Präzisierung von Straftatbeständen,<br />
den Kreis der Auskunftsverpflichteten sowie die<br />
Kompetenzen des Bundeskriminalamts als neuer<br />
Zentralstelle für Meldepflichten für Anbieter<br />
sozialer Medien. Nachbesserungen verlangt der<br />
Bundesrat auch bei der Darstellung der Kostenfolgen<br />
für den Justiz- und Polizeibereich, insb.<br />
beim Personalbedarf. Die Bundesregierung müsse<br />
konkreter darlegen, welche Auswirkungen die<br />
von ihr geplanten Maßnahmen auf die Länderhaushalte<br />
hätten.<br />
[Quelle: Bundesrat]<br />
Zahl der Straftaten erneut gesunken<br />
Die Anzahl der Straftaten im vergangenen Jahr war<br />
– trotz Wachstums der Einwohnerzahl – erneut<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 377
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
rückläufig. Dies geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik<br />
für 2019 hervor, die das Bundesinnenministerium<br />
im März vorgelegt hat. Im Jahr 2019<br />
hat die Polizei danach 5.436.401 Straftaten festgestellt;<br />
ohne Berücksichtigung der ausländerrechtlichen<br />
Verstöße seien 5.270.782 Straftaten<br />
erfasst worden, das entspreche einem Rückgang<br />
um 2,3 % im Vergleich zum Vorjahr, erläuterte das<br />
Ministerium. Demgegenüber sei die Bevölkerung<br />
erneut gewachsen, allein von 2018 auf 2019 um<br />
226.862 Menschen.<br />
und schwerer Körperverletzung“ (2018: 136.727<br />
Fälle) registriert. Im Vergleich zum Vorjahr ist die<br />
„Gewaltkriminalität“ damit um 2,3 % geringfügig<br />
gesunken.<br />
Gestiegen sind dagegen die Fallzahlen in folgenden<br />
weiteren Deliktbereichen: Computerkriminalität<br />
(plus 11,3 %), Widerstand gegen und<br />
tätlicher Angriff auf die Staatsgewalt (plus 8 %)<br />
sowie Straftaten nach dem Arzneimittelgesetz<br />
(plus 6,3 %).<br />
[Quelle: BMI]<br />
Die Aufklärungsquote lag im Berichtszeitraum<br />
bei 56,2 % und damit knapp unter dem Höchststand<br />
von 2018 (56,5 %). Die Zahl der Tatverdächtigen<br />
lag mit 1.896.221 um 1,8 % niedriger als<br />
im Vorjahr (2018: 1.931.079). Die Mehrheit der<br />
Tatverdächtigen war männlich (2019: 75,6 %). Der<br />
Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen betrug<br />
– wie im Vorjahr – ca. 30 %; die Zahl ist 2019 auf<br />
577.241 gesunken (2018: 589.200).<br />
Bei der Diebstahlskriminalität ist ein Rückgang<br />
von 5,9 % auf 1.822.212 Fälle zu verzeichnen. Es<br />
handelt sich dabei um den niedrigsten Wert<br />
seit 1987. Dies liegt laut Bundesinnenministerium<br />
insb. an dem wiederholt starken Rückgang beim<br />
Wohnungseinbruchsdiebstahl um 10,6 % (2019:<br />
87.145 Fälle), beim Taschendiebstahl um 9,7 %<br />
(2019: 94.106) und beim Diebstahl aus bzw. an Kfz<br />
um 10,2 % (2019: 222.129). Auch die erfassten<br />
Straftaten der Wirtschaftskriminalität gingen um<br />
19,9 % zurück.<br />
Bei der Verbreitung pornografischer Schriften war<br />
statistisch eine Steigerung um 51,6 % zu beobachten,<br />
insb. bei der Verbreitung kinderpornografischer<br />
Schriften (plus 64,6 %). Durch die verstärkten<br />
Aktivitäten der Sicherheitsbehörden konnten<br />
mehr Straftaten vom Dunkelfeld ins Hellfeld gerückt<br />
werden. Zudem führte die Zusammenarbeit<br />
der mit der halbstaatlichen US-amerikanischen<br />
Nichtregierungsorganisation „NCMEC“ und<br />
deutschen Internetbeschwerdestellen zu deutlich<br />
mehr Hinweisen und Ermittlungsansätzen. Auch<br />
beim sexuellen Missbrauch von Kindern war 2019<br />
eine Zunahme von 10,9 % zu verzeichnen.<br />
Bei der sog. Gewaltkriminalität wurden im Jahr<br />
2019 bundesweit 181.054 Fälle (2018: 185.377<br />
Fälle), darunter 133.<strong>08</strong>4 Fälle von „gefährlicher<br />
Bundesratsinitiative gegen<br />
Kindesmissbrauch<br />
Der Bundesrat hat dem Bundestag einen Gesetzentwurf<br />
zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes<br />
vorgelegt (vgl. BT-Drucks 19/18019<br />
v. 18.3.<strong>2020</strong>). Das Gesetz soll die zeitlich unbegrenzte<br />
Aufnahme von Verurteilungen wegen<br />
sexuellen Missbrauchs von Kindern in das erweiterte<br />
Führungszeugnis ermöglichen. Wie es<br />
in dem Entwurf heißt, wurde durch das Fünfte<br />
Gesetz zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes<br />
(BZRG) v. 16.7.2009 das erweiterte Führungszeugnis<br />
eingeführt. Dessen Ziel sei es, den<br />
betroffenen Stellen Informationen zur Verfügung<br />
zu stellen, um Personen, die wegen Straftaten<br />
zum Nachteil von Minderjährigen verurteilt worden<br />
sind, vom Umgang mit Minderjährigen auszuschließen.<br />
Dieses Ziel werde wegen der Aufnahmefristen<br />
und Tilgungsfristen des BZRG nicht<br />
im erforderlichen Umfang erreicht.<br />
Der Gesetzentwurf sieht als zentrale Regelung<br />
vor, Verurteilungen wegen Sexualdelikten gegen<br />
Kinder und Jugendliche von der Aufnahmefrist<br />
auszunehmen, wenn ein erweitertes Führungszeugnis<br />
beantragt wird. Parallel hierzu sollen<br />
diese Verurteilungen von der Tilgung ausgenommen<br />
werden. Dies bewirke, heißt es in dem<br />
Entwurf, dass diese Verurteilungen zeitlich unbegrenzt<br />
in ein erweitertes Führungszeugnis aufgenommen<br />
werden. Mit dieser Änderung solle<br />
erreicht werden, dass wegen Taten zum Nachteil<br />
von Kindern verurteilten Sexualstraftätern der<br />
berufliche und ehrenamtliche Umgang mit Kindern<br />
und Jugendlichen dauerhaft verwehrt werden<br />
kann.<br />
[Quelle: Bundesrat]<br />
378 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Gesetzentwurf zur Europäischen<br />
Staatsanwaltschaft<br />
Die Bundesregierung hat im März einen Gesetzentwurf<br />
(vgl. BT-Drucks 19/17963) vorgelegt, der<br />
der Umsetzung der EU-Verordnung 2017/1939<br />
des EU-Rates v. 12.10.2017 zur Durchführung einer<br />
Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung<br />
der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA)<br />
dient. Um die Verpflichtungen aus der EUStA-<br />
Verordnung vollständig und bundeseinheitlich zu<br />
erfüllen, so die Bundesregierung, bedürfe es<br />
zusätzlich einiger Durchführungsbestimmungen.<br />
Der Gesetzentwurf beinhaltet neben einem neuen<br />
Stammgesetz, dem „Europäische-Staatsanwaltschaft-Gesetz“,<br />
auch einzelne Neuregelungen im<br />
Gerichtsverfassungsgesetz und der Strafprozessordnung.<br />
Bei der EUStA handelt es sich um eine unabhängige<br />
europäische Staatsanwaltschaft mit Sitz in<br />
Luxemburg. Sie ist zuständig für die strafrechtliche<br />
Ermittlung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung<br />
bei Straftaten zum Nachteil der<br />
finanziellen Interessen der Europäischen Union<br />
nach der EU-Richtlinie über die strafrechtliche<br />
Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen<br />
der Union gerichtetem Betrug.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Juristinnen halten geplante<br />
Vorstandsquote für unzureichend<br />
Die Bundesministerien für Familie, Senioren, Frauen<br />
und Jugend (BMFSFJ) sowie der Justiz und für<br />
Verbraucherschutz (BMJV) haben kürzlich einen<br />
Gesetzesvorschlag auf den Weg gebracht, der in<br />
Führungspositionen von großen Unternehmen<br />
für einen höheren Frauenanteil sorgen soll. Hintergrund<br />
ist die Evaluation des Gesetzes für die<br />
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern<br />
an Führungspositionen in der Privatwirtschaft<br />
und im öffentlichen Dienst (FüPoG) vom Mai 2015.<br />
Diese hatte ernüchternde Ergebnisse erbracht. Ihr<br />
zufolge konnte zwar der Frauenanteil in Aufsichtsräten<br />
mithilfe der festen Quote auf 35 % gesteigert<br />
werden. Die freiwillige Zielgrößenverpflichtung für<br />
die Vorstände hatte allerdings versagt. Der Frauenanteil<br />
dort liegt unter acht Prozent. Und rund<br />
80 % der unter das Gesetz fallenden Unternehmen<br />
hat sich für den Vorstand gar keine Zielgröße oder<br />
die Zielgröße Null gesetzt.<br />
Prof. Dr. MARIA WERSIG, Präsidentin des Deutschen<br />
Juristinnenbunds e.V. (djb) kritisierte die Lage mit<br />
folgenden Worten: „Mit der selbstgesetzten Zielgröße<br />
Null oder gar keiner Zielgröße haben die<br />
Vorstände deutlich gemacht, dass sie einfach keine<br />
einzige Frau unter sich dulden wollen, kein einziger<br />
Mann aus ihren Old-Boys-Netzwerken auf seinen Sitz<br />
oder seine Chancen verzichten muss.“<br />
Nach den neuen Plänen aus den beiden Bundesministerien<br />
soll das FüPoG künftig folgende<br />
Regelung enthalten: Besteht der Vorstand eines<br />
börsennotierten und paritätisch mitbestimmten<br />
Unternehmens aus vier oder mehr Personen, soll<br />
bei Neubesetzung mindestens eine Frau bestellt<br />
werden. Die Zielgröße Null soll klar und verständlich<br />
begründet und veröffentlicht werden.<br />
Bei Verstößen gegen die Meldepflicht über Zielgrößen,<br />
Fristen und Begründungen soll es künftig<br />
spürbare Sanktionen bis zu zehn Mio. Euro geben.<br />
An diesen Plänen kritisiert der Juristinnenbund,<br />
dass dies gegenüber dem Status quo keine weitgehende<br />
Änderung wäre. Eine Frau im Vorstand<br />
allein könne eine „von Männern für traditionelle<br />
Männer geprägte Unternehmenskultur“ nicht ändern.<br />
Sie erlebe stattdessen Anpassungszwang und<br />
höhere Anforderungen. Immerhin sei es aber ein<br />
Anfang. Eine feste Besetzungsregel für eine Frau<br />
garantiere wenigstens, dass sie „nicht wegen eines<br />
Mannes weggemobbt“ werde, wie nicht selten zu<br />
beobachten sei. Der Gesetzgeber sei, so argumentieren<br />
die Juristinnen, durch Art. 3 Abs. 2 GG dazu<br />
verpflichtet, für tatsächliche Gleichstellung zu<br />
sorgen. Quoten seien hierfür ein rechtmäßiges<br />
Mittel, weil sie helfen, strukturelle Diskriminierung<br />
zu überwinden. Allerdings beginne Gleichstellung<br />
nicht erst in den Vorständen.<br />
Der djb fordert deshalb eine Erweiterung der Anforderungen<br />
an die Erklärungspflicht im FüPoG.<br />
Prof. Dr. MARIA WERSIG erläuterte: „Der Gesetzentwurf<br />
der Ministerinnen für eine neue Quote in Vorständen<br />
ist ein guter Anfang und muss jetzt umgesetzt<br />
werden! Um die Gläserne Decke tatsächlich zu durchbrechen,<br />
braucht es allerdings weitreichendere verpflichtende<br />
Maßnahmen, nicht nur in den Vorständen,<br />
sondern schon auf dem Weg dahin.“ [Quelle: djb]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 379
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Widerrufsfrist bei Verbraucherkreditverträgen<br />
Eine interessante Entscheidung zur Berechnung<br />
der Widerrufsfrist bei Verbraucherkreditverträgen<br />
hat jetzt der EuGH gefällt. Er entschied, dass<br />
Verbraucherkreditverträge in klarer und prägnanter<br />
Form alle Modalitäten für die Berechnung<br />
der Widerrufsfrist angeben müssen und dass es<br />
nicht ausreicht, dass der Vertrag hinsichtlich der<br />
Pflichtangaben, deren Erteilung an den Verbraucher<br />
für den Beginn der Widerrufsfrist maßgeblich<br />
ist, auf eine nationale Vorschrift verweist, die<br />
selbst wiederum auf weitere nationale Rechtsvorschriften<br />
verweist (EuGH, Urt. v. 26.3.<strong>2020</strong> –<br />
C-66/19).<br />
Vorgelegt hatte die Rechtsfrage das LG Saarbrücken.<br />
Bei ihm ist ein Fall anhängig, in dem ein<br />
Verbraucher bei seiner Kreissparkasse einen grundpfandrechtlich<br />
gesicherten Kredit aufgenommen<br />
und seine Vertragserklärung vier Jahre später<br />
widerrufen hatte. Der Kreditvertrag sieht vor, dass<br />
der Darlehensnehmer seine Vertragserklärung innerhalb<br />
von 14 Tagen widerrufen kann und dass<br />
diese Frist nach Abschluss des Vertrags zu laufen<br />
beginnt, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer<br />
alle Pflichtangaben erhalten hat, die das BGB vorsieht.<br />
Diese Angaben allerdings, deren Erteilung<br />
an den Verbraucher für den Beginn der Widerrufsfrist<br />
maßgeblich ist, führt der Vertrag nicht selbst<br />
auf. Er verweist lediglich auf die entsprechende<br />
BGB-Vorschrift, die selbst auf weitere Vorschriften<br />
weiterverweist. Die Frage war nun, ob der<br />
Widerruf des Kreditnehmers noch nicht verspätet<br />
war, weil er nicht ordnungsgemäß informiert<br />
worden war.<br />
Diese Frage bejahte der EuGH. Er verweist auf die<br />
EU-Richtlinie 20<strong>08</strong>/48/EG v. 23.4.20<strong>08</strong> über Verbraucherkreditverträge<br />
und zur Aufhebung der<br />
Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl 20<strong>08</strong>, L 133,<br />
S. 66, ber. in ABl 2009, L 207, S. 14, ABl 2010, L 199,<br />
S. 40 und ABl 2011, L 234, S. 46), wonach ein<br />
Verbraucherkreditvertrag in klarer und prägnanter<br />
Form die Modalitäten für die Berechnung der<br />
Widerrufsfrist angeben muss. Bei sog. Kaskadenverweisungen<br />
wie der vorliegenden könne der<br />
Verbraucher auf der Grundlage des Vertrags aber<br />
weder den Umfang seiner vertraglichen Verpflichtung<br />
bestimmen noch überprüfen, ob der<br />
von ihm abgeschlossene Vertrag alle erforderlichen<br />
Angaben enthalte, und erst recht nicht, ob<br />
die Widerrufsfrist, über die er verfügen könne, für<br />
ihn zu laufen begonnen habe. [Quelle: EuGH]<br />
Besteuerung bei Veräußerung<br />
einer Praxis<br />
Auf eine wichtige Entscheidung des Bundesfinanzhofs<br />
(BFH) zur tarifbegünstigten Veräußerung<br />
einer freiberuflichen Praxis hat die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(BRAK) hingewiesen. Der<br />
Entscheidung lag der Fall eines Steuerberaters<br />
zugrunde, der seine Steuerberaterpraxis verkauft<br />
hat. Die Aussagen des BFH sind jedoch<br />
auf Rechtsanwälte übertragbar (BFH, Beschl.<br />
v. 11.2.<strong>2020</strong> – VIII B 131/19).<br />
In den Leitsätzen stellt der BFH zunächst fest, dass<br />
die tarifbegünstigte Veräußerung einer freiberuflichen<br />
Praxis (§§ 18 Abs. 3 i.V.m. 34 EStG) voraussetzt,<br />
dass der Steuerpflichtige die wesentlichen<br />
vermögensmäßigen Grundlagen seiner bisherigen<br />
Tätigkeit entgeltlich und definitiv auf einen anderen<br />
überträgt. Hierzu muss der Veräußerer seine<br />
freiberufliche Tätigkeit in dem bisherigen örtlichen<br />
Wirkungskreis wenigstens für eine gewisse Zeit<br />
einstellen. Wann eine „definitive“ Übertragung der<br />
wesentlichen Betriebsgrundlagen vorliegt, hängt<br />
jeweils von den Umständen des Einzelfalls ab.<br />
Eine starre zeitliche Grenze, nach der die Tätigkeit<br />
steuerunschädlich wieder aufgenommen werden<br />
kann, bestehe nicht, so der BFH. Dementsprechend<br />
sei auch keine sog. Wartezeit von mindestens<br />
drei Jahren einzuhalten.<br />
Dann stellt der BFH klar, dass es grds. unschädlich<br />
ist, wenn der Veräußerer als Arbeitnehmer oder<br />
als freier Mitarbeiter im Auftrag und für Rechnung<br />
des Erwerbers tätig wird. Auch eine geringfügige<br />
Fortführung der bisherigen freiberuflichen<br />
Tätigkeit steht der Annahme einer begünstigten<br />
Praxisveräußerung nicht entgegen und zwar auch<br />
dann nicht, wenn sie die Betreuung neuer Mandate<br />
umfasst, so der BFH. Damit wenden sich die<br />
Finanzrichter gegen die Auffassung des Bundesministeriums<br />
der Finanzen. Es bleibt jetzt – so<br />
der Kommentar der BRAK – abzuwarten, wie die<br />
Finanzverwaltung auf die Entscheidung reagiert.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
380 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Buchreport<br />
Berichte über juristische Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt aus der Sicht des anwaltlichen Praktikers.<br />
Lesen Sie hier, sortiert nach den einzelnen <strong>ZAP</strong> Fächern, welche Werke für die Mandatspraxis von<br />
Bedeutung sind.<br />
Miete/Nutzungen<br />
NIEDENFÜHR/SCHMIDT-RÄNTSCH/VANDENHOUTEN (Hrsg.), WEG – Kommentar und Handbuch zum<br />
Wohnungseigentumsrecht, 13. Aufl. 2019, Deutscher Anwaltverlag, 920 S., 114 €<br />
Das perfekt auf die Bedürfnisse eines Praktikers zugeschnittene Werk ist zugleich Kommentar und<br />
Handbuch zum Wohnungseigentumsrecht. Die Teile 1 und 2 enthalten die Vorschriften und die<br />
Kommentierung zum WEG. In Teil 3 wird die Heizkostenverordnung erläutert, soweit diese im Wohnungseigentum<br />
relevant ist. Weitere für den Bereich des Wohnungseigentums wichtige Vorschriften<br />
zum Wärmeschutz und dem Grundbuchrecht sind im Teil 4 dargestellt. Der Teil 5 widmet sich<br />
umfangreichen Mustertexten, sowohl zur Begründung von Wohnungseigentum als auch für Verfahren<br />
in Wohnungseigentumssachen. Er enthält Muster und Texte zur Verwaltung des gemeinschaftlichen<br />
Eigentums, die gerade für den Praktiker wertvolle Arbeitshilfen sind. Die Darstellung im Werk ist sehr<br />
praxisbezogen mit umfangreichen Literatur- und Rechtsprechungshinweisen, mit Schwerpunkt auf der<br />
Rechtsprechung. Jeder Vorschrift ist eine einschlägige Literaturübersicht vorangestellt. Die klare<br />
Gliederung erleichtert die Arbeit mit dem Werk. Das Stichwortverzeichnis ist so detailliert gestaltet,<br />
dass sich rasch eine Lösung zum Stichwort finden lässt. Insgesamt ein gerade für den Anwalt sehr zu<br />
empfehlendes Werk.<br />
RAin und FAin für Miet- und Wohnungseigentumsrecht Dr. ANNEGRET HARZ, München<br />
BÄRMANN (Hrsg.), WEG – Wohnungseigentumsgesetz. Kommentar, 14., neu bearb. Aufl. 2018,<br />
C.H. Beck, 1.962 S., 149 €<br />
Der Klassiker, der „Bärmann“, ist das Standardwerk zum Wohnungseigentumsrecht und wird von<br />
ausgewiesenen Fachleuten bearbeitet. Er wurde in der 14. Auflage auf den neuesten Stand von Literatur<br />
und Rechtsprechung gebracht. Großen Wert legen die Bearbeiter auf die Erläuterung der aktuellen<br />
Rechtsprechung. Insbesondere der V. Senat des Bundesgerichtshofs hat seit Erscheinen der 13. Auflage<br />
wegweisende Entscheidungen gefällt, die umfangreich dargestellt werden. Sowohl die materiellen als<br />
auch die verfahrensrechtlichen Vorschriften sind übersichtlich gegliedert und ausführlich kommentiert.<br />
Die oft stiefmütterlich behandelten §§ 30 bis 42 WEG sind so klar und kenntnisreich kommentiert, dass<br />
es eine Freude ist, die Erläuterungen zu lesen. Der große Fundus an zitierter Rechtsprechung ermöglicht<br />
die gute Kenntnis der obergerichtlichen Rechtsprechung. Auch die Neuauflage ist uneingeschränkt zu<br />
empfehlen. RAin und FAin für Miet- und Wohnungseigentumsrecht Dr. ANNEGRET HARZ, München<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 381
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
BURHOFF/GRÜN (Hrsg.), Messungen im Straßenverkehr, 5. Aufl. 2019, <strong>ZAP</strong> Verlag, 1072 S., 104 €<br />
Das bereits in 5. Auflage erscheinende Standardwerk zu Messungen im Straßenverkehr will der<br />
Anwaltschaft technische Kenntnisse für die Argumentation bei Geschwindigkeits-, Abstands- und<br />
Rotlichtmessungen vermitteln. Dies gilt insb. deshalb, weil die Messverfahren mit Beispielsfällen unterlegt<br />
sind, sodass der Zugang zu der technisch komplexen Materie nachvollziehbar wird. Das ist aus<br />
Verteidigersicht auch dringend notwendig, denn Hersteller, Anwender und die PTB lassen trotz der<br />
allseits bekannten und natürlich eingearbeiteten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs Saarland<br />
(Lv 1/18 und Lv 7/17) zur Überlassung der Rohmessdaten und der entsprechenden Einsicht in die<br />
Unterlagen nicht erkennen, dass dieser Rechtsprechung (vgl. auch Übersicht § 3 Rn 196 ff.) gefolgt<br />
werden soll. Hier wird wohl nur das Bundesverfassungsgericht die erforderliche Durchschlagskraft<br />
garantieren können. Daneben erfordert der technische Fortschritt natürlich auch die Anpassung der<br />
Messsysteme (ES 8.0 und ES. 3.0; Poliscan FM 1 und Traffistar S 350 von Jenoptik), die gleichsam in die<br />
Neuauflage Eingang gefunden haben. Schon deshalb ist in der Praxis der Verteidigung das aktualisierte<br />
Werk vonnöten. Das Buch ist gegliedert in Messverfahren, medizinische Aspekte, Rechtsfragen im<br />
Zusammenhang mit Geschwindigkeitsüberschreitungen, Abstandsmessungen, Rotlichtverstößen und<br />
Trunkenheitsfahrten und hat in der Anlage noch diverse Arbeitshilfen, insb. die Richtlinien für die<br />
Geschwindigkeitsüberwachung der einzelnen Bundesländer. Letztere sind besonders deswegen von<br />
Interesse, weil sie vorgeben, unter welchen Umständen bzw. unter welchen Voraussetzungen die<br />
Überzwachung erfolgen soll. Besonders hilfreich ist auch die aktualisierte Rechtsprechung zum Maß der<br />
Überschreitung bzw. zur relativen Geschwindigkeitsüberschreitung, die den Gerichten ermöglicht, auf<br />
das Vorliegen eines Vorsatzes zu schließen (§ 3 Rn 89 ff.) zur Vermeidung von Verteidigungsfehlern. Von<br />
besonderem Interesse sind die Hinweise zur Besichtigung der Messörtlichkeiten (§ 1 Rn 1755 ff.), weil sie<br />
nämlich für die örtlichen Besonderheiten sensibilisieren und mithilfe der Beispielsfälle anschaulich<br />
dargestellt sind. Gleiches gilt für den grundlegenden Aufbau eines Gutachtens (§ 2 Rn 51 ff.) gerade bei<br />
den immer wieder in der Kritik stehenden morphologischen Gutachten. Auch das Prüfschema für den<br />
Rechtsanwalt ist aktualisiert. Ebenso wird das Messen durch Nachfahren wie die Problematik von<br />
„illegalen Straßenrennen“ und Dashcams behandelt. Ergänzend fiel der Rezensentin lediglich auf, dass<br />
Buchfäden zur Markierung eine dankenswerte Unterstützung wären, ebenso wie das Stichwortregister<br />
noch ausführlicher sein könnte. Kurz: Der/die anwaltliche Verteidiger/-in kann dieser umfassenden<br />
Hilfestellung nur dankbar sein!<br />
RAin und FAin für Straf- und Verkehrsrecht, zert. Mediatorin/Coach GESINE REISERT, Berlin<br />
OPPERMANN/STENDER-VORWACHS (Hrsg.), Autonomes Fahren. Technische Grundlagen, Rechtsprobleme,<br />
Rechtsfolgen, 2. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 501 S., 89 €<br />
Trotz aller Medienberichte ist autonomes Fahren mit Kraftfahrzeugen aktuell noch weitgehend eine<br />
Zukunftsvision. Bereits im Jahr 2017 hat der Gesetzgeber aber in §§ 1a bis 1c StVG eine rechtliche<br />
Grundlage für das hoch- oder vollautomatisierte Fahren geschaffen. Das vorliegende Werk widmet<br />
sich den technischen Grundlagen, Rechtsproblemen und Rechtsfolgen des automatisierten Fahrens.<br />
Die ersten beiden Kapitel behandeln eingehend die tatsächlichen Grundlagen und Perspektiven des<br />
autonomen Fahrens. Der Schwerpunkt der folgenden rechtlichen Grundlagen liegt beim Zivilrecht.<br />
Neben der Halterhaftung geht es dabei vorrangig um die Fahrerhaftung und die Frage, welche<br />
Konsequenzen sich aus den neuen gesetzlichen Regeln zum automatisierten Fahren ergeben. Auch die<br />
Themenkreise Produkt- und Produzentenhaftung, Privatversicherungsrecht, Marktrecht und Verbraucherschutz,<br />
Arbeitsrecht sowie Datenschutzrecht werden eingehend dargestellt. Der verwaltungsrechtliche<br />
Abschnitt befasst sich mit Auswirkungen der Grundrechte sowie Fragen der Zulassung<br />
autonomer Fahrzeuge. Naturgemäß besitzen strafrechtliche Fragestellungen in diesem Bereich eine<br />
besondere Brisanz, was durch einige tödliche Unfälle in den USA verstärkt wird. Nach Darstellung<br />
der klassischen Elemente der Fahrlässigkeitsdogmatik führt Prof. Dr. SUSANNE BECK deren vermeintlich<br />
erforderliche Adaption auf das autonome Fahren insb. im Bereich der Zurechnung und des erlaubten<br />
Risikos durch. Hierbei werden Problemfelder und durchaus relevante Kriterien benannt, wobei die<br />
382 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Verfasserin ausdrücklich betont, keine endgültigen Lösungen gefunden zu haben. Allerdings ist besondere<br />
Vorsicht bei solchen Adaptionen, sprich Veränderungen der Fahrlässigkeitsdogmatik geboten.<br />
Nicht das Recht folgt der Technik, sondern die Technik dem Recht. Das wird auch bei den behandelten<br />
„Dilemma-Situationen“ deutlich (Ausweichen vor einem Fußgänger auf der Straße nur bei Verletzung/<br />
Tötung anderer Personen möglich). Ich hätte zudem die Behandlung von reinen Handlungsdelikten<br />
erwartet (etwa §§ 316 StGB, 21 StVG), wobei das Merkmal des „Führens“ unter Rückgriff auf den<br />
Handlungsbegriff von Bedeutung ist. Das dürfte in einer sicher zu erwartenden Neuauflage noch folgen.<br />
Sicher gegenwärtig noch kein Werk für die alltägliche Praxis, wird das Buch zukünftig ein Standardwerk<br />
sein, sobald das autonome Fahren seinen Weg in den Alltag findet. Es lohnt eine Anschaffung schon<br />
heute.<br />
Richter am Amtsgericht Dr. AXEL DEUTSCHER, Bochum<br />
Versicherungsrecht<br />
RÜFFER/HALBACH/SCHIMIKOWSKI (Hrsg.), Versicherungsvertragsgesetz. Handkommentar, 4. Aufl. <strong>2020</strong>,<br />
Nomos Verlag, 2.556 S., 158 €<br />
Gut vier Jahre nach der dritten Auflage haben die Herausgeber mit erweitertem Autorenteam den<br />
Kommentar auf einen aktuellen Stand (Oktober 2019) gebracht. An der Struktur und den Schwerpunkten<br />
des Werks wurde festgehalten, d.h. neben den einschlägigen gesetzlichen Regelungen (VVG,<br />
EGVVG, VVG-Info-VO, AltZertG, PflVG und KfzPflVG) werden zahlreiche Musterbedingungswerke des<br />
GdV zu den „klassischen“ Versicherungszweigen besprochen. Als Autoren sind neu dabei SABINE PAWIG-<br />
SALM, Dr. SVEN ERICHSEN und FLORIAN SALM. Alle drei befassen sich mit dem noch jungen Themengebiet der<br />
Cyber-Versicherung, zu dem der GdV seit der Vorauflage erstmals die AVB Cyber veröffentlicht hat. Auf<br />
einige davon abweichende Regelungen in den Bedingungswerken einzelner Versicherer wird teilweise<br />
mit Nennung der Verwender Bezug genommen. Die Darstellung ermöglicht eine rasche Übersicht<br />
und Einarbeitung in das Thema. Berücksichtigt wurden die durch die Umsetzung der IDD Richtlinie<br />
eingetretenen Änderungen bei den Beratungspflichten der Versicherer und Vermittler sowie bei den<br />
Informationspflichten (§§ 6, 7a–7d, 61 VVG). Die Kommentierung berücksichtigt auch die aktualisierten<br />
Bedingungen zur Wohngebäudeversicherung (VGB 2016), der Hausratversicherung (VHB 2016), der<br />
Kfz-Versicherung (AKB 2015 mit den aktuellen KfzSBHH), der privaten Unfallversicherung (AUB 2014)<br />
und der privaten Haftpflichtversicherung (AVB PHV). Neben den neuen Bedingungen zur Berufsunfähigkeitszusatzversicherung<br />
(BUZ) wurden auch die Bedingungen zur Berufsunfähigkeits-Versicherung<br />
mit zusätzlicher Absicherung bei Arbeitsunfähigkeit (BUV-AU) aufgenommen. Fazit: Das Werk<br />
erfüllt die hohen Erwartungen an eine Folgeauflage eines niveauvollen Handkommentars. Kompakt,<br />
pragmatisch, aktuell. Die Anschaffung der vierten Auflage des Kommentars lohnt sich für jede versicherungsrechtliche<br />
Handbibliothek.<br />
RA ANDRÉ NAUMANN, Bornheim<br />
Familienrecht<br />
KEIDEL/ENGELHARDT/STERNAL, FamFG, Kommentar, 20., überarb. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 3.229 S., 149 €<br />
Beim Inkrafttreten des FamFG im Jahre 2009 war der Gesetzgeber der Ansicht, damit sei das<br />
Verfahrensrecht einfacher geworden. Allein der um fast 400 Seiten angewachsene Umfang von jetzt<br />
3.229 Seiten des von KEIDEL begründeten und jetzt von ENGELHARDT und STERNAL herausgegebenen<br />
Kommentars bestätigt Zweifel an dieser Einschätzung. Zudem ist das FamFG allein seit der Vorauflage<br />
durch 53 Vorschriften, verteilt auf 15 Gesetze, geändert worden, die in die Neufassung eingearbeitet<br />
worden sind. Umso wichtiger ist für die Praxis ein Erläuterungswerk wie der „Keidel“ als bewährter<br />
Klassiker des Verfahrensrechts, in dem ein Autorenteam aus Justiz, Notariaten, der Rechtsanwaltschaft<br />
sowie Hochschulen sicher und zuverlässig und wieder brandaktuell durch die nicht wenigen Herausforderungen<br />
und Untiefen des FamFG führt. Die hohe Qualität des Buches zeigt sich schon daran, dass<br />
kaum eine Entscheidung des BGH oder der Obergerichte, die sich mit verfahrensrechtlichen Fragen<br />
befasst, auf Zitate aus dem Werk verzichtet. Hervorzuheben bei den neu bearbeiteten Passagen sind<br />
besonders die Ausführungen zu den Genehmigungsvorbehalten bei freiheitsentziehenden und ärztlichen<br />
Maßnahmen, zur „Ehe für alle“, zur elektronischen Akte, zur Bekämpfung von Kinderehen sowie<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 383
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
zum Verfahren mit Auslandsbezug. Wegen der großen „Streubreite“ des FamFG vom Familienrecht<br />
über die Betreuungs- und Unterbringungssachen, Freiheitsentziehungssachen, Nachlass- und Teilungssachen<br />
und Registersachen bis hin zum Aufgebotsverfahren wird ein solches Werk nicht nur im<br />
Gerichtsalltag und in der Anwaltskanzlei benötigt, sondern auch im Notariat, beim Steuerberater,<br />
Wirtschaftsprüfer und Mitarbeitern in Versicherungsunternehmen sowie in Behörden. Für all diese<br />
Professionen kann dieses ausgezeichnete Hilfsmittel uneingeschränkt empfohlen werden.<br />
RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />
NIEPMANN/SEILER, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 14., völlig überarb. Aufl. 2019,<br />
C.H. Beck, 544 S., 57 €<br />
Wenn ein juristisches Fachbuch in 14. Auflage erscheint – wie das Werk „Die Rechtsprechung zur Höhe<br />
des Unterhalts“ –, hat es sich als Standardwerk etabliert. Das von KALTHOENER/BÜTTNER begründete Werk<br />
wird jetzt von NIEPMANN und SEILER fortgeführt, zwei durch zahlreiche Veröffentlichungen ausgewiesene<br />
erfahrene gerichtliche Praktiker des Familienrechts. Dabei ist der Titel „Die Rechtsprechung zur Höhe<br />
des Unterhalts“ eine starke Untertreibung, denn das 544 Seiten umfassende Buch befasst sich nicht<br />
nur mit der Höhe des Unterhalts, sondern geht auch intensiv und verständlich auf die rechtlichen<br />
Grundlagen der Unterhaltsansprüche ein. Es ist übersichtlich aufgebaut, gut lesbar, mit Randnummern<br />
strukturiert und wird durch ein umfangreiches Stichwortverzeichnis vervollständigt. Im ersten Teil des<br />
Buches werden die Grundlagen der in der Praxis üblichen Schematisierung der Unterhaltsberechnung<br />
anhand von Tabellen und Leitlinien, Quoten und Schlüsseln und die sonstigen Fragen der Berechnungsmethoden<br />
erörtert. Der zweite Teil behandelt die unterhaltsrechtlichen Grundlagen der Bedürftigkeit<br />
des Berechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten. Auch bietet das Buch eine kurze<br />
Übersicht zu den für die anwaltliche Beratungspraxis wichtigen Themen der Unterhaltsbegrenzung<br />
nach § 1578b BGB und zur Minderung und Ausschluss des Unterhalts nach § 1579 BGB und § 1611 BGB.<br />
Abschließend folgen Ausführungen zum endgültigen Erlöschen und Wiederaufleben eines Unterhaltsanspruchs<br />
wie zum familienrechtlichen Ausgleichsanspruch. Das kompakte und gut zugängliche Buch<br />
