06.04.2020 Aufrufe

Orientation & Identity

Portäts internationaler Leitsysteme. 17 internationale Projekte zeigen, wie ein Weg zum Erlebnis wird und nicht zur anonymen Distanzüberwindung verkommt.

Portäts internationaler Leitsysteme. 17 internationale Projekte zeigen, wie ein Weg zum Erlebnis wird und nicht zur anonymen Distanzüberwindung verkommt.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Architektur und Orientierung

Das Labyrinth und der Faden der Ariadne | Christian Kühn

Das einzige Bauwerk, das in der griechischen Mythologie eine tragende

Rolle spielt, ist das Labyrinth, das der Baumeister Daidalos

für den kretischen König Minos errichtete. Das Charakteristikum

dieses Bauwerks besteht in der Unmöglichkeit, sich darin zu orientieren.

Ein Planungsfehler ist das freilich nicht, sondern kunstvolle

Absicht: Der Mythos lässt keinen Zweifel an den überragenden

Fähigkeiten des Daidalos, und nirgendwo findet sich ein Hinweis,

dass er die Kontrolle über sein Projekt verloren hätte, weil es etwa

zu groß oder komplex geraten wäre. Das Labyrinth ist keineswegs

chaotisch, sondern nach einem besonderen Plan gestaltet, dem

Prinzip des möglichst langen Wegs, der um ein mittiges Zentrum

herum führt. Im Mythos erfüllt dieser Plan den Zweck, ein Ungeheuer

– den stierköpfigen Minotaurus – auf spezielle Art im Zaum

zu halten, nicht durch eine Mauer aus der Welt gesperrt, sondern

über verschlungene Wege in Verbindung mit ihr gehalten.

Der Faden der Ariadne, mit dem es Theseus gelingt, sich und

seine Gefährten aus diesem Labyrinth zu befreien, nachdem er den

Minotaurus erschlagen hat, ist in gewisser Weise das erste mythologische

Leitsystem. Der Wollknäuel, den Ariadne dem Theseus

übergibt, ist dabei doppeldeutig. Er stellt einerseits eine Art von

Architekturmodell des Labyrinths dar: Von einem zentralen Mittelpunkt

aus windet sich der Faden in einem scheinbar chaotischen

Gewirr zu einer geschlossenen Form. Andererseits lässt sich dieses

Knäuel zum linearen Faden abspulen, der den Helden wieder

ins Freie führt.

Das Labyrinthische als Gegenbild zur übersichtlichen axialen

Ordnung, wie sie etwa den griechischen Tempel prägt, ist ein

Thema, das sich durch die Architekturgeschichte verfolgen lässt.

Es empfiehlt sich dabei, zwischen Labyrinth und Irrgarten zu unterscheiden:

Labyrinth im engeren Sinn ist das Einweglabyrinth,

bei dem ein einziger verschlungener Weg ins Ziel führt. Solche

Laby rinthe finden sich etwa als Steinintarsien in den Fußböden

der großen gotischen Kathedralen. Das Ziel im Zentrum ist greifbar

nahe, aber der Weg dorthin ist lang und beschwerlich. Die frohe

Botschaft ist jedoch, dass jeder das Ziel erreichen kann, der sich

auf den Weg macht: Es gibt keine Abzweigungen oder Sackgassen.

Der Irrgarten der Neuzeit lässt diese Frage dagegen in Schwebe,

indem er bewusst die Möglichkeit beinhaltet, ewig im Kreis zu

gehen, ohne je das Ziel in der Mitte zu erreichen. Und im Barock

schließlich löst sich auch die Idee des Ziels als klar definierter Ort

im Raum zugunsten vielfacher möglicher Zentren auf. Im barocken

Garten fluchten die Achsen ins Unendliche, verdoppeln sich in

Spiegelfiguren und Illusionen, die jede Orientierung gezielt hinters

Licht führen.

Im Lauf der Architekturgeschichte gab es bis ins frühe

20. Jahrhundert keinen Zweifel daran, dass Architektur selbst ein

natürliches Zeichensystem ist, ein großes semantisches Ganzes,

das höchst komplexe Bedeutungen vermittelt. Erst der Funktionalismus

der 1920er Jahre machte den Versuch, Architektur von

dieser Aufgabe zu entlasten. Semiotisch betrachtet sollte Architektur

– von jeder symbolischen Bedeutung befreit – nur noch als

Index (also Hinweis) auf ihre Funktion Bestand haben. Weder Tradition

noch Region sollten mehr einen Einfluss auf architektonische

Formen haben. Die Sprache des internationalen Stils war als architektonische

Universalsprache gedacht, die sich in der Funktion

begründete.

Labyrinth und Irrgarten mit ihren verwirrenden Wendungen

hatten im Funktionalismus keinen Platz. Sie sind die Antithesen zu

dessen Grundregel, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei

Punkten auch den optimalen Weg darstellt. Die neuen wissenschaftlichen

Methoden zur Produktions- und Fabriksplanung

fanden in den 1920er Jahren rasch ihren Niederschlag in der Architektur.

Henry Ford ließ für seine Arbeiter Krankenhäuser errichten,

deren oberste Maxime kurze Wege für die Schwestern waren, und

der tschechische Schuhfabrikant Tomáš Batá machte der Architektur

selbst Beine, indem er sein Büro wie eine Liftkabine an der

Außenwand seines Verwaltungssitzes entlangfahren ließ, um so

ohne Umwege über Treppen oder Gänge auf jeder Etage Präsenz

zeigen zu können. Effizienz und Moral waren in beiden Fällen eng

miteinander verbunden. „Dunkle Ecken, die zur Verunreinigung

einladen, werden weiß gestrichen. Ohne Sauberkeit keine Moral!“,

heißt es in Henry Fords Autobiografie. Und die Fabriken und Büroräume

im Batá-Konzern waren mit Schrifttafeln geschmückt, auf

denen Sinnsprüche die Arbeitsmoral heben sollten.

Es ist kein Zufall, dass die Etablierung der Signaletik als eigene

Disziplin ebenfalls in die 1920er Jahre fällt. Die funktionalistische

Doktrin verfolgte das Ziel, die Bauproduktion an eine Vielzahl

von Spezialdisziplinen zu delegieren, deren Koordination die eigentliche

Aufgabe der Architektur werden sollte: „… der architekt?

[18]

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!