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NUN,# 3 – Zehnfingerhelden

Ausgabe Nr. 3 Zehnfingerhelden Release 18. April 2019 Auflage 3.000 Exemplare Liebe Leserinnen und Leser, Kaum mehr als ein bewegtes Jahr ist es her, dass alles begann. Im März 2018 hielten wir und viele von euch das erste NUN, in ihren Händen – eine Hausgeburt in einem paradieser Hinterhof gewissermaßen. Für diese dritte Ausgabe haben wir mit einer gesprochen, die nicht Hefte aber unzählige Kinder auf die Welt holte. Eine Anthropologin dagegen fühlt dem Leben anderer im Nachgang auf den Zahn. Diese Ausgabe staunt über die Vielfalt und Lernfähigkeit unserer Sinne. Wir lernen Menschen kennen, deren Hände lesen, weil die Augen es nicht können, Menschen, deren Hände sprechen weil die Ohren kaum hören, Menschen, deren Hände zugleich Füße sind, weil ihre Beine nichts tragen und Zehnzehenhelden die fehlende Hände durch beeindruckende Fußfertigkeit aufwiegen. NUN, bohrt mit dem Zeigefinger in der Geschichte des Handwerks, lauscht klangewaltigem Fingerspitzengefühl und macht sich auf die Suche nach dem passenden Ring. Und zwischen all den Geschichten gehen wir der Frage nach: Was darf ich eigentlich anfassen? Und was nicht? Dass diese Seiten durch deine Finger gleiten, verdankenwir unzähligen Menschen. Denn zwei paar Hände könnten so viele Ideen kaum tragen. In diesem Sinne, Hand aufs Herz und umgeblättert. Annabelle Höpfer und Miriam Stepper

Ausgabe Nr. 3
Zehnfingerhelden
Release 18. April 2019
Auflage 3.000 Exemplare


Liebe Leserinnen und Leser,
Kaum mehr als ein bewegtes Jahr ist es her, dass alles begann. Im März 2018 hielten wir und viele von euch das erste NUN, in ihren Händen – eine Hausgeburt in einem paradieser Hinterhof gewissermaßen.
Für diese dritte Ausgabe haben wir mit einer gesprochen, die nicht Hefte aber unzählige Kinder auf die Welt holte. Eine Anthropologin dagegen fühlt dem Leben anderer im Nachgang auf den Zahn. Diese Ausgabe staunt über die Vielfalt und Lernfähigkeit unserer Sinne. Wir lernen Menschen kennen, deren Hände lesen, weil die Augen es nicht können, Menschen, deren Hände sprechen weil die Ohren kaum hören, Menschen, deren Hände zugleich Füße sind, weil ihre Beine nichts tragen und Zehnzehenhelden die fehlende Hände durch beeindruckende Fußfertigkeit aufwiegen.
NUN, bohrt mit dem Zeigefinger in der Geschichte des Handwerks, lauscht klangewaltigem Fingerspitzengefühl und macht sich auf die Suche nach dem passenden Ring. Und zwischen all den Geschichten gehen wir der Frage nach: Was darf ich eigentlich anfassen? Und was nicht?

Dass diese Seiten durch deine Finger gleiten, verdankenwir unzähligen Menschen. Denn zwei paar Hände könnten so viele Ideen kaum tragen.

In diesem Sinne, Hand aufs Herz und umgeblättert.
Annabelle Höpfer und Miriam Stepper

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AUSGABE 3<br />

FRÜHLING 2019<br />

<strong>Zehnfingerhelden</strong><br />

Ein Magazin für Kreuzlingen und Konstanz


1 EDITORIAL<br />

Liebe<br />

Leserinnen<br />

und Leser!<br />

Kaum mehr als ein bewegtes Jahr ist es her, dass alles<br />

begann. Im März 2018 hielten wir und viele von euch<br />

das erste <strong>NUN</strong>, in den Händen <strong>–</strong> eine Hausgeburt in<br />