ist ein ausgezeichnetes Hilfsmittel bei der Bearbeitung unterhaltsrechtlicher Auseinandersetzungen und<br />
kann für die anwaltliche Praxis uneingeschränkt empfohlen werden.<br />
RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />
SCHNITZLER (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Familienrecht, 5. überarb. und erweiterte<br />
Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 1.959 S., 179 €<br />
Es hat lange gedauert, aber nach 5 Jahren ist die Neuauflage des bewährten Münchener Anwaltshandbuchs<br />
Familienrecht erschienen. Die einzelnen Abschnitte des Werkes sind verfasst von einer<br />
hochkarätigen Mischung praxiserfahrener Autorinnen und Autoren aus Justiz, Anwaltschaft, Notariat<br />
und Sachverständigen. Behandelt wird die gesamte Palette des Familienrechts. Beginnend mit dem<br />
familienrechtlichen Mandatsverhältnis (einschließlich berufsrechtlicher und haftungsrechtlicher Fragen)<br />
werden über das Unterhaltsrecht, das Sorge- und Umgangsrecht, Gewaltschutz, Hausrat, Zugewinn,<br />
Vermögensauseinandersetzung außerhalb des Güterechts, Versorgungsausgleich, Eheverträge und<br />
Scheidungsvereinbarungen, nichteheliche Lebensgemeinschaft und eingetragene Lebenspartnerschaft,<br />
Abstammungsrecht, Versicherungsrecht und Steuerecht, Verfahrensrecht, Kosten und Vergütungsrecht<br />
und das internationale Familienrecht kommentiert. In den besonders praxisrelevanten Kapiteln<br />
zum Unterhalt behandeln die Autoren nach grundsätzlichen Fragen die Unterhaltsansprüche minderjähriger<br />
und volljähriger Kinder, den Trennungsunterhalt, den Nachscheidungsunterhalt ebenso wie den<br />
Elternunterhalt, den Familienunterhalt und den Unterhalt nicht miteinander verheirateter Eltern nach<br />
§ 1615l BGB. Gerade für die anwaltliche Beratungspraxis ist die in § 9 enthaltene tabellarische Übersicht<br />
mit 257 seit 2001 ergangenen Entscheidungen zur Unterhaltsbegrenzung nach § 1578b BGB besonders<br />
hilfreich. Auch der Übergang von Unterhaltsansprüchen auf Sozialleistungsträger fehlt nicht; ebenso<br />
finden sich Ausführungen zur Vermeidung der Überzahlung von Unterhalt, die sich mit der sofortigen<br />
Wirksamkeit von Unterhaltsentscheidungen und Einschränkungen der Vollstreckung befassen. Das mit<br />
Register insgesamt 1.959 Seiten umfassende Werk ist nach Paragraphen gegliedert, der Text ist gut<br />
lesbar und durch Randnummern übersichtlich strukturiert. Fazit: Eine klare Empfehlung!<br />
RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />
384 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
GIERL/KÖHLER/KROIß/WILSCH (Hrsg.), Internationales Erbrecht, 3. Aufl. <strong>2020</strong>, Nomos Verlag,<br />
944 S., 118 €<br />
Das Internationale Erbrecht hat insb. durch die Harmonisierung des Erbrechts in der europäischen Union<br />
durch die am 16.8.2012 in Kraft getretene europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO), die für alle<br />
Erbfälle ab dem 17.8.2015 gilt, an Bedeutung gewonnen. Das Werk der Herausgeber WALTER GIERL,<br />
Dr. ANDREAS KÖHLER, Prof. Dr. LUDWIG KROIß und HARALD WILSCH bietet eine umfassende Darstellung des<br />
Internationalen Erbrechts. Die dritte Auflage gliedert sich nunmehr in sechs Teile:<br />
• Teil 1 EuErbVO;<br />
• Teil 2 Art. 1 des Gesetzes zum Internationalen Erbrecht;<br />
• Teil 3 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1329/2014 der Kommission vom 9.12.2014;<br />
• Teil 4 Sonderfragen;<br />
• Teil 5 Internationale Staatsverträge auf dem Gebiet des Internationalen Erbrechts;<br />
• Teil 6 Länderberichte.<br />
Die vorgenannten Teile untergliedern sich in weitere Kapitel, denen zur besseren Übersicht jeweils eine<br />
eigene Inhaltsübersicht vorangestellt wird. Hierdurch kann der Praktiker seine Fragestellungen gezielt<br />
auffinden und in der Bearbeitung von Mandaten und Fällen ohne Zeitverlust umsetzen. Neben der<br />
Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung ist der vierte Teil, der das Internationale Erbrecht im<br />
Rechtspflegergesetz, im Grundbuchverfahren sowie im Kostenrecht beinhaltet, durch die Autoren neu<br />
gefasst worden. Weiterhin sind die Länderberichte in Teil 6 ergänzt und überarbeitet worden. Die<br />
21 Länderberichte sind von spezialisierten Autoren für das jeweilige Land verfasst worden, wodurch die<br />
länderspezifischen Besonderheiten konzentriert auf den Punkt gebracht werden. Das Werk „Internationales<br />
Erbrecht“ ist ein zuverlässiger Begleiter bei der Bearbeitung von Erbrechtsfällen mit internationalem<br />
Bezug. Durch eine Vielzahl von Praxis- und Formulierungshinweisen sowie den detaillierten<br />
Länderberichten wird eine effektive Mandatsbearbeitung gewährleistet, insb. bei der Beratung hinsichtlich<br />
der Wahl des anzuwendenden Erbrechts. Daher darf diese Neuauflage in keinem erbrechtlichen<br />
Bücherregal fehlen.<br />
RA Dr. LUTZ FÖRSTER, Brühl<br />
HORN (Hrsg.), Anwaltformulare Vorsorgevollmachten. Gestaltung – Widerruf – Missbrauch,<br />
1. Aufl. 2019, zerb Verlag, 616 S., 89 €<br />
Das Bewusstsein und die Bereitschaft in der Bevölkerung, eine Vorsorgevollmacht zu errichten, ist durch<br />
die zunehmende Berichterstattung in den Medien in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Insbesondere<br />
durch die Zugriffsmöglichkeit auf Mustervorsorgevollmachten im Internet findet eine Vollmachtserteilung<br />
innerhalb von wenigen Minuten ohne eine hinreichende anwaltliche oder notarielle Beratung<br />
statt. Eine Vollmachtserteilung ohne hinreichende Beratung birgt aber die Gefahr des Missbrauchs, die<br />
dann anwaltlich gelöst werden muss. Das Werk „Anwaltformulare Vorsorgevollmachten“ des Herausgebers<br />
RA Dr. CLAUS-HENRIK HORN und eines aus langjährigen und erfahrenen Praktikern bestehenden<br />
Autorenteams bietet dem Praktiker einen schnellen umfassenden Einstieg in die anwaltliche Beratung bei<br />
Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen sowie eine zielorientierte Hilfestellung bei zahlreichen<br />
Fragestellungen. Der erste Teil des Werks befasst sich mit der Gestaltung von Vorsorgedokumenten und<br />
besteht aus zehn Kapiteln (§ 1 Vorsorgevollmacht, § 2 Geschäftsfähigkeit, § 3 Vorsorgevollmacht für<br />
Unternehmer, § 4 Patientenverfügung/Bestattungsverfügung, § 5 Betreuungsverfügung, § 6 Kontrollbevollmächtigung<br />
und -betreuung, § 7 Formvorschriften, § 8 Besondere Themen für die notarielle<br />
Vorsorgevollmacht, § 9 Gebühren und Vergütung, § 10 Verwahrung, Registrierung und Ablieferung). Der<br />
zweite und dritte Teil des Werks befassen sich mit den Rechtsverhältnissen zwischen Vollmachtgeber<br />
und Bevollmächtigtem (§ 11 Gesetzliche Grundlagen und vertragliche Modifikationen, § 12 Der Anwalt<br />
als [Vorsorge-]Bevollmächtigter) und Widerruf, Kraftloserklärung und Erlöschen (§ 13 Erlöschen der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 385
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Vollmacht, § 14 Widerruf der Vollmacht, § 15 Kraftloserklärung der Vollmacht, § 16 Gerichtliche<br />
Sicherungsmaßnahmen). Der vierte und fünfte Teil befassen sich mit der Durchsetzung von Vorsorgedokumenten<br />
(§ 17 Verwendung von Vorsorgevollmachten, § 18 Die Umsetzung der Patientenverfügung,<br />
§ 19 Rechtsfolgen einer unwirksamen Bevollmächtigung, § 20 Kollision einer erteilten<br />
Vorsorgevollmacht mit erbrechtlichen Instituten) und den gegenseitigen Ansprüchen bei Vollmachten<br />
(§ 21 Ansprüche des Bevollmächtigten und § 22 Ansprüche des Vollmachtgebers). Der sechste Teil schließt<br />
mit Hinweisen und Empfehlungen der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und<br />
Patientenverfügungen im ärztlichen Alltag. Das Werk wird durch eine Vielzahl von Musterformulierungen<br />
und Musterschriftsätzen unterstützt. Die Ausführungen zur Errichtung einer Vorsorgevollmacht<br />
enthalten Textbausteine zur Errichtung einer Vorsorgevollmacht, wobei zwischen zwei Grundmustern<br />
(Grundmuster I.: ausführlicher Text; Grundmuster II.: kurzer Text) differenziert wird. Entsprechend kann<br />
eine an den Bedürfnissen und Wünschen des Mandanten orientierte Vorsorgevollmacht errichtet werden.<br />
Durch die mitgelieferte CD-ROM können die Musterformulierungen direkt bei der Mandatsbearbeitung<br />
berücksichtigt werden. Durch die Verwendung von Mustervorlagen und die Reduzierung von<br />
wissenschaftlichen Diskussionen auf das notwendige Maß bieten die „Anwaltformulare Vorsorgevollmachten“<br />
ein hervorragendes Handwerkszeug, um die Fragen und Probleme bei der Errichtung, dem<br />
Gebrauch und dem Missbrauch einer Vorsorgevollmacht/Patientenverfügung umfassend und lösungsorientiert<br />
zu bearbeiten.<br />
RA Dr. LUTZ FÖRSTER, Brühl<br />
Zivilprozessrecht<br />
BECHTELER/RAUE, Zivilprozess für Anfänger, 1. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 291 S., 45 €<br />
Das hier vorzustellende Werk füllt eine Lücke in der prozessrechtlichen Ausbildungsliteratur: Es<br />
behandelt den Zivilprozess weder aus einer dogmatischen Perspektive, wie die klassischen Lehrbücher<br />
für Studierende, noch handelt es sich um Ausbildungsliteratur für das Referendariat, und auch nicht um<br />
ein reines Formularbuch für die Praxis. Vielmehr wendet sich das Werk gezielt an Berufseinsteiger als<br />
Rechtsanwälte, die zum ersten Mal gewissermaßen „auf eigenen Beinen stehend“ Zivilprozesse führen.<br />
Es enthält eine ausgewogene Mischung aus erläuternden Texten, Checklisten und Formulierungsvorschlägen.<br />
Beide Autoren sind als erfahrene Litigation-Experten in einer Großkanzlei tätig. Dadurch ist<br />
sichergestellt, dass die Inhalte des Werks unmittelbar in der Praxis verwertbar sind und genau die<br />
Themen adressieren, die Berufsanfängern erfahrungsgemäß immer wieder Schwierigkeiten bereiten.<br />
Inhaltlich orientiert sich das Werk am tatsächlichen Ablauf eines Zivilprozesses, beginnend mit der<br />
außergerichtlichen Tätigkeit, die so praxisrelevante Fragen wie die Recherche nach den ladungsfähigen<br />
Anschriften der Beklagtenparteien, deren „Solvenz“ und die Auswahl des zuständigen Gerichts umfasst.<br />
Es folgen Darlegungen und Formulierungsvorschläge für das Verfahren in 1. und 2. Instanz sowie ein<br />
kurzer Abriss über das Revisionsverfahren aus Sicht des begleitenden Instanzanwalts sowie zum<br />
einstweiligen Rechtsschutz, zum Urkundenprozess und dem Mahnverfahren. Alle Darlegungen widmen<br />
sich spezifisch der anwaltlichen Perspektive und sparen nicht mit praxisrelevanten Tipps, Checklisten<br />
und hilfreichen Formulierungsvorschlägen. Das Werk ist für Einsteiger im Anwaltsberuf unbedingt zu<br />
empfehlen, aber auch für alle anderen Rechtsanwälte, die nur gelegentlich Zivilprozesse führen und ihre<br />
praktischen Kenntnisse auffrischen wollen, hervorragend geeignet. Prof. Dr. THOMAS RIEHM, Passau<br />
DUVE/EIDENMÜLLER/HACKE/FRIES, Mediation in der Wirtschaft. Wege zum professionellen<br />
Konfliktmanagement, 3. Aufl. 2019, Verlag Dr. Otto Schmidt, 400 S., 49,80 €<br />
Das Autorenquartett hat vor allen Dingen das Ziel, die Lesenden mit der Methode und dem Potenzial<br />
der Mediation als Instrument eines effektiven Konfliktmanagements bei Streitigkeiten in und<br />
zwischen Unternehmen vertraut zu machen. Zunächst möchte man meinen, dass der Adressatenkreis<br />
damit auf im Wirtschaftsrecht tätige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte oder Berater beschränkt<br />
sei. Dies ist jedoch mitnichten der Fall. Denn das in drei Teile gegliederte Werk sollte an sich für alle<br />
mit Konflikten befassten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte von Interesse sein. So werden die<br />
386 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Ursachen und Folgen von Konflikten, insb. der Konfliktverlauf, aufgefächert und veranschaulicht.<br />
Die Methode der Mediation wird griffig erklärt, zudem praxisgerecht mit dem im Anhang befindlichen<br />
Beispiel für die Eröffnungsworte begleitet. Besonders interessant dürfte auch sein, dass die<br />
Autoren eine Checkliste zur Organisation eines Mediationsverfahrens einerseits und andererseits<br />
zum Anforderungsprofil an einen Mediator oder Mediatorin eingestellt haben, um dieses Werkzeug<br />
der Konfliktbeilegung auch in die Beratungspraxis einzubringen. Das Buch begleitet eine Anzahl<br />
von Beispielen, die die Wirksamkeit der Mediation darstellen können (für eine Berlinerin natürlich<br />
besonders interessant: Flughafen Berlin-Brandenburg International, Beispiel 11, S. 174). Dass die<br />
Autoren sämtlich wissenschaftlich in der Konfliktforschung und praktisch mit der Mediation aktiv sind,<br />
lässt sich zwanglos am Literaturverzeichnis ablesen wie auch dem umfassenden Fußnotenapparat.<br />
Hierbei ist erfreulich, dass der Lesefluss des Buchteils durch die Fußnoten nicht unterbrochen wird,<br />
sondern eine kompakte Darstellung mit Zusammenfassungen am Kapitelende gelingt. So ist das<br />
umfassende Buch auch eine Fundgrube für Mediatoren, die schon mit den Beispielen ihre Perspektiven<br />
weiten und auf den aktuellen Stand der Konfliktforschung gebracht werden. Der interdisziplinäre<br />
Blick auf psychologische Hintergründe und Wirkmechanismen ist gelungen. Dieses Buch ist für alle (!)<br />
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ein „must read“. Denn es wird in der täglichen Beratungs- und<br />
Anwaltspraxis eine entscheidende Veränderung bewirken, verstärken, jedenfalls manifestieren –<br />
wenn es um Kommunikation und Konflikte geht.<br />
RAin und FAin für Straf- und Verkehrsrecht, zert. Mediatorin/Coach GESINE REISERT, Berlin<br />
Wirtschafts-/Urheber- und Medienrecht/Marken- und Wettbewerbsrecht<br />
SCHMITT/HERRMANN, Vertragsklauseln im Wirtschaftsrecht. Musterformulierungen mit<br />
Erläuterungen, 1. Aufl. 2019, C.H. Beck, 203 S., 59 €<br />
An der Uni lernen Jurastudenten zwar, welche Voraussetzungen ein wirksamer Vertrag erfüllen<br />
muss und wann Allgemeine Geschäftsbedingungen vorliegen – wie man diese Regelwerke gestaltet,<br />
das verrät einem allerdings niemand so richtig. Eine kautelarjuristische Tätigkeit ist regelmäßig<br />
„learning by doing“ bzw. „training on the job“. Und genau hier setzt dieses Werk an. Es ist in drei Teile<br />
gegliedert, wobei der erste Teil eine kurze, aber äußerst sinnvolle Einführung enthält, in welcher die<br />
grundlegenden Prinzipien (z.B. Transparenz, Umgehungsverbot oder auch Auslegungsgrundsätze)<br />
vermittelt werden. Anschließend behandelt der zweite Teil typische Vertragsklauseln, vom Vertragsschluss<br />
über Leistungsänderung, Gewährleistung oder auch Eigentumsvorbehalt bis hin zu den<br />
unvermeidlichen salvatorischen Klauseln. In insgesamt 30 Unterabschnitten findet sich in diesem<br />
Hauptteil jeweils ein Klauselmuster inklusive Erläuterungen zu einzelnen Aspekten; die Musterformulierungen<br />
sind jeweils unabhängig von speziellen Vertragstypen gestaltet. So gehen die Autoren<br />
beispielsweise in puncto Lieferzeit und Lieferverzug dezidiert auf den Beginn der Lieferfrist, den<br />
Lieferverzug sowie auf den Verzugsschaden ein. In dieser sehr informativen und zugleich praxisorientierten<br />
Weise werden die einzelnen Klauseln besprochen und in den meisten Fällen auch mit<br />
konkreten Lösungsansätzen, Regelungsalternativen und Praxisempfehlungen versehen. Zudem finden<br />
sich an der einen oder anderen Stelle auch immer mal wieder „Negativbeispiele“, die plakativ zeigen<br />
sollen, wie es eben nicht geht. Der dritte Teil des Werks stellt einzelne Besonderheiten in den<br />
Bereichen Arbeits- und Vertriebsrecht dar. Durch die im Werk mitgelieferten Musterformulierungen<br />
sowie die ergänzenden Hinweise können alle Textvorschläge sehr einfach an die individuellen<br />
Bedürfnisse angepasst werden. Da eine Vielzahl an Literatur und Rechtsprechung von Seiten der<br />
Autoren ausgewertet und im Buch verwendet wurde, gelangt der Leser zielsicher durch den<br />
Dschungel des Vertrags- bzw. AGB-Rechts und erhält am Ende die Möglichkeit, rechtssichere<br />
Verträge gestalten zu können. Schon aufgrund des absolut fairen Preis-Leistungs-Verhältnisses sollte<br />
dieses Werk in keiner anwaltlichen Literatursammlung fehlen – es sei denn, man hat mit der Gestaltung<br />
von Verträgen oder auch mit deren Prüfung überhaupt nichts zu tun.<br />
RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 387
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
DUDENBOSTEL/MARKOWSKI/OBERTHÜR/SCHLEGEL/SCHMID, Das arbeitsrechtliche Mandat: Arbeitsrecht<br />
bei Umstrukturierungen aus Arbeitnehmerperspektive, 1. Aufl. 2019, Deutscher Anwaltverlag,<br />
440 S., 54 €<br />
Das Fachbuch aus der Reihe „Das arbeitsrechtliche Mandat“ richtet sich primär an Anwälte, die<br />
entweder als Fachanwälte oder verstärkt im Bereich des Arbeitsrechts tätig sind. Es umfasst 440 Seiten<br />
und ist am 16.7.2019 im Deutschen Anwaltverlag in seiner ersten Auflage erschienen. Das Buch<br />
beleuchtet die arbeitsrechtlichen Folgen einer von Arbeitgeberseite geplanten Umstrukturierung und ist<br />
dabei in vier Hauptteile gegliedert. Blinkwinkel aller vier Teile ist, wie bereits der Titel verrät, die<br />
Arbeitnehmerperspektive. Dabei befassen sich die §§ 1 und 2 praxisnah mit kollektivrechtlichen Fragen<br />
einer Umstrukturierung, wobei § 3 eine umfangreiche Darstellung zu den Anforderungen an<br />
Massenentlassungen liefert. § 4 geht dann auf die individualrechtlichen Arbeitnehmerfragen bei einer<br />
betriebsbedingten Kündigung wegen Umstrukturierung ein. Das Buch schafft es, das komplexe Thema<br />
der Folgen einer Betriebsumstrukturierung für Betriebsräte und Arbeitnehmer umfassend aufzuarbeiten,<br />
wobei es sich im Aufbau an der Praxis orientiert und nicht nur schematisch dem Gesetzestext<br />
folgt. Vom Leser wird deshalb gerade in §§ 1 und 2 eine gewisse Vorkenntnis erwartet. Das ist allerdings<br />
auch dem Umstand geschuldet, dass ein Praktiker, der die Grundzüge des BetrVG nicht kennt,<br />
Schwierigkeiten damit haben wird, der praxisorientierten Struktur des Buches ohne Weiteres zu folgen.<br />
Sind die Grundkenntnisse beim Leser vorhanden, gehen die Autoren sehr detailliert auf die Einzelfragen<br />
ein und bearbeiten diese unter Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung erschöpfend. § 3 gibt einen<br />
umfassenden Einblick in das Thema „Massenentlassung“ und ist dabei nicht nur unter dem Gesichtspunkt<br />
der Unternehmensumstrukturierung von Interesse. Auf 55 Seiten vermag die Autorin das Thema<br />
umfänglich und absolut alltagstauglich darzustellen. Die betriebsbedingte Kündigung wird abschließend<br />
in § 4 ausgiebig durchleuchtet und in ihren Einzelheiten nicht nur unter dem Gesichtspunkt<br />
der Umstrukturierung, sondern allgemein leicht verständlich dargestellt. Praktikern, die sich mit Fragen<br />
der Unternehmensumstrukturierung konfrontiert sehen, kann das Buch nur empfohlen werden. Und<br />
wer allgemeine Fragen zur Massenentlassung oder betriebsbedingten Kündigung hat, wird hier<br />
ebenfalls fündig. RA und FA für Versicherungs- und Arbeitsrecht GEORG RUPPRECHT, LL.M., Bremen<br />
HENSSLER/GRAU (Hrsg.), Arbeitnehmerüberlassung, Solo-Selbstständige und Werkverträge,<br />
2. Aufl. <strong>2020</strong>, Deutscher Anwaltverlag, 470 S., 54 €<br />
Das Autorenteam um die Herausgeber Prof. Dr. MARTIN HENSSLER und Dr. TIMON GRAU stellt in vorliegender<br />
zweiter Auflage des Ratgebers ausführlich die durch den Koalitionsvertrag und neue Gesetze bedingte<br />
Fortentwicklung des Rechts der Arbeitnehmerüberlassung seit der AÜG-Reform von 2017 vor. Mit<br />
leichter Feder führen die Autoren den interessierten Leser gut verständlich durch die durchaus<br />
komplexen Themenfelder und geben ihm hilfreiche Lösungsansätze zur praktischen Handhabung des<br />
Fremdpersonaleinsatzes an die Hand. Kontroverse Rechtsansichten zu einzelnen Problemstellungen<br />
werden dabei ebenso aufgezeigt wie „der sichere Weg“ für den Anwalt. Wünschenswert wäre nur noch<br />
ein weiteres Kapitel betreffend die formalen Voraussetzungen der Erlaubniserteilung zur Arbeitnehmerüberlassung<br />
und die hier auftauchenden Problemstellungen. Dafür befasst sich eines der fünf Kapitel<br />
des Buches intensiv mit der in der Literatur sonst eher vernachlässigten, doch äußerst relevanten<br />
Thematik der Überlassung von (auch vermeintlichen) Solo-Selbstständigen (i.e. Freie Mitarbeiter) bei<br />
Dritten. Dem Leser wird hier mittels vier übersichtlicher Fallgruppen ein guter Überblick zur Lösung von<br />
arbeits-, sozial- und steuerrechtlichen Problemstellungen an die Hand gegeben. Zahlreiche Schaubilder,<br />
Checklisten und viele nützliche Praxisbeispiele runden das Werk ab. Fazit: Ein nach meinem Dafürhalten<br />
mehr als hilfreicher Ratgeber für den mit der Drittüberlassung von Mitarbeitern befassten Anwalt.<br />
Bestens für den Praktiker!<br />
RA BERND PONETSMÜLLER, München<br />
388 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
PAULY/OSNABRÜGGE/HUTH, Das arbeitsrechtliche Mandat: Teilzeit und geringfügige Beschäftigung,<br />
1. Aufl. 2019, Deutscher Anwaltverlag, 528 S., 69 €<br />
Das Fachbuch ist wie der oben besprochene Titel zum „Arbeitsrecht bei Umstrukturierungen“ Teil der<br />
Reihe „Das arbeitsrechtliche Mandat“, die sich primär an Praktiker richtet, die im Bereich des<br />
Arbeitsrechts tätig sind. Das 528 Seiten umfassende Buch ist dank seiner detaillierten Darstellung der<br />
besprochenen Rechtsgebiete aber auch für ein breiteres Kollegenfeld geeignet, gerade auch für<br />
diejenigen, die erst einmal einen Einstieg in die Thematik suchen. Inhaltlich gliedert sich das Buch in<br />
30 Paragrafen. In § 1 wird zunächst allgemein der Arbeitnehmerbegriff definiert. §§ 2 bis 12 befassen sich<br />
sodann umfänglich mit dem TzBfG, wobei die Untergliederungen jeweils klar abgetrennte Einzelthemen<br />
und Problemfelder des TzBfG behandeln. Dabei werden einzelne Gebiete, wie z.B. Urlaub, Mutterschutz<br />
und Elternzeit, erschöpfend besprochen, sodass die Lektüre nicht nur unter dem Gesichtspunkt der<br />
Teilzeitbeschäftigung von Vorteil ist, sondern insgesamt diese Themenbereiche sehr gut darstellt. Ab<br />
§ 13 befassen sich die Autoren mit den einschlägigen Nebengesetzen zur Reduzierung der Arbeitszeit<br />
und bleiben auch hier dem Aufbau treu, die einzelnen Themenbereiche verständlich voneinander<br />
abzutrennen. In § 18 wird auch die Neuregelung zur Arbeitszeitverlängerung berücksichtigt, die erst<br />
seit dem 1.1.2019 gilt, was der Aktualität des im August 2019 in erster Auflage erschienenen Buches<br />
zugutekommt. In den §§ 27 bis 29 wird dann auf den Themenbereich der geringfügigen Beschäftigung<br />
eingegangen, wobei gerade auch die sozialversicherungsrechtlichen und steuerlichen Aspekte leicht<br />
verständlich aufgearbeitet werden. In § 30 endet das Buch mit hilfreichen Mustern, Checklisten,<br />
Formularen und Übersichten. Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um ein hervorragendes Gesamtwerk,<br />
das sowohl als Nachschlagewerk in der alltäglichen Arbeit als auch als Lehrbuch für den<br />
Einstieg in die besprochenen Rechtsgebiete bestens geeignet ist. Dabei verstehen es die Autoren, nicht<br />
nur die Grundlagen präzise und klar darzustellen, sondern auch Spezialprobleme zu behandeln, die sogar<br />
der erfahrene Praktiker nicht ohne Weiteres in petto hat. Damit handelt es sich bei dem Werk um ein<br />
Buch, das dem Leser von den ersten Schritten im Arbeitsrecht bis zum Ende seiner arbeitsrechtlichen<br />
Tätigkeit ein wertvoller Begleiter sein kann.<br />
RA und FA für Versicherungs- und Arbeitsrecht GEORG RUPPRECHT, LL.M., Bremen<br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
GERCKE/LEIMENSTOLL/STIRNER, Handbuch Medizinstrafrecht, 1. Aufl. <strong>2020</strong>, Wolters Kluwer, 7<strong>08</strong> S., 99 €<br />
Die Autoren des nun in erster Auflage erschienenen „Handbuch Medizinstrafrecht“ GERCKE/LEIMENSTOLL/<br />
STIRNER weisen in ihrem Vorwort selbst darauf hin, dass das Medizinstrafrecht „lebt und bewegt“. Hierfür<br />
spreche nicht zuletzt der Umstand, dass es zwischenzeitlich sogar eine spezielle Fachzeitschrift<br />
(„medstra“), eine Vielzahl wegweisender höchstrichterlicher Entscheidungen in jüngerer Zeit und nicht<br />
zuletzt diverse Gesetzesnovellen bis hin zu einem Gesetz gegen Korruption im Gesundheitswesen<br />
(§§ 299a, 299b StGB) gebe. Dem ist zuzustimmen. Das Werk selbst weist eine klare Gliederung auf,<br />
wobei insb. die Unterteilung in die Abschnitte „Ärztliche (Heil-)Behandlung und strafrechtliche<br />
Verantwortlichkeit“ (klassisches Arztstrafrecht), „Wirtschaftsdelikte“ (Medizinwirtschaftsstrafrecht)<br />
und „Sonstige Delikte“ sinnvoll erscheint. Ein in der Praxis besonders wichtiger Aspekt, nämlich die<br />
„Außerstrafrechtlichen Folgen“, wird übersichtlich und weitgehend vollständig abgehandelt, wobei im<br />
Hinblick auf die „vertragsärztlichen Folgeverfahren“ der Schwerpunkt auf das Disziplinarverfahren<br />
und die Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung gelegt wird, Honorarregresse allerdings keine<br />
Erwähnung finden. Dies wäre im Rahmen einer zweiten Auflage sicher zu ergänzen. Erfreulich ist, dass<br />
auch dem zunehmend an Bedeutung gewinnenden Thema „Compliance“ ein Abschnitt gewidmet ist.<br />
Die Ausführungen dazu geben dem Praktiker gute Hinweise insb. auch zur „Notwendigkeit der<br />
Implementierung eines Compliance-Management-Systems“. Wie eingangs bereits angeführt, erfreut<br />
sich das Medizinstrafrecht derzeit großer Beachtung. Das vorliegend zu besprechende Handbuch stellt<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 389
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
insofern eine erfreuliche Ergänzung der bislang verfügbaren Literatur dar. Dies gilt umso mehr, als das<br />
bisherige Standardwerk von ULSENHEIMER bereits etwas in die Jahre gekommen ist. Diejenigen Praktiker,<br />
die sich mit medizinstrafrechtlichen Fällen zu befassen haben, ob als Rechtsanwalt, Staatsanwalt oder<br />
Kammerjurist, werden das Werk künftig regelmäßig zur Hand nehmen.<br />
RA und FA für Medizin- und Strafrecht Dr. ALEXANDER DORN, Mainz<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
BORGMANN/JUNGK/SCHWAIGER, Anwaltshaftung. Systematische Darstellung der Rechtsgrundlagen für<br />
die anwaltliche Berufstätigkeit, 6. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck, 672 S., 119 €<br />
Die Erstauflage dieses Werks erschien bereits 1979, es hat also gute 40 Jahre Entwicklung im Bereich der<br />
Anwaltshaftung mitgemacht. In dieser Zeit hat es deutlich vom Umfang her zugelegt, was nicht zuletzt<br />
natürlich an den Veränderungen des anwaltlichen Berufsrechts und der Fülle an gerichtlichen<br />
Entscheidungen liegt. Der Inhalt sollte eigentlich Standard-Basiswissen für Rechtsanwälte sein, was<br />
allerdings auch heutzutage noch immer nicht in ausreichendem Maße der Fall ist. Aus diesem Grund ist<br />
der Stoff nahezu als Pflichtlektüre zu betrachten. Denn dieses Werk behandelt nicht nur die Fälle, in<br />
denen etwas schiefgelaufen ist, in denen Fehler passiert sind. Nach einem kurzen Überblick über die<br />
Stellung des Anwalts sowie einer Abgrenzung zu vergleichbaren Berufen (z.B. Notaren), erfolgt eine<br />
dezidierte Ausarbeitung der vertraglichen Grundlagen in der Beziehung zum Mandanten sowie der<br />
daraus resultierenden anwaltlichen Pflichten. Nachdem also aufgezeigt wird, wie es eigentlich laufen<br />
soll, folgen gleich im Anschluss Ausführungen zur Haftung aus dem Mandatsverhältnis, gegenüber<br />
Dritten und für andere Personen, wie beispielsweise für Mitgesellschafter oder für Angestellte. Man ist<br />
geneigt zu sagen, dass selbstverständlich auch Informationen rund um die Berufshaftpflichtversicherung<br />
nicht fehlen. Abgerundet wird der erste Teil des Werks von nützlichem Hintergrundwissen zu<br />
den praxisrelevanten Beweis- und Verjährungsfragen. Der zweite Teil behandelt dagegen die typischen<br />
gerichtlichen und außergerichtlichen Haftungsfallen, sowohl materiellrechtlicher als auch prozessrechtlicher<br />
Natur. Damit kristallisiert sich insb. dieser zweite Part des Werks als besonders wertvoll heraus.<br />
Nicht zuletzt aufgrund der enorm langen Präsenz auf dem Markt kann dieses Buch wohl als<br />
Standardwerk zum Thema Anwaltshaftung bezeichnet werden. Diesen Reichtum an Erfahrung merkt<br />
man ihm auch wohltuend an, es wird sich auf das Wesentliche und praktisch Bedeutsame konzentriert.<br />
Vielleicht würden aber Formulierungsbeispiele bzw. -muster, etwa für Klauseln in Mandatsbedingungen<br />
oder für Antwortschreiben auf Regressforderungen, in einer der kommenden Auflagen einen willkommenen<br />
Zusatz bedeuten. Aber das ist „Jammern auf hohem Niveau“, bereits jetzt kann, nein muss<br />
man mit diesem Werk insgesamt äußerst zufrieden sein. Die Investition des Kaufpreises lohnt sich auf<br />
jeden Fall – und das nicht erst, wenn „das Kind schon in den Brunnen gefallen“ ist.<br />
RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />
BÖS/JURKAT/NEIE/STRANGMÜLLER, Praxishandbuch für Notarfachangestellte, 4. Aufl. 2019, <strong>ZAP</strong> Verlag,<br />
2.240 S., 99 €<br />
Was spricht mehr und überzeugender für ein Fachbuch als die Nachfrage aus dem Adressatenkreis an<br />
den Notar, ob man die soeben erschienene Neuauflage des Praxishandbuchs für Notarfachangestellte<br />
nicht umgehend bestellen könne? In der Tat hat das nunmehr in der 4. Auflage mit erweitertem und<br />
bearbeitetem Umfang erschienene Werk sich eine beachtliche Fangemeinde – völlig zu Recht –<br />
geschaffen. Dies ist allerdings nicht nur eine Freude für die Notarfachangestellten, den im Titel<br />
angesprochenen Adressatenkreis, sondern auch für die Notare und Anwaltsnotare, die durch die mit<br />
diesem Buch weitestgehend selbstständig arbeitenden Mitarbeiter zunehmend und zuverlässig<br />
entlastet werden. Und wenn der „Kanzleiinhaber“ selbst auf die Schnelle etwas sucht, sind auch für<br />
ihn eine Lösung oder weitere Hinweise vorzufinden. Nach der letzten – dritten – Auflage vor zwei<br />
Jahren verdienen insb. die Gesellschafterlistenverordnung, die Neufassung des Geldwäschegesetzes mit<br />
Schaffung des Transparenzregisters und die Zulässigkeit des Online-Bankings bei Notar-Anderkonten<br />
aufgrund entsprechender Änderung des § 27 DONot besondere Aufmerksamkeit. Beeindruckend sind<br />
390 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
die zahlreichen Musterformulierungen. Die Klippen und Untiefen des notariellen Kostenrechts finden in<br />
