06.04.2020 Aufrufe

Orientation & Identity

Portäts internationaler Leitsysteme. 17 internationale Projekte zeigen, wie ein Weg zum Erlebnis wird und nicht zur anonymen Distanzüberwindung verkommt.

Portäts internationaler Leitsysteme. 17 internationale Projekte zeigen, wie ein Weg zum Erlebnis wird und nicht zur anonymen Distanzüberwindung verkommt.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

… war künstler und wird ein spezialist der organisation!“, postulierte

der Bauhausdirektor Hannes Meyer in seiner Antrittsrede im

Jahr 1927 und nannte gleich eine Auswahl der zu koordinierenden

Professionen, unter anderem Volkswirte, Statistiker, Hygieniker

und Normengelehrte. Der Signaletiker findet sich zwar noch nicht

darunter, aber er hätte gut in diese Liste gepasst. Noch im selben

Jahr schuf Max Burchartz, der am Bauhaus studiert hatte, für das

Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen ein Farbleitsystem, das als

erstes angewandtes Beispiel der Signaletik in einem öffentlichen

Bau gilt.

Aus der Perspektive des Funktionalismus ist die Aufgabe der

Signaletik klar definiert: Sie zeigt den kürzesten Weg durchs Labyrinth.

Den subtilen räumlichen Botschaften, mit denen Architektur

Menschen zu leiten imstande ist – über Licht, Farbe, Raumproportion,

horizontale und vertikale Schichtungen – setzt sie ein deutliches

„Hier lang!“ entgegen. Das erlaubt es der funktionalistischen

Architektur wiederum, auf alle Subtilitäten der Wegführung zu verzichten

und sich auf effizientes Tragsystem, kostengünstige Hülle

und möglichst gleichmäßig verteilte Erschließungskerne zu beschränken.

Den Weg durch diese entzauberte Architektur, die von

sich aus keine Hinweise mehr gibt, wie man sich in ihr bewegen

soll, findet der Besucher über den Ariadnefaden des Leitsystems.

Die latenten Spannungen zwischen Architektur und Signaletik

dürften zu einem nicht geringen Teil darin bestehen, dass Signaletik

aus der Perspektive der Architektur als Teil einer funktionalistischen

Doktrin betrachtet wird, die längst überwunden ist. Um

zu verstehen, welche Chancen damit ungenutzt bleiben, empfiehlt

es sich, das Thema Signaletik außerhalb der funktionalistischen

Perspektive zu betrachten und zu untersuchen, wie Leitsysteme

mit dem größeren semantischen Ganzen der Architektur in Beziehung

stehen können. Dazu muss erörtert werden, welche Aufgaben

Erschließungssysteme in der Architektur neben der möglichst sicheren

und effizienten Bewegung von Menschen und Gütern in einem

Gebäude noch zu leisten haben. Dabei lassen sich zumindest

zwei weitere Aufgaben identifizieren: erstens die Inszenierung von

Raum- und Erlebnissequenzen und zweitens die stufenweise Abgrenzung

von öffentlichen und privaten Bereichen. Aus dieser erweiterten

Bedeutung von Erschließungssystemen – die im Folgenden

kurz beleuchtet wird – lassen sich erweiterte Aufgaben für die

Signaletik ableiten.

Die Inszenierung von Bewegung im Raum ist ein Thema der

Architektur, über das sich in der Architekturtheorie vergleichsweise

wenige Aussagen finden. Während die Diskussionen über Maß,

Zahl und Proportion oder die Säulenordnungen Bücher füllen, fehlen

für das Thema der Erschließung und Bewegung offensichtlich

die Begriffe. Implizit ist aber zumindest die rituelle Bewegung im

Raum ein Kernthema der Architektur. Auch das Labyrinth wird oft

auf diesen Ursprung zurückgeführt. Reigentänze, die labyrinthisch

gewundene Bewegungen um ein Zentrum ausführen, finden sich

in vielen Kulturen. Folgt man der Interpretation, die Jan Pieper in

seiner grundlegenden Arbeit über das „Labyrinthische in der Architektur“

aufgestellt hat, dass Labyrinthe nicht für ein einzelnes

Gebäude, sondern als Metapher für die Stadt an sich stehen, dann

liegt die Idee nahe, das Labyrinth als Spur jener festlichen Begehungen

und Umzüge zu sehen, die sich in vielen Kulturen nachweisen

lassen, von den mittelalterlichen Festumzügen bis zu südindischen

Stadtritualen. Der Tanz – sicher die unfunktionellste

Form menschlicher Fortbewegung – wird hier zum Ursprung architektonischer

Raumkompositionen. Das Repertoire an Mitteln, mit

denen Architektur diese Inszenierung von Bewegung unterstützen

kann, reicht dabei über den rein visuellen Aspekt weit hinaus: Die

körperliche Anstrengung, die mit dem Beschreiten einer mehr oder

weniger steilen Treppe oder Rampe verbunden ist, gehört ebenso

dazu wie der akustische Effekt von Schritten auf unterschiedlichen

Böden und deren Widerhall im Raum, aber auch Luftbewegung und

Luftfeuchtigkeit können dabei eine Rolle spielen.

Orientierung und Desorientierung sind in diesem Zusammenhang

keine wertenden Begriffe mehr, sondern unterschiedliche

Mittel zur Erreichung bestimmter Effekte. Momente der Verunsicherung

fordern den Besucher auf, sich aktiv zu orientieren, und

der kürzeste Weg muss keineswegs immer der beste sein. Selbst

die scheinbar einfache Frage, ob es eine Qualität darstellt, wenn

der Eingang eines Gebäudes von weitem erkennbar ist, führt zu widersprüchlichen

Antworten. Louis Kahn setzt die Eingänge seiner

Bauten gezielt so, dass der Besucher sie nicht auf den ersten Blick

entdeckt, oft sogar in einer Reihe scheinbar identischer Öffnungen

erst suchen muss. Umso größer ist dann das Erlebnis, hinter einem

unscheinbaren Eingang einen grandios in die Vertikale gezogenen

Raum vorzufinden. Die anfängliche Verunsicherung durch Desorientierung

ist hier gezielte Vorbereitung auf diesen Effekt. Dagegen

legt Le Corbusier größten Wert auf eine fast kinematografische

[19]

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!