einem Paradieser Hinterhof gewissermaßen.<br />

Für diese dritte Ausgabe haben wir mit einer gesprochen,<br />

die nicht Hefte, aber unzählige Kinder auf die Welt holte.<br />

Eine Anthropologin dagegen fühlt dem Leben anderer im<br />

Nachgang auf den Zahn. Diese Ausgabe staunt über die<br />

Vielfalt und Lernfähigkeit unserer Sinne. Wir lernen Menschen<br />

kennen, deren Hände lesen, weil die Augen es<br />

nicht können, Menschen, deren Hände sprechen, weil die<br />

Ohren kaum hören, Menschen, deren Hände zugleich<br />

Füße sind, weil ihre Beine nichts tragen und Zehnzehenhelden<br />

die fehlende, Hände durch beeindruckende Fußfertigkeit<br />

aufwiegen.<br />

<strong>NUN</strong>, bohrt mit dem Zeigefinger in der Geschichte des<br />

Handwerks, lauscht klangewaltigem Fingerspitzengefühl<br />

und macht sich auf die Suche nach dem passenden Ring.<br />

Und zwischen all den Geschichten gehen wir der Frage<br />

nach: Was darf ich eigentlich anfassen? Und was nicht?<br />

Dass diese Seiten durch deine Finger gleiten, verdanken<br />

wir unzähligen Menschen. Denn zwei paar Hände<br />

könnten so viele Ideen kaum tragen.<br />

In diesem Sinne, Hand aufs Herz und umgeblättert.<br />

Annabelle Höpfer und Miriam Stepper


INHALT<br />

2<br />

6<br />

Die zu den<br />

Augen spricht<br />

Gebärdensprache<br />

38<br />

Eine Summe von<br />

Chancen<br />

Im Gespräch mit Christian Lohr über<br />

Demut, eine gesunde Lebenshaltung<br />

und etwas, das nie da war<br />

12<br />

Die mit tanzenden<br />

Händen schreibt<br />

Wie Hula-Tanz alte<br />

Geschichten überliefert<br />

20<br />

Eine kurze Geschichte<br />

des Handwerks oder<br />

die Hand hat das Zeug<br />

zum Werk<br />

Essay über den Gebrauch<br />

der Hand als Kulturtechnik <strong>–</strong><br />

ein Zeitverlauf<br />

44<br />

Perspektive<br />

Fotografie <strong>–</strong> Die Welt<br />

von oben und innen<br />

Inhalt<br />

14<br />

Rocco<br />

Zwischen Schöpfung und<br />

Zerstörung <strong>–</strong> über die<br />

Zwiespältigkeit des Boxens<br />

26<br />

Atelier und Werkstatt<br />

für Schönes und<br />

Handgemachtes<br />

Eine Plattform für Austausch<br />

und Kooperation<br />

30<br />

Knochenjob<br />

Zu Besuch bei der<br />

Antrophologin Carola Berszin<br />

36<br />

Stadtklaviatur<br />

Mit dem kleinen Finger durch<br />

die Niederburg<br />

46<br />

Berührbar<br />

Eine Erzählung in 17 Alltagsbildern<br />

56<br />

Der glücklichste<br />

Hausmeister der Welt<br />

Mit Dschonnie vom Schaufenster<br />

durch die Saraha bis ins Neuwerk


3<br />

INHALT<br />

64<br />

Der Urzeitfisch<br />

Vierländerprosa<br />

66<br />

Im Wunderwerk<br />

Ein Musiker und sein<br />

Instrument im Porträt<br />

70<br />

Greifmaschine<br />

Stadtpoesie<br />

72<br />

Stadt<br />

Hand<br />

Fluss<br />

Ein Spaziergang durch zwei<br />

Städte, die Hände im Blick<br />

74<br />

Velo-Juwel<br />

Ein Besuch in der<br />

Save me-Fahrradwerkstatt<br />

78<br />

Die letzte/erste<br />

Hausgeburt<br />

Zwei Hebammen berichten<br />

84<br />

Rock’n’Roland<br />

Einer ist stets auf Achse<br />

86<br />

Sneak Peek<br />

ins Leben<br />

Wie Astrologie die Zukunft<br />

zu lesen versucht<br />

90<br />

Es schließt<br />

sich der Kreis<br />

Ein lyrischer Streifzug<br />

zum perfekten Ring<br />

96<br />

Newcomer<br />

Aufstieg <strong>–</strong> Drei Jungingenieure<br />

auf der Suche nach dem perfekten<br />

Klettergriff<br />

100<br />

Tipps ums Eck<br />

Orte und Momente<br />

102<br />

Danke<br />

104<br />

Impressum<br />

104 Seiten Liebe<br />

zur Stadt und<br />

pures Vergnügen.<br />

Ein saisonales<br />

Produkt mit regionalem<br />

In- und<br />

Output.