dem Buch einen zuverlässigen Navigator. Oftmals heißt es, die Praxistauglichkeit eines Fachbuchs hänge<br />
auch von der sorgfältigen Bearbeitung des Stichwortverzeichnisses ab. Auch hier setzt die 4. Auflage<br />
wieder Maßstäbe. Alles in allem ein Werk, das man nicht nur seinen Mitarbeitern, sondern auch sich<br />
selbst schnellstens „gönnen“ sollte.<br />
RA und Notar HERBERT P. SCHONS, Duisburg<br />
COSACK, Digitalisierung erfolgreich umsetzen. Ein Leitfaden für jede Anwaltskanzlei, 1. Aufl. 2019,<br />
Deutscher Anwaltverlag, 256 S., 39 €<br />
Der Untertitel dieses Werks lautet: „Ein Leitfaden für jede Anwaltskanzlei“ –und genau das bekommt<br />
man auch. Das Vorwort der Autorin startet völlig zu Recht mit dem bekannten Spruch „Wer nicht mit<br />
der Zeit geht, geht mit der Zeit“. Und um das zu verhindern, geleitet dieses Werk seine Leser zielsicher<br />
durch die Planung, Umstellung und die Prozesse der Digitalisierung in einer Rechtsanwaltskanzlei. Das<br />
Werk startet mit einer kurzen Einführung in die Thematik, nennt die verschiedenen Vorteile und<br />
Möglichkeiten der Digitalisierung für Anwälte, für Mitarbeiter und letztlich auch für (potenzielle)<br />
Mandanten. Anschließend erfolgt ein kurzer Überblick über die notwendigen Schritte, bevor das Werk<br />
dann zum „Kern der Sache“ vorstößt – praktische Lösungsvorschläge zur Umsetzung in der Kanzlei.<br />
Zentraler Aspekt ist hierbei natürlich das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), dessen aktive<br />
Nutzungspflicht spätestens ab dem 1.1.2022 für alle Anwälte verpflichtend wird. Allerdings ist das beA<br />
nicht der einzige Aspekt, den man in diesem Kontext beachten sollte. Die digitale Kommunikation mit<br />
Mandanten, beispielsweise via E-Mail, Social Media, Chatbots oder Messenger, die diversen Legal-Tech-<br />
Angebote und letztlich auch effiziente Arbeitsabläufe in der Kanzlei sollten ebenfalls nicht unter den<br />
Tisch fallen. Weiter geht es dann mit „best practice“-Vorschlägen anhand von konkreten Fallbeispielen<br />
verschiedener Anwälte bzw. Kanzleien. Dabei wird sinnvollerweise unterschieden zwischen Einzelanwälten<br />
und kleineren Kanzleien, mittelständischen Kanzleien sowie größeren und international<br />
tätigen Kanzleien. Denn der Digitalisierungsprozess kann naturgemäß nicht überall gleich ablaufen,<br />
bedingt durch die individuellen Anforderungen, unterschiedliche Tätigkeitsfelder bzw. einen unterschiedlichen<br />
Mandantenstamm und letztlich auch aufgrund verschiedener finanzieller Möglichkeiten.<br />
Abschließend gibt es noch gezielte Handlungsempfehlungen sowie eine umfangreiche Checkliste.<br />
Abgerundet wird das wirklich lesenswerte Buch dann mit einer Übersicht u.a. von wichtigen Personen,<br />
Adressen und Websites. Mit Blickrichtung auf die beA-Verpflichtung spätestens ab 2022 ist dieses Werk<br />
im Grunde für jeden Anwalt ein Muss, der sich bislang noch nicht ausreichend oder sogar noch<br />
überhaupt nicht mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt hat. Für relativ kleines Geld bekommt<br />
man hier einen wertvollen Leitfaden an die Hand, der gute und praxisrelevante Lösungsvorschläge<br />
bereithält.<br />
RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />
SASSENBERG/FABER (Hrsg.), Rechtshandbuch Industrie 4.0. und Internet of Things. Praxisfragen und<br />
Perspektiven der digitalen Zukunft, 2. Aufl. <strong>2020</strong>, C.H. Beck/Vahlen, 798 S., 189 €<br />
„Heute schon an morgen denken“ –das klingt natürlich in erster Linie nach einem Werbespruch,<br />
beschreibt das Thema dieses Werks aber in zutreffender Weise. Für nicht gerade wenig Geld erhält<br />
man hier jedoch auch nicht gerade wenig Fachwissen. Das Thema Industrie 4.0 bzw. Internet of Things<br />
(IoT) geht uns letztlich alle an, auch wenn man kein Ingenieur in der Energiewirtschaft (Stichwort:<br />
„smart grids“, also schlaue Netze) oder spezialisierter Rechtsanwalt ist. Es gibt jetzt bereits zahlreiche<br />
sog. „Smart Home“-Produkte, also z.B. die im WLAN eingebundene Glühbirne, der selbsttätig bestellende<br />
Kühlschrank oder das per App steuerbare Heizungsthermostat. Die Themen Digitalisierung<br />
und Automatisierung sind im Industriesektor noch viel wichtiger und zugleich brisanter als im<br />
Privatbereich. Dieses umfassende Rechtshandbuch beleuchtet die Materie eingehend von nahezu allen<br />
Seiten. Ein Schwerpunkt wird dabei auf die Behandlung von typischen Rechtsfragen gelegt. Es werden<br />
also Aspekte wie Datenschutz, IT-Sicherheit, Arbeitsrecht oder auch Telekommunikationsrecht behandelt.<br />
Ein weiterer, praktisch sehr bedeutsamer Gesichtspunkt ist die Vertragsgestaltung bzw. das<br />
Momentum des Vertragsschlusses. Auch wenn das Hauptaugenmerk auf dem Verhältnis von<br />
Unternehmen zu Unternehmen (Business-to-Business, kurz: B2B) liegt, geht das Werk an einigen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 391
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Stellen auch auf Besonderheiten gegenüber Verbrauchern (Business-to-Consumer, kurz: B2C) ein.<br />
Darüber hinaus werden die Besonderheiten ausgewählter Branchen behandelt, u.a. die Autoindustrie,<br />
der Energiesektor, die Versicherungswirtschaft, die Finanzbranche oder auch die Aviation (unbemannte<br />
Luftfahrzeuge, also Drohnen & Co.). Zu guter Letzt fehlt auch die internationale Perspektive nicht, es<br />
gibt jeweils ein Überblickskapitel zur Regulierung in Europa und in den USA. Es liegt in der Natur<br />
der Sache, dass die Darstellung der juristischen Inhalte auch die Erläuterung der technischen<br />
Grundlagen in Bezug nehmen muss, weil ansonsten das Verständnis auf Seiten der Leser nicht zu gewährleisten<br />
wäre. Daher erfährt der geneigte Leser „nebenbei“ auch etwas über Künstliche Intelligenz<br />
(KI), Machine Learning oder Blockchain. Neben der ausführlichen und sehr gut verständlichen<br />
Behandlung der Materie enthält dieses Werk diverse Beispiele, Praxistipps, Checklisten und auch<br />
Schaubilder, wodurch die Darstellung umso anschaulicher wird. Zudem warten die Autoren an zahlreichen<br />
Stellen mit konkreten Lösungsansätzen auf. Ein Muss für alle Juristen, die auf den bezeichneten<br />
Gebieten tätig sind.<br />
RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />
SPECHT-RIEMENSCHNEIDER/WERRY/WERRY (Hrsg.), Datenrecht in der Digitalisierung, 1. Aufl. 2019, Erich<br />
Schmidt Verlag, 1.0<strong>08</strong> S., 134 €<br />
Die zentrale Frage, die sich stellt, wenn man den Titel dieses Werks liest, zielt auf den doch eher<br />
unbekannten Begriff „Datenrecht“ ab. Was es damit auf sich hat, wird bereits im Rahmen des Vorworts<br />
(„Datenrecht – Ein Definitionsversuch“) erläutert. Daten sind unkörperlich und unterliegen damit<br />
unterschiedlichen Problemen tatsächlicher wie rechtlicher Natur. Die Autoren sehen das Datenrecht als<br />
Querschnittsmaterie an, wobei die Daten als einendes Element angesehen werden können. Ein Blick ins<br />
Inhaltsverzeichnis zeigt auf, welche Rechtsgebiete als Teil des Datenrechts in diesem Werk behandelt<br />
werden. Nach einer kurzen rechtspolitischen Einordnung findet sich zunächst – schon erwartungsgemäß<br />
– das Datenschutzrecht. Es folgen Kapitel zu Vermögensrechten an Daten, vertragsrechtlichen<br />
Aspekten, Haftungsfragen sowie zum Problemkreis von Datenbeständen in der Zwangsvollstreckung<br />
bzw. der Insolvenz. Darüber hinaus aber auch Themen wie z.B. Privacy Paradox, Kryptowährungen oder<br />
digitale Geschäftsmodelle eingehend unter die Lupe genommen. Insgesamt ist der Ansatz dieses Werks,<br />
personenbezogene und andere Arten von Daten in den Fokus zu stellen und die einschlägigen<br />
Rechtsprobleme zu erörtern, innovativ und äußerst spannend. Denn im Zeitalter der Digitalisierung, in<br />
dem das Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz (KI), dezentrale Netzwerke sowie Blockchain- und<br />
ähnliche Technologien immer mehr an Bedeutung gewinnen, ist die Frage „Wem gehören welche<br />
Daten?“ ganz entscheidend. Das Werk hält nicht nur juristische Einordnungen der verschiedenen<br />
Problemstellungen bereit, sondern erläutert sozusagen „nebenbei“ auch noch auf verständliche Art und<br />
Weise diverse Technologien, etwa einzelne Formen des Onlinemarketings, Verschlüsselungsmethoden<br />
oder auch Kryptowährungen. Dabei ist es durchaus von Vorteil, dass über 30 spezialisierte Autoren an<br />
diesem Werk mitgearbeitet haben. Denn die Frage der Haftung bei Schäden durch selbst-fahrende<br />
Autos erfordert ein (technisches und juristisches) Fachwissen auf einem anderen Sektor als die Frage<br />
nach dem Phänomen, dass die Verbreitung von Daten durch die Nutzung von Onlineshops oder auch<br />
von sozialen Medien dem zugleich gestiegenen, subjektiven Verlangen nach mehr Datenschutz<br />
scheinbar unerklärlich gegenübersteht. Checklisten oder Musterformulierungen finden sich keine in<br />
diesem Werk, allerdings lockern einige Praxishinweise und Abbildungen die Ausführungen auf den über<br />
1.000 Seiten auf. Im Vordergrund steht die eingehende und möglichst umfassende Darstellung<br />
einschlägiger Rechtsgebiete bzw. -probleme. Wer als Rechtsanwalt in einem oder gar mehreren der<br />
hier behandelten Bereichen tätig ist und auch für die Fragen der Zukunft gerüstet sein will, kommt an<br />
diesem Werk sicherlich nicht vorbei.<br />
RA MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />
392 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 49<br />
Rechtsprechung<br />
aktuell und kompakt<br />
Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zur <strong>ZAP</strong> Rechtsprechung können Sie online kostenlos bei<br />
unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />
finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />
schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />
und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />
Allgemeines Zivilrecht<br />
Arztbrief: Einfache postalische Übersendung<br />
(OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.3.<strong>2020</strong> – 7 U 10/19) • Die postalische Übersendung eines Arztbriefs stellt ein<br />
gängiges Mittel zur Aufrechterhaltung des Informationsflusses dar. Es ist nicht zumutbar, sich bei jedem<br />
Arztbrief zu vergewissern, dass dieser ankommt. Anders verhält es sich nur, wenn aus früheren Fällen<br />
Probleme bei der Zustellung bekannt sind oder wenn ein hochpathologischer Befund mitzuteilen ist, der<br />
weitere zeitliche Behandlungsschritte erforderlich macht. Der Zweck des Krebsregistergesetzes besteht<br />
darin, eine für die wissenschaftliche Krebsforschung nötige Datenbasis zu schaffen, nicht in einer<br />
therapeutischen Behandlungsoptimierung. Hinweis: Ein Patient hat einen Anspruch auf Unterrichtung<br />
über die im Rahmen einer ärztlichen Behandlung erhobenen Befunde und Prognosen. Das gilt in<br />
besonderem Maße, wenn ihn erst die zutreffende Information in die Lage versetzt, eine medizinisch<br />
gebotene Behandlung durchführen zu lassen (Therapeutische Aufklärung/Sicherungsaufklärung). Es ist ein<br />
(schwerer) ärztlicher Behandlungsfehler, wenn der Patient über einen bedrohlichen Befund, der Anlass zu<br />
umgehenden und umfassenden ärztlichen Maßnahmen gibt, nicht informiert und ihm die erforderliche<br />
ärztliche Beratung versagt wird (BGH NJW 2018, 3382 ff., Tz. 11, juris). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 185/<strong>2020</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Dieselskandal Motor EA 189: Anrechnung gezogener Nutzungsvorteile<br />
(OLG Stuttgart, Urt. v. 30.1.<strong>2020</strong> – 2 U 306/19) • Im Rahmen des Schadenersatzanspruchs muss sich der<br />
Geschädigte (Käufer) gezogene Nutzungen anrechnen lassen. Ein Zinsanspruch aus § 849 BGB besteht<br />
nicht, wenn der Geschädigte (Käufer) im Gegenzug für die Hingabe des Geldes eine als gleichwertig<br />
anzusehende Nutzungsmöglichkeit eines Gegenstandes erhalten hat. Bei einer vorgerichtlichen Zuvielforderung<br />
fehlt es an dem für den Schuldnerverzug erforderlichen Verschulden, wenn der Schuldner die<br />
wirklich geschuldete Forderung nicht berechnen kann, weil sie von ihm unbekannten internen Daten des<br />
Gläubigers (hier: aktueller km-Stand) abhängt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 186/<strong>2020</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Unterbrechung der Gas- und Stromversorgung: Schadenersatzansprüche<br />
(OLG Düsseldorf, Urt. v. 12.2.<strong>2020</strong> – 27 U 8/19) • Es ist nicht anzunehmen, dass eine Versorgungsunterbrechung<br />
bei der Gas- und Stromversorgung bereits einen Tag später zu einer Erkältungserkrankung<br />
führt und dass die Ursache für die Erkältung nicht auch in einer Ansteckung durch andere<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 393
Fach 1, Seite 50 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Personen liegen kann. Ein Defekt an einem Gasfeuerungsautomat zwei Wochen nach der Versorgungsunterbrechung<br />
lässt nicht den sicheren Rückschluss auf eine Mitursächlichkeit der Versorgungsunterbrechung<br />
zu. Praxishinweis: Eine Leistungsklage ist die vorrangige Rechtsschutzmöglichkeit vor einer<br />
Feststellungsklage. Die Bezifferung eines Schadens ist auch möglich, wenn die Dauer der Arbeitsunfähigkeit<br />
und des Kanzleibetriebsausfalls feststeht und auch die Rechnung für die Erneuerung des<br />
Heizgeräts vorliegt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 187/<strong>2020</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Prüfungsumfang eines Projektsteuerers: Schimmelpilzsanierung<br />
(OLG Celle, Urt. v. 11.3.<strong>2020</strong> – 14 U 32/16) • Bei der Prüfung eines Sanierungskonzeptes zur Beseitigung von<br />
Schimmelpilzbefall in einem geschlossenen Rohbau sind Schimmelpilz- und Schimmelpilzsanierungsleitfäden<br />
zu Rate zu ziehen, auch wenn sie keine allgemein anerkannten Regeln der Technik sind, weil sie<br />
das derzeit einzige Regelwerk bilden, das die wesentlichen Erkenntnisse von Medizinern und Biologen<br />
zum Schimmelpilzbefall und seiner Beseitigung darstellen. Die Pflichten eines Projektsteuerers – auch in<br />
Abgrenzung zu einem mit der Bauüberwachung beauftragten Architekten – bestimmen sich nach den<br />
im Einzelfall getroffenen vertraglichen Vereinbarungen der Parteien des Projektsteuerungsvertrags.<br />
Wenn der Projektsteuerer typische Architektenziele der Bauüberwachung und Qualitätskontrolle der<br />
Ausführungsleistung übernimmt und zusagt, auf die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der<br />
Technik zu achten, und bei der Auswahl einer geeigneten Sanierungsmethode zur Beseitigung von<br />
Schimmelpilzbefall in einem geschlossenen Rohbau eines Schulgebäudes keine Bedenken gegen ein<br />
Sanierungskonzept anmeldet, das die Empfehlungen des Schimmelpilzsanierungsleitfadens missachtet,<br />
haftet er gesamtschuldnerisch neben dem Architekten auf Schadenersatz.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 188/<strong>2020</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Pferdekauf: Baldige Erkrankung<br />
(BGH, Urt. v. 30.10.2019 – VIII ZR 69/18) • Der Verkäufer eines Tiers hat, sofern eine anderslautende<br />
Beschaffenheitsvereinbarung nicht getroffen wird, (lediglich) dafür einzustehen, dass das Tier bei<br />
Gefahrübergang nicht krank ist und sich auch nicht in einem (ebenfalls vertragswidrigen) Zustand<br />
befindet, aufgrund dessen bereits die Sicherheit oder zumindest die hohe Wahrscheinlichkeit besteht,<br />
dass es alsbald erkranken wird (Bestätigung von BGH, Urt. v. 18.10.2017 – VIII ZR 32/16, NJW 2018, 150<br />
Rn 26 m.w.N.) und infolgedessen für die gewöhnliche (oder die vertraglich vorausgesetzte) Verwendung<br />
nicht mehr einsetzbar wäre. Demgemäß wird die Eignung eines klinisch unauffälligen Pferdes für die<br />
gewöhnliche oder die vertraglich vorausgesetzte Verwendung als Reitpferd nicht schon dadurch<br />
beeinträchtigt, dass aufgrund von Abweichungen von der „physiologischen Norm“ eine (lediglich) geringe<br />
Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass das Tier zukünftig klinische Symptome entwickeln wird,<br />
die seiner Verwendung als Reitpferd entgegenstehen (Bestätigung von BGH, Urt. v. 7.2.2007 – VIII ZR<br />
266/06, NJW 2007, 1351 Rn 14; v. 18.10.2017 – VIII ZR 32/16, a.a.O. Rn 24). Hinweis: Diese Grundsätze<br />
gelten auch für folgenlos überstandene Krankheiten und Verletzungen, wie ausgeheilte Rippenfrakturen<br />
eines als Reittier verkauften erwachsenen Pferdes, das nach Ablauf des Heilungsprozesses klinisch<br />
unauffällig ist. Weder kommt es insoweit darauf an, ob die vollständig ausgeheilten Rippenfrakturen auf<br />
einem „traumatischen Ereignis“ beruhen, noch kann die Verletzung eines Tiers in jeder Hinsicht einem<br />
Schaden an einer Sache, etwa einem Kfz, gleichgestellt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 189/<strong>2020</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Grundstückskaufvertrag: Vereinbarung einer Nutzungsbeschränkung<br />
(BGH, Urt. v. 11.10.2019 – V ZR 7/19) • Eine Vereinbarung, mit der die Parteien eines Grundstückskaufvertrags<br />
die Möglichkeit zur Nutzung des Grundstücks beschränken (hier: Verbot der Milchverarbeitung),<br />
394 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 51<br />
führt nicht zu einer Änderung oder Neubegründung von Erwerbs- oder Veräußerungspflichten und ist<br />
daher nach bindend erklärter Auflassung formlos möglich. Hinweis: Die Vereinbarung hatte folgenden<br />
Inhalt: „Der Käufer verpflichtet sich, auf dem Kaufgrundstück zeitlich unbeschränkt keine Verarbeitung von Milch<br />
vorzunehmen. Dieses Verbot gilt für die Milch von Kühen, Schafen und Ziegen. Das Verbot trifft den Käufer als<br />
Eigentümer dieses Grundstücks und das Verbot gilt insb. auch für etwaige Mieter oder Pächter des Grundstücks sowie<br />
für jeden Rechtsnachfolger des Käufers.“ <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 190/<strong>2020</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Überbreite und große Masse eines Fahrzeugs: Haftungsverhältnis aus erhöhter Betriebsgefahr<br />
(OLG Celle, Urt. v. 4.3.<strong>2020</strong> – 14 U 182/19) • Bei Dunkelheit auf einer nur 4,95 m breiten Straße ohne<br />
Fahrbahnmarkierungen und nicht befestigtem Seitenstreifen sowie erkennbaren Gegenverkehr (landwirtschaftliches<br />
Gespann mit Überbreite) in einer leichten Rechtskurve ist gem. § 3 Abs. 1 S. 5 StVO auf<br />
halbe Sicht zu fahren. Wer ein landwirtschaftliches Gespann mit Überbreite auf einer schmalen Straße, die<br />
er befahren darf, so weit nach rechts steuert, wie es tatsächlich möglich ist, verstößt nicht gegen § 1 Abs. 2<br />
StVO. Kommt es im Begegnungsverkehr auf einer nur 4,95 m breiten Straße ohne Fahrbahnmarkierungen<br />
bei Dunkelheit zu einer Kollision … mit einem Pkw, der die Fahrbahnmitte grundlos leicht überschreitet, so<br />
tritt die Haftung aus Betriebsgefahr für das landwirtschaftliche Gespann nicht zurück, sondern fließt mit<br />
30 % in die Haftungsquote gem. § 17 Abs. 1 StVG ein. Hinweis: Das klägerische Gespann wies eine Breite<br />
von 2,95 m auf bei einer Masse von 18.000 kg. Im Gegenverkehr steuerte die Versicherungsnehmerin der<br />
Beklagten einen Skoda Fabia mit einer Geschwindigkeit von 75–85 km/h. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 191/<strong>2020</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Rechtsschutzversicherung: Auskunftsanspruch gegen beauftragten Rechtsanwalt<br />
(BGH, Urt. v. 13.2.<strong>2020</strong> – IX ZR 90/19) • Dem Rechtsschutzversicherer, der einen Prozess vorfinanziert hat,<br />
steht zur Ermittlung eines möglichen Herausgabeanspruchs ein Auskunftsanspruch gegen den durch<br />
seinen Versicherungsnehmer beauftragten Rechtsanwalt zu. Finanziert der Rechtsschutzversicherer mit<br />
Einverständnis seines Versicherungsnehmers einen Prozess und überlässt der Mandant dem beauftragten<br />
Rechtsanwalt den Verkehr mit dem Rechtsschutzversicherer, ist von einer konkludenten Entbindung des<br />
Rechtsanwalts von der Verschwiegenheitsverpflichtung durch den rechtsschutzversicherten Mandanten<br />
auszugehen, soweit es die Abrechnung des Mandats betrifft. Hinweis: Leistet der Prozessgegner an den<br />
von dem Versicherungsnehmer beauftragten Rechtsanwalt Zahlungen, so geht der vertragliche Anspruch<br />
des Versicherungsnehmers auf Herausgabe des Erlangten aus §§ 675 Abs. 1, 667 BGB gegen seinen<br />
Rechtsanwalt gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf den Rechtsschutzversicherer über. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 192/<strong>2020</strong><br />
Familienrecht<br />
Paritätisches Wechselmodell: Kontinuitätsgrundsatz<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.2.<strong>2020</strong> – 5 UF 6/20) • Der gerichtlichen Anordnung eines paritätischen<br />
Wechselmodells steht i.d.R. der Kontinuitätsgrundsatz entgegen, wenn die Eltern zuvor eine außergerichtliche<br />
Umgangsvereinbarung mit einem nicht ganz so weitgehenden Umgangsrecht des nicht<br />
betreuenden Elternteils getroffen hatten und diese auch praktiziert worden ist. Hinweis: Haben die Eltern<br />
in noch nicht weit zurückliegender Zeit eine einvernehmliche Regelung zum Umgangsrecht getroffen,<br />
sprechen i.d.R. unter Kindeswohlgesichtspunkten triftige Gründe für eine Beibehaltung der vereinbarten<br />
Besuchskontakte, wie z.B. Kontinuitätsgesichtspunkte und das Vertrauen des Kindes in die Verlässlichkeit<br />
getroffener Regelungen (OLG Köln, Beschl. v. 15.3.2012 – II-4 UF 18/12, 4 UF 18/12, juris LS 2). Denn eine im<br />
elterlichen Konsens getroffene Entscheidung lässt vermuten, dass sie dem Kindeswohl entsprochen hat<br />
und noch entspricht (vgl. BGH, Beschl. v. 16.3.2011 – XII ZB 407/10, juris Rn 77 ff.).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 193/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 395
Fach 1, Seite 52 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Auslegung von Testamenten: Nichterwähnung eines Erbprätendenten<br />
(OLG München, Beschl. v. 19.2.<strong>2020</strong> – 31 Wx 231/17) • In der Nichterwähnung eines Erbprätendenten im<br />
Rahmen einer Testierung, die sich auf die Zuwendung von einzelnen Nachlassgegenständen beschränkt,<br />
ohne dass eine Gesamtverteilung des Nachlasses erfolgt, ist dessen (etwaige) Enterbung durch den<br />
Erblasser nicht angedeutet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 194/<strong>2020</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Fristgerechte Berufungsbegründung: Eidesstattliche Versicherung<br />
(BGH, Beschl. v. 28.1.<strong>2020</strong> – VI ZB 38/17) • Wenn das Berufungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass die<br />
anwaltliche und eidesstattliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten einer Partei keinen vollen<br />
Beweis für die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung erbringt, hat es die Partei darauf<br />
hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel<br />
zurückzugreifen (st. Rspr., vgl. nur Senatsbeschl. v. 8.5.2007 – VI ZB 80/06, NJW 2007, 3069; BGH,<br />
Beschl. v. 16.1.2007 – VIII ZB 75/06, NJW 2007, 1457). Allein der Hinweis, dass das Berufungsgericht im<br />
Freibeweisverfahren entscheiden will, genügt dafür nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 195/<strong>2020</strong><br />
Anerkenntnis: Unschlüssige Klage<br />
(BGH, Beschl. v. 16.1.<strong>2020</strong> – V ZB 93/18) • Erkennt die beklagte Partei den Klageanspruch an, ist für die<br />
Kostenentscheidung nach § 93 ZPO grds. nicht zu prüfen, ob die Klage im Zeitpunkt des Anerkenntnisses<br />
schlüssig und begründet war. Die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugelassene Ausnahme,<br />
wonach die beklagte Partei trotz Verstreichenlassens der Klageerwiderungsfrist noch mit der<br />
Wirkung des § 93 ZPO anerkennen kann, wenn die Klage zunächst in unschlüssiger Weise erhoben<br />
wurde, setzt voraus, dass der Kläger diesen Mangel durch ergänzten Sachvortrag vor dem Anerkenntnis<br />
behoben hat. Sie gilt nicht, wenn die beklagte Partei den geltend gemachten Anspruch bei unverändert<br />
gebliebenem Klagevorbringen anerkennt (Abgrenzung zu BGH, Beschl. v. 3.3.2004 – IV ZB21/03, NJW-<br />
RR 2004, 999; Beschl. v. 1.2.2007 – IX ZB 248/05, NZI 2007, 283). Hinweis: Auch die beklagte Partei, die<br />
auf die Geltendmachung eines Anspruchs schweigt, kann nach den Umständen des Einzelfalls<br />
Veranlassung zur Klage geben (vgl. OLG Hamburg, GRUR-RR 2007, 175; OLG München, OLGR 2000,<br />
229, 230; OLG Stuttgart, NJW-RR 2012, 763; BeckOK ZPO/JASPERSEN [1.3.2019], § 93 Rn 34; MüKoZPO/<br />
SCHULZ, 5.Aufl., § 93 Rn 8; LOOF, JurBüro 20<strong>08</strong>, 65, 68). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 196/<strong>2020</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Verbindlichkeiten aus unerlaubter Handlung: Keine Stundung von Verfahrenskosten<br />
(BGH, Beschl. v. 13.2.<strong>2020</strong> – IX ZB 39/19) • Verbindlichkeiten des Schuldners aus einer vorsätzlich begangenen<br />
unerlaubten Handlung i.H.v. mehr als 1.800.000 € schließen eine Stundung der Verfahrenskosten aus.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 197/<strong>2020</strong><br />
Eröffnetes Insolvenzverfahren: Anscheinsbeweis<br />
(BGH, Beschl. v. 6.2.<strong>2020</strong> – IX ZR 5/19) • Es spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass in dem eröffneten<br />
Verfahren die Insolvenzmasse nicht ausreicht, um alle Gläubigeransprüche zu befriedigen. Dabei sind auch<br />
die Forderungen einzubeziehen, denen der Insolvenzverwalter widersprochen hat, weil nach der Lebenserfahrung<br />
die Möglichkeit besteht, dass jener Widerspruch durch eine Feststellungsklage (§ 179 InsO)<br />
beseitigt werden kann. Greift der Anscheinsbeweis ein, muss der Anfechtungsgegner nachweisen, dass die<br />
angemeldeten Forderungen nicht bestehen oder nicht durchsetzbar sind und eine Feststellung zur Tabelle<br />
unter jedem Gesichtspunkt ausscheidet. Der Anscheinsbeweis ist erschüttert, wenn die ernsthafte<br />
Möglichkeit eines atypischen Verlaufs feststeht. Dies kommt beispielsweise in Betracht, wenn es sich bei<br />
den bestrittenen Insolvenzforderungen um eine Vielzahl, auf vergleichbarem Sachverhalt beruhender<br />
Forderungen mehrerer Insolvenzgläubiger handelt, der Insolvenzverwalter sämtlichen dieser angemeldeten<br />
Forderungen widersprochen hat, seit dem Prüfungstermin und dem Widerspruch des Insolvenzverwalters<br />
396 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 53<br />
eine erhebliche Zeit verstrichen ist, keiner der betreffenden Gläubiger eine Feststellungsklage erhoben hat,<br />
ein – nicht notwendig das Insolvenzverfahren betreffender – Musterprozess über die Feststellung einer<br />
solchen Insolvenzforderung rechtskräftig verloren gegangen ist und der rechtliche Bestand der Insolvenzforderungen<br />
erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 198/<strong>2020</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
Abfindungsforderung: Vor Insolvenz ausgeschiedener Gesellschafter<br />
(BGH, Urt. v. 28.1.<strong>2020</strong> – II ZR 10/19) • Die Abfindungsforderung eines vor der Insolvenz ausgeschiedenen<br />
Gesellschafters einer GmbH & Co. KG, deren Auszahlung gegen das Kapitalerhaltungsgebot der §§ 30, 31<br />
GmbHG analog verstoßen würde, ist erst bei der Schlussverteilung nach § 199 InsO zu berücksichtigen. § 30<br />
Abs. 1 GmbHG steht einer Auszahlung der Abfindungsforderung auch dann entgegen, wenn die Abfindung<br />
zum Zeitpunkt des Ausscheidens und auch noch ein Jahr danach aus dem freien Vermögen der Gesellschaft<br />
hätte bedient werden können. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO ist insoweit nicht entsprechend anwendbar.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 199/<strong>2020</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber- und Medienrecht/ Marken- und Wettbewerbsrecht<br />
Amazon: Wettbewerbsrechtliche Haftung für Kundenbewertungen<br />
(BGH, Urt. v. 20.2.<strong>2020</strong> – I ZR 193/18) • Den Anbieter eines auf der Online-Handelsplattform Amazon<br />
angebotenen Produkts trifft für nicht von ihm veranlasste Kundenbewertungen keine wettbewerbsrechtliche<br />
Haftung, wenn er sich diese Bewertungen nicht zu eigen macht. Für die Beurteilung, ob eine wegen<br />
wettbewerbswidriger Werbung in Anspruch genommene Person sich fremde Äußerungen zu eigen macht,<br />
kommt es entscheidend darauf an, ob sie nach außen erkennbar die inhaltliche Verantwortung für die<br />
Äußerungen Dritter übernimmt oder den zurechenbaren Anschein erweckt, sie identifiziere sich mit ihnen.<br />
Dieser Maßstab gilt auch im Heilmittelwerberecht. Ob das Angebot auf der Online-Handelsplattform<br />
Amazon eine Garantenstellung mit der Rechtspflicht begründet, eine Irreführung durch Kundenbewertungen<br />
abzuwenden, bestimmt sich nach den Umständen des konkreten Einzelfalls und bedarf einer<br />
Abwägung. Bei dieser Abwägung ist zu berücksichtigen, dass Kundenbewertungssysteme auf Online-<br />
Handelsplattformen gesellschaftlich erwünscht sind und verfassungsrechtlichen Schutz genießen. Das<br />
Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern, sich zu Produkten zu äußern und sich vor dem Kauf<br />
über Eigenschaften, Vorzüge und Nachteile eines Produkts aus verschiedenen Quellen, zu denen auch<br />
Bewertungen anderer Kunden gehören, zu informieren oder auszutauschen, wird durch die Meinungs- und<br />
Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt. Bei einem Angebot von Arzneimitteln oder<br />
Medizinprodukten kann allerdings das Rechtsgut der öffentlichen Gesundheit bei der Abwägung zu<br />
berücksichtigen sein. Gibt der Anbieter eines auf einer Online-Handelsplattform angebotenen Produkts<br />
selbst irreführende oder gefälschte Kundenbewertungen ab, bezahlt er dafür oder können ihm die<br />
Kundenbewertungen aus anderen Gründen als Werbung zugerechnet werden, haftet er als Täter, ggf.<br />
Mittäter, eines Wettbewerbsverstoßes. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 200/<strong>2020</strong><br />
Schienenkartell II: Kartellrechtliche Betroffenheit<br />
(BGH, Urt. v. 28.1.<strong>2020</strong> – KZR 24/17) • Dem Merkmal der Betroffenheit i.S.d. § 33 Abs. 1 S. 1 GWB a.F., welches<br />
mit dem Beweismaß des § 286 ZPO festzustellen ist, kommt bei der Prüfung des haftungsbegründenden<br />
Tatbestands eines kartellrechtlichen Schadenersatzanspruchs Bedeutung nur für die Frage zu, ob dem<br />
