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Orientation & Identity

Portäts internationaler Leitsysteme. 17 internationale Projekte zeigen, wie ein Weg zum Erlebnis wird und nicht zur anonymen Distanzüberwindung verkommt.

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Identität als Orientierungsmaßstab | Markus Hanzer

Wir leben in einer Welt des ständigen Wandels. Nicht nur die Erscheinungen

der Natur kommen und gehen, wir Menschen verändern

uns und unsere Umwelt. Auch unser Gedächtnis ist instabil

und vergesslich. Mit Identität bezeichnen wir, bei aller Veränderlichkeit

und Vergänglichkeit, jenes Phänomen, das uns dennoch

Orientierung erlaubt.

Identität fordert eine unveränderliche Wesenheit, Art, Qualität,

Eigenschaft oder Wahrnehmbarkeit. Wir sind auch in der Lage,

zum Beispiel Menschen oder Orte wiederzuerkennen, selbst wenn

vieles sich geändert hat. Wahrnehmung ist ein komplexer Vorgang,

der auch Wesenszüge, Strukturen, Intentionen etc. umfasst.

Eigenschaften haften jedoch nicht einfach den Phänomenen an,

sondern werden je nach der Fähigkeit, Wahrnehmbares zu lesen,

unterschiedlich zugesprochen. Dies betrifft sogar unser Selbstbild,

welches sich ebenfalls ändert, sobald wir uns mit neuen Formen

einer Dechiffrierung von Zeichen vertraut machen. Sowohl Psychotherapie

als auch Werbung sind daher Leseunterricht.

Identität erfordert immer das Vorhandensein unterscheidbarer

Phänomene bzw. die Festlegung von Individuationsprinzipien,

die einem bestimmten Phänomen nicht zukommen. Identität ist

wie eine Haut, die schützt und ausgrenzt, die an manchen Stellen

dick und abweisend, in anderen Bereichen dünn und durchlässig

erscheint. Diese Haut ist flexibel, wächst, verändert sich, dehnt

sich oder zieht sich zusammen.

Klar umrissene, auf wenige Merkmale reduzierte Erscheinungen

lassen sich leichter identifizieren als komplexe, offene und

vielgestaltige Äußerlichkeiten. Jene, die erkannt werden wollen,

haben es sich daher meist zur Gewohnheit gemacht, nach Formen

einer Andersartigkeit zu suchen. Design ist jenes Werkzeug, mit

dessen Hilfe die Formen der Wahrnehmbarkeit entwickelt und ausgeweitet

werden. Aufdringliche, auffällige und laute Oberflächen

werden eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu provozieren. Die umgekehrte

Strategie besteht darin, durch eine Anpassung an stark

verbreitete Erscheinungsformen gleichsam unsichtbar zu werden.

zur Differenzierung wird gelernt. Kennerschaft ermöglicht das Erfassen

feinster Nuancen. Für den einen mögen zum Beispiel Graffitis

nichts anderes als gleichförmige Störungen und Ärgernisse

sein, während für Liebhaber der Szene deutliche Unterschiede

bestehen. Der Spielraum, innerhalb dessen wir in der Lage sind,

Personen, Objekte, Phänomene wiederzuerkennen, ist variabel.

Er scheint sich im Laufe der Geschichte zu wandeln und ist immer

auch von Mensch zu Mensch verschieden. Wo wir Unterscheidungen

treffen und wo wir Gemeinsamkeit erkennen wollen, ist somit

eine Frage der Anschauung, wenn man so will, auch der Toleranz.

Menschliche Gesellschaft baut auf eine Zuschreibung von

Verantwortung und fordert daher Identitätsnachweise, dem Verdacht

folgend, dass Wahrnehmung sich auch täuschen lässt. Wir

suchen daher nach Zeichen, die sich einfachen Täuschungsmanövern

entziehen. Reisepässe sollen deshalb ein Abbild vom Abdruck

der Papillarleisten am Endglied eines Fingers oder der Regenbogenhaut

des Auges enthalten. Von vielen Waren erwarten wir, dass

sie sich uns als gebrandet zu erkennen geben. Wer oder was sich

nicht deutlich zu verstehen gibt oder nicht authentisch wirkt, muss

sich den Vorwurf gefallen lassen, etwas zu verbergen, um sich der

Verantwortung zu entziehen. Längst haben sich Klischees herausgebildet,

denen viele Vertrauen schenken und die sich aufgrund

einer Konfrontation mit unüberschaubaren Informationsmengen

auch nicht vermeiden lassen. Verbreitete Muster entwickeln somit

eine Eigendynamik. Die Bereitschaft, Vorurteile zu hinterfragen,

bedarf oft einschneidender Erlebnisse, die das Versagen unserer

Wahrnehmung offensichtlich machen.

Da, wie bereits beschrieben, sich alles in einem ständigen

Wandel befindet, muss auch die Eigenart eines Phänomens sich

immer wieder aufs Neue bewähren. Damit im Laufe der Veränderungen

die Zuschreibung einer Identität nicht verloren geht, muss

sich ein kausaler Zusammenhang konstruieren lassen. Wer seine

Spuren verwischt, seine Herkunft verleugnet, sich radikal erneuert,

lenkt oft die Aufmerksamkeit gerade auf jene Momente, die sich

der Beobachtung entziehen.

Identität kann als eine Form der Zuschreibung bezeichnet

werden. Identität entsteht in der Betrachtung des Spannungsfelds

von Zugehörigkeit und Unterscheidbarkeit oder Individualität. Erst

durch das Fremde wird uns das Vertraute bewusst. Die Fähigkeit

Die Idee, dass sich etwas verändern kann, ohne dadurch unfassbar

zu werden, ist Vorbedingung für die menschliche Existenz,

für Geschichte, Fortschritt, Freiheit. Die Energie menschlichen

Handelns verteilt sich nach wie vor einerseits auf den Versuch,

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