ZEHNFINGERHELDEN 4


5<br />

ZEHNFINGERHELDEN<br />

Sie werden geschüttelt und berührt.<br />

Sie sind oft das erste, das du von<br />

einem anderen Menschen zu spüren<br />

bekommst. Freundlich auf deiner<br />

Schulter, als sanftes Tippen, energisch<br />

mit Nachdruck oder feuchtkalt<br />

und schlaff gereicht.<br />

Deine Hände formen eine Brücke<br />

zwischen dir und der Welt. Sie sind<br />

Mittel zum Zweck und täglich in<br />

Gebrauch. Sind vielfältiger als jedes<br />

Sackmesser es sein könnte, eine<br />

Wunderfaust der Möglichkeiten. Sie<br />

bieten eine Ausstattung, mit der<br />

du hochpräzise und effizient agieren<br />

kannst. Ein gefühlsgewaltiges Instrument<br />

mit 140 Fühlkörperchen<br />

auf einem Stück Handfläche, so klein<br />

wie ein halber Rappen, übermitteln<br />

in Sekundenschnelle Gefühle haptischen<br />

Ursprungs an dein Gehirn.


DIE ZU DEN AUGEN SPRICHT<br />

6<br />

Die zu<br />

den<br />

Augen<br />

Spricht<br />

→<br />

GEBÄRDENSPRACHE<br />

Haare, Gesicht und Hände heben sich hell ab vor dem<br />

schwarzen Hintergrund. Rhythmisch bewegen sie sich durch<br />

den Raum, mal weich, mal energisch, ausladend oder fein.<br />

Zu sehen ist das Gedicht Mailied von Johann Wolfgang von<br />

Goethe, übersetzt von der Schauspielerin und Gebärdensprachdolmetscherin<br />

Kathrin Enders. Das Video ist einer<br />

der ersten Treffer, als ich im Internet nach Gebärdenpoesie<br />

suche, doch da gibt es noch viel mehr. Bekannte Gedichte<br />

werden von Dolmetschern übertragen und interpretiert, gehörlose<br />

Menschen schreiben eigene Gedichte in Gebärdensprache<br />

oder Texte für Deaf Slams, also Dichterwettstreits, bei<br />

denen die Vorträge zu sehen statt zu hören sind. Auch Musik<br />

für Taube gibt es: In Gebärdenchören<br />

werden Lieder mit den Händen gesungen; Konzerte werden<br />

in Gebärdensprache übersetzt. Bekannt dafür ist Laura<br />

Schwengber, die letztes Jahr beim Eurovision Song Contest<br />

im deutschen Fernsehen Musik gedolmetscht hat und bei<br />

Metal-Konzerten in Wacken mit auf der Bühne stand. Nicht<br />

weit von hier, im Gehörlosendorf Turbenthal bei Winterthur,<br />

fand letzten Sommer das erste ganztägige Open Air<br />

in der Schweiz statt. Eine Parallelwelt tut sich mir hier auf,<br />

von der ich in dieser Vielfalt bisher nicht wusste.<br />

Wie wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen hier in<br />

der Stadt kommuniziere ich eher zurückhaltend. Ich setze<br />

Gestik und Mimik sparsam ein und zeige meine Gefühle in<br />

Alltagsgesprächen nur wenig. Deshalb befremdet mich die<br />

Gebärdensprache gleichermaßen, wie sie mich fasziniert.<br />

Die Hände bewegen sich schnell und raumgreifend, das Gesicht<br />

zeigt für mein Empfinden überdeutlich, welche Emotionen<br />

mit dem Erzählten zusammenhängen. Doch verstehen<br />

tue ich nichts.<br />

Ich kann mich nicht erinnern, jemals hier in der Stadt<br />

Menschen gesehen zu haben, die gebärdet haben. Da ich auch<br />

niemanden kenne, der Gebärdensprache spricht, mache<br />

ich mich auf die Suche und treffe auf Nina Cainelli. Sie ist hier<br />

geboren und im Alter von neun Monaten ertaubt.<br />

Zunächst hat sie an der HTWG studiert, zum letzten Wintersemester<br />

aber zu Sport an der Uni gewechselt. Trotz zweier<br />

Cochlea Implantate ist das Leben und Studieren unter Hörenden<br />

für Nina anstrengend. Sie ist darauf angewiesen, das,<br />

was sie über die Implantate hört, durch Lippenlesen zu unterstützen,<br />

um zu verstehen, was gesagt wird. Bei unserem<br />

Gespräch im Bib-Café an der Uni klappt das recht gut, obwohl<br />

es um uns herum ziemlich trubelig ist. Wenn aber<br />

jemand in einer Vorlesung zur Tafel spricht, wenn in einem<br />