Anspruchsgegner ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anzulasten ist, das – vermittelt durch den<br />
Abschluss von Umsatzgeschäften oder in anderer Weise – geeignet ist, einen Schaden des Anspruchstellers<br />
mittelbar oder unmittelbar zu begründen. Die Feststellung des haftungsbegründenden Tatbestands setzt<br />
nicht voraus, dass sich die Kartellabsprache auf einen Beschaffungsvorgang, auf den der Anspruchsteller<br />
sein Schadenersatzbegehren stützt, tatsächlich ausgewirkt hat und das Geschäft damit „kartellbefangen“<br />
war; dieser Gesichtspunkt betrifft die Schadensfeststellung und damit die haftungsausfüllende Kausalität,<br />
für die das Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO gilt. Etablieren Kartellanten ein System, bei dem von einem<br />
„Spielführer“ i.R.v. Ausschreibungen die Preise von „Schutzangeboten“ oder der angestrebte Zuschlagspreis<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 397
Fach 1, Seite 54 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
mitgeteilt werden, ist es wegen der bestehenden Preistransparenz wahrscheinlich, dass von einem solchen<br />
System ein allgemeiner Effekt auf die Angebotspreise der Kartellanten ausgeht; diese Wahrscheinlichkeit ist<br />
umso höher, je umfassender die Quoten- oder Kunden-„Zuteilung“ auf dem Markt praktiziert wird und je<br />
mehr die an der Kartellabsprache beteiligten Unternehmen aufgrund wechselseitiger Rücksichtnahme der<br />
Notwendigkeit enthoben sind, um einen einzelnen Auftrag zu kämpfen und hierzu ggf. Preiszugeständnisse<br />
zu machen. I.R.d. Feststellung eines kartellbedingten Schadens wird ein unmittelbarer Beweis einer<br />
Haupttatsache oder ihres Gegenteils i.d.R. nicht dadurch angetreten, dass für die Entstehung oder das<br />
Fehlen eines Schadens Sachverständigenbeweis angeboten wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 201/<strong>2020</strong><br />
Lauterkeitsrechtlicher Unterlassungsanspruch: Gesonderte Ausweisung von Flaschenpfand<br />
(OLG Köln, Urt. v. 6.3.<strong>2020</strong> – 6 U 89/19) • Die gesonderte Ausweisung von Flaschenpfand neben dem Preis<br />
für die Ware und damit die Einhaltung des § 1 Abs. 4 PAngV kann im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG keinen<br />
lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanspruch auslösen, auch wenn die Norm keine Grundlage im Unionsrecht<br />
hat. Eine richtlinienkonforme Auslegung des § 1 Abs. 4 PAngV dahingehend, dass das Pfand in den<br />
Gesamtpreis einzurechnen ist, ist nicht möglich. Aus §§ 8, 3, 5a Abs. 3 Nr. 3 UWG kann kein weitergehender<br />
Anspruch als aus §§ 8, 3, 3a UWG i.V.m. § 1 Abs. 4 PAngV hergeleitet werden. Das Flaschenpfand ist nicht Teil<br />
des Verkaufspreises i.S.d. Art. 1 der Preisangaben-RL 98/6/EG und damit auch nicht Teil des Gesamtpreises<br />
i.S.d. § 1 Abs. 1 PAngV und des § 5a Abs. 3 Nr. 3 UWG. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 202/<strong>2020</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Arbeitnehmererfindung: Meldung an den Arbeitgeber<br />
(BGH, Urt. v. 17.12.2019 – X ZR 148/17) • Dem Schriftformerfordernis nach § 5 Abs. 1 S. 1 ArbNErfG a.F. ist<br />
Genüge getan, wenn dem Arbeitgeber eine vom Arbeitnehmer unterschriebene Meldung im Original<br />
zugeht. Darüber hinausgehende Vorgaben in Bezug auf die Adressierung oder die Übermittlung der<br />
Meldung an den Arbeitgeber ergeben sich aus dieser Vorschrift nicht. Der Annahme einer gesonderten<br />
Meldung nach § 5 Abs. 1 S. 1 ArbNErfG a.F. steht es nicht entgegen, wenn der Arbeitnehmer verschiedene<br />
Formulierungskonzepte, Verfahren und Darreichungsformen in einem Schreiben zusammenfasst,<br />
solange diese dasselbe technische Problem betreffen und auf einem gemeinsamen Lösungsansatz<br />
beruhen und die Erfindungsmeldung in der Fülle des innerbetrieblichen Schriftverkehrs als solche<br />
erkennbar ist (im Anschluss an BGH, Urt. v. 12.4.2011 – X ZR 72/10, GRUR 2011, 733 – Initialidee). Bei<br />
Beteiligung mehrerer Mitarbeiter an einer Erfindung genügt die Meldung eines Mitarbeiters den<br />
Anforderungen nach § 5 Abs. 2 S. 3 ArbNErfG a.F., wenn der Arbeitgeber ihr entnehmen kann, dass<br />
Miterfinder beteiligt waren und wie er diese und deren Anteile ermitteln kann. Welchen Detaillierungsgrad<br />
die Meldung insoweit aufweisen muss, hängt insb. davon ab, welche Kenntnisse der Arbeitnehmer<br />
hat oder sich unschwer verschaffen kann. Danach ist der Arbeitnehmer i.d.R. gehalten, die Miterfinder<br />
aus seinem eigenen Verantwortungsbereich konkret zu benennen. Hinsichtlich der Beteiligung von<br />
Mitarbeitern aus anderen Bereichen des Unternehmens genügt grds. die Angabe der betreffenden<br />
Organisationseinheit (Fortführung von BGH, Urt. v. 18.3.2003 – X ZR 19/01, GRUR 2003, 702 ff. –<br />
Gehäusekonstruktion). Eine Vereinbarung, in der ein Arbeitnehmer Rechte an einer Erfindung auf den<br />
Arbeitgeber überträgt mit dem Zweck, diesem die Anmeldung von Schutzrechten zu ermöglichen, stellt<br />
kein Scheingeschäft dar. Überträgt der Arbeitnehmer auf der Grundlage einer solchen Vereinbarung<br />
Rechte an einer Erfindung, weil er von einer wirksamen Inanspruchnahme als Diensterfindung ausgeht,<br />
kann er gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Fall1 BGB die Rückübertragung der abgetretenen Rechte und die<br />
Übertragung der Rechtspositionen verlangen, die der Arbeitgeber durch die aufgrund der Übertragung<br />
getätigten Anmeldungen erlangt hat, wenn sich später herausstellt, dass die Erfindung nicht wirksam in<br />
Anspruch genommen wurde. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 203/<strong>2020</strong><br />
Sozialrecht<br />
Krankengeldanspruch: Ruhen<br />
(SG Stralsund, Urt. v. 28.2.<strong>2020</strong> – S 3 KR 183/18) • Die Meldung der AU ist nach st. Rspr. des BSG eine<br />
Tatsachenmitteilung, die telefonisch, schriftlich, mündlich oder auch in elektronischer Form erfolgen kann.<br />
398 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 55<br />
Sie ist in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 1 und 3 BGB erst dann erfolgt, wenn sie der<br />
Krankenkasse zugegangen ist. Der rechtzeitige Zugang ist ein anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal,<br />
das von dem Versicherten im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen werden muss. Das nach<br />
Halbsatz 2 des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V regelmäßige Ruhen des Krankengeldanspruchs knüpft grds. an den<br />
negativen Tatbestand („solange … nicht gemeldet wird“) an, und bewirkt mit der im nachfolgenden Halbsatz 2<br />
geregelten „Heilungsmöglichkeit“ mittelbar eine Meldefrist von einer Woche (NOFTZ in Hauck/Noftz,<br />
Sozialgesetzbuch Gesamtkommentar, SGB V, Stand August 2015, Rn 63). Aus dem Zusammenspiel der<br />
Regelungen in §§ 44 Abs. 1, 46 S. 1 Nr. 2 und S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V folgt, dass das in Halbs. 2 des § 49<br />
Abs. 1 Nr. 5 SGB V verwendete Tatbestandsmerkmal „Beginn der Arbeitsunfähigkeit“ entgegen dem Wortlaut<br />
so zu verstehen ist, das hiermit tatsächlich der Tag der ärztlichen Feststellung gemeint, d.h. dass zur<br />
Berechnung der Meldefrist maßgeblich auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit<br />
abzustellen ist. Die Meldefrist im Sinne des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V beginnt unter Heranziehung der<br />
Berechnungsvorschriften des § 26 Abs. 1 und 3 SGB X i.V.m. §§ 187 Abs. 1 u. 188 Abs. 2 BGB mit dem Tage,<br />
der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt, und endet eine Woche später mit<br />
dem Ablauf des Tages, der dem Tag entspricht, an dem die ärztliche Feststellung erfolgt ist – bzw. am<br />
nächsten Werktag bei Fristende auf einem Samstag, Sonn- und Feiertag. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 204/<strong>2020</strong><br />
Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />
Covid-19-Virus: Verbot eines Late-Night-Shoppings<br />
(VG Stuttgart, Beschl. v. 14.3.<strong>2020</strong> – 16 K 1466/20) • Das Verbot eines Late-Night-Shoppings stellt eine<br />
notwendige Schutzmaßnahme dar, um die rasche Ausbreitung des Covid-19-Virus zu verhindern. Aufgrund<br />
der bestehenden hohen Infektionsgefahr und der Vielzahl der zu erwartenden Besucher aus einem großen<br />
Einzugsgebiet ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine infizierte Person unter den Besuchern befinden<br />
könnte, sehr groß, sodass bei einer solchen Veranstaltung von einer hohen Ansteckungsgefahr auszugehen<br />
ist. Late-Night-Shopping als besonderes, zeitlich begrenztes Event mit seiner großen Anziehungskraft für<br />
einen großen Kundenkreis unterscheidet sich insoweit vom klassischen Einzelhandel, für den (Stand:<br />
14.3.<strong>2020</strong>, Anm. der Red.) bislang keine Einschränkungen vorgesehen sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 205/<strong>2020</strong><br />
Entfernung aus dem Beamtenverhältnis: Verwaltungsakt<br />
(BVerfG, Beschl. v. 14.1.<strong>2020</strong> – 2 BvR 2055/16) • Ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums,<br />
wonach eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nur durch Richterspruch erfolgen darf, besteht nicht.<br />
Gleichfalls besteht kein hergebrachter Grundsatz, wonach die Entfernungsentscheidung der unmittelbaren<br />
alleinigen Disziplinargewalt des Dienstvorgesetzten entzogen und immer einem Gremium zu überantworten<br />
ist. Das Lebenszeitprinzip gem. Art. 33 Abs. 5 GG erfordert keinen Richtervorbehalt für Entfernungen aus dem<br />
Beamtenverhältnis, wenn effektiver nachgelagerter Rechtsschutz sichergestellt ist. Hinweis: In den §§ 26 ff.<br />
LDG BW sind die Bemessungsgrundlagen für die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme explizit normiert,<br />
sodass das Verwaltungshandeln legislativ enger als zuvor (vgl. §§ 5 ff. LDO BW) gesteuert ist. Hiernach sind je<br />
nach Disziplinarmaßnahme in gradueller Abstufung bei feststehendem Dienstvergehen dessen Schwere, die<br />
Beeinträchtigung des Vertrauens sowie das Persönlichkeitsbild des Beamten maßgeblich. Außer bei der<br />
Entfernung aus dem Beamtenverhältnis und der Aberkennung des Ruhegehalts ist auf Rechtsfolgenseite<br />
behördliches Ermessen eingeräumt. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nach § 31 Abs. 1 LDG BW ist<br />
als gebundene Entscheidung ausgestaltet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 206/<strong>2020</strong><br />
Gewerberechtliche Unzuverlässigkeit: Straftatbegehung<br />
(OVG NRW, Beschl. v. 8.1.<strong>2020</strong> – 4 B 1100/19) • Die Typik der in § 34d Abs. 5 S. 1 Nr. 1, S. 2 GewO genannten<br />
vermögensrelevanten Straftatbestände indiziert nach dem klaren Willen des Gesetzgebers regelmäßig die<br />
Annahme der gewerberechtlichen Unzuverlässigkeit. Die Regel kann nur aufgrund besonderer Umstände<br />
ausnahmsweise als widerlegt angesehen werden. Dafür muss der Erlaubnisinhaber Umstände vortragen,<br />
die trotz einer einschlägigen Verurteilung ausnahmsweise eine andere Beurteilung zulassen. § 34d Abs. 5<br />
S. 1 Nr. 1, S. 2 GewO differenziert nicht nach Straftaten, die im privaten oder im gewerblichen Bereich<br />
begangen wurden. § 34d Abs. 5 S. 1 Nr. 1, S. 2 GewO dient der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 399
Fach 1, Seite 56 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Nach den europarechtlichen Vorgaben ist eine einschlägige Eintragung im innerstaatlichen Strafregister –<br />
unabhängig davon, ob die Straftat im privaten oder gewerblichen Bereich begangen wurde – ein den<br />
guten Leumund bzw. die Zuverlässigkeit ausschließender Tatbestand. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 207/<strong>2020</strong><br />
Steuerrecht<br />
Kindergeldprozess: Kein Zeugnisverweigerungsrecht volljähriger Kinder<br />
(BFH, Urt. v. 18.9.2019 – III R 59/18) • Die Mitwirkungspflicht volljähriger Kinder in Kindergeldsachen<br />
(§ 68 Abs. 1 S. 2 EStG) erstreckt sich auch auf das finanzgerichtliche Verfahren. Aufgrund des dadurch<br />
angeordneten Ausschlusses des § 101 AO hat das Kind insoweit im finanzgerichtlichen Verfahren kein<br />
Zeugnisverweigerungsrecht. Hinweis: Den Antrag des Klägers, das Kindergeld zu seinen Gunsten<br />
festzusetzen, weil der Sohn den Haushalt der geschiedenen Ehefrau verlassen habe und er – der Vater –<br />
die höhere Unterhaltsrente zahle, wenn bei den Zahlungen der Mutter das weitergeleitete Kindergeld<br />
abgezogen würde, lehnte die Familienkasse ab. Das FG hat trotz Beweisangebot durch den Kläger den<br />
Sohn verfahrensfehlerhaft als unerreichbaren Zeugen angesehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 2<strong>08</strong>/<strong>2020</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Anwaltsbriefkopf: Kanzleistandorte<br />
(OLG Köln, Urt. v. 17.1.<strong>2020</strong> – 6 U 101/90) • Die Nutzung eines Anwaltsbriefbogens, der im Briefkopf unter<br />
der Namensbezeichnung vier deutsche Großstädte hervorgehoben aufführt, obwohl die Rechtsanwaltsgesellschaft<br />
nur in einer der Städte einen Sitz unterhält, stellt eine erhebliche Irreführung der angesprochenen<br />
Verkehrskreise i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 UWG dar. Hinweis: Der BGH hat vorausgesetzt, dass die<br />
Darstellung eines Briefkopfs auf dem Briefbogen eines Rechtsanwalts eine geschäftliche Handlung darstellt<br />
(vgl. BGH, Urt. v. 16.6.1994 – I ZR 67/92, GRUR 1994, 825 – Strafverteidigungen; Urt. v. 16.5.2012 – I ZR 74/11,<br />
GRUR 2012, 1275 – Zweigstellenbriefbogen; Urt. v. 20.2.2013 – I ZR 146/12, GRUR 2013, 950 – auch zugelassen<br />
am OLG E.). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 209/<strong>2020</strong><br />
EU-Recht/IPR<br />
Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln: Umfassende gerichtliche Prüfung<br />
(EuGH, Urt. v. 11.3.<strong>2020</strong> – C–511/17) • Ein Gericht, vor dem ein Verbraucher die Missbräuchlichkeit bestimmter<br />
Vertragsklauseln geltend macht, muss von sich aus weitere Klauseln des Vertrags prüfen, soweit sie mit dem<br />
Streitgegenstand des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zusammenhängen. Es hat ggf. Untersuchungsmaßnahmen<br />
zu ergreifen, um sich die für diese Prüfung erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen<br />
zu verschaffen. Hinweis: In diesem Fall ging es um einen mit der UniCredit Bank Hungary, einer ungarischen<br />
Bank, auf eine Fremdwährung geschlossenen Hypothekendarlehensvertrag. Dieser Vertrag enthielt bestimmte<br />
Klauseln, die der UniCredit Bank das Recht einräumen, den Vertrag später zu ändern.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 210/<strong>2020</strong><br />
Ausgleichsleistung für Annullierung eines Flugs: Verspätung des Alternativflugs<br />
(EuGH, Urt. v. 12.3.<strong>2020</strong> – C-832/18A) • Ein Fluggast, der eine Ausgleichsleistung für die Annullierung<br />
eines Fluges erhalten und einen Alternativflug akzeptiert hat, hat Anspruch auf eine Ausgleichszahlung<br />
wegen Verspätung des Alternativflugs. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 211/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong>-Service: Die <strong>ZAP</strong> Rechtsprechung kann und soll nur eine stark komprimierte Wiedergabe der Originaltexte sein. Die<br />
Volltexte erhalten Sie online nach Ihrer Anmeldung bei unserem Kooperationspartner juris unter www.juris.de kostenlos.<br />
Der Verlag schickt Ihnen bei Bedarf die Volltexte auch zu. Die Kosten hierfür betragen: per Brief 0,50 € je Seite zzgl.<br />
Versandkosten. Bitte bestellen Sie unter Verwendung des Stichworts „<strong>ZAP</strong> Rechtsprechung-Service“ telefonisch unter<br />
0228/91911-62, per E-Mail an redaktion@zap-verlag.de, per Fax unter 0228/91911-66 oder per Post an <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH,<br />
<strong>ZAP</strong> Redaktion, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn.<br />
400 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1873<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
Wohnraummietrecht<br />
Die Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter/Besitzer:<br />
Einstweiliger Rechtsschutz und flankierende Rechtsbehelfe<br />
Von Dr. SVEN CASPERS, Richter am Amtsgericht München<br />
Inhalt<br />
I. Vorbemerkung<br />
II. Probleme der Räumungsklage gegen<br />
mehrere Mieter/Besitzer der Wohnung<br />
1. Ausgangsfall<br />
2. Variante I<br />
3. Variante II<br />
III. Voraussetzungen der Erteilung einer vollstreckbaren<br />
Ausfertigung für und gegen den<br />
Rechtsnachfolger nach § 727 ZPO und der<br />
sog. Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />
1. Die Erteilung einer vollstreckbaren<br />
Ausfertigung für und gegen den<br />
Rechtsnachfolger nach § 727 ZPO<br />
2. Die Voraussetzungen der sog. Klauselerteilungsklage<br />
nach § 731 ZPO<br />
IV. Die Räumungsregelungsverfügung nach<br />
§ 940a Abs. 2 ZPO<br />
1. Die Voraussetzungen einer Räumungsregelungsverfügung<br />
nach § 940a Abs. 2 ZPO<br />
2. Fazit<br />
V. Zusammenfassung und Ratschläge für Praxis<br />
I. Vorbemerkung<br />
In der mietrichterlichen Praxis kommt es häufig vor, dass sich erst im Laufe eines Räumungs- und Herausgabeprozesses<br />
gegen einen Mieter herausstellt, dass dieser weitere Untermieter, eine (Ehe-/Lebens-)<br />
Partnerin oder sonstige Dritte in die Wohnung mit aufgenommen hat, sodass sich für die Vermieterseite<br />
die Problematik auftut, dass sie selbst mit einem rechtskräftigen Räumungstitel gegen den einen Mieter<br />
nicht das von ihr gewünschte Rechtsschutzziel erreichen kann, nämlich jeglichen Fremdbesitz an der<br />
vermieteten Wohnung ggf. im Wege der Zwangsvollstreckung beseitigen zu können. Dies folgt rein<br />
praktisch aus zwangsvollstreckungsrechtlichen Gesichtspunkten, da die oder der zuständige Gerichtsvollzieher<br />
eine Zwangsräumung aufgrund eines Räumungstitels gegen eine Person nicht durchführen kann<br />
und wird, wenn diese(r) beim Räumungstermin weitere Personen in der Wohnung vorfindet, die glaubhaft<br />
mitteilen, ebenfalls in der Wohnung zu leben. Der nachfolgende Beitrag wird sich mit den hieraus resultierenden<br />
rechtlichen Problemfeldern auseinandersetzen und insb. mögliche zivilprozessuale Möglichkeiten<br />
aufzeigen, um diese zu lösen.<br />
II. Probleme der Räumungsklage gegen mehrere Mieter/Besitzer der Wohnung<br />
In der Praxis häufig anzutreffen ist, dass ein langjähriger Mietvertrag zwischen zwei Mietvertragsparteien<br />
besteht, in welchem beispielsweise der Sohn des ursprünglichen Vermieters in Folge des Erbgangs nach<br />
§§ 1922 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB als neuer Vermieter eingetreten ist, der die Wohnung sodann beispielsweise<br />
wegen Eigenbedarfs für sich selbst ordentlich gem. § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB kündigt. Nicht selten stellt sich<br />
erst i.R.d. Räumungsprozesses heraus, dass weitere Personen in der Wohnung leben, wobei die verschiedenen<br />
prozessualen Probleme dabei anhand von Fallbeispielen erläutert werden sollen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 401
Fach 4, Seite 1874<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
Miete/Nutzungen<br />
1. Ausgangsfall<br />
Vermieter A ist Alleineigentümer einer 4-Zimmer-Wohnung in München-Laim, welche er an den Mieter B durch<br />
unbefristeten schriftlichen Wohnraummietvertrag aus dem Jahr 2005 vermietet hat. Mieter B kommt mit der vollen<br />
Mietzahlung für zwei aufeinanderfolgende Mieten in Verzug und erhält eine außerordentliche Kündigung durch den<br />
anwaltlichen Vertreter des Vermieters gestützt auf § 543 Abs. 2 Nr. 3a BGB mit einer angemessenen Auszugsfrist<br />
von 10 Tagen. Nachdem Mieter B nicht innerhalb der Auszugsfrist die Wohnung geräumt hat, erhebt Vermieter A<br />
Räumungs- und Herausgabeklage gegen Mieter B vor dem zuständigen Amtsgericht, Mietabteilung. In der<br />
anberaumten Güteverhandlung erklärt der Mieter B, dass bereits seit ca. 1 Jahr vor Zustellung der Räumungs- und<br />
Herausgabeklage, der volljährige Freund C als Untermieter mit in der Wohnung wohnt, wovon Vermieter A keinerlei<br />
Kenntnis hatte.<br />
Frage: Wie sollte sich der Prozessbevollmächtigte des Vermieters in dieser Situation verhalten?<br />
a) Rechtliche Vorbetrachtungen<br />
Dogmatischer Ausgangspunkt ist, dass die Beendigung des Hauptmietvertrages aufgrund der Relativität<br />
der Schuldverhältnisse nicht zur Folge hat, dass der zwischen dem Hauptmieter und dem Untermieter<br />
geschlossene Untermietvertrag ebenfalls beendet wird. Dieser bleibt vielmehr wirksam (Staudinger/<br />
ROLFS, Neubearbeitung 2018, Stand v. 3.5.2019, § 546 BGB Rn 86 m.w.N. aus der Rspr.).<br />
Der Gesetzgeber hat die vollstreckungsrechtliche Problematik für den Vermieter gesehen und aus<br />
praktischen Gründen in § 546 Abs. 2 BGB eine vertragliche Anspruchsgrundlage gegen jeden Dritten<br />
aufgenommen, dem Mitbesitz an der vermieteten Wohnung durch den Mieter überlassen wurde.<br />
Anspruchsvoraussetzungen von § 546 Abs. 2 BGB sind die Beendigung des Hauptmietvertrags, die<br />
Gebrauchsüberlassung an einen Dritten und die Geltendmachung des Rückgabeanspruchs gegenüber<br />
dem Dritten durch den Vermieter (Schmidt-Futterer/STREYL, 14. Aufl. 2019, § 546 BGB Rn 89). Ohne § 546<br />
Abs. 2 BGB hätte der Vermieter einen derartigen Anspruch nur dann, wenn er aufgrund seines<br />
Eigentumsrechts oder eines anderen dinglichen Rechts (z.B. Nießbrauch) von jedem Besitzer die<br />
Herausgabe der Sache verlangen könnte (Staudinger/ROLFS, a.a.O., § 546 BGB Rn 86).<br />
• Es muss ein wirksames Hauptmietverhältnis bestanden haben. Grundsätzlich belanglos ist daher, ob<br />
der Hauptmieter seinen Besitz schon vorzeitig aufgegeben hat oder ob der Mieter die Nutzung nach<br />
Vertragsende noch fortsetzt (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 91). Anders ist dies nur,<br />
wenn der Mieter nach dem rechtlichen Vertragsende noch nicht zur Räumung verpflichtet ist, etwa<br />
weil ihm eine gerichtliche Räumungsfrist nach § 721 ZPO eingeräumt wurde (OLG München, Urt.<br />
v. 29.1.2015 – 23 U 3353/14, BeckRS 2015, 3556). Da der Anspruch nach § 546 Abs. 2 BGB von<br />
demjenigen nach § 546 Abs. 1 BGB abhängt, ist er für die Zeit der gerichtlichen Räumungsfrist<br />
ebenfalls gehemmt (AG Aachen, Urt. v. 18.10.1989 – 11 C 448/89, WuM 1989, 150).<br />
• Der Mieter muss den Gebrauch der Mietsache einem Dritten überlassen haben. Bei mehreren Hauptmietern<br />
ist es bereits nach dem Wortlaut ausreichend, wenn einer von ihnen den Gebrauch überlassen<br />
hat (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 96 m.w.N.). Dritter in diesem Sinne ist jeder, der nicht<br />
personengleich mit dem Mieter oder Vermieter ist. Mitumfasst von § 546 Abs. 2 BGB sind also auch<br />
Angehörige des Mieters, die mit in der Wohnung leben. Eine eigenmächtige Besitzergreifung durch den<br />
Dritten reicht nicht aus (Staudinger/ROLFS, a.a.O., § 546 BGB Rn 90). Typischerweise Dritte sind<br />
Untermieter des oder der Hauptmieter.<br />
• Eine Gebrauchsüberlassung erfordert Mitbesitz gem. § 866 BGB oder zumindest mittelbaren<br />
Besitz nach § 868 BGB, sodass eine gewisse Dauer der Überlassung zu fordern ist (Faustformel: Ein<br />
bloßer 3-wöchiger Besuch genügt nicht). Für § 546 Abs. 2 BGB unbeachtlich ist, ob der Mieter zur<br />
Gebrauchsüberlassung berechtigt war, ob er also beispielsweise untervermieten durfte (Schmidt-<br />
Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 97). Irrelevant ist also auch, ob eine Untervermietung<br />
genehmigt bzw. ob diese genehmigungsfähig nach § 553 BGB war.<br />
402 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1875<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
• Für den Vermieter ist bei der Räumungsvollstreckung zu beachten, dass er einen Vollstreckungstitel<br />
gegen alle Besitzer und Mitbesitzer des jeweiligen Mietobjekts erwirken muss, wobei nur<br />
Besitzdiener nach § 855 BGB ausgenommen sind. Vollstreckungsrechtlich ist daher ein Titel gegen<br />
den Untermieter (BGH, Beschl. v. 18.7.2003 – IXa ZB 116/03, ZMR 2004, 324), den Ehegatten und<br />
Lebenspartner (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 98) generell erforderlich, gegen den<br />
nichtehelichen Lebensgefährten nur dann, wenn sich deren Mitbesitz an der Wohnung klar und<br />
eindeutig aus den Umständen ergibt (BGH, Beschl. v. 19.3.20<strong>08</strong> – I ZB 56/07, NJW 20<strong>08</strong>, 1959). Ein<br />
Umstand, der auf den Besitz des Lebensgefährten schließen lässt, ist die Angabe der Wohnung als<br />
Meldeadresse gegenüber dem Einwohnermeldeamt (LG Mannheim, Urt. v. 5.4.2006 – 4 S 137/05,<br />
DWW 2006, 250), eine Anzeige an den Vermieter (SPRINGER, WuM 2009, 335) oder die Anbringung<br />
des Namens am Klingelschild (OLG Hamburg, Beschl. v. 5.9.2011 – 8 W 55/11, NZM 2012, 387). Kein<br />
eigener Vollstreckungstitel ist gegen minderjährige Kinder erforderlich (BGH, a.a.O.; AG Wiesbaden,<br />
Urt. v. 21.5.2015 – 92 C 1677/15, NZM 2015, 782), im Regelfall auch nicht nach Erreichen der Volljährigkeit<br />
(BUEB, jurisPR-MietR 10/2018 Anm. 6) und nicht bei Kindern, die bei Einzug in die Wohnung<br />
schon erwachsen waren, sofern noch eine soziale Abhängigkeit von den Eltern besteht (AG Kassel,<br />
Urt. v. 18.6.2015 – 40 C 243/15, ZMR 2016, 77; FLATOW, jurisPR-MietR 2/2016 Anm. 5).<br />
Achtung: In der Praxis nicht selten anzutreffen ist, dass vermieterseits eine Räumungsklage auch<br />
gegen in der Mietwohnung lebende minderjährige Kinder oder zwar im Zeitpunkt der Klageerhebung<br />
volljährige, aber bei Begründung des Mietvertrages minderjähriger Kinder erhoben wird. Unter<br />
strenger Anwendung der oben genannten BGH-Entscheidung besteht dadurch die Gefahr, dass die<br />
Räumungsklage gegen ebengenannte Kinder wegen fehlendem Rechtsschutzbedürfnis als unzulässig<br />
abgewiesen wird, was aufgrund der nach der Baumbachschen-Formel zu berechnenden Kostentragung<br />
auf Vermieterseite dringend beachtet werden sollte.<br />
• Aus einem Räumungstitel (nur) gegen den Mieter kann nicht gegen einen Untermieter oder einen im<br />
Titel nicht aufgeführten Dritten vollstreckt werden, der selbst Besitz hat (BGH, Beschl. v. 18.7.2003 –<br />
IXa ZB 116/03, ZMR 2004, 324). Das gilt wegen des Verbots, staatliche Zwangsmaßnahmen ohne<br />
Vollstreckungstitel auszuüben, auch für den Besitzer, der ohne oder gegen Willen und Wollen des<br />
Vermieters (Mit-)Besitz begründet und wider Treu und Glauben über einen erheblichen Zeitraum<br />
gegenüber dem Vermieter verheimlicht hat, oder für den Besitzer, der rechtsmissbräuchlich ein<br />
tatsächlich nicht bestehendes Untermietverhältnis behauptet (BGH, Beschl. v. 14.8.20<strong>08</strong> – I ZB 39/<strong>08</strong>,<br />
NJW 20<strong>08</strong>, 3287; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 99 m.w.N.).<br />
• Der Vermieter muss den Rückgabeanspruch aus § 546 Abs. 2 BGB gegenüber dem Dritten geltend<br />
gemacht haben, wobei der Zugang beim Dritten maßgeblich ist. Dies geschieht durch einseitige,<br />
formlose Willenserklärung. Da es sich nicht um eine Kündigung handelt, müssen spezielle Kündigungsvoraussetzungen<br />
wie Schriftform oder Kündigungsgründe nicht erfüllt sein (Schmidt-Futterer/STREYL,<br />
a.a.O., § 546 BGB Rn 102). Wenn die Erklärung vor dem Ende des Hauptmietverhältnisses abgegeben<br />
wird, wird diese erst mit dessen Beendigung wirksam. Entsprechend den Grundsätzen bei der Kündigung<br />
ist dem Dritten eine angemessen lange Ziehfrist einzuräumen und in der Erhebung einer Räumungsklage<br />
liegt konkludent eine Rückforderungserklärung (OLG Hamburg, Urt. v. 19.8.1998 – 4 U 28/97, NZM<br />
1999, 1052). Bei der Rückforderungserklärung handelt es sich um eine echte materielle Anspruchsvoraussetzung<br />
(zu Recht Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 103 m.w.N.; a.A. Staudinger/<br />
ROLFS, a.a.O., § 546 BGB Rn 95 f., der die Geltendmachung nur als Verzugsvoraussetzung einfordert).<br />
Praxistipp:<br />
Als Vermieteranwalt ist zu berücksichtigen, dass gegenüber Dritten bereits außerprozessual die Rückforderung<br />
erklärt werden sollte, da trotz konkludentem Rückforderungsverlangen in der erhobenen<br />
Räumungsklage (siehe oben) das Risiko besteht, dass der Dritte den Anspruch aus § 546 Abs. 2 BGB<br />
sofort anerkennt, sodass die Prozesskosten insoweit nach § 93 ZPO die Vermieterpartei treffen können<br />
(OLG Schleswig, Beschl. v. 14.11.1990 – 4 W 1/90, WuM 1993, 541).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 403
Fach 4, Seite 1876<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
Miete/Nutzungen<br />
b) Lösung des Ausgangsfalls<br />
Da der Vermieter A zur erfolgreichen Räumung sowohl einen Vollstreckungstitel gegen den Mieter B als<br />
auch einen Vollstreckungstitel gegen den Untermieter C benötigt (siehe oben), sollte Untermieter C in<br />
den laufenden Prozess mit einbezogen werden, um einen ansonsten erforderlichen weiteren isolierten<br />
Räumungsprozess zu vermeiden, der zu einer weiteren erheblichen zeitlichen Verzögerung führen<br />
würde. Der Prozessbevollmächtigte des Vermieters A sollte in der mündlichen Verhandlung eine<br />
schriftliche Klageerweiterung auf den volljährigen Untermieter C vornehmen, die ggf. zusätzlich<br />
protokolliert werden kann. Alternativ sollte er eine Klageerweiterung in der Hauptverhandlung<br />
ankündigen und auf den neuen Sachvortrag des Mieters B bzgl. des Untermieters C eine Schriftsatzfrist<br />
beantragen und sodann zeitnah eine schriftliche Klageerweiterung erklären. Die Schriftsatzfrist wird<br />
aufgrund des neuen Sachvortrags des Mieters B gewährt werden und die nach ständiger Rechtsprechung<br />
des BGH gem. §§ 263 ff. ZPO analog zu behandelnde subjektive Klageerweiterung auf<br />
Beklagtenseite (Zöller/GREGER, 33. Aufl. <strong>2020</strong>, § 263 ZPO Rn 19 ff. m.w.N.) ist sodann in aller Regel auch<br />
ohne Zustimmung des Mieters B zulässig, da im Lichte der Prozessökonomie zur Vermeidung eines<br />
weiteren isolierten Räumungsrechtsstreits sachdienlich. Um vermieterseits ganz sicher zu sein, ist zu<br />
raten, beide hier genannten prozessualen Vorgehensweisen zu kombinieren.<br />
2. Variante I<br />
Anders als im Grundfall vergisst Vermieter A seinem anwaltlichen Vertreter vor Erhebung der Räumungsklage<br />
mitzuteilen, dass neben dem verklagten Mieter B auch der volljährige Untermieter C in der Wohnung wohnt, wozu der<br />
Vermieter A auch vor ca. einem Jahr seine Erlaubnis erteilt hatte. Der Mieter B teilt diese Information seinem anwaltlichen<br />
Vertreter erst nach Rechtskraft des ergangenen und erfolgreichen Räumungsurteils gegen den Mieter B mit.<br />
Frage: Wie sollte sich der Prozessbevollmächtigte des Vermieters A optimalerweise verhalten?<br />
a) Rechtliche Vorbetrachtungen<br />
Der ergangene Räumungstitel gegen den Mieter B ist wirkungslos gegenüber dem Untermieter C, insb.<br />
kommt eine Titelumschreibung nach § 727 ZPO nicht in Betracht, weil gegen den besitzenden Untermieter<br />
C ein eigener Vollstreckungstitel erforderlich ist (siehe oben).<br />
Eine einstweilige Räumungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO kann der Vermieter nicht gegen den<br />
Untermieter C erwirken, weil er vor dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung des Räumungsrechtsstreits<br />
mit dem Hauptmieter B bereits Kenntnis davon hatte, dass auch der Untermieter im Besitz<br />
der Mietsache war (vgl. zu § 940a ZPO eingehender unten).<br />
Hinzu kommt, dass nach der Rechtsprechung des BGH gilt (BGH, Urt. v. 21.4.2010 – VIII ZR 6/09, NJW<br />
2010, 22<strong>08</strong>), dass die Rechtskraft des im Räumungsrechtsstreit gegen den Hauptmieter B ergangenen<br />
Urteils nach §§ 322, 325 ZPO grds. nicht zugunsten und zulasten des Untermieters C gilt, sodass<br />
Letzterer in einem weiteren isolierten Räumungsrechtsstreit wiederum eine Beendigung des Hauptmietverhältnisses<br />
bestreiten kann, da auch keine materiell rechtliche Abhängigkeit anderer Art besteht<br />
(BGH, a.a.O.; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 99; a.A. Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 325 ZPO<br />
Rn 38, der wegen § 546 Abs. 2 BGB eine materiell-rechtliche Abhängigkeit des Untermieters vom Mieter<br />
postuliert und im Ergebnis zu einer Rechtskrafterstreckung kommt).<br />
Praxistipp:<br />
Als Folge unterliegt die erneute Räumungsklage des Vermieters A gegen den Untermieter C den gleichen<br />
Anforderungen hinsichtlich Substantiierung, Schlüssigkeit und ggf. Beweisantritt wie die bereits rechtskräftig<br />
abgeschlossene Räumungsklage gegen den Hauptmieter B. Ein schlichter Verweis auf das ergangene<br />
Räumungsurteil gegen den Hauptmieter B ist also nicht ausreichend, vielmehr muss schlüssig erneut<br />
dargelegt werden, warum der Hauptmietvertrag wirksam beendet wurde, sodass die Anspruchsvoraussetzungen<br />
des § 546 Abs. 2 BGB gegeben sind. Sachgerecht dürfte es aber sein, jedenfalls auf das ergangene<br />
Urteil gegenüber dem Mieter B zusätzlich hinzuweisen und dieses als Anlage der neuen Klage beizufügen.<br />
404 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1877<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
b) Lösung der Variante I<br />
Der Prozessbevollmächtigte des Vermieters A muss eine erneute, schlüssig begründete Räumungsklage<br />
gegenüber dem Untermieter C erheben. Sofern es sich beispielsweise um eine Räumung wegen<br />
Eigenbedarfs handelt, ist die Folge, dass ggf. auch eine umfassende Beweiswürdigung nochmals<br />
durchgeführt werden muss. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Vermieter vor Klageerhebung<br />
gegenüber dem Untermieter durch einseitige und formlose Rückforderungserklärung die Herausgabe<br />
verlangen muss, da anderenfalls der Untermieter durch sofortiges Anerkenntnis nach § 93 ZPO eine<br />
Kostentragung des Vermieters bewirken kann (s.o.).<br />
Alternativ kann der Prozessbevollmächtigte des Vermieters A versuchen, über den rechtskräftig<br />
festgestellten Räumungsanspruch gegen den Hauptmieter aus § 546 Abs. 1 BGB von diesem die<br />
Besitzübertragung an der vermieteten Wohnung vom Untermieter C direkt an den Vermieter A zu<br />
verlangen, da der Vermieter A gegen den Mieter B aus § 546 Abs. 1 BGB auch das Recht erworben hat,<br />
dass dieser durch Inanspruchnahme des Untermieters C dafür sorgt, dass der Vermieter A jeglichen<br />
Besitz an der Wohnung wiedererhält und frei über diese verfügen kann. Hierfür ist es insb. nicht<br />
erforderlich, dass der Hauptmieter B einen eigenen Räumungsanspruch gegen den Untermieter C hat,<br />
der Hauptmieter B kann ggf. vom Vermieter A fordern, dass dessen Anspruch gegen den Untermieter C<br />
nach § 546 Abs. 2 BGB abgetreten wird.<br />
Praxistipp:<br />
Der Vermieter kann von seinem Hauptmieter Auskunft darüber verlangen, welchen Dritten er die Mietsache<br />
überlassen hat, wobei dies aus einer Nebenpflicht aus dem Mietvertrag folgt, §§ 535, 241 Abs. 2 BGB. Diesen<br />
Auskunftsanspruch kann der Vermieter auch im Wege der einstweiligen Verfügung geltend machen (LG Kiel,<br />
Urt. v. 8.3.2010 – 18 O 233/09, ZMR 2010, 532; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 BGB Rn 99 und § 940a<br />
ZPO Rn 28).<br />
Fazit: In aller Regel wird eine erneute Räumungsklage gegen den Untermieter C das Mittel der Wahl<br />
sein, da die angesprochene alternative Lösungsmöglichkeit praktisch keine hohe Erfolgsaussicht haben<br />
dürfte und gerichtlich schwer durchzusetzen ist.<br />
3. Variante II<br />
Anders als im Grundfall überlässt der Hauptmieter B den Mitbesitz an der gemieteten Wohnung erst nach Zustellung<br />
der Räumungsklage des Vermieters A gegen den Hauptmieter B an den volljährigen Untermieter C.<br />
a) Rechtliche Vorbetrachtungen<br />
Sofern eine Überlassung der Mietsache durch den Hauptmieter nach Rechtshängigkeit der gegen ihn<br />
gerichteten Räumungsklage erfolgt, was auch einen Besitzwechsel erst nach Rechtskraft des betreffenden<br />
Räumungsurteils einschließt, wirkt ein stattgebendes Urteil gem. § 325 ZPO auch gegen den oder die<br />
besitzenden Dritten, auf welche(n) der Vermieter das rechtskräftige Räumungsurteil gem. § 727 ZPO<br />
umschreiben lassen kann (BGH, Urt. v. 13.3.1981 – V ZR 115/80, NJW 1981, 1517; BGH, Urt. v. 17.2.1983 – III ZR<br />
184/81, NJW 1983, 2032; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 546 Rn 99 m.w.N.).<br />
Die Vorgehensweise der Titelumschreibung nach § 727 ZPO ist allerdings praktisch nur selten<br />
durchführbar, da die Gebrauchsüberlassung an den Dritten nach Rechtshängigkeit offenkundig sein<br />
muss oder durch öffentliche Urkunden nachgewiesen werden kann, was i.d.R. nur dann möglich ist,<br />
wenn ein (erfolgloser) Vollstreckungsversuch den Besitz des Dritten erwiesen hat und der Gerichtsvollzieher<br />
dies im Vollstreckungsprotokoll niedergelegt hat. Ebenfalls möglich ist die Erhebung einer<br />
Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO sowie eine erneute isolierte Räumungsklage gegen den Dritten.<br />
b) Lösung der Variante II<br />
Der Vermieteranwalt sollte i.R.d. Beauftragung des Gerichtsvollziehers zur Vollziehung des rechtskräftigen<br />
Räumungstitels gegen den Hauptmieter darauf hinweisen, dass für den Fall des Antreffens<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 405
Fach 4, Seite 1878<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
Miete/Nutzungen<br />
weiterer Personen detailliert im Vollstreckungsprotokoll dazu Stellung genommen wird, ob und warum<br />
es sich bei diesen Personen um Mitbesitzer der Mietwohnung handelt (wichtig für die Klauselumschreibung<br />
nach § 727 ZPO).<br />
Der Vermieter hat sodann die Wahl zwischen der Erhebung einer Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />
und einer erneuten Räumungsklage gegen den Dritten. Vorteil der Klauselerteilungsklage ist, dass<br />
es im Rahmen von deren Begründetheit nicht mehr auf die Wirksamkeit der Kündigung aus dem<br />
vorhergehenden Rechtsstreit mit dem Hauptmieter ankommt; Ein Nachteil ist, dass eine separate<br />
Räumungsklage i.d.R. einfacher, da üblicher zu begründen ist, kein erst nach Rechtshängigkeit des<br />
Räumungsrechtsstreits gegen den Hauptmieter begründeter (Mit-)Besitz des Dritten darzulegen und<br />
zu beweisen ist und ausnahmsweise wegen § 325 Abs. 1 ZPO das gegen den Hauptmieter ergangene<br />
Räumungsurteil auch gegen den Untermieter Rechtskraft zeitigt.<br />
III. Voraussetzungen der Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung für und gegen den<br />
Rechtsnachfolger nach § 727 ZPO und der sog. Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />
Im folgenden Abschnitt werden in einem summarischen Überblick die in der Praxis wenig beachteten<br />
Rechtsbehelfe der §§ 727, 731 ZPO kurz vorgestellt.<br />
1. Die Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung für und gegen den Rechtsnachfolger nach<br />
§ 727 ZPO<br />
Der Beginn der Zwangsvollstreckung erfordert nach allgemeinen Voraussetzungen die namentliche<br />
Bezeichnung des Gläubigers und Schuldners nach § 750 Abs. 1 ZPO, was auch bei Vorliegen einer<br />
Rechtskrafterstreckung auf Dritte nach §§ 727, 325 ZPO gilt (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 727 ZPO Rn 1). Nach<br />
vorzugswürdiger Ansicht wirkt das rechtskräftige Urteil nur in Ansehung der Hauptsache und nicht auch<br />
bzgl. des Kostenausspruchs oder Nebenforderungen gegenüber dem Rechtsnachfolger (Zöller/G.<br />
VOLLKOMMER, a.a.O., § 325 Rn 1 m.w.N.; a.A. Müko-ZPO/GOTTWALD, 5. Aufl. 2016, § 325 ZPO Rn 15, der<br />
hinsichtlich von Nebenforderungen und Kosten eine Rechtskrafterstreckung des Dritten dann annimmt,<br />
wenn eine Rechtsnachfolge nach materiellem Recht eingetreten ist).<br />
a) Verfahren und Zuständigkeit<br />
Die Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung für und gegen den Rechtsnachfolger wird ebenso wie die<br />
„normale“ vollstreckbare Ausfertigung eines Urteils nach § 724 ZPO nur auf formlosen Antrag des<br />
Gläubigers erteilt, wobei der Antrag auch mündlich erfolgen kann, im Allgemeinen ist aber eine schriftliche<br />
Antragstellung zu empfehlen. Antragsberechtigt ist jeweils die Partei, die das zu vollstreckende Urteil<br />
erstritten hat. Über den Antrag entscheidet anders als bei § 724 ZPO nicht der Urkundsbeamte der<br />
Geschäftsstelle des jeweiligen Gerichts, sondern der zuständige Rechtspfleger gem. § 20 Abs. 1 Nr. 12 RPflG<br />
(Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 727 ZPO Rn 24).<br />
Die Vollstreckungsklausel für oder gegen den genau zu bezeichnenden Rechtsnachfolger (Alt. 1) oder<br />
Besitzer der streitbefangenen Sache (Alt. 2) wird erteilt, wenn die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen<br />
nach § 724 ZPO gegeben sind (diese sind: wirksamer Bestand des Vollstreckungstitels,<br />
Vollstreckbarkeit des Titels und vollstreckungsfähiger Inhalt des Titels) und die Rechtsnachfolge oder<br />
das Besitzverhältnis urkundlich nachgewiesen oder offenkundig ist (s. dazu sogl. u.).<br />
In zeitlicher Hinsicht ist die Erteilung der Klausel schon vor Rechtskraft des Urteils möglich, also auch bei<br />
nur erstinstanzlicher vorläufiger Vollstreckbarkeit (BGH, Beschl. v. 23.5.2001 – VII ZR 469/00, MDR 2001,<br />
1190 = NJW-RR 2001, 1362).<br />
Nach § 730 ZPO kann der neue Schuldner (Dritte) vor Erlassung der vollstreckbaren Ausfertigung gehört<br />
werden. Die Frage steht im pflichtgemäßen Ermessen des zuständigen Rechtspflegers (Zöller/SEIBEL,<br />
a.a.O., § 730 ZPO Rn 1). Die Anhörung kann schriftlich, persönlich oder durch die Geschäftsstelle erfolgen<br />
und soll dem Schuldner insb. die Möglichkeit geben, Einwendungen gegen den Beweis der besonderen<br />
Voraussetzungen vorzubringen.<br />
406 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1879<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
b) Offenkundigkeit der Rechtsnachfolge gem. § 291 ZPO oder Nachweis durch öffentliche oder<br />
öffentlich beglaubigte Urkunden<br />
Die Rechtsnachfolge des Dritten bzw. die Besitzerlangung der streitbefangenen Sache muss nach<br />
Rechtshängigkeit (vgl. § 261 Abs. 1, Abs. 2 ZPO) des Hauptsacheverfahrens (hier: Räumungsklage gegen<br />
den Hauptmieter) eingetreten sein.<br />
Eine Offenkundigkeit der Rechtsnachfolge i.S.v. § 291 ZPO liegt nicht schon bei schlichter Aktenkundigkeit<br />
vor (BGH, Beschl. v. 10.5.2012 – V ZB 156/11, MDR 2012, 1121). Ein Schweigen des Dritten bei der<br />
optionalen Anhörung hat keine Geständniswirkung, da keine Erklärungslast im Klauselerteilungsverfahren<br />
gilt, sodass § 138 Abs. 3 ZPO keine Anwendung findet (BGH, Beschl. v. 5.7.2005 – VII ZB 16/05,<br />
MDR 2006, 53).<br />
Praxistipp:<br />
Der Gläubiger sollte möglichst aussagekräftige schriftliche Erklärungen des Gerichtsvollziehers zur Besitzerlangung<br />
des Dritten erholen und für den Zeitpunkt der Besitzerlangung des Dritten eine Auskunft<br />
des Einwohnermeldeamtes vorlegen.<br />
c) Rechtsfolge und Rechtsbehelfe des Schuldners<br />
Das Verfahren nach § 727 ZPO ist grds. gebührenneutral, sowohl im Hinblick auf Gerichts- als auch auf<br />
Rechtsanwaltskosten (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 727 ZPO Rn 40 m.w.N.).<br />
Der Schuldner hat die Möglichkeiten der Erinnerung gegen die Vollstreckungsklausel nach § 732 ZPO<br />
und der Klage gegen die Vollstreckungsklausel nach § 768 ZPO. Im ersteren Fall hat der Rechtspfleger<br />
sodann die Möglichkeit, der Erinnerung abzuhelfen oder sie dem zuständigen Richter zur Entscheidung<br />
vorzulegen (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 732 ZPO Rn 14).<br />
2. Die Voraussetzungen der sog. Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />
§ 731 ZPO ist ein subsidiärer Rechtsbehelf für den Fall, dass ein für die Klauselerteilung nach § 727<br />
ZPO notwendiger urkundlicher Nachweis in der erforderlichen Form nicht beigebracht werden kann,<br />
der einfachere Weg über § 727 ZPO somit keine Erfolgsaussichten bietet. Die mit fortbestehender<br />
Rechtskraftwirkung mögliche Vollstreckung des Titels auch gegen den Dritten beschränkt den<br />
Streitgegenstand auf die Zulässigkeit der Klauselerteilung, wobei hier anders als bei § 727 ZPO alle<br />
Beweismittel zulässig sind (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 731 ZPO Rn 1).<br />
a) Verfahren und Zuständigkeit<br />
Der Streitgegenstand der Klauselerteilungsklage ist auf die Zulässigkeit der Klauselerteilung reduziert,<br />
wobei die fehlende Voraussetzung nunmehr – anders als bei § 727 ZPO – durch jedes Beweismittel<br />
möglich ist.<br />
Die Klage setzt voraus, dass der Kläger die öffentlichen oder öffentlich beglaubigten Urkunden nicht mit<br />
zumutbarem Aufwand beschaffen kann, wofür es als ausreichend erachtet wird, wenn die nach § 727<br />
ZPO beantragte Titelergänzung wegen Unzulänglichkeit vorgelegter Urkunden abgewiesen wurde. Die<br />
Beweislast für die Nichtbeschaffungsmöglichkeit der Urkunden mit angemessen geringem Aufwand<br />
liegt beim Kläger (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 731 ZPO Rn 2).<br />
Zuständig ist das Prozessgericht erster Instanz des früheren Erkenntnisverfahrens und zwar ausschließlich<br />
nach § 802 ZPO und unabhängig davon, von welcher Instanz das zu vollstreckende Urteil erlassen<br />
wurde (Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 731 ZPO Rn 3).<br />
Die Klage ist prozessual eine Feststellungsklage, sodass die Voraussetzungen von § 256 ZPO für deren<br />
Zulässigkeit gegeben sein müssen. Das Prozessgericht erteilt die Klausel nicht, sondern stellt nur fest,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 407
Fach 4, Seite 1880<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
Miete/Nutzungen<br />
dass ihre Erteilung zulässig ist (strittig: LG Hildesheim, Beschl. v. 25.2.1964 – 5 T 98/64, NJW 1964, 1232;<br />
Zöller/SEIBEL, a.a.O., § 731 ZPO Rn 4 m.w.N. auch zur Gegenauffassung „prozessuale Gestaltungsklage“). Zu<br />
klagen ist im ordentlichen Verfahren, nicht im Urkunden- und Wechselprozess; zulässig ist jedoch die<br />
Geltendmachung durch Widerklage gegenüber der Klage aus § 768 ZPO.<br />
b) Rechtsfolge und Rechtsmittel<br />
Die Urteilsformel lautet im Falle des Obsiegens wie folgt:<br />
„Dem Kläger ist Vollstreckungsklausel zu dem Urteil des … vom … in Sachen … zur Zwangsvollstreckung gegen den<br />
Beklagten zu erteilen“.<br />
Nach richtiger Auffassung beseitigt alleine die Möglichkeit einer Klauselerteilungsklage nach § 731 ZPO<br />
für eine neue Klage aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis nicht deren Rechtsschutzbedürfnis<br />
(BGH, Urt. v. 9.4.1987 – IX ZR 138/86, NJW 1987, 2863).<br />
IV. Die Räumungsregelungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO<br />
In der Praxis ist aufgrund der oben geschilderten Probleme im Zusammenhang mit mehreren Besitzern<br />
einer vermieteten Wohnung der Rechtsbehelf des § 940a Abs. 2 ZPO für die anwaltliche Beratungspraxis<br />
von entscheidender Bedeutung.<br />
Wohnungen können durch den Vermieter – wie bereits mehrfach erwähnt – nur dann zwangsgeräumt<br />
werden, wenn ein Räumungstitel gegen alle Besitzer vorliegt, die nicht bereit sind, freiwillig zu räumen<br />
(BGH, Beschl. v. 25.6.2004 – IXa ZB 29/04, NJW 2004, 3041). Das gilt nach der Rechtsprechung des BGH<br />
auch im Fall der Besitzüberlassung zur Vollstreckungsvereitelung (BGH, Beschl. v. 14.8.20<strong>08</strong> – I ZB 39/<strong>08</strong>,<br />
NJW 20<strong>08</strong>, 3287).<br />
Um dem Vermieter insb. bei Fällen von Rechtsmissbrauch im beschriebenen Sinne eine effektive<br />
Durchsetzung seines Räumungsanspruchs zu ermöglichen, wurde vom Gesetzgeber § 940a Abs. 2 ZPO<br />
geschaffen. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es, einem Missbrauch des Mieters vorzubeugen, der sich<br />
gegen die Räumung dadurch zu wehren versucht, dass er die Wohnung einem oder mehreren Dritten<br />
(bedingt vorsätzlich) überlässt, der mangels Kenntnis des Vermieters nicht mit verklagt werden konnte<br />
und deshalb im Räumungstitel nicht aufgeführt wird (Gesetzesbegründung BT-Drucks 17/10485, S. 34).<br />
Dem Vermieter soll es ermöglicht werden, im Wege der einstweiligen Verfügung einen Räumungstitel<br />
gegen den (weiteren) Besitzer zu erlangen, weil die Anspruchsprüfung i.d.R. „reine Formsache“ sei<br />
(so explizit die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 17/10485, S. 34).<br />
1. Die Voraussetzungen einer Räumungsregelungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO<br />
§ 940a Abs. 2 ZPO ermöglicht eine vereinfachte Erstreckung der Vollstreckbarkeit des gegen den Mieter<br />
ergangenen Räumungstitels auf besitzende Dritte. Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen<br />
(Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund) ist eine Abwägung der beiderseitigen Interessen – anders<br />
als bei normalen einstweiligen Verfügungen – entbehrlich.<br />
a) Anwendbarkeit nur auf Wohnraummietverhältnisse<br />
Es muss ein Wohnraummietverhältnis vorliegen, bei Mischmietverhältnissen kommt es nach allgemeinen<br />
Grundsätzen auf den Schwerpunkt des Vertragszwecks an (Schmidt-Futterer/EISENSCHMID, a.a.O., § 535<br />
BGB Rn 107 ff.). Nach vorzugswürdiger und wohl h.M. ist § 940a Abs. 2 ZPO bei Vorliegen eines<br />
Gewerbemietverhältnisses weder direkt noch analog anwendbar. Dies folgt bereits aus dem eindeutigen<br />
Wortlaut von § 940a Abs. 2 ZPO und dessen Überschrift „Räumung von Wohnraum“ (KG Berlin, Beschl.<br />
v. 5.9.2013 – 8 W 64/13, NJW 2013, 3588; OLG Celle, Beschl. v. 24.11.2014 – 2 W 237/14, NJW 2015, 711;<br />
Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 7; Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 940a ZPO Rn 4m.w.N. auch<br />
zur Gegenauffassung).<br />
4<strong>08</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1881<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
b) Vorliegen eines Verfügungsanspruchs und eines Verfügungsgrunds<br />
Da auch die Räumungsregelungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO eine einstweilige Verfügung<br />
darstellt, muss ein Verfügungsanspruch und ein Verfügungsgrund gegeben sein, mithin müssen die<br />
Voraussetzungen von § 940 ZPO inzident mit geprüft werden (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a<br />
ZPO Rn 16 m.w.N. auch zur Gegenauffassung). Anders als bei normalen einstweiligen Verfügungen gilt<br />
bei § 940a Abs. 2 ZPO hingegen, dass bei Vorliegen von Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund die<br />
Räumungsverfügung zu erlassen ist und dem Tatrichter kein Ermessensspielraum zusteht (Schmidt-<br />
Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 16 u. 51).<br />
c) Verfügungsanspruch<br />
Der Verfügungsanspruch ist der materielle Anspruch, dessen Durchsetzung durch einstweilige Verfügung<br />
gesichert werden soll. In der Praxis sind dies regelmäßig die Ansprüche auf Räumung und Herausgabe aus<br />
§ 546 Abs. 2 BGB, aber auch §§ 985, 812 BGB (WENDT, Die einstweilige Räumungsverfügung des § 940a<br />
Abs. 2 ZPO, 2015, S. 106). Auch wenn den Dritten inhaltlich nicht dieselben Rückgabepflichten wie den<br />
Mieter treffen, hat er jedenfalls die Wohnung zu räumen. Nach richtiger Auffassung gilt § 940a Abs. 2 ZPO<br />
auch für den Herausgabeanspruch aus §§ 985, 986 BGB, da die Herausgabe (= Aufgabe jeglichen Besitzes)<br />
als Minus gegenüber der Räumung (zusätzlich: Entfernung von Gegenständen und Einrichtungen)<br />
anzusehen ist (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 19).<br />
d) Verfügungsgrund<br />
Das Tatbestandserfordernis der Unkenntnis des Vermieters von der Inbesitznahme der Wohnung<br />
durch den Dritten bzw. der Kenntnis hiervon erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung des<br />
Räumungsrechtsstreits gegen den Hauptmieter, beinhaltet bereits den erforderlichen Verfügungsgrund,<br />
der vermieterseits glaubhaft zu machen ist. Einer zusätzlichen Glaubhaftmachung eines wesentlichen<br />
Nachteils des Vermieters, wie es bei einer Regelungsverfügung nach § 940 ZPO regelmäßig erforderlich<br />
ist, bedarf es gerade nicht, da ein „anderer Grund“ i.S.v. § 940 Alt. 3 ZPO vorliegt (Schmidt-Futterer/STREYL,<br />
a.a.O., § 940a ZPO Rn 20).<br />
Dem gesetzgeberischen Willen, das einstweilige Verfügungsverfahren nach § 940a Abs. 2 ZPO „anstelle<br />
eines zeitaufwendigen Hauptsacheverfahrens“ treten zu lassen (vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks 17/10485,<br />
S. 34) kann nur dadurch Rechnung getragen werden, dass der Vermieter nicht noch zusätzlich glaubhaft<br />
machen muss, dass sein Vermögensnachteil durch die Vorenthaltung der Wohnung stärker wiegt als der<br />
Besitzentzug der Wohnung durch den Dritten. § 940a Abs. 2 ZPO stellt daher eine spezialgesetzlich<br />
geregelte Leistungsverfügung dar, die faktisch auf eine endgültige Regelung bzw. Befriedigung des<br />
Vermieters abzielt und somit ausnahmsweise eine (faktische) Vorwegnahme der Hauptsache ausdrücklich<br />
zulässt (in diesem Sinne auch Müko-ZPO/DRESCHER, a.a.O., § 940a ZPO Rn 2; FLEINDL, ZMR 2013, 679; a.A.<br />
Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 940a ZPO Rn 6).<br />
Die Tatbestandsvoraussetzungen von § 940a Abs. 2 ZPO stellen danach typisierte Bedingungen für den<br />
Verfügungsgrund dar, deren Vorliegen eine weitere Abwägung der beiderseitigen Interessen wie in § 940<br />
ZPO entbehrlich macht und zwar unabhängig davon, wann der Vermieter Kenntnis von den Voraussetzungen<br />
hatte (OLG Dresden, Urt. v. 29.11.2017 – 5 U 1337/17, MDR 2018, 204; LG Mönchengladbach,<br />
Beschl. v. 10.12.2013 – NZM 2014, 132; a.A. LG Berlin, Beschl. v. 27.10.2014 – 65 T 220/14, GE 2015, 597).<br />
e) Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelnen:<br />
Es muss ein rechtskräftiger Räumungstitel gegen den oder die Mieter der Wohnung vorliegen und<br />
zumindest Mitbesitz eines Dritten an ebendieser Wohnung, von welchem der Vermieter keine Kenntnis<br />
hat bzw. erst nach dem Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung Kenntnis erlangt hat<br />
(Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 21 m.w.N.). Dritter ist nach den oben dargelegten<br />
Umständen jeder, der nicht im Räumungstitel genannt ist, wie z.B. der Ehegatte, der Lebensgefährte,<br />
Familienangehörige oder der Untermieter (vgl. bereits oben). Wenn mehrere Mieter Vertragspartei<br />
sind, muss nicht gegen alle ein rechtskräftiger Räumungstitel vorliegen, damit die Voraussetzungen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 409
Fach 4, Seite 1882<br />
Räumungsklage des Vermieters gegen mehrere Mieter<br />
Miete/Nutzungen<br />
des § 940a Abs. 2 ZPO vorliegen (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 25; a.A. WENDT, Die<br />
einstweilige Räumungsverfügung des § 940a Abs. 2 ZPO, 2015). Anderenfalls wäre der Vermieter<br />
gezwungen, auch gegen räumungswillige Mieter Räumungsklage zu erheben, obwohl er den Missbrauch<br />
der Besitzstellung durch den Dritten noch gar nicht kennt (völlig zu Recht Schmidt-Futterer/<br />
STREYL, a.a.O.).<br />
Als weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal muss der Antragsgegner vom Mieter Besitz erworben<br />
haben und keine Besitzberechtigung gegenüber dem Vermieter haben (Zöller/VOLLKOMMER,<br />
a.a.O., § 940a ZPO Rn 5). Mittelbarer Besitz oder Mitbesitz des Dritten ist ausreichend, wobei zu<br />
beachten ist, dass ein Untermieter nur eines von mehreren Zimmern auch nur zur Räumung ebendieses<br />
Zimmers verurteilt werden kann (LG Berlin, Beschl. v. 21.7.2015 – 67 T 149/15, NZM 2016, 239).<br />
Der Besitz des Dritten muss mit Wissen und Wollen bzw. zumindest mit Duldung des Hauptmieters<br />
begründet worden sein, da nur dann eine Abhängigkeit des Besitzrechtes des neuen Besitzers vom<br />
Mieter gerechtfertigt ist (in diesem Sinne auch LG Arnsberg, Urt. v. 25.2.2014 – 3 S 11/14, NJW-RR 2014,<br />
970; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 22). Der Vermieter muss den Besitzerwerb und<br />
dessen fehlende bzw. verspätete Kenntnis glaubhaft machen, idealerweise durch Vorlage einer<br />
eidesstaatlichen Versicherung, vgl. § 294 Abs. 1 ZPO.<br />
Nach § 940a Abs. 4 ZPO ist der Antragsgegner zwingend vor Erlass einer einstweiligen Verfügung<br />
anzuhören. Dem Dritten kann das rechtliche Gehör entweder im Rahmen einer schriftlichen Anhörung<br />
gewährt werden oder in einer gem. §§ 937, 922 Abs. 1 ZPO freigestellten mündlichen Verhandlung über<br />
den Antrag auf Erlass der Räumungsverfügung (Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 45). Eine<br />
gesetzgeberische Wertung, im Regelfall nicht ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, kann in<br />
§ 940a Abs. 4 ZPO hingegen nicht gesehen werden (a.A. Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 940a ZPO Rn 9).<br />
Fahrlässige oder auch grob fahrlässige Unkenntnis des Vermieters vom Besitzerwerb des Dritten<br />
stehen positiver Kenntnis nach zutreffender h.M. nicht gleich (Zöller/VOLLKOMMER, a.a.O., § 940a ZPO<br />
Rn 5; Schmidt-Futterer/STREYL, a.a.O., § 940a ZPO Rn 26 m.w.N.). Für eine Analogie fehlt es insoweit<br />
angesichts des klaren Wortlauts und des eindeutigen gesetzgeberischen Willens bereits an einer<br />
planwidrigen Regelungslücke.<br />
2. Fazit<br />
Die Räumungsregelungsverfügung nach § 940a Abs. 2 ZPO ist ein wichtiger Rechtsbehelf für die<br />
Vermieterseite, um möglichen Besitzerwechseln der vermieteten Wohnung ohne Kenntnis des<br />
Vermieters vor Erhebung einer Räumungsklage gegen den Hauptmieter effektiv und möglichst<br />
kurzfristig zu begegnen. In der Praxis scheitern Anträge auf Erlass einer solchen Räumungsverfügung<br />
nicht selten an der fehlenden Kenntnis der zwingenden Voraussetzungen und deren erforderlichen<br />
Glaubhaftmachung.<br />
V. Zusammenfassung und Ratschläge für Praxis<br />
Für die an einem Räumungsprozess Beteiligten Rechtsanwälte sind die Kenntnisse der Reichweite<br />
der Rechtskraft eines Räumungsurteils und deren Bedeutung für die Räumungsvollstreckung von<br />
elementarer Bedeutung, was naturgemäß für den Prozessbevollmächtigten des Vermieters gilt. Das<br />
Zusammenspiel zwischen den Rechtsbehelfen der §§ 727, 731 und 940a Abs. 2 ZPO spielt dabei eine<br />
herausgehobene Rolle. In der Praxis sollte vor Erhebung weiterer Räumungsklagen eruiert werden,<br />
inwieweit sich das Rechtsschutzziel nicht durch die wesentlich leichter zu begründenden Ergänzungsrechtsbehelfe<br />
der Klauselerteilungsklage (§ 731 ZPO) und Klauselerstreckung auf Dritte (§ 727 ZPO)<br />
erreichen lässt.<br />
410 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1883<br />
Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />
Allgemeines Mietrecht<br />
Besonderheiten des Miet- und Wohnungseigentumsrechts infolge der<br />
COVID-19-Pandemie<br />
Von Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Weiterer aufsichtführender RiAG, Gelsenkirchen<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Die konkreten Regelungen für Wohnund<br />
Geschäftsraummietverhältnisse<br />
1. Allgemeines Leistungsverweigerungsrecht<br />
2. Beschränkung der Kündigung von<br />
Mietpachtverhältnissen<br />
III. Sonderregelungen für die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />
1. Verwalterbestellung<br />
2. Wirtschaftsplan<br />
IV. Verlängerungsmöglichkeiten<br />
I. Einleitung<br />
Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur massive Folgen für das Gesundheitssystem, sondern auch für die<br />
Wirtschaft. Hierzu zählen auch Mieter und Vermieter. Wegen möglicher Einnahmeausfälle bei Arbeitnehmern,<br />
Selbstständigen und Unternehmen kann es schwierig werden, die laufende Miete für Wohnungen,<br />
aber auch für Gewerberäume zu bezahlen. Mietverhältnisse können bekanntlich gem. § 543 Abs. 2<br />
Nr. 3 BGB bereits dann außerordentlich fristlos gekündigt werden, wenn der Mieter für zwei aufeinanderfolgende<br />
Termine mit der Entrichtung der Miete oder eines nicht unerheblichen Teils der Miete in<br />
Verzug ist oder in einem Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung der<br />
Miete in Höhe eines Betrage in Verzug ist, der die Miete für zwei Monate erreicht. Eine ordentliche<br />
Kündigung wegen Zahlungsverzugs ist auch unterhalb dieser für die fristlose Kündigung geltenden<br />
Grenzen möglich. Eine nicht unerhebliche Pflichtverletzung des Mieters liegt bereits dann vor, wenn der<br />
Mietrückstand eine Monatsmiete beträgt und die Verzugsdauer mindestens einen Monat beträgt (BGH<br />
NZM 2013, 20 = NJW 2013, 159).<br />
Die Bundesregierung rechnet damit, dass sich die Einnahmeverluste der Mieter auf durchschnittlich mehr<br />
als zwei Monatsmieten belaufen werden (BT-Drucks 19/18110). Nur einem Teil dieser Personen dürften<br />
Sozialleistungen etwa in Form von Arbeitslosengeld, Arbeitslosengeld II oder Wohngeld zustehen. Selbst<br />
bei diesen Personen ist angesichts der Vielzahl der von den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in ihrer<br />
Leistungsfähigkeit Betroffenen nicht mit Sicherheit zu sagen, ob es den für diese Leistungen zuständigen<br />