Tutorium oder Seminar die Redebeiträge zwischen verschiedenen<br />

Personen an unterschiedlichen Orten im Raum<br />

hin und her wechseln oder wenn die Hintergrundgeräusche<br />

zu laut sind, bekommt Nina nicht genug vom Gesagten mit.<br />

Auch Mitschreiben kann sie nicht, denn dazu muss sie ja auf<br />

das Papier vor sich und weg vom sprechenden Mund schauen.<br />

Nur in den praktischen Kursen hat sie keine Nachteile. „Beim<br />

Sport sind wir alle gleich“, sagt die leidenschaftliche Fußballerin<br />

und Skifahrerin.<br />

Nina erzählt, dass sie anfangs rein lautsprachlich erzogen<br />

und in der Schule unterrichtet wurde, obwohl sie wegen<br />

ihrer starken Hörbeeinträchtigung erst mit sechs Jahren zu<br />

sprechen begonnen habe. Doch da Nina die Schule für Hörbehinderte<br />

in Stegen bei Freiburg besucht hat und dort auch<br />

im Internat wohnte, hat sie von tauben Mitschülern, deren<br />

Eltern selbst oft nicht hören konnten, die Gebärdensprache<br />

gelernt. „In der Freizeit konnte man uns ja nicht verbieten,<br />

so miteinander zu sprechen“, erläutert sie. Von diesen Freunden<br />

hat sie auch ihren Gebärdennamen bekommen, bei dem der<br />

TEXT — Heike Heike Meyer<br />

ILLUSTRATION — Isabell Schmidt-Borzel


7 XXXXX XXXX XXXX<br />

Gebärdennamen haben immer<br />

etwas mit einem besonderen<br />

Merkmal ihres Trägers zu tun.<br />

Bei Ninas Name deutet der<br />

gestreckte Zeigefinger über<br />

die Nase an die Stirn auf<br />

eine Falte, die sich stets bildet,<br />

wenn Nina sich konzentriert.<br />

gestreckte Zeigefinger über der Nase an die Stirn geht. Wie<br />

alle Gebärdennamen hat er etwas mit einem besonderen<br />

Merkmal zu tun und zeigt die Falte, die sich auf Ninas Stirn<br />

bildet, wenn sie sich konzentriert.<br />

Strenggenommen ist Gebärdensprache nicht Ninas Muttersprache,<br />

aber sie ist für sie „entspannte Sprache“. Besonders<br />

abends nach einem anstrengenden Tag mit viel Hören und<br />

Sprechen sei es eine Wohltat, wenn sie die Hörgeräte ausschalten<br />

und gebärden könne. Telefonieren würde sie wie alle<br />

Gehörlosen gebärdend über FaceTime, denn „das ist auch<br />

persönlicher als schreiben.“ Für die Oberstufe wechselte Nina<br />

an eine Schule in Essen, in der bilingual <strong>–</strong> also parallel mit<br />

Laut- und Gebärdensprache <strong>–</strong> unterrichtet wurde. „Hier habe<br />

ich viel mehr gelernt, weil ich mich nicht immer so anstrengen<br />

musste, zu verstehen, was gesagt wird“, erzählt<br />

sie. Für sie ist es unverständlich, dass nicht alle Lehrer, die<br />

Hörbehinderte unterrichten, die Gebärdensprache beherrschen,<br />

und sie berichtet, dass sie von einer Lehrerin in<br />

Konstanz gebeten worden sei, für taube geflüchtete Kinder<br />

zu dolmetschen, mit der sich diese nur sehr rudimentär<br />

über Zeichen und Zeigen von Dingen verständigen könne.<br />

Nina dagegen spricht internationale und deutsche Gebärdensprache.<br />

Auch die Verständigung mit Schweizern sei<br />

kein Problem, auch wenn die Sprache ein bisschen anders sei.<br />

Denn schon als sie nach Essen umgezogen ist, musste sie<br />

sich umstellen. „Das kriegt man ganz schnell mit, was anders<br />

gebärdet wird“, erklärt sie mir. Der Dialekt, der in Essen gesprochen<br />

wird, gefalle ihr besser, so dass sie nur noch diesen<br />

verwendet.<br />

→<br />

Turm zur Katz<br />

Kulturzentrum am Münster<br />

Wessenbergstr. 43<br />

78462 Konstanz<br />

Tel.: +49 . 7531 . 900 900<br />

Mail: kulturamt@konstanz.de<br />

Facebook: Turm zur Katz<br />

Öffnungszeiten und Preise:<br />

Di → Fr 10 <strong>–</strong> 18 Uhr<br />

Sa & So 10 <strong>–</strong> 17 Uhr<br />

3 €, erm. 2 €<br />

(1. Sonntag im Monat frei)