Behörden in jedem Fall gelingen wird, den Antrag kurzfristig zu bearbeiten und die Gelder so zeitig<br />
auszuzahlen, dass ein kündigungsrelevanter Mietrückstand verhindert werden kann. Verzögerungen dieser<br />
Art hat der Mieter grds. zu vertreten (BGH BGHZ 204, 134 = WuM 2015, 152 = GE 2015, 313 = NZM 2015, 196 =<br />
DWW 2015, 89 = MDR 2015, 327 = ZMR 2015, 288 = NJW 2015, 1296 = MietPrax-AK § 543 BGB Nr. 34<br />
m. Anm. BÖRSTINGHAUS; THEESFELD, jurisPR-MietR 6/2015 Anm. 3; BÖRSTINGHAUS, LMK 2015, 367524; SCHACH,<br />
MietRB 2015, 98/109; DRASDO, NJW-Spezial 2015, 257; DERLEDER, JZ 2015, 517; FLATOW, NZM 2015, 654). Ähnlich<br />
kann die Situation für Unternehmen sein, die zur Überwindung des pandemiebedingten finanziellen<br />
Engpasses auf staatliche Hilfen angewiesen sind.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 411
Fach 4, Seite 1884<br />
Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />
Miete/Nutzungen<br />
Deshalb hat der Deutsche Bundestag (BT) ganz kurzfristig i.R.d. „Gesetzes zur Abmilderung der Folgen<br />
der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht“ vom 27.3.<strong>2020</strong> (BGBl I <strong>2020</strong>,<br />
S. 569-574) zeitlich befristete Regelungen für diesen Fall geschaffen, um Mieter zu schützen und einen<br />
Interessenausgleich mit den Vermieterinteressen zu erreichen. In Art. 240 EGBGB wurden zeitlich<br />
befristet besondere Regelungen eingeführt, welche Schuldnern, die wegen der COVID-19-Pandemie<br />
ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllen können, im Ausgangspunkt die Möglichkeit einräumen, die<br />
Leistung einstweilen zu verweigern oder einzustellen, ohne dass hieran für sie nachteilige rechtliche<br />
Folgen geknüpft werden. Für Mietverhältnisse über Grundstücke oder über Räume wird das Recht der<br />
Vermieter zur Kündigung von Mietverhältnissen eingeschränkt. Dies gilt sowohl für Wohn- als auch<br />
für Gewerberaummietverträge. Wegen Mietschulden aus dem Zeitraum vom 1.4.<strong>2020</strong> bis 30.6.<strong>2020</strong><br />
dürfen Vermieter das Mietverhältnis nicht kündigen, sofern die Mietschulden auf den Auswirkungen der<br />
COVID-19-Pandemie beruhen. Die Verpflichtung der Mieter zur Zahlung der Miete bleibt im Gegenzug<br />
im Grundsatz bestehen. Dies gilt für Pachtverhältnisse entsprechend.<br />
Außerdem wurden auch Sonderregelungen für das Wohnungseigentumsrecht geschaffen, die der<br />
Situation Rechnung tragen sollen, dass zurzeit keine Eigentümerversammlungen stattfinden können.<br />
II.<br />
Die konkreten Regelungen für Wohn- und Geschäftsraummietverhältnisse<br />
1. Allgemeines Leistungsverweigerungsrecht<br />
Art. 240 EGBGB enthält Bestimmungen über „Vertragsrechtliche Regelungen aus Anlass der COVID-19-<br />
Pandemie“. In § 1 dieses Artikels wird dem Verbraucher ein Recht zur Leistungsverweigerung bei<br />
Verträgen, die vor dem 8.3.<strong>2020</strong> geschlossen wurden, bis zum 30.6.<strong>2020</strong> eingeräumt, wenn ihm infolge<br />
von Umständen, die auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind, die Erbringung der Leistung ohne<br />
Gefährdung seines angemessenen Lebensunterhalts oder des angemessenen Lebensunterhalts seiner<br />
unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht möglich wäre. Dies gilt aber gem. Art. 240 § 1 Abs. 4 Nr. 1<br />
EGBGB ausdrücklich nicht im Zusammenhang mit Miet- und Pachtverträgen.<br />
Wichtiger Hinweis:<br />
Deshalb schulden die Mieter die Miete weiter. Das Gesetz „stundet“ die Miete nicht, wie es in der Presse<br />
teilweise heißt. Der Vermieter kann den Mieter auf Zahlung verklagen. Das geht auch im Urkundsverfahren.<br />
2. Beschränkung der Kündigung von Mietpachtverhältnissen<br />
Für diese Verträge gilt als lex specialis Art. 240 § 2 EGBGB:<br />
Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen<br />
§ 2<br />
(1) Der Vermieter kann ein Mietverhältnis über Grundstücke oder über Räume nicht allein aus dem Grund<br />
kündigen, dass der Mieter im Zeitraum vom 1.4.<strong>2020</strong> bis 30.6.<strong>2020</strong> trotz Fälligkeit die Miete nicht leistet, sofern<br />
die Nichtleistung auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht. Der Zusammenhang zwischen<br />
COVID-19-Pandemie und Nichtleistung ist glaubhaft zu machen. Sonstige Kündigungsrechte bleiben unberührt.<br />
(2) Von Absatz 1 kann nicht zum Nachteil des Mieters abgewichen werden.<br />
(3) Die Absätze 1 und 2 sind auf Pachtverhältnisse entsprechend anzuwenden.<br />
(4) Die Absätze 1 bis 3 sind nur bis zum 30.6.2022 anzuwenden.<br />
a) Gesetzeszweck<br />
Die Regelung soll Mieter von Grundstücken sowie von zu privaten oder gewerblichen Zwecken<br />
angemieteten Räumen für den Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni <strong>2020</strong> hinsichtlich des Bestands des<br />
412 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1885<br />
Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />
Vertragsverhältnisses absichern. Die Mieter sollen nicht den Verlust der Mietsache befürchten müssen,<br />
wenn sie vorübergehend die fälligen Mieten nicht fristgerecht zahlen können. Die Regelung stellt<br />
eine zeitlich begrenzte Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass eine Leistungsunfähigkeit aufgrund<br />
wirtschaftlicher Schwierigkeiten den Schuldner auch dann nicht von den Folgen des Ausbleibens der<br />
rechtzeitigen Leistung befreit, wenn sie auf unverschuldeter Ursache beruht (BGH BGHZ 204, 134 = NZM<br />
2015, 196 = NJW 2015, 1296).<br />
Hinweis:<br />
Aufgrund der außergewöhnlich kurzfristigen Abfassung des Gesetzes, der deshalb nicht möglichen<br />
Beteiligung der Praxis und der völlig neuen Situation muss bei der Auslegung und Anwendung des<br />
Gesetzes dem Gesetzeszweck eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Dabei darf nicht am<br />
Wortlaut des Gesetzestextes „geklebt“ werden.<br />
Die Vorschrift gilt für Wohn- und Geschäftsraummietverhältnisse gleichermaßen. Für die ordentliche<br />
Kündigung von Wohnraummietverhältnissen gem. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist Verschulden erforderlich.<br />
Hier kann sich der Mieter auf unvorhersehbare wirtschaftliche Engpässe berufen (BGH WuM 2016, 682).<br />
Gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB ist es dabei aber Sache des Mieters, im Einzelnen darzulegen, dass die<br />
finanzielle Notlage aufgrund einer unvorhersehbaren wirtschaftlichen Notlage eingetreten ist (BGH<br />
NZM 2013, 20 = NJW 2013, 159 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 44 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BGH WuM 2016,<br />
682 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 59 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
b) Ausschließlich erfasste Mieten<br />
Die Vorschrift erfasst nur Zahlungsrückstände, die vom 1. April bis 30. Juni <strong>2020</strong> entstanden sind oder<br />
entstehen. Nach den Voraussagen zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes ist zumindest für<br />
diesen Zeitraum mit erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen durch die COVID-19-Pandemie zu<br />
rechnen. Es geht also um zurzeit max. drei Monatsmieten (zur Verlängerungsmöglichkeit: s.u. IV).<br />
c) Der Kündigungsausschluss<br />
Mieter erhalten für diese Monate kein Leistungsverweigerungsrecht nach Art. 240 § 1 EGBGB. Sie<br />
bleiben nach allgemeinen Grundsätzen zur Leistung verpflichtet. Sie können grds. in Verzug geraten,<br />
wobei dies gem. § 286 Abs. 4 BGB dann nicht der Fall ist, wenn dies aufgrund eines Umstands geschieht,<br />
den sie nicht zu vertreten haben. Ob in der augenblicklichen Situation der Grundsatz „Geld hat man zu<br />
haben“ tatsächlich uneingeschränkt weiter gilt, darf ernsthaft bezweifelt werden.<br />
Das bedeutet, dass in den Fällen, in denen der Wohn- oder Geschäftsraummieter die im Zeitraum vom<br />
1.4.<strong>2020</strong> bis 30.6.<strong>2020</strong> fällige Miete ganz oder teilweise nicht zahlt, der Vermieter das Mietverhältnis<br />
wegen dieser Rückstände nicht kündigen darf, wenn diese auf den Auswirkungen der COVID-19-<br />
Pandemie beruhen. Derartige Mietrückstände stellen zunächst keinen wichtigen Grund zur außerordentlichen<br />
fristlosen Kündigung gem. § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB dar. Nach der Gesetzesbegründung<br />
(BT-Drucks 19/18110) bedeutet der Zahlungsrückstand für Mieten für diese Monate auch keine<br />
schuldhafte Pflichtverletzung gem. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB.<br />
Hinweis:<br />
1. Die Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses allein aufgrund solcher Mietrückstände ist deshalb<br />
ausgeschlossen.<br />
2. Strittig könnte sein, ob die Kündigung dann möglich ist, wenn der Kündigungsgrund sich aus einer Addition<br />
rückständiger Mieten aus der Zeit vor dem 1.4.<strong>2020</strong> und Mieten aus der Zeit vom 1.4. bis 30.6.<strong>2020</strong> ergibt.<br />
Der Wortlaut „allein“ könnte dafür sprechen. Sinn und Zweck der Regelung sprechen aber dafür, diese<br />
Mieten bei der Rückstandsberechnung gar nicht zu berücksichtigen, sodass<br />
• eine Kündigung auch nach dem 1.4.<strong>2020</strong> möglich ist, wenn sie ausschließlich mit Rückständen begründet<br />
wird, die bis zum 31.3.<strong>2020</strong> entstanden sind.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 413
Fach 4, Seite 1886<br />
Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />
Miete/Nutzungen<br />
• eine Kündigung nicht möglich ist, wenn entweder nur im März und April <strong>2020</strong> ein Rückstand von mehr<br />
als einer Monatsmiete entstanden ist oder in den Monaten vor dem 1.4.<strong>2020</strong> zusammen mit den Mieten<br />
für April bis Juni <strong>2020</strong> ein Rückstand von mindestens 2 Monatsmieten aufgelaufen ist. Gleiches gilt für<br />
Rückstände ab dem 1.7.<strong>2020</strong>.<br />
Strittig ist, ob gar kein Kündigungsgrund besteht oder ob die Kündigung erst später erklärt werden darf.<br />
Nach hier vertretener Auffassung wollte der Gesetzgerber den Kündigungsgrund erst gar nicht entstehen<br />
lassen.<br />
Gemäß Art. 240 § 2 Abs. 4 EGBGB ist der Kündigungsausschluss gem. Art. 240 § 2 S. 1 EGBGB nur bis zum<br />
30.6.2022 anwendbar. Dies bedeutet, dass wegen Zahlungsrückständen, die vom 1.4.<strong>2020</strong> bis zum<br />
30.6.<strong>2020</strong> eingetreten und bis zum 30.6.2022 nicht ausgeglichen sind, nach diesem Tag wieder gekündigt<br />
werden kann. Damit haben Mieter vom 30.6.<strong>2020</strong> an über zwei Jahre Zeit, einen zur Kündigung<br />
berechtigenden Mietrückstand auszugleichen. Ist der Rückstand bis zum 30.6.2022 vollständig ausgeglichen<br />
(BGH NZM 2016, 765 = GE 2016, 1272 = MDR 2016, 1257 = NJW 2016, 3437 = WuM 2016, 658 = DWW<br />
2016, 330 = ZMR 2017, 30 = MietPrax-AK § 543 BGB Nr. 42 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS, jurisPR-<br />
BGHZivilR 18/2016 Anm. 4; KAPPUS, NZM 2016, 766; SCHACH, GE 2016, 1242; ABRAMENKO, MietRB 2016, 312;<br />
SCHACH, jurisPR-MietR 24/2016 Anm. 3), kann der Vermieter gem. § 543 Abs. 2 S. 2 BGB nicht mehr kündigen.<br />
In allen Fällen ist die Kündigung aber nur dann ausgeschlossen, wenn die Nichtleistung des Mieters auf<br />
der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie beruht. Beruht die Nichtleistung des Mieters auf anderen<br />
Gründen, z.B., weil er zahlungsunwillig ist oder seine Zahlungsunfähigkeit andere Ursachen als die<br />
COVID-19-Pandemie hat, ist die Kündigung hingegen nicht ausgeschlossen. Dies ergibt sich aus Art. 240<br />
§ 2 S. 3 EGBGB.<br />
Der Vermieter kann die Kündigung auch aus sonstigen Gründen erklären, etwa wegen Vertragsverletzungen<br />
anderer Art, beispielsweise wegen unbefugter Überlassung der Mietsache an Dritte oder<br />
wegen Eigenbedarfs.<br />
d) Die Darlegungs- und Beweislast<br />
Gemäß Art. 240 § 2 S. 2 EGBGB obliegt es dem Mieter, den Zusammenhang zwischen COVID-19-<br />
Pandemie und Nichtleistung der Miete im Streitfall glaubhaft zu machen. Eine vorprozessuale<br />
Verpflichtung zur Glaubhaftmachung besteht demgegenüber nicht. Es müssen die Tatsachen dargelegt<br />
werden, aus denen sich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, dass die Nichtleistung auf<br />
der COVID-19-Pandemie beruht. Wer eine tatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen hat, kann sich<br />
gem. § 294 Abs. 1 ZPO aller Beweismittel bedienen. Auch die Versicherung an Eides statt ist zugelassen.<br />
Geeignete Mittel können insb. der Nachweis der Antragstellung bzw. die Bescheinigung über die Gewährung<br />
staatlicher Leistungen, Bescheinigungen des Arbeitsgebers oder andere Nachweise über das<br />
Einkommen bzw. über den Verdienstausfall sein.<br />
Mieter von Gewerbeimmobilien können darüber hinaus den Zusammenhang zwischen der COVID-19-<br />
Pandemie und der Nichtleistung regelmäßig mit Hinweis darauf glaubhaft machen, dass der Betrieb ihres<br />
Unternehmens i.R.d. Bekämpfung der Pandemie durch Rechtsverordnung oder behördliche Verfügung<br />
untersagt oder erheblich eingeschränkt worden ist. Dies betrifft z.B. Gaststätten oder Hotels, deren<br />
Betrieb zumindest für touristische Zwecke in vielen Bundesländern untersagt ist. Es kommt wohl auch<br />
nicht auf die allgemeine Leistungsfähigkeit des Unternehmens an. Große Handelsketten haben bereits<br />
angekündigt, für die drei Monate keine Miete zu zahlen, weil ihre Geschäfte geschlossen sind oder Kunden<br />
schlicht nicht mehr kommen. Auch bei ihnen „beruht“ die Nichtleistung auf der Pandemie, auch wenn sie<br />
Rücklagen haben oder einen Onlineshop betreiben. Sie können aber auf Zahlung verklagt werden.<br />
Hinweis:<br />
Die Glaubhaftmachung ist im Hauptsacheprozess ein grds. nicht vorgesehenes Beweismaß. Hier helfen<br />
normalerweise die üblichen Beweiserleichterungen inkl. der Schätzung gem. § 287 ZPO.<br />
414 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1887<br />
Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />
e) Die Schonfristzahlung<br />
Obwohl der Schutzzweck der gleiche und die Problematik für den Mieter ähnlich ist, betrifft die Regelung<br />
nicht die Schonfristzahlung gem. § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB. War das Mietverhältnis also wegen eines vor dem<br />
1.4.<strong>2020</strong> entstandenen Mietrückstands außerordentlich fristlos gekündigt worden, dann kann grds. der<br />
Mieter bis zwei Monate nach Zustellung der Räumungsklage diesen Rückstand ausgleichen. Damit wird<br />
die Kündigung von Anfang an (BGH BGHZ 220, 1 = MDR 2018, 1364 = WuM 2018, 714 = GE 2018, 1389 =<br />
NJW 2018, 3517 = DWW 2018, 377 = NZM 2018, 941 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 71 m. Anm. BÖRSTINGHAUS;<br />
BÖRSTINGHAUS, jurisPR-BGHZivilR 19/2018 Anm. 1; BÖRSTINGHAUS, LMK 2018, 411605; KAPPUS, NJW 2018, 3522;<br />
BEYER, jurisPR-MietR 24/2018 Anm. 3; SINGBARTL/KRAUS, NZM 2018, 946; DRASDO, NJW-Spezial 2019, 1; DÖTSCH,<br />
MietRB 2019, 5; MEIER, ZMR 2019, 175) unwirksam. Auch zu einer solchen Schonfristzahlung ist der Mieter<br />
eventuell wegen der pandemiebedingten Zahlungsausfälle nicht in der Lage. Der Wortlaut der Norm ist<br />
aber eindeutig. Die Vorschrift kann auf diesen Fall nicht angewandt werden. Es bleibt nur die Möglichkeit<br />
einer Verpflichtungserklärung durch die zuständige Stelle.<br />
Der Mieter kann bei einer Räumungsklage nach Juni 2022, die auf Rückstände aus der Zeit 1.4. bis<br />
30.6.<strong>2020</strong> beruht, eine Schonfristzahlung bis zwei Monate nach der Zustellung der Räumungsklage<br />
erbringen. Diese Zahlung hat aber keine Auswirkungen auf eine eventuell – hilfsweise – erklärte<br />
ordentliche Kündigung (BGH BGHZ 220, 1 = MDR 2018, 1364 = WuM 2018, 714 = GE 2018, 1389 = NJW<br />
2018, 3517 = DWW 2018, 377 = NZM 2018, 941 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 71 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
III. Sonderregelungen für die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />
Ein Wohnungsverlust droht dem Wohnungseigentümer nicht. Die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />
ist aber darauf angewiesen, bestimmte Beschlüsse fassen zu können, um Ansprüche durchzusetzen<br />
und handlungsfähig bleiben zu können. Dies ist aber aufgrund der bestehenden landesgesetzlichen<br />
Beschränkungen der Versammlungsmöglichkeiten derzeit nicht möglich. Deshalb hat der Gesetzgeber<br />
hier Erleichterungen vorgesehen.<br />
Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht<br />
zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie<br />
§6<br />
Wohnungseigentümergemeinschaften<br />
(1) Der zuletzt bestellte Verwalter i.S.d. Wohnungseigentumsgesetzes bleibt bis zu seiner Abberufung oder bis<br />
zur Bestellung eines neuen Verwalters im Amt.<br />
(2) Der zuletzt von den Wohnungseigentümern beschlossene Wirtschaftsplan gilt bis zum Beschluss eines neuen<br />
Wirtschaftsplans fort.<br />
1. Verwalterbestellung<br />
Aufgrund der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Situation ist die Durchführung von Eigentümerversammlungen<br />
derzeit vielfach nicht möglich. Bei größeren Gemeinschaften ist die Zusammenkunft<br />
der Eigentümer häufig schon aufgrund behördlicher Anordnungen nicht gestattet. Auch stehen<br />
vielerorts geeignete Räumlichkeiten nicht zur Verfügung. Zudem kann es den Wohnungseigentümern<br />
wegen der damit verbundenen Gesundheitsgefährdung nicht zumutbar sein, an einer Eigentümerversammlung<br />
teilzunehmen.<br />
Handlungsfähig bleibt die Wohnungseigentümergemeinschaft in dieser Situation, wenn ein Verwalter<br />
vorhanden ist. Er kann gem. § 27 Abs. 1 Nr. 3 WEG in dringenden Fällen die zur Erhaltung des gemeinschaftlichen<br />
Eigentums erforderlichen Maßnahmen ohne vorherige Befassung der Wohnungseigentümer<br />
treffen. Ein solch dringender Fall liegt dann vor, wenn die vorherige Befassung der Eigentümer<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 415
Fach 4, Seite 1888<br />
Miet- und WEG-Recht: COVID-19-Pandemie<br />
Miete/Nutzungen<br />
in der Eigentümerversammlung nicht möglich ist. Liegt ein solcher Fall vor, ist der Verwalter gem. § 27<br />
Abs. 3 S. 1 Nr. 4 WEG auch zur Vertretung der Gemeinschaft berechtigt. Daneben ist der Verwalter<br />
gem. Nr. 2 berechtigt, Maßnahmen zu treffen, die zur Wahrung einer Frist oder zur Abwendung eines<br />
sonstigen Rechtsnachteils erforderlich sind.<br />
Damit die Gemeinschaft diesen Notbetrieb aufrechterhalten kann, ist das Vorhandensein eines<br />
Verwalters unabdingliche Voraussetzung. Denkbar sind Fälle, in denen die Amtszeit des bestellten<br />
Verwalters in dem Zeitraum endet, in dem die Durchführung einer Eigentümerversammlung nicht<br />
möglich ist. Deshalb sieht § 6 vor, dass der zuletzt bestellte Verwalter bis zu seiner Abberufung oder bis<br />
zur Bestellung eines neuen Verwalters im Amt bleibt. Dadurch werden die durch den Bestellungsbeschluss<br />
sowie durch die Höchstfristen des § 26 Abs. 1 S. 2 WEG festgesetzten Begrenzungen der<br />
Amtszeit zeitweise außer Kraft gesetzt. Die Vorschrift gilt sowohl für den Fall, dass die Amtszeit des<br />
Verwalters zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift bereits abgelaufen ist, als auch für den Fall,<br />
dass sie erst danach abläuft. Die Amtszeit endet mit der Abberufung des Verwalters oder der Bestellung<br />
eines neuen Verwalters. Die Möglichkeit der Niederlegung des Amts bleibt unberührt.<br />
2. Wirtschaftsplan<br />
Die Wohnungseigentümer sind einander zur Tragung der Lasten des Gemeinschaftseigentums sowie<br />
der Kosten seiner Verwaltung und seines gemeinschaftlichen Gebrauchs nach dem Verhältnis ihrer Anteile<br />
verpflichtet. Die anteilsmäßige Verpflichtung der Wohnungseigentümer zur Tragung der Lasten und<br />
Kosten – sog. Wohn- oder Hausgeld – hat der Verwalter in den vom ihm jeweils für ein Kalenderjahr<br />
aufzustellenden Wirtschaftsplan aufzunehmen. Die Wohnungseigentümer sind verpflichtet, entsprechende<br />
Vorschüsse zu leisten. Nach Ablauf des Kalenderjahrs hat der Verwalter eine Abrechnung zu erstellen.<br />
Über Wirtschaftsplan und Abrechnung beschließen die Wohnungseigentümer durch Stimmenmehrheit.<br />
Dieser Beschluss bildet den Geltungsgrund für die Verpflichtung des einzelnen Wohnungseigentümers.<br />
Durch ihn werden i.R.d. allgemeinen Beitragspflicht die Verbindlichkeiten jedes einzelnen Wohnungseigentümers<br />
gegenüber den anderen begründet (st. Rspr des BGH MDR 1994, 1113, 1114 m.w.N.).<br />
Die WEG-Gemeinschaft ist auf den regelmäßigen Geldeingang zur Tragung der Lasten angewiesen. Die<br />
Wohnungseigentümer haben die Kompetenz zu beschließen, dass ein konkreter Wirtschaftsplan bis zur<br />
Beschlussfassung über den nächsten Wirtschaftsplan fortgelten soll; eine abstrakt-generelle Regelung des<br />
Inhalts, dass jeder künftige Wirtschaftsplan bis zur Verabschiedung eines neuen fortgelten soll, bedarf<br />
hingegen der Vereinbarung (BGH NZM 2019, 374). Für die Fälle, in denen ein solcher Beschluss oder<br />
eine entsprechende Vereinbarung nicht vorliegen, sieht § 6 Abs. 2 vor, dass der zuletzt beschlossene<br />
Wirtschaftsplan bis zum Beschluss eines neuen Wirtschaftsplans fortgilt. Damit wird die Finanzierung<br />
der Gemeinschaft auch in den Fällen sichergestellt, in denen eine Fortgeltung des Wirtschaftsplans nicht<br />
beschlossen wurde.<br />
Über die Jahresabrechnung ist dagegen zu beschließen, sobald die Eigentümerversammlung wieder zusammentreten<br />
kann. Soweit die Jahresabrechnung als Zahlenwerk insb. für steuerliche Zwecke erforderlich<br />
ist, ist sie den Wohnungseigentümern schon zuvor zur Verfügung zu stellen (BT-Drucks 19/18110).<br />
Hinweis:<br />
Möglich ist weiterhin die Beschlussfassung im schriftlichen Umlaufverfahren gem. § 23 Abs. 3 WEG. In<br />
diesem Fall müssen aber alle Wohnungseigentümer zustimmen.<br />
IV. Verlängerungsmöglichkeiten<br />
Art. 240 § 4 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB sieht vor, dass die Bundesregierung ermächtigt wird, durch Rechtsverordnung<br />
ohne Zustimmung des Bundesrats die in Art. 240 § 2 Abs. 1 und 3 EGBGB enthaltene<br />
Kündigungsbeschränkung auf Zahlungsrückstände zu erstrecken, die im Zeitraum vom 1.7.<strong>2020</strong> bis<br />
längstens zum 30.9.<strong>2020</strong> entstanden sind.<br />
416 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1733<br />
Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />
Sozialrecht<br />
Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im<br />
Bereich der betrieblichen Altersversorgung<br />
Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht, Dr. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />
Hinweis:<br />
Der Beitrag ist eine Besprechung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.12.2019 – 1 BvR<br />
3<strong>08</strong>7/14 (stattgebender Kammerbeschluss; eingesandt von RA HARALD WEYMANN)<br />
Inhalt<br />
I. Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />
vom 11.12.2019 – 1 BvR 3<strong>08</strong>7/14<br />
1. Einführung<br />
2. Ausgangslage des aktuellen verfassungsrechtlichen<br />
Verfahrens<br />
3. Entscheidung des BVerfG<br />
II. Fazit der Entscheidung des BVerfG<br />
I. Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.12.2019 – 1 BvR 3<strong>08</strong>7/14<br />
Die dritte Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat am 11.12.2019 eine<br />
Verfassungsbeschwerde angenommen und ihr stattgegeben, die die Gleichbehandlung von Ehe und<br />
eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Altersversorgung für die Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes betrifft.<br />
1. Einführung<br />
a) Allgemein zur Stellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft im Arbeits- und Sozialrecht<br />
(Überblick)<br />
Am 1.8.2001 ist das Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftsgesetz,<br />
LPartG) in Kraft getreten. Seitdem können gleichgeschlechtliche Paare eine Lebenspartnerschaft<br />
begründen. Ab Inkrafttreten des § 1353 Abs. 1 S. 1 BGB (Gesetz zur Einführung des Rechts auf<br />
Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.7.2017, BGBl I, S. 2787) steht die Eheschließung<br />
seit dem 1.10.2017 auch Personen gleichen Geschlechts offen. Die Möglichkeit zur Gründung einer<br />
Lebenspartnerschaft besteht seitdem nicht mehr. Das LPartG ist noch anzuwenden auf vor dem<br />
1.10.2017 begründeten Lebenspartnerschaften, wenn die Partner nicht von der in § 20a Abs. 1 LPartG<br />
eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen, die Lebenspartnerschaft in eine Ehe umwandeln zu<br />
lassen.<br />
Europarechtlich ist im Arbeitsrecht die Richtlinie 2000/78 EG des Rates vom 27.11.2000 (zur Festlegung<br />
eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf)<br />
von Bedeutung, etwa bei der Hinterbliebenenversorgung.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 417
Fach 18, Seite 1734<br />
Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />
Sozialrecht<br />
Der EuGH hat entschieden, es liege ein Verstoß gegen Art. 1 und Art. 2 dieser Richtlinie vor, wenn nach<br />
Versterben eines Lebenspartners der überlebende Partner keine Hinterbliebenenversorgung entsprechend<br />
einem überlebenden Ehegatten erhält und die Situation der Lebenspartner der von<br />
Ehegatten nach nationalem Recht vergleichbar ist (EuGH, Urt. v. 1.4.20<strong>08</strong> – C 27/06 [Maruko], NZA<br />
20<strong>08</strong>, 459; s. ferner weiter zur Hinterbliebenenversorgung von Lebenspartnern VOGELSANG in Schaub,<br />
Arbeitsrechtshandbuch, 18. Aufl. § 274, Rn 158 m.w.N.).<br />
Das BAG hat durch Urt. v. 11.2.2012 (3 AZR 684/10) entschieden, Art. 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 BeamtVG in<br />
seiner bis zum 31.12.20<strong>08</strong> geltenden Fassung, der eine Hinterbliebenenversorgung nur für Ehepartner,<br />
nicht aber für eingetragene Lebenspartner vorsah, sei eine gegen die vorgenannte Richtlinie verstoßende<br />
Ungleichbehandlung. Sie stelle jedenfalls ab dem 1.1.2005 (zur Bedeutung dieses Datums siehe Hinweis<br />
unten I 3 b bb) eine unmittelbare Diskriminierung wegen sexueller Ausrichtung nach Art. 2 Abs. 2a<br />
i.V.m. Art. 1 der Richtlinie dar; weil diese hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung bis zum 31.12.20<strong>08</strong><br />
nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt wurde, sei sie unmittelbar anwendbar. Eine entsprechende<br />
Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern und Ehegatten bei der Hinterbliebenenversorgung<br />
wird ebenso für die Gewährung von Entgeltbestandteilen, die an einen im Hausstand<br />
lebenden Ehegatten, den Bestand einer Familie oder an das Vorhandensein von Kindern anknüpfen,<br />
befürwortet (s. AHRENDT in Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 18. Aufl., § 36 Rn 14 m.w.N. in Fn 71).<br />
Auch im Sozialrecht besteht eine weitgehende Annäherung der Stellung von eingetragenen Lebenspartnern<br />
und Ehegatten, wie folgende Beispiele aufzeigen:<br />
• § 56 SGB I regelt die Sonderrechtsnachfolge fälliger Ansprüche auflaufender Geldleistungen beim<br />
Tod des Berechtigten (abweichend vom Erbrecht nach dem BGB). In § 56 S. 1 Nr. 1a SGB I wird nach<br />
dem Ehegatten auch der Lebenspartner genannt.<br />
• Die beitragsfreie Familienversicherung nach § 10 SGB V erstreckt sich nach Abs. 1 S. 1 der Vorschrift<br />
auch auf Lebenspartner. Damit sind insofern auch Kinder des Lebenspartners, der Mitglied der<br />
gesetzlichen Krankenversicherung ist, in die Familienversicherung einbezogen.<br />
• In der gesetzlichen Rentenversicherung wird in der Hinterbliebenenversorgung Lebenspartnern<br />
durch § 46 Abs. 4 SGB VI die gleiche Rechtsposition eingeräumt wie Ehegatten.<br />
• Die gesetzliche Unfallversicherung sieht Hinterbliebenenleistungen ebenfalls für eingetragene<br />
Lebenspartner vor, § 63 Abs. 1a SGB VII.<br />
• Zur Gleichstellung hinsichtlich des Anspruchs auf Elterngeld wird auf § 1 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BEEG<br />
verwiesen, Entsprechendes gilt beim Wohngeld, § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 WoGG.<br />
Hinweis:<br />
Bei bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistungen geht die Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft<br />
bei der Inanspruchnahme sozialer Rechte damit einher, dass – ggf. anspruchsmindernd –<br />
auch Einkommen und Vermögen von Lebenspartnern auf den Anspruch des Partners anzurechnen ist.<br />
Dies wird mit dem Hinweis begründet, dass die Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutz<br />
der staatlichen Ordnung steht, woraus sich u.a. ein Diskriminierungsverbot ergibt, wonach Ehegatten<br />
gegenüber Lebenspartnerschaften nicht benachteiligt werden dürfen.<br />
Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) sind nicht dauernd getrenntlebende Lebenspartner<br />
nach § 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II Mitglied der Bedarfsgemeinschaft und haben damit nach Maßgabe von § 9<br />
Abs. 2 SGB II ihr Einkommen und Vermögen einzusetzen.<br />
Eine entsprechende Regelung trifft für den Bereich der Sozialhilfe § 27 Abs. 2 S. 1 SGB XII sowie für die<br />
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung § 43 Abs. 1 S. 2 SGB XII .<br />
b) Abgrenzung zur eheähnlichen Gemeinschaft<br />
Personen, die weder in einer Ehe noch in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, sind von den<br />
Ausführungen zu I 1 a) hinsichtlich der Inanspruchnahme sozialer Rechte grds. nicht betroffen. Allerdings<br />
418 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1735<br />
Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />
sieht das Sozialrecht bei bedürftigkeitsabhängigen Leistungen bei sog. eheähnlichen bzw. partnerschaftsähnlichen<br />
Gemeinschaften – zwischenzeitlich hat sich der Begriff Verantwortungs- und<br />
Einstehensgemeinschaft eingebürgert – die Anrechnung von Einkommen und Vermögen vor. Auch<br />
insoweit gilt der Grundsatz, dass Ehegatten gegenüber diesen Gemeinschaften nicht benachteiligt<br />
werden dürfen.<br />
So gehört nach § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II zur Bedarfsgemeinschaft auch eine Person, die mit der<br />
erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass<br />
nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu<br />
tragen und füreinander einzustehen.<br />
Im SGB II wird zudem vermutet – was für die Leistungsberechtigten mit einer ungünstigen Änderung<br />
der objektiven Beweislast verbunden ist –, dass ein wechselseitiger Wille besteht, Verantwortung<br />
füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wenn Partner<br />
• länger als ein Jahr zusammenleben,<br />
• mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,<br />
• Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder<br />
• befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen (§ 7 Abs. 3a SGB II).<br />
In SGB XII ist der Einkommens- und Vermögenseinsatz dieses Personenkreises in § 20 bzw. § 43 Abs. 1<br />
S. 2 SGB XII (für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) geregelt.<br />
2. Ausgangslage des aktuellen verfassungsrechtlichen Verfahrens<br />
Der Beschwerdeführer bezog von der beklagten Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL)<br />
seit 1998 eine Zusatzrente. Bei deren Berechnung wurde gem. § 41 Abs. 2a bis 2c der Satzung der<br />
Beklagten vom 11.12.1966 in der Fassung vom 20.12.2001 (VBLS a.F.) die Lohnsteuer nach der Steuerklasse<br />
I (s. § 38b Abs.1 S. 2 Nr. 1 EStG), kein Kinderfreibetrag nach § 38b Abs. 2 EStG, zugrunde gelegt. Der<br />
Beschwerdeführer begründete am 23.11.2001 eine eingetragene Lebenspartnerschaft (§ 1 LPartG),<br />
worüber er die VBL erstmals mit Schreiben vom 8.10.2006 unterrichtete. Er beantragte sodann im Jahre<br />
2011 eine Neuberechnung seiner Rente rückwirkend ab dem Zeitpunkt seiner Verpartnerung im Jahre<br />
2001. Die VBL leistete eine Nachzahlung für den Zeitraum ab dem auf die Mitteilung über die<br />
Verpartnerung folgenden Monat, lehnte dies aber weiter rückwirkend, für den Zeitraum vor der<br />
Mitteilung, ab.<br />
Die Klage des Beschwerdeführers auf eine höhere Zusatzrente für den Zeitraum vor der Mitteilung<br />
seiner Verpartnerung blieb zunächst sowohl beim LG Karlsruhe als auch beim OLG Karlsruhe ohne<br />
Erfolg. Im Revisionsverfahren hat der BGH ausgeführt, zwar müsse die eingetragene Lebenspartnerschaft<br />
wie eine Ehe behandelt und für die Berechnung der Zusatzrente daher die für Ehepaare<br />
günstigere Steuerklasse III/0 zugrunde gelegt werden, dies gelte jedoch erst ab der Mitteilung der<br />
Verpartnerung gegenüber der VBL, da § 56 Abs. 1 S. 4 VBLS a.F. einen entsprechenden Antrag<br />
voraussetze, der erst in der Mitteilung aus dem Jahre 2006 liege (BGH, Urt. v. 10.9.2014 – IV ZR 298/13).<br />
Das Antragserfordernis bewirke keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zwar sei der Rechtsprechung<br />
des BVerfG zu entnehmen, dass die Satzung der Beklagten unmittelbar am Gleichheitsgebot des Art. 3<br />
Abs. 1 GG zu messen ist und die Ungleichbehandlung von verheirateten und in einer eingetragenen<br />
Lebenspartnerschaft lebenden Beamten beim Familienzuschlag der Stufe 1 eine am allgemeinen<br />
Gleichheitssatz zu messende Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung darstellt (BVerfG,<br />
Beschl. v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, NJW 2010, 1439 hierzu VON ROETTEKEN, juris-ArbR 48/2009 Anm. 2 und<br />
SPIOLEK, jurisPR-SozR 15/2010 Anm. 5; anders noch BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 8.11.2007 – 2 BvR<br />
2466/06). Nach diesen Vorgaben führe auch die Privilegierung von verheirateten Versicherten<br />
gegenüber Versicherten, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, bei der Berechnung<br />
des fiktiven Nettoarbeitsentgelts der VBL-Satzung zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehand-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 419
Fach 18, Seite 1736<br />
Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />
Sozialrecht<br />
lung, allerdings hindere dies die Beklagte nicht, sich bei einer deshalb gebotenen Neubemessung<br />
der Rentenleistungen auf das Antragserfordernis mit der Folge zu berufen, dass eine Neuberechnung<br />
für die Zeit vor Antragstellung unterbleibt. Es bedeute keine Ungleichbehandlung, wenn die VBL<br />
das Antragserfordernis – ebenso wie bei Verheirateten – bei Versicherten anwendet, die in einer<br />
eingetragenen Lebenspartnerschaft leben; dies sei vielmehr die Konsequenz daraus, dass deren Partner<br />
mit Verheirateten gleich behandelt werden sollen (s. näher BGH a.a.O., Rn 35 ff. der Entscheidungsgründe).<br />
3. Entscheidung des BVerfG<br />
a) Annahme der Verfassungsbeschwerde, Entscheidung durch die Kammer<br />
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde erfolgte nach § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG, weil dies zur<br />
Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts des Beschwerdeführers auf Gleichbehandlung gem.<br />
Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist. Die Entscheidung konnte von der Kammer getroffen werden, weil die<br />
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden sind. Der vorliegende Fall betrifft die<br />
Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG (das Gericht verweist insoweit auf<br />
BVerfGE 129, 49 [68 f.]; 130, 240 [252 ff.]) aufgrund der Ungleichbehandlung wegen der sexuellen<br />
Orientierung (insoweit werden die früheren Entscheidungen BVerfGE 124, 199 [218 ff.] = NJW 2010, 1439;<br />
BVerfGE 133, 377 [407 ff. Rn73ff.] = NJW 2013, 2257 mit Anm. SANDERS, S. 2236 angeführt).<br />
Die Verfassungsbeschwerde ist zudem offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Die<br />
angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, soweit<br />
sie im Zeitraum vor November 2006 einen Anspruch auf Neuberechnung der Rente unter Verweis auf<br />
den fehlenden Antrag verneinen.<br />
b) Begründung der Entscheidung<br />
aa) Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab<br />
Die Prüfung des Vorbringens des Beschwerdeführers erfolgt an Hand des allgemeinen Gleichheitssatzes<br />
des Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich, sowie wesentlich<br />
Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Verboten ist daher auch ein<br />
gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt,<br />
einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird.<br />
Es gilt ein stufenloser, amGrundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher<br />
Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils<br />
betroffenen unterschiedlichen Sach-und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Je nach Regelungsgegenstand<br />
und Differenzierungsmerkmalen reicht er vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen<br />
Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Die Anforderungen verschärfen sich umso mehr, je<br />
mehr die Merkmale sich den in Art. 3 Abs. 3 GG ausdrücklich benannten annähern. Für die Kontrolle,<br />
ob ein hinreichend gewichtiger Differenzierungsgrund vorliegt, der eine Ungleichbehandlung von<br />
verheirateten und eingetragenen Lebenspartnern zu rechtfertigen vermag, gilt danach ein strenger<br />
Maßstab, da die unterschiedliche Behandlung von Menschen in einer Ehe und in einer eingetragenen<br />
Lebenspartnerschaft an das in Art. 3 Abs. 3 GG erwähnte personenbezogene Merkmal der sexuellen<br />
Orientierung anknüpft. Der Beschwerdeführer erhält im vorliegenden Fall für einen bestimmten<br />
Zeitraum keine Rentennachzahlung, weil er keinen Antrag gestellt hat, was wiederum darauf beruht,<br />
dass er nicht verheiratet war, sondern in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebte.<br />
bb) Kein Antragserfordernis vor dem 7.7.2009<br />
Das BVerfG entscheidet, die uneingeschränkte Anwendung der Vorschrift zum Antragserfordernis<br />
auf verpartnerte Versicherte benachteilige jedenfalls im Zeitraum vor dem 7.7.2009 (Erlass der<br />
Entscheidung BVerfG – 1 BvR 1164/07, a.a.O., s.o. unter 2) den Beschwerdeführer in nicht gerechtfertigter<br />
Weise und die angegriffenen Urteile verkennen insofern die Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1<br />
420 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1737<br />
Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />
GG an die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Im Ausgangspunkt zutreffend gehen<br />
die Fachgerichte allerdings davon aus, dass verpartnerte Versicherte in Bezug auf die bei der Berechnung<br />
der Zusatzrente heranzuziehenden Steuerklasse in gleicher Weise zu begünstigen sind, wie<br />
verheiratete Versicherte. Dies entspricht der Rechtsprechung des BVerfG (s. insb. BVerfGE 133, 377,<br />
wonach weder der in Art. 6 Abs. 1 GG verankerte besondere Schutz der Ehe noch die im Steuerrecht<br />
bestehende Typisierungsbefugnis eine Differenzierung zwischen den Instituten der Ehe und der<br />
eingetragenen Lebenspartnerschaft rechtfertigt).<br />
Hinweis:<br />
Mit dem zum 1.1.2005 in Kraft getretenen Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts<br />
vom 15.12.2004 wurde das Recht der eingetragenen Lebenspartnerschaft noch näher dem Eherecht<br />
angeglichen und auf die Normen zur Ehe im weitem Umfang (hinsichtlich Güterrecht, Unterhaltsrecht,<br />
Scheidungsrecht, Stiefkinderadoption, Versorgungsausgleich, Hinterbliebenenversorgung) Bezug genommen.<br />
Zum Teil hat man in der Vergangenheit die Auffassung vertreten, die Mehrzahl der für die<br />
eheliche Gemeinschaft von Erwerb und Verbrauch konstitutiven Merkmale seien erst mit jenem Gesetz<br />
auf die eingetragene Lebenspartnerschaft ausgedehnt worden, weshalb diese bis zum Inkrafttreten<br />
des Gesetzes zum 1. 1.2005 nicht als eine der Ehe vergleichbare Gemeinschaft ausgestaltet war,<br />
sodass die Privilegierung der Ehe durch Art. 6 Abs. 1 GG vor dem Jahre 2005 eine Ungleichbehandlung<br />
rechtfertigte.<br />
So etwa das BAG (Urt. v. 11.12.2012 – 3 AZR 684/10), das in Rn 21 f. ausführt, hinterbliebene eingetragene<br />
Lebenspartner befänden sich jedenfalls seit dem 1.1.2005 hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung in<br />
einer Eheleuten vergleichbaren Situation, nicht aber bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des LPartG<br />
am 1.8.2001; zustimmend offenbar AHRENDT in Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 18. Aufl., § 36 Rn 14 und<br />
VOGELSANG a.a.O., § 274, Rn 158. s. ferner das abweichende Votum, BVerfG, Beschl. v. 7.5.2013 – 2 BvR<br />
909/06 u.a., BVerfGE 133, 377, Rn 116 ff. Die Mehrheit des Senats ist dem jedoch im Jahre 2013 nicht<br />
gefolgt. Sie entschied, dass Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG vermöge allein die Ungleichbehandlung<br />
der familienrechtlichen Institute der Ehe und der Lebenspartnerschaft nicht zu rechtfertigen, da beide<br />
in vergleichbarer Weise rechtlich verbindlich verfasste Lebensformen darstellen und in ihren Grundstrukturen<br />
bereits seit Einführung der Lebenspartnerschaft im Jahre 2001 nur wenige Unterschiede<br />
aufweisen (s. Rn 90 der Entscheidungsgründe). Das BVerfG geht aktuell auf diese unterschiedliche<br />
Auffassung nicht ein.<br />
Wird die Lebenspartnerschaft wie die Ehe behandelt, gilt damit auch für verpartnerte Versicherte grds.<br />
das Antragserfordernis. Die Zivilgerichte haben jedoch verkannt, dass eine formal gleiche Anwendung<br />
einer Bestimmung auf Lebenssachverhalte, die in diskriminierender Weise ungleich geregelt waren,<br />
diese Diskriminierung fortschreiben kann. Die Anwendung des Antragerfordernisses vor Juli 2009<br />
bewirkt hier eine Ungleichbehandlung. Zwar scheint es formal gleich, sowohl verheiratete als auch<br />
verpartnerte Anspruchsberechtigte an das Antragserfordernis zu binden. Tatsächlich war die Situation<br />
der Betroffenen jedoch in dem hier streitigen Streitraum in einer Weise unterschiedlich, dass die formale<br />
Gleichbehandlung tatsächlich einer Ungleichbehandlung in der Sache bewirkt.<br />
Im Unterschied zu Eheleuten konnten verpartnerte Versicherte im fraglichen Zeitraum nach damals<br />
geltenden Recht nicht erkennen, dass sie ebenso wie Eheleute einen Antrag hätten stellen müssen,um<br />
von der für Eheleute positiven Regelung zu profitieren. Zunächst galt die Regelung zum Antragserfordernis<br />
für sie tatsächlich bereits nach dem Wortlaut nicht, weil – soweit hier von Interesse – eine<br />
Rentenberechnung auf Grundlage der günstigeren Steuerklasse III/0 nur für verheiratete Versorgungsberechtigte<br />
vorgesehen war. Zudem waren die Rechtsprechung und auch die Fachliteratur damals<br />
mehrheitlich der Auffassung, eine Gleichstellung zugunsten des Beschwerdeführers mit der Ehe sei<br />
nicht geboten. Geändert hat sich dies erst mit dem Beschluss des Ersten Senats des BVerfG vom<br />
7.7.2009 (BVerfGE 124, 199, s.o. unter I 3). Erst ab diesem Zeitpunkt war für verpartnerte Versicherte<br />
erkennbar, dass sie ebenso wie Eheleute einen Antrag stellen müssen, um von den daraus folgenden<br />
positiven Berechnungsfolgen zu profitieren.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 421
Fach 18, Seite 1738<br />
Eingetragene Lebenspartnerschaft<br />
Sozialrecht<br />
c) Verpflichtung, die Rechtslage rückwirkend verfassungsgemäß umzugestalten<br />
Es entspricht st. Rspr. des BVerfG, dass aus der Feststellung des Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot<br />
grds. die Verpflichtung folgt, die Rechtslage rückwirkend verfassungsgemäß umzugestalten<br />
(Nachweise s. BVerfG, Urt. v. 11.12.2019 – 1 BvR 3<strong>08</strong>7/14, Rn 17).<br />
Von diesem Grundsatz kann nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn dies etwa im Interesse<br />
verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung haushaltswirtschaftlich bedeutsame Normen betrifft<br />
sowie für den Fall, in dem die Verfassungsrechtslage nicht hinreichend geklärt war und dem<br />
Gesetzgeber deshalb eine angemessene Frist zur Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist.<br />
Solche oder andere Gründe, die dem vorgenannten Grundsatz entgegenstehen, bestehen hier nicht.<br />
Eine auf den Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft zurückwirkende<br />
Gleichbehandlung verpartnerter und verheirateter Personen im Zeitraum vor dem 7.7.2009<br />
lässt sich nur erreichen, indem auf einen entsprechenden Antrag hin, der entweder – wie hier – bereits<br />
vor dem 7.7.2009 oder zeitnah danach gestellt wurde, eine Rentenanpassung auch rückwirkend<br />
erfolgt. Deshalb kann der Beschwerdeführer hier nach Auffassung des Gerichts eine Neuberechnung<br />
seiner Versorgungsrente unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse III/0 beginnend mit dem<br />
Zeitpunkt der Begründung seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft verlangen.<br />
Verstoßen allgemeine Versicherungsbedingungen – wie hier in Form der Satzung der VBL – gegen Art. 3<br />
Abs. 3 GG, so bewirkt dies nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Rechtsprechung der<br />
Zivilgerichte die (teilweise) Unwirksamkeit der betroffenen Klausel. Hierdurch entstehende Regelungslücken<br />
können im Wege ergänzender Vertragsauslegung geschlossen werden. Dies führt hier<br />
zur Nichtanwendung des Antragerfordernisses auf verpartnerte Versicherte vor dem 7.7.2009. Der<br />
Gleichheitsverstoß lässt sich nachträglich nur auf diese Weise beheben.<br />
II. Fazit der Entscheidung des BVerfG<br />
Der Beschwerdeführer hat deshalb einen Anspruch auf Neuberechnung seiner Versorgungsrente<br />
rückwirkend auf den Zeitpunkt der Begründung seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft im Jahre<br />
2001. Er hat mit Schreiben vom 8.10.2006 und somit bereits deutlich vor dem 7.7.2009 der VBL<br />
mitgeteilt, er habe eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründet. Sowohl die VBL als auch die von<br />
dem Beschwerdeführer angerufen Fachgerichte haben diese Mitteilung zutreffend als Antrag i.S.v.<br />
§ 56 Abs. 1 S. 4 VBLS a.F. verstanden.<br />
Schließlich weist das Gericht darauf hin, die zeitlich uneingeschränkte Nichtanwendung des Antragerfordernisses<br />
auf verpartnerte Versicherte habe keine ungerechtfertigte Begünstigung dieses Personenkreises<br />
zur Folge. Finde die Bestimmung auf sie keine Anwendung, erhalten sie zwar – anders als<br />
verheiratete Versicherte – auch rückwirkend für einen Zeitraum vor Antragstellung eine Rentennachzahlung.<br />
Verheiratete Versicherte konnten jedoch zur gleichen Zeit ohne Weiteres erkennen, dass ein<br />
solcher Anspruch auf Rentenneuberechnung bestand und ihnen war ebenso zuzumuten, zur Rechtswahrung<br />
einen solchen Antrag zu stellen.<br />
422 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1029<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
Strafverfahren<br />
Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB<br />
Von RiLG THOMAS HILLENBRAND, Stuttgart<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Praktische Bedeutung<br />
III. Hang<br />
IV. Rechtswidrige Tat<br />
V. Symptomatizität<br />
1. Tatbegehung „im Rausch“<br />
2. Tatbegehung aufgrund des Hangs/<br />
Symptomatizität<br />
VI. Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten<br />
1. Qualität der zu erwartenden Taten<br />
2. Gefahrenprognose<br />
VII. Hinreichende Erfolgsaussicht<br />
1. Erfolgsaussicht<br />
2. Erhebliche Zeit<br />
VIII. (Eingeschränktes) Ermessen<br />
IX. Aussetzung zur Bewährung<br />
X. Dauer der Unterbringung<br />
XI. Vollstreckungsreihenfolge<br />
1. Grundsatz<br />
2. Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren<br />
XII. Rechtsmittel<br />
1. Anfechtung der Unterbringungsanordnung<br />
2. Anfechtung der „Nicht-Unterbringung“<br />
3. Sonderfall: Wechselwirkung zwischen<br />
Strafe und Maßregel<br />
I. Einleitung<br />
Gemäß § 64 S. 1 StGB soll das Gericht die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt<br />
anordnen, wenn<br />
• dieser den Hang hat, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu<br />
nehmen,<br />
• er wegen einer rechtswidrigen, im Rausch begangenen oder auf den Hang zurückgehenden Tat<br />
verurteilt oder nur wegen erwiesener oder nicht ausgeschlossener Schuldunfähigkeit nicht verurteilt<br />
wird und<br />
• die Gefahr besteht, dass er auch in Zukunft infolge seines Hangs erhebliche rechtswidrige Taten<br />
begehen wird.<br />
Hinzukommen muss zudem eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht, den Angeklagten durch die<br />
Behandlung in der Entziehungsanstalt zu heilen oder ihn jedenfalls über eine erhebliche Zeit vor dem<br />
Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten,<br />
die auf den Hang zurückgehen, § 64 S. 2 StGB.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 423
Fach 22, Seite 1030<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Sie<br />
dient dem Schutz der Allgemeinheit durch eine Behandlung des Untergebrachten, die darauf abzielt,<br />
ihn von seinem Hang zu heilen und die zugrunde liegende Fehlhaltung zu beheben (BVerfG, Beschl.<br />
v. 25.11.2005 – 2 BvR 1368/05).<br />
Hinweis:<br />
Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt geht der bei betäubungsmittelabhängigen Tätern grds.<br />
auch in Betracht kommenden Zurückstellung der (ggf. weiteren) Strafvollstreckung gem. § 35 BtMG vor.<br />
Von der Anordnung der Maßregel darf daher nicht abgesehen werden, weil der Angeklagte erklärt, er sei<br />
nicht zu einer Maßnahme nach § 64 StGB, wohl aber zu einer solchen nach § 35 BtMG bereit. Er hat insoweit<br />
aufgrund des Vorrangs der Unterbringung kein Wahlrecht (BGH NStZ-RR 2016, 209).<br />
II. Praktische Bedeutung<br />
Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt kommt nicht nur in „großen“ Verfahren in Betracht,<br />
sondern kann auch vom Amtsgericht angeordnet werden; § 74 Abs. 1 GVG weist lediglich die<br />
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, nicht aber jene in einer Entziehungsanstalt der<br />
großen Strafkammer beim Landgericht zu. Der Verteidiger muss deshalb in jedem Strafverfahren, in<br />
dem ein übermäßiger Alkohol- und/oder Drogenkonsum seines Mandanten im Raum steht, die<br />
Möglichkeit einer Maßregel gem. § 64 StGB im Blick haben.<br />
Die Zahl der in einer Entziehungsanstalt untergebrachten Personen hat in den letzten Jahren enorm<br />
zugenommen. Allein in der Zeit von 1996–2014 kam es im Maßregelvollzug zu einer Verdreifachung der<br />
Belegungszahlen (Schönke/Schröder/KINZIG, StGB, 30. Aufl. 2019, § 64 Rn 2 [im Folgenden kurz: S/S/KINZIG]).<br />
Geschuldet ist diese Entwicklung insb. einer ausgesprochen unterbringungsfreundlichen Rechtsprechung<br />
des BGH, die dieser gegenüber den Instanzgerichten mit großem Nachdruck durchsetzt. So<br />
werden, und dies in den letzten Jahren verstärkt, immer wieder Urteile beanstandet, in denen die<br />
Anordnung der Unterbringung unterblieben war. Umgekehrt sind Urteilsaufhebungen wegen einer<br />
Nichtanordnung der Maßregel eher selten.<br />
Hinweis:<br />
Die Gründe für die Unterbringung einschließlich der Prognosetatsachen muss das Gericht im Urteil<br />
darlegen, § 267 Abs. 6 S. 1 StPO. Im umgekehrten Fall, wenn die Anordnung unterbleibt, sind die maßgeblichen<br />
Erwägungen hierfür ebenfalls darzulegen, wenn sich die Prüfung des § 64 StGB anhand der<br />
festgestellten Einzelfallumstände, insb. wegen eines langjährigen BtM-Konsums des Angeklagten, aufdrängte<br />
(BGH, Beschl. v. 22.10.2019 – 4 StR 171/19). In diesem Fall sind Ausführungen zur Unterbringung<br />
auch dann erforderlich, wenn sie keiner der Verfahrensbeteiligten beantragt hat (BGH, Beschl. v. 2.10.2019<br />
– 3 StR 406/19).<br />
Trotz des recht eindeutigen Kurses des BGH tun sich viele Tatgerichte im Umgang mit § 64 StGB schwer,<br />
mitunter wird gar eine „Ignoranz der Tatgerichte“ gegenüber der Existenz der Maßregel beklagt (vgl. S/S/<br />
KINZIG, § 64 Rn 2 m.w.N.). Allerdings wird man den so gescholtenen Tatgerichten zumindest zugutehalten<br />
müssen, dass die vom BGH mit so großem Nachdruck verfochtene Marschrichtung nicht nur positive<br />
Wirkungen hat, sondern, was schon die enorm hohe Abbruchquote von rund 50 % (QUERENGÄSSER/ROSS/<br />
BULLA/HOFFMANN NStZ 2016, 58) nahelegt, anscheinend auch dazu führt, dass in den Therapieeinrichtungen<br />
in erheblichem Maße durch für die Behandlung ungeeignete Patienten Kapazitäten gebunden werden.<br />
Für die Verteidigung ist der Kurs des BGH Fluch und Segen zugleich:<br />
Einerseits ist eine vom Angeklagten angestrebte Unterbringung relativ leicht zu erreichen. Dies kann in<br />
Verfahren, in denen lange Haftstrafen drohen, die Chance eröffnen, dass der Angeklagte gem. § 67 Abs. 5<br />
424 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1031<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
StGB bereits nach Verbüßung der Hälfte der Strafe und damit mitunter wesentlich früher als bei einer<br />
Vollstreckung im allgemeinen Strafvollzug die Freiheit wiedererlangt, zumal bei vielen Tatgerichten<br />
die Neigung verbreitet ist, Einlassungen des Angeklagten zu seinem (vermeintlichen) Rauschmittelkonsum<br />
recht schnell als „unwiderlegbar“ einzustufen und damit letztlich ohne die gebotene kritische<br />
Überprüfung zu übernehmen.<br />
Andererseits führt die Maßregel in Verfahren mit eher überschaubarer Straferwartung mitunter umgekehrt<br />
dazu, dass sich die Dauer der Freiheitsentziehung insgesamt verlängert, und zwar namentlich<br />
dann, wenn die voraussichtliche Therapiedauer die Dauer der Freiheitsstrafe übersteigt.<br />
Hinweis:<br />
Unabhängig vom jeweiligen Verteidigungsziel im Einzelfall empfiehlt es sich, die Problematik des § 64<br />
StGB frühzeitig, nämlich bereits bei der Prüfung der Frage, ob sich der Angeklagte zur Person und zur<br />
Sache einlassen oder vom Schweigerecht Gebrauch machen soll, in die Erwägungen zur Verteidigungsstrategie<br />
einzubeziehen.<br />
Wird für den Mandanten eine Unterbringung angestrebt, dürfte es regelmäßig naheliegen, sich insb.<br />
zum Suchtverlauf umfassend zu äußern und auch an der Begutachtung durch einen Sachverständigen<br />
(§ 246a Abs. 1 S. 2 StPO) mitzuwirken.<br />
Soll eine Unterbringung dagegen vermieden werden, wird es oftmals sachgerecht sein, insb. zum<br />
Rauschmittelkonsum keine Angaben zu machen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Angeklagte<br />
dem Gericht die zu seiner Unterbringung führenden Gründe „frei Haus“ liefert.<br />
Drängt sich allerdings die Suchtproblematik bereits anhand des Akteninhalts geradezu auf, etwa<br />
aufgrund zahlreicher Voreintragungen wegen Betäubungsmitteldelikten, verspricht auch Schweigen<br />
häufig keinen Erfolg. Das Gericht wird den Hang ggf. bereits aufgrund des Vorlebens des Angeklagten<br />
feststellen können. In derartigen Fällen empfiehlt es sich, das Hauptaugenmerk eher auf Faktoren zu<br />
richten, die für eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung sprechen könnten (s.u. IX).<br />
Hinweis:<br />
Bedacht werden muss aber, dass sich Vorgehensweisen, die im Hinblick auf das zu erwartende Strafmaß<br />
regelmäßig durchaus erfolgversprechend sind, im Falle einer drohenden Unterbringung ausnahmsweise<br />
nachteilig auswirken können. So wird beispielsweise ein Angeklagter, bei dem eine Alkoholproblematik im<br />
Raum steht, häufig eine Strafmilderung und/oder eine Bewährungschance erhalten, wenn er sich bereits<br />
vor der Hauptverhandlung mit einer Suchtberatungsstelle o.Ä. in Verbindung setzt und so Problembewusstsein<br />
und Behandlungseinsicht erkennen lässt. Steht aber eine Maßregel gem. § 64 StGB im Raum,<br />
kann ein solches Vorgehen dazu führen, dass die Erfolgsaussicht der Unterbringung zwanglos bejaht<br />
werden kann, nachdem sich der Angeklagte schon im Vorfeld behandlungsbereit zeigt.<br />
III. Hang<br />
Zentrale Voraussetzung für die Anordnung der Maßregel ist ein Hang des Angeklagten, alkoholische<br />
Getränke oder andere berauschende (bzw. betäubende) Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen.<br />
Anderweitige Abhängigkeiten, wie beispielsweise Spiel- oder Internetsucht, scheiden dagegen als<br />
Anordnungsgrund für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aus. § 64 StGB bezieht sich<br />
ausschließlich auf stoffgebundene Suchterkrankungen.<br />
Hinweis:<br />
Den Hang muss der Tatrichter positiv feststellen; eine bloße (auch hohe) Wahrscheinlichkeit rechtfertigt<br />
die Anordnung der Maßregel nicht (BGH, Beschl. v. 8.5.2012 – 3 StR 98/12).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 425
Fach 22, Seite 1032<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH liegt ein Hang vor, wenn der Täter eine eingewurzelte, auf<br />
psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung hat, immer<br />
wieder Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren, sodass er aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet<br />
oder gefährlich erscheint (BGH, Beschl. v. 7.9.2019 – 3 StR 252/19). Dies kann bereits bei jungen Tätern<br />
der Fall sein (BGH, Beschl. v. 7.8.2019 – 3 StR 252/19 für einen zur Tatzeit 18-Jährigen).<br />
Hinweis:<br />
Diente die Tat dem Erwerb von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum oder zu dessen Finanzierung<br />
(Beschaffungskriminalität) oder hat der Angeklagte bereits früher solche Straftaten begangen, liegt ein<br />
Hang regelmäßig nahe (BGH, Beschl. v. 21.3.2019 – 3 StR 81/19 und Beschl. v. 11.12.2019 – 5 StR 469/19).<br />
Bei der Prüfung des Hangs kommt es in der Praxis häufig zu Rechtsfehlern. Insbesondere beanstandet<br />
der BGH immer wieder, dass das Tatgericht von einem zu engen Begriff des Hangs ausgegangen sei<br />
(vgl. z.B. BGH, Beschl. v. 2.4.2015 – 3 StR 103/15). Offenbar wird in der Praxis nicht selten verkannt, dass<br />
der Anwendungsbereich des § 64 StGB nicht auf Schwerstabhängige beschränkt ist. Es ist aber gerade<br />
nicht erforderlich, dass die Suchterkrankung des Angeklagten bereits so weit fortgeschritten ist, dass er<br />
seinen Lebensalltag nicht mehr bewältigen kann. Ein Hang darf deshalb nicht abgelehnt werden,<br />
weil der Substanzmissbrauch des Angeklagten „nicht in einem solchen Ausmaß im zentralen Mittelpunkt von<br />
dessen Lebensführung stehe, dass sich daraus ein unmittelbarer, ständiger, seine soziale und persönliche Handlungsfähigkeit<br />
beeinträchtigender störender oder schädlicher Einfluss“ ergeben habe.<br />
Auch Urteile, in denen ein Hang allein deshalb verneint wird, weil der Angeklagte noch in der Lage<br />
war, beruflichen Verpflichtungen nachzukommen, haben in aller Regel keinen Bestand (vgl. BGH, Beschl.<br />
v. 25.9.2019 – 5 StR 264/19). Beeinträchtigungen der Arbeits- und Leistungsfähigkeit oder der Gesundheit<br />
können zwar Anhaltspunkte für einen Hang darstellen, ihr Fehlen steht der Unterbringung aber nicht<br />
entgegen (st. Rspr. des BGH, vgl. Beschl. v. 19.9.2019 – 3 StR 355/19 m.z.N.).<br />
Ebenso wenig ist Voraussetzung, dass bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (BGH,<br />
Beschl. v. 27.8.2019 4 – StR 330/19). Auch muss noch nicht der Grad einer physischen Abhängigkeit<br />
erreicht sein (BGH, Beschl. v. 7.8.2019 – 3 StR 252/19), und es ist auch nicht erforderlich, dass bei der<br />
Begehung der Anlasstat die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vorlagen (FISCHER, StGB, 66. Aufl. 2019,<br />
§ 64 Rn 4 [im Folgenden kurz: FISCHER]).<br />
Zudem verlangt die Annahme eines Hangs keinen täglichen Konsum. Die Anwendung des § 64 StGB<br />
darf deshalb nicht unter Hinweis darauf abgelehnt werden, dass der Angeklagte in der Lage gewesen sei,<br />
seinen Rauschmittelkonsum zu steuern, immer wieder zu verringern oder einzustellen (BGH, Beschl.<br />
v. 20.12.2011 – 3 StR 421/11).<br />
Hinweis:<br />
Ein nur gelegentlicher, und sei es missbräuchlicher, Alkohol- oder Drogenkonsum genügt allerdings noch<br />
nicht. Vielmehr liegt ein Konsum „im Übermaß“ erst vor, wenn sich die Neigung zum Suchtmittelkonsum<br />
handlungsleitend auswirkt (FISCHER, § 64 Rn 8). Ist dies nicht der Fall, scheidet eine Unterbringung in der<br />
Entziehungsanstalt auch dann aus, wenn die Tat im Rausch begangen wurde (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 365).<br />
Auch bei Entzugserscheinungen verbietet sich eine schematische Betrachtungsweise. Zwar kann die<br />
Annahme eines Hangs naheliegen, wenn es bei dem Angeklagten, insb. zum Tatzeitpunkt, aber auch<br />
nach Festnahme und Inhaftierung, zu Entzugserscheinungen kommt (vgl. BGH, Beschl. v. 2.10.2019 –<br />
3 StR 406/19). Im umgekehrten Fall, wenn keine Entzugserscheinungen auftreten, darf ein Hang jedoch<br />
nicht allein deshalb verneint werden (vgl. BGH, Beschl. v. 27.3.20<strong>08</strong> – 3 StR 38/<strong>08</strong>, für Kokain).<br />
426 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1033<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
Hinweis:<br />
Allerdings kann das Fehlen von Entzugserscheinungen indizielle Wirkung haben. Gleiches gilt für eine sich<br />
über einen längeren Zeitraum erstreckende Substitutionsbehandlung (vgl. BGH NStZ-RR 2018, 13).<br />