DIE ZU DEN AUGEN SPRICHT<br />

8<br />

A B C D<br />

I J K L<br />

Q R S T<br />

Y Z SCH Ä


9<br />

DIE ZU DEN AUGEN SPRICHT<br />

E F G H<br />

M N O P<br />

U V W X<br />

Ö Ü ß


DIE ZU DEN AUGEN SPRICHT<br />

10<br />

Nina würde sich wünschen, dass alle Leute Gebärdensprache<br />

sprechen und dass es viel mehr Gebärdenübersetzungen<br />

gibt. Sie erzählt, dass es in Amerika für Gehörlose kleine<br />

Bildschirme im Kino gibt, in denen das im Film Gesagte<br />

entweder in Untertiteln oder in Gebärdensprache gelesen<br />

werden kann. Aber auch mehr Gebärdendolmetscher bei<br />

Vorträgen oder kulturellen Veranstaltungen wären schön.<br />

Besonders wichtig für gehörlose Menschen ist, dass sie<br />

sich in Notsituationen gut verständigen können. Deshalb<br />

müssten Polizei, Ärzte, Rettungsdienste usw. die Gebärdensprache<br />

beherrschen. Und auch Hörende haben etwas davon,<br />

wenn sie diese Sprache lernen: Sie bekommen dadurch<br />

einen Einblick in die vielfältige Kultur von Gehörlosen und<br />

sie können sich damit auch durch Fensterscheiben oder bei<br />

lauten Partys super unterhalten.<br />

QUELLEN UND WEITERFÜHRENDE LINKS<br />

→ www.sgb-fss.ch/gebaerdensprache<br />

→ www.tinyurl.com/y3w99tfg<br />

→ www.visuelles-denken.de/Schnupperkurs.html<br />

→ www.gebaerdenlernen.de<br />

→ www.taubwissen.de/content/index.html<br />

→ www.taubenschlag.de/kategorie/gebaerdensprache<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Heike findet Sprachen spannend, besonders<br />

solche, die ganz anders<br />

funktionieren als das Deutsche. Dass<br />

sie sich sowohl mit Hawaiianisch<br />

als auch mit Gebärdensprache auch<br />

auf politisches Gebiet bewegt, war<br />

ihr vorher nicht klar.<br />

INFORMATIONEN ZUR<br />

GEBÄRDENSPRACHE (GS)<br />

→ GS ist eine richtige Sprache, mit der man sich differenziert<br />

ausdrücken kann. Deshalb ist die Bezeichnung „taubstumm“ für<br />

gehörlose Menschen unsinnig. Sie wird als abwertend erlebt<br />

und sollte keinesfalls verwendet werden. Auch der Begriff „Zeichensprache“<br />

wird im Deutschen nicht verwendet, weil die GS viel<br />

komplexer ist als eine Zeichensprache.<br />

→ Da die GS als primitiv galt und befürchtet wurde, dass durch<br />

sie das Erlernen der Lautsprache verhindert wird, wurde sie im<br />

19. Jahrhundert immer mehr verdrängt und 1880 im sog. Mailänder<br />

Kongress in allen Gehörlosenschulen Europas verboten.<br />

→ Erst seit 2002 ist die GS in Deutschland als vollwertige Sprache<br />

anerkannt. In der Schweiz ist die GS noch nicht auf nationaler Ebene<br />

anerkannt. Laut der UNO-Konvention über die Rechte von Menschen<br />

mit Behinderung besteht ein Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung<br />

der GS. Diese Konvention trat 2014 in der Schweiz in Kraft.<br />

→ Ein Cochlea Implantat (CI) ist eine elektronische Hörhilfe,<br />

die direkt die Hörnerven im Innenohr stimuliert und dadurch oft wirksamer<br />

ist als normale Hörgeräte. Nicht alle tauben Menschen können<br />

CIs bekommen; ein CI bedeutet nicht, dass ganz normal gehört wird.<br />

Deshalb setzen sich vor allem Gehörlosenverbände dafür ein, dass<br />

auch CI-Träger GS lernen.<br />

→ GS ist eine visuelle Sprache, es werden Sprachbilder damit<br />

erzeugt. Gebärdet wird im sog. Gebärdenraum vor dem Körper. In<br />

diesem können Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft abgebildet<br />

werden. Außerdem