IV. Rechtswidrige Tat<br />
Als Anlasstat für die Unterbringung genügt grds. eine beliebige, i.S.d. § 11 Abs. 5 StGB rechtswidrige, Tat.<br />
Insoweit existiert nach h.M. keine Beschränkung auf erhebliche oder gar besonders schwerwiegende<br />
Delikte; vielmehr kann u.U. im Einzelfall auch ein Fahrlässigkeitsdelikt oder eine Versuchstat die<br />
Anordnung der Maßregel rechtfertigen (S/S/KINZIG, § 64 Rn 8).<br />
Hinweis:<br />
Wie bei allen Maßregeln ist aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten, § 62 StGB. Insbesondere<br />
Bagatelltaten scheiden als Grundlage für die Anordnung der Maßregel aus (vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2019 –<br />
3 StR 443/18).<br />
Eine Verurteilung wegen einer schuldhaften Begehung der Anlasstat ist nicht erforderlich, es genügt<br />
deren Rechtswidrigkeit. Jedoch kann die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auch gegen einen<br />
voll schuldfähigen Angeklagten angeordnet werden; § 64 StGB setzt nicht voraus, dass der Täter zur<br />
Tatzeit vermindert schuldfähig i.S.d. § 21 StGB oder gar schuldunfähig war (FISCHER, § 64 Rn 14).<br />
V. Symptomatizität<br />
Die Tat (oder zumindest eine von mehreren Taten) muss im Rausch begangen worden sein oder auf<br />
den Hang des Angeklagten zurückgehen, wobei der Hang insoweit den Oberbegriff darstellt; die<br />
Tatbegehung im Rausch ist ein Unterfall (BGH NStZ-RR 2016, 169).<br />
Diese sog. Symptomatizität muss positiv festgestellt werden, für die Anwendung des Zweifelssatzes ist<br />
hier kein Raum (BGH, Beschl. v. 27.6.2019 – 3 StR 443/18). Können entsprechende sichere Feststellungen<br />
nicht getroffen werden, scheidet eine Unterbringung aus.<br />
Hinweis:<br />
Das Gericht hat die Grundlagen, aufgrund derer es die Symptomatizität, also den symptomatischen<br />
Zusammenhang zwischen Hang und Tat, bejaht, in den Urteilsgründen sorgfältig darzulegen. Dem ist<br />
nicht Genüge getan, wenn lediglich festgestellt wird, dass der Angeklagte vor der Tat erhebliche Mengen<br />
Alkohol zu sich genommen habe und es zu deutlich wahrnehmbaren Ausfallerscheinungen gekommen sei<br />
(BGH NStZ 2013, 37). Derartiges kann auch bei einem einmaligen Rausch auftreten.<br />
1. Tatbegehung „im Rausch“<br />
Eine Tat ist „im Rausch“ begangen, wenn sich der Täter während ihrer Begehung in dem für das jeweilige<br />
Rauschmittel typischen, die geistig-psychischen Fähigkeiten beeinträchtigenden Intoxikationszustand<br />
befand (BGH NStZ-RR 2012, 739).<br />
2. Tatbegehung aufgrund des Hangs/Symptomatizität<br />
Die Symptomatizität liegt nach ständiger Rechtsprechung des BGH vor, wenn der Hang zum Missbrauch<br />
von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln allein oder zusammen mit anderen Umständen<br />
dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies<br />
bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist. Die konkrete Anlasstat muss in dem<br />
Hang ihre Wurzeln finden, also Symptomwert für diesen haben, indem sich in ihr die hangbedingte<br />
Gefährlichkeit des Täters äußert (vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2019 – 3 StR 443/18 m.w.N.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 427
Fach 22, Seite 1034<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
Hinweis:<br />
Die Symptomatizität kommt nicht nur bei typischen Betäubungsmitteldelikten in Betracht, sondern kann<br />
grds. bei jeder Straftat gegeben sein. In Betracht kommen insb. unter Rauschmitteleinfluss begangene<br />
Taten gegen Leib und Leben, hier wird oftmals eine rauschbedingte Enthemmung (mit-)ursächlich für die<br />
Tat sein. Aber auch bei Sexualdelikten kann, wenngleich eher selten, ein symptomatischer Zusammenhang<br />
zwischen Hang und Tat gegeben sein (vgl. BGH, Beschl. v. 20.12.2018 – 1 StR 600/18).<br />
Insbesondere in Fällen der sog. Beschaffungskriminalität liegt die Symptomatizität regelmäßig nahe<br />
(BGH NStZ-RR 2017, 198). Dabei muss es sich nicht zwingend um reine Drogendelikte nach dem BtMG<br />
handeln. Vielmehr kann „mittelbare“ Beschaffungskriminalität genügen, etwa wenn sich der Angeklagte<br />
durch Diebstähle Wertgegenstände verschafft, um sich durch deren spätere Veräußerung Mittel u.a. für<br />
den Rauschgifterwerb zu besorgen (BGH NStZ-RR 2018, 273).<br />
Hinweis:<br />
Einen Automatismus dahingehend, dass bei Betäubungsmitteltaten immer von einem Hang bzw. von der<br />
Symptomatizität auszugehen sei, gibt es indes nicht. Dient etwa der Drogenhandel ausschließlich der<br />
Beschaffung von Geldmitteln zur Bestreitung des allgemeinen Lebensunterhalts, ist für die Anwendung<br />
des § 64 StGB kein Raum (vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2019 – 3 StR 443/18).<br />
Der Hang muss nicht die alleinige Tatursache sein. Es ist deshalb verfehlt, den symptomatischen<br />
Zusammenhang allein deshalb zu verneinen, weil die Tat „nicht unmittelbar“ auf eine Suchterkrankung<br />
zurückgeht, sondern daneben auch auf allgemeine charakterliche Mängel oder auf eine dissoziale<br />
Verhaltensbereitschaft des Angeklagten (BGH NStZ-RR 2018, 273 und Beschl. v. 21.3.2019 – 3 StR 81/19)<br />
oder auf eine Persönlichkeitsdisposition (BGH, Beschl. v. 27.8.2019 – 4 StR 330/19). Auch kann es<br />
genügen, wenn der Hang „nur“ Einfluss auf die Qualität und Intensität der Anlasstat hatte (FISCHER, §64<br />
Rn 13a). Ein bloßes „Mut-Antrinken“ erleichtert dagegen lediglich die Tatausführung und begründet die<br />
Symptomatizität nicht (BGH, Beschl. v. 17.7.2018 – 4 StR 173/18).<br />
VI. Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten<br />
Als weitere Voraussetzung für die Unterbringung muss die Gefahr bestehen, dass der Angeklagte<br />
zumindest auch infolge seines Hangs weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.<br />
1. Qualität der zu erwartenden Taten<br />
Die zu befürchtenden Taten müssen erheblich und mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität<br />
zuzuordnen sein, sodass reine Bagatelltaten ausscheiden. Insbesondere rechtfertigt nicht jedes Drogendelikt<br />
die Unterbringung, der Erwerb kleiner Rauschgiftmengen zum Eigenkonsum genügt nicht. Bei<br />
drohenden gewichtigen Verstößen gegen das BtMG ist die Unterbringung hingegen regelmäßig gerechtfertigt<br />
(BGH NStZ-RR 20<strong>08</strong>, 234). Gleiches gilt bei Gewalttaten.<br />
Eine „Einschlägigkeit“ der zu befürchtenden neuerlichen Taten ist nicht erforderlich. § 64 StGB setzt<br />
lediglich einen symptomatischen Zusammenhang zwischen dem Hang, der Anlasstat und zukünftiger<br />
Gefährlichkeit voraus; eine darüber hinausgehende „Konnexität“ zwischen der Abhängigkeit und den zu<br />
erwartenden Straftaten ist jedoch nicht vorausgesetzt (FISCHER, § 64 Rn 15 m.w.N.). Auch muss die<br />
Abhängigkeit nicht der einzige Grund für die Gefahr neuer Straftaten seien (BGH NStZ 2003, 86).<br />
2. Gefahrenprognose<br />
Die Unterbringung darf nur angeordnet werden, wenn dem Angeklagten eine negative Gefahrenprognose<br />
zu stellen ist. Hierfür genügt die bloße Möglichkeit weiterer Taten nicht, vielmehr bedarf es<br />
einer „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ (BGH NStZ-RR 2006, 265). Einer Gefahr für die Allgemeinheit<br />
bedarf es aber, anders als im Anwendungsbereich des § 63 StGB, nicht (FISCHER, a.a.O.).<br />
428 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1035<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
Hinweis:<br />
Die Prognose ist für den jeweiligen Einzelfall zu treffen; ein Erfahrungssatz dahingehend, dass bei einem<br />
Drogenabhängigen regelmäßig die Gefahr neuer erheblicher Straftaten bestehe, existiert nicht (FISCHER,<br />
§ 64 Rn 15).<br />
VII. Hinreichende Erfolgsaussicht<br />
1. Erfolgsaussicht<br />
Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf nur dann angeordnet werden, wenn eine hinreichend<br />
konkrete Aussicht besteht, der Angeklagte werde durch die Behandlung geheilt oder eine erhebliche<br />
Zeit vor dem Rückfall in den Hang bewahrt und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten<br />
abgehalten werden, § 64 S. 2 StGB.<br />
Diese hinreichend konkrete Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn unter Berücksichtigung der Art und des<br />
Stadiums der Sucht sowie bereits eingetretener physischer und psychischer Veränderungen und<br />
Schädigungen in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Angeklagten konkrete Anhaltspunkte<br />
vorliegen, die dafür sprechen, dass es zumindest innerhalb eines erheblichen Zeitraums nicht<br />
(mehr) zu einem Rückfall kommen wird. Einer sicheren oder unbedingten Gewähr des Behandlungserfolgs<br />
bedarf es aber nicht (BGH, Beschl. v. 14.8.2019 – 4 StR 147/19).<br />
Hinweis:<br />
Die frühere Streitfrage, ob ein voraussichtlicher Therapiebedarf von mehr als zwei Jahren der Anordnung<br />
der Maßregel entgegensteht, hat sich durch die Änderung des § 64 StGB zum 1.8.2016 erledigt. Seither<br />
verweist die Vorschrift ausdrücklich auf § 67d Abs. 1 S. 1 oder S. 3 StGB, sodass für die Behandlung auch ein<br />
längerer Zeitraum zur Verfügung stehen kann (FISCHER, § 64 Rn 19a).<br />
a) Positive Faktoren<br />
Für eine Erfolgsaussicht kann insb. sprechen, dass der Angeklagte sich der negativen Folgen seiner Sucht<br />
bewusst ist und in der Vergangenheit keine gescheiterten Therapieversuche unternommen wurden<br />
(vgl. BGH NStZ-RR 2007, 372). Gleiches gilt für eine zwischenzeitlich eingetretene Abstinenz (S/S/KINZIG,<br />
§ 64 Rn 17). Auch eine ausdrücklich erklärte Therapiebereitschaft kann für eine hinreichend konkrete<br />
Erfolgsaussicht sprechen (BGH NStZ-RR 2010, 307).<br />
Erklärt der Angeklagte dagegen umgekehrt, er sei zu einer Mitwirkung bei der Behandlung nicht bereit,<br />
steht dies der Annahme einer Erfolgsaussicht nicht zwingend entgegen. Vielmehr hat das Tatgericht in<br />
diesen Fällen zu prüfen, ob die konkrete Aussicht besteht, dass die Bereitschaft für eine erfolgversprechende<br />
Behandlung während der Therapie geweckt werden kann (st. Rspr., vgl. nur BGH NStZ-<br />
RR 2013, 239). Die Anordnung der Unterbringung soll grds. nicht vom Therapiewillen des Betroffenen<br />
abhängen (BGH NStZ 2017, 107). Allerdings kann eine mangelnde Therapiemotivation im Einzelfall<br />
durchaus ein Indiz für eine fehlende Erfolgschance sein (S/S/KINZIG, § 64 Rn 16), insb. wenn zu einer<br />
kategorischen Weigerung des Angeklagten, sich therapieren zu lassen, die auf ein Sachverständigengutachten<br />
gestützte Erkenntnis, auch der Vorwegvollzug einer Freiheitsstrafe werde eine Therapiebereitschaft<br />
nicht hervorrufen können, hinzukommt (BGH NStZ-RR 2014, 213).<br />
Hinweis:<br />
Die Behauptung, man sei zu einer Maßnahme nach § 64 StGB nicht bereit, erweckt beim BGH meist<br />
ein nicht unerhebliches Misstrauen, insb. wenn zugleich erklärt wird, dass man stattdessen einer Zurückstellung<br />
der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG offen gegenüberstehe. Offensichtlich wittern die<br />
Senate hier, und damit dürften sie häufig richtig liegen, eine Umgehung des Vorrangs der Unterbringung.<br />
Nicht zuletzt deshalb akzeptiert es der BGH nicht, wenn ein Gericht einerseits die Erfolgsaussicht i.S.d. § 64<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 429
Fach 22, Seite 1036<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
S. 2 StGB verneint und andererseits im Urteil die Zustimmung zu einer Zurückstellung der Strafvollstreckung<br />
gem. § 35 BtMG erteilt (BGH, Beschl. v. 9.10.2019 – 4 StR 367/19). Mit einer solchen Zustimmung bejahe der<br />
Tatrichter der Sache nach nicht nur den Hang des Angeklagten, sondern auch die Symptomatizität, sodass<br />
zwingend die weiteren Voraussetzungen der – vorrangigen – Unterbringung gem. § 64 StGB zu prüfen seien<br />
(BGH, Beschl. v. 1.10.2019 – 2 StR 1<strong>08</strong>/19).<br />
b) Negative Faktoren<br />
Gegen eine hinreichende Erfolgsaussicht werden in der Praxis oftmals insb. frühere Behandlungsversuche<br />
und, v.a. bei ausländischen Tätern, Sprachprobleme angeführt.<br />
aa) Frühere Behandlungen/Rückfall<br />
Hat der Angeklagte in der Vergangenheit mehrere Therapien abgebrochen oder wurde er nach erfolgreichen<br />
Behandlungen immer wieder alsbald rückfällig, spricht dies gegen die Erfolgsaussicht einer<br />
nochmaligen Behandlung (vgl. BGH NJW 2014, 1978).<br />
Hinweis:<br />
Gerade in solchen Fällen dürfen die Erfolgsaussichten im Urteil nicht ohne Weiteres unterstellt werden.<br />
Vielmehr bedarf die Anordnung der Unterbringung im Gegenteil dann einer besonders eingehenden<br />
Begründung, wenn mehrere prognoseungünstige Umstände (langjährige Drogenabhängigkeit, mehrere<br />
erfolglose Langzeittherapien, fehlender sozialer Empfangsraum, berufliche Perspektivlosigkeit) vorliegen<br />
(BGH NStZ-RR 2018, 13). Die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung genügt nicht (BGH<br />
NStZ-RR 2018, 275).<br />
Ein Automatismus dahingehend, dass frühere erfolglose Therapieversuche hinreichenden Erfolgsaussichten<br />
einer abermaligen Behandlung zwingend entgegenstehen, existiert jedoch nicht. Auch ein<br />
Rückfall steht für sich allein der (ggf. abermaligen) Anordnung der Unterbringung nicht zwingend<br />
entgegen, insb. wenn zwei stationäre Entwöhnungsmaßnahmen in der Vergangenheit jedenfalls dazu<br />
geführt haben, dass der Angeklagte über mehrere Jahre hinweg straffrei blieb (BGH NStZ-RR 2009, 78).<br />
Hinweis:<br />
Dagegen kann es der Erfolgsaussicht entgegenstehen, wenn der Angeklagte nicht „nur“ an einer<br />
Suchterkrankung leidet, sondern zudem auch an einer Psychose oder einer dissozialen Persönlichkeitsstörung.<br />
Derartige Erkrankungen sind in aller Regel in einer Entziehungsanstalt nicht erfolgreich<br />
behandelbar. Hier wird, sofern die Voraussetzungen des § 63 StGB vorliegen, eher die Unterbringung<br />
in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommen.<br />
bb) Sprachprobleme<br />
Der BGH geht davon aus, dass Sprachprobleme der Maßregelanordnung regelmäßig nicht entgegenstehen<br />
(so zuletzt BGH, Beschl. v. 21.3.2019 – 3 StR 81/19). Es genügten Grundkenntnisse der deutschen<br />
Sprache, die eine Verständigung im Alltag ermöglichen. Sind diese vorhanden, ist nach der Rechtsprechung<br />
von hinreichender Erfolgsaussicht auszugehen, auch wenn der Angeklagte seine Sprachkenntnisse<br />
erst während der Untersuchungshaft oder während des Vorwegvollzugs vertiefen konnte bzw. kann<br />
(vgl. BGH NStZ-RR 2019, 174). Nur bei völlig fehlenden Sprachkenntnissen wird – ausnahmsweise – von<br />
der Anordnung der Unterbringung abgesehen werden dürfen (vgl. BGH, Beschl. v. 13.6.2018 – 1 StR 132/18).<br />
Hinweis:<br />
Reichen die Sprachkenntnisse für eine Behandlung in Deutschland nicht aus, kann eine Überstellung des Angeklagten<br />
in seinen Heimatstaat zu prüfen sein, sofern dort geeignete Einrichtungen existieren (BGH a.a.O).<br />
430 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1037<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
2. Erhebliche Zeit<br />
Was unter einer erheblichen Zeit i.S.d. § 64 StGB zu verstehen ist, kann nicht allgemein, sondern nur in<br />
Bezug auf den jeweiligen Einzelfall bestimmt werden (FISCHER, § 64 Rn 19). Jedenfalls in Fällen, in denen<br />
fast unmittelbar nach der Entlassung im Abstand von wenigen Tagen oder Wochen mit einem Rückfall<br />
gerechnet werden müsste, wird es aber an einer hinreichenden Erfolgsaussicht fehlen.<br />
VIII. (Eingeschränktes) Ermessen<br />
Nach dem Wortlaut des § 64 StGB soll das Gericht die Unterbringung anordnen, wenn die Voraussetzungen<br />
hierfür vorliegen. Hiernach bleibt im Einzelfall die Möglichkeit, trotz des Vorliegens der Anordnungsvoraussetzungen<br />
von einer Unterbringung abzusehen.<br />
Hinweis:<br />
Die Vorschrift verschafft dem Gericht indes kein freies Ermessen. Vielmehr kommt ein Absehen von der<br />
Anordnung der Maßregel nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht (statt aller S/S/KINZIG, § 64 Rn 18<br />
m.z.N.).<br />
Mit der Regelung sollte die Möglichkeit geschaffen werden, in Fällen, in denen die Ausgangsbedingungen<br />
sehr ungünstig sind, von der Unterbringung des Angeklagten abzusehen und den Maßregelvollzug von<br />
einem faktisch nicht zu leistenden Therapieaufwand zu entlasten.<br />
Zuvor ist jedoch sorgfältig zu prüfen, ob überhaupt eine hinreichende Erfolgsaussicht bejaht werden kann.<br />
Hieran wird es in vielen Fällen bereits fehlen (FISCHER, § 64 Rn 23a, zieht deshalb einen eigenständigen<br />
Regelungsgehalt der „Soll“-Formulierung in Zweifel). Dies gilt insb. im Falle nicht überwindbarer Sprachprobleme<br />
(s.o. VII 1 b bb).<br />
Erkennt man dagegen einen eigenständigen Regelungsgehalt an, wird etwa in Fällen, in denen bei dem<br />
Täter eine Disposition für die Begehung von Straftaten nicht wesentlich durch den Hang zu übermäßigem<br />
Drogenkonsum, sondern überwiegend durch weitere Persönlichkeitsmängel begründet wird und deshalb<br />
Erprobungen unter Lockerungsbedingungen nicht möglich sind, von einer Unterbringung abgesehen<br />
werden können (vgl. S/S/KINZIG, § 64 Rn 18). Auch eine baldige Ausweisung (BGH NStZ 2009, 204)<br />
oder eine bereits bewilligte Auslieferung können einer Unterbringung entgegenstehen (BGH, Beschl.<br />
v. 21.6.2017 – 1 StR 193/17).<br />
IX. Aussetzung zur Bewährung<br />
Sofern dem nicht eine neben der Maßregel verhängte Freiheitsstrafe ohne Bewährung (§ 67b Abs. 2<br />
StGB) entgegensteht, ist zu prüfen, ob die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt<br />
werden kann. Dies ist gem. § 67b StGB möglich, wenn besondere Umstände die Erwartung<br />
rechtfertigen, dass der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann.<br />
Besondere Umstände i.S.d. § 67b StGB sind solche Umstände in der Tat oder in der Person des<br />
Angeklagten, die erwarten lassen, dass die von ihm ausgehende Gefahr weiterer Taten abgewendet<br />
oder so abgeschwächt wird, dass zunächst ein Verzicht auf den Vollzug der Maßregel gewagt werden<br />
kann (FISCHER, § 67b Rn 3 m.w.N.).<br />
Bei der Feststellung derartiger Umstände steht dem Tatrichter ein weiter Beurteilungsspielraum zu<br />
(BGH, Urt. v. 28.8.20<strong>08</strong> – 2 StR 140/<strong>08</strong>). Allerdings sind der Eintritt von Führungsaufsicht gem. § 67b Abs. 2<br />
sowie die Möglichkeit, Weisungen zu erteilen, noch keine besonderen Umstände (BGH NStZ 2007, 465).<br />
Dagegen können beispielsweise der freiwillige Eintritt in eine Therapieeinrichtung, eine erfolgversprechende<br />
ambulante Therapie, die Aufnahme in einer betreuten Wohngruppe oder die Betreuung und<br />
Aufsicht durch einen Berufsbetreuer eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung rechtfertigen.<br />
Allerdings darf sich das Gericht insb. bei im Raum stehenden freiwilligen Behandlungsmaßnahmen nicht<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 431
Fach 22, Seite 1038<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
mit bloßen Absichtserklärungen des Angeklagten zufriedengeben; vielmehr sind konkrete Schritte zu<br />
verlangen, beispielsweise eine Kostenzusage oder die Bestätigung der behandelnden Einrichtung, dass der<br />
Angeklagte dort aufgenommen werden wird.<br />
X. Dauer der Unterbringung<br />
Gemäß § 67d Abs. 1 S. 1 StGB darf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zwei Jahre nicht<br />
übersteigen. Diese Frist, die mit dem Beginn der Unterbringung zu laufen beginnt, verlängert sich<br />
jedoch gem. § 67d Abs. 1 S. 3 StGB um die Dauer der Freiheitsstrafe, soweit die Zeit des Vollzugs der<br />
Maßregel auf die Strafe angerechnet wird.<br />
Nach wohl h.M. liegt die Höchstfrist daher bei zwei Jahren zuzüglich zwei Drittel der Strafe (vgl. § 67<br />
Abs. 4 StGB) abzüglich des Teils, der anderweitig, etwa durch Anrechnung von zuvor erlittener<br />
Untersuchungshaft, erledigt wurde (S/S-KINZIG, § 67d Rn 12). Wird also gegen den Angeklagten die<br />
Maßregel angeordnet und parallel eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt, kann sich die Höchstfrist<br />
um zwei Drittel dieser Strafe, mithin um zwei Jahre, verlängern.<br />
Allerdings stellt sich bei einer zwei Jahre übersteigenden Therapiedauer zunehmend die Frage, ob angesichts<br />
des dann in doch recht weiter Ferne liegenden Behandlungsfortschritts überhaupt hinreichende<br />
Erfolgsaussichten vorliegen. So ist auch der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass ein Behandlungszeitraum<br />
von mehr als drei Jahren regelmäßig nicht sinnvoll sein wird (BT-Drucks 18/7244, S. 25).<br />
XI.<br />
Vollstreckungsreihenfolge<br />
1. Grundsatz<br />
Wird neben der Unterbringung auch eine Freiheitsstrafe ausgeurteilt, bestimmt sich die Reihenfolge der<br />
Vollstreckung nach § 67 StGB. Nach dessen Abs. 1 wird die Maßregel grds. vor der Strafe vollzogen. Es<br />
soll möglichst umgehend mit der Behandlung des süchtigen Täters begonnen werden, weil dies am<br />
ehesten einen dauerhaften Erfolg verspricht (BGH NStZ-RR 2001, 295).<br />
Allerdings kann – in Ausnahmefällen (vgl. FISCHER, § 67 StGB Rn 5) – abweichend von Abs. 1 der Vorwegvollzug<br />
der Strafe oder eines Teils hiervon angeordnet werden, wenn der Zweck der Maßregel<br />
dadurch leichter erreicht wird, § 67 Abs. 2 S. 1 StGB. Dies ist jedoch nicht schon dann der Fall, wenn es<br />
dem Angeklagten (noch) an der für einen Therapieerfolg erforderlichen selbstkritischen Einstellung fehlt<br />
(BGH, Beschl. v. 1.3.2001 – 4 StR 36/01).<br />
Hinweis:<br />
Ist der Angeklagte vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und ist zu erwarten, dass sein Aufenthalt während<br />
oder unmittelbar nach der Verbüßung der Strafe tatsächlich beendet werden wird, soll das Gericht bestimmen,<br />
dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, § 67 Abs. 2 S. 4 StGB.<br />
2. Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren<br />
Wird eine zeitige Freiheitsstrafe von über drei Jahren verhängt, soll das Gericht gem. § 67 Abs. 2 S. 2<br />
StGB bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, es sei denn der vorweg zu<br />
vollziehende Teil der Strafe ist bereits vollständig durch Anrechnung von Untersuchungshaft erledigt<br />
(hierzu BGH, Beschl. v. 8.5.2018 – 2 StR 72/18).<br />
Dieser vorweg zu vollstreckende Teil der Strafe ist – zwingend (FISCHER, § 67 Rn 11a) – so zu bemessen,<br />
dass nach seiner Vollziehung und der anschließenden Unterbringung eine Entscheidung über eine<br />
vorzeitige Entlassung nach Verbüßung der Hälfte der Strafe gem. § 67 Abs. 5 StGB möglich ist, § 67<br />
Abs. 2 S. 3 StGB. Mit dieser Regelung soll verhindert werden, dass der Verurteilte nach erfolgreichem<br />
Abschluss der Behandlung zur Verbüßung eines Strafrestes wieder in den allgemeinen Strafvollzug zurückverlegt<br />
und hierdurch der Behandlungserfolg gefährdet wird.<br />
432 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1039<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
Hinweis:<br />
Insbesondere diese Regelung lässt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in Fällen, in denen<br />
lange Haftstrafen zu erwarten sind, aus Sicht des Angeklagten attraktiv erscheinen, lässt sich so doch im<br />
günstigsten Fall eine deutlich frühere Entlassung erreichen als im Verfahren nach § 57 StGB, in dem eine<br />
Reststrafenaussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt nur selten bewilligt wird.<br />
Absolut zwingend ist die Anordnung des Vorwegvollzugs jedoch nicht. Der Gesetzgeber hat § 67 Abs. 2<br />
S. 3 StGB vielmehr als Soll-Regelung ausgestaltet, sodass dem Gericht im Einzelfall die Möglichkeit<br />
verbleibt, eine abweichende Entscheidung zu treffen und es bei der Grundregel des § 67 Abs. 1 StGB,<br />
wonach zunächst die Maßregel und eben nicht die Strafe zu vollziehen ist, zu belassen. Dies kommt insb.<br />
bei aktuell dringender Therapiebedürftigkeit des Angeklagten in Betracht (BGH NStZ-RR 2019, 10).<br />
XII. Rechtsmittel<br />
Die sachgerechte Vorgehensweise bei der Einlegung von Rechtsmitteln hängt von der jeweiligen Fallkonstellation<br />
und dem konkreten Ziel des Angeklagten ab:<br />
1. Anfechtung der Unterbringungsanordnung<br />
Ordnet das erstinstanzliche Gericht die Unterbringung an, kann der Angeklagte nach den allgemeinen<br />
Regeln das Berufungs- bzw. das Revisionsgericht anrufen und überprüfen lassen, ob die Anordnung zu<br />
Recht erfolgte. Das Rechtsmittel kann grds. hierauf beschränkt werden (MüKo-StGB/VAN GEMMEREN,<br />
3. Aufl. 2016, § 64 Rn 17), es sei denn es besteht im Einzelfall eine untrennbare Wechselwirkung zum<br />
Strafausspruch (s. u. 3).<br />
Hinweis:<br />
Im Revisionsverfahren genügt die Erhebung der allgemeinen Sachrüge, um eine Überprüfung der Anordnung<br />
der Unterbringung zu erreichen (FISCHER, § 64 Rn 28).<br />
2. Anfechtung der „Nicht-Unterbringung“<br />
Strebt der Angeklagte die Unterbringung an, unterbleibt diese aber, kann er dies ebenfalls mit einem<br />
Rechtsmittel angreifen. Dieses muss sich dann aber zwingend gegen das Urteil insgesamt richten; eine<br />
isolierte Anfechtung nur der Nichtanordnung durch den Angeklagten ist nach ständiger Rechtsprechung<br />
unzulässig. Der Angeklagte ist durch die Nichtanordnung der ihn belastenden Maßregel<br />
nicht beschwert (FISCHER, § 64 Rn 28 m.w.N.).<br />
3. Sonderfall: Wechselwirkung zwischen Strafe und Maßregel<br />
Die besondere Aufmerksamkeit des Verteidigers ist gefordert, wenn der Angeklagte zwar mit der<br />
Nichtanordnung der Unterbringung zufrieden ist, nicht aber mit der verhängten Strafe. Agiert der<br />
Verteidiger hier nachlässig, „verhilft“ er seinem Mandanten im schlechtesten Fall zu einem insgesamt<br />
längeren Freiheitsentzug als im erstinstanzlichen Urteil vorgesehen. Kommt nämlich das Rechtsmittelgericht<br />
zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des § 64 StGB vorliegen, kann es die<br />
Unterbringung selbst dann „nachholen“, wenn nur der Angeklagte gegen das erstinstanzliche Urteil<br />
ein Rechtsmittel eingelegt hat (BGH, Beschl. v. 31.7.2019 – 5 StR 286/19).<br />
Hinweis:<br />
Dies ergibt sich für das Berufungsverfahren aus § 331 Abs. 2 StPO und für die Revision aus § 358 Abs. 2<br />
S. 3 StPO. Die beiden Vorschriften beinhalten hinsichtlich der Anordnung der Unterbringung in einem<br />
psychiatrischen Krankenhaus bzw. in einer Entziehungsanstalt jeweils eine Ausnahme vom Schlechterstellungsverbot.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong> 433
Fach 22, Seite 1040<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Unterbringung gem. § 64 StGB<br />
Um solche Nachteile zu vermeiden, bietet es sich an, das Rechtsmittel dahingehend zu beschränken,<br />
dass die Nichtanordnung der Unterbringung gem. § 64 StGB vom Rechtsmittelangriff ausgenommen<br />
wird. Eine solche Beschränkung lässt der BGH in ständiger Rechtsprechung grds. zu (so schon BGHSt 38,<br />
362). Es gibt jedoch auch immer wieder Konstellationen, in denen die Rechtsmittelbeschränkung<br />
ausnahmsweise unwirksam ist, namentlich dann, wenn sich den Urteilsgründen oder der Höhe der<br />
verhängten Strafe entnehmen lässt, dass die Strafe vom Unterbleiben der Maßregel beeinflusst worden<br />
sein kann (OLG Köln, Beschl. v. 3.7.2018 – 1 RVs 139/18).<br />
Ob ein solcher Einfluss vorliegt oder nicht, ist im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, eine Wechselwirkung<br />
zwischen Strafe und Unterbringung kann weder allgemein bejaht noch verneint werden (S/S/<br />
KINZIG, § 64 Rn 129). Unzulässig kann die Beschränkung etwa sein, wenn die Entscheidung über eine<br />
Strafrahmenmilderung wegen alkoholbedingter Enthemmung gem. § 21 StGB und die Versagung der<br />
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf denselben Gesichtspunkten beruhen und eine getrennte<br />
Beurteilung nicht möglich ist oder es im Einzelfall sowohl für § 64 StGB als auch für § 21 StGB darauf<br />
ankommt, aus welchem Grund der Angeklagte Drogen zu sich nimmt (hierzu BGH, Beschl. v. 16.2.2012 –<br />
2 StR 29/12). Auch kann es einer Herausnahme der Nichtanordnung der Maßregel entgegenstehen,<br />
wenn der Angeklagte den Schuldspruch zu einem der Anlassdelikte (Symptomtat) angreift. Die Feststellung<br />
einer Symptomtat geht der Anordnung der Maßregel zwingend voraus (S/S/KINZIG, a.a.O.).<br />
Zudem kann die Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung hinsichtlich der anzustellenden<br />
Sozialprognose eines unter Suchtdruck handelnden Angeklagten auf denselben Gesichtspunkten<br />
beruhen wie die Täterprognose bei der Entscheidung über die Anwendung des § 64 StGB. Eine rechtlich<br />
und tatsächlich selbstständige Beurteilung der Entscheidung über die Unterbringung ist nach der<br />
Rechtsprechung deshalb losgelöst von der Entscheidung über die Versagung der Strafaussetzung nicht<br />
möglich (OLG München NStZ-RR 2009, 10).<br />
Hinweis:<br />
Insbesondere in Berufungsverfahren wird regelmäßig darauf hingewiesen, dass für den Fall, dass eine<br />
vom Gericht angeregte Rücknahme nicht erfolgt, dann eben eine Unterbringung des Angeklagten in einer<br />
Entziehungsanstalt zu prüfen sei. Hinweisen der Verteidigung auf die Beschränkung des Rechtsmittels<br />
werden dann gerne Fundstellen aus der Rechtsprechung insb. der Oberlandesgerichte entgegengehalten,<br />
aus denen sich die Unwirksamkeit der Beschränkung ergeben soll.<br />
Derartigen Ausführungen und Fundstellenparaden sollte seitens der Verteidigung mit einer gewissen<br />
Vorsicht begegnet werden. Zwar wird ein solcher Hinweis im Normalfall pflichtgemäß erteilt werden,<br />
um den Angeklagten nicht „ins offene Messer“ laufen zu lassen, und stellt sich heraus, dass die Wirksamkeit<br />
der Rechtsmittelbeschränkung tatsächlich zweifelhaft sein könnte, sollte, um einen weiterreichenden<br />
Schaden für den Mandanten zu vermeiden, tatsächlich eine Rechtsmittelrücknahme<br />
erwogen werden.<br />
Hin und wieder wird aber auch geflissentlich außer Acht gelassen, dass eine Wechselwirkung zwischen<br />
Strafe und Maßregel nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht besteht (BGH, Beschl. v.<br />
2.2.2017 – 4 StR 433/16). Hier werden solche Hinweise dann als – unzulässiges – Druckmittel<br />
missbraucht, um die Rücknahme der Berufung zu erzwingen. In diesem Fall muss ein verständiger<br />
Angeklagter befürchten, dass dem Gericht nicht an einer ordnungsgemäßen Durchführung des<br />
Berufungsverfahrens gelegen ist, sondern daran, sich des Verfahrens mit möglichst geringem Aufwand<br />
zu entledigen. Es kann daher die Besorgnis der Befangenheit entstehen.<br />
434 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2020</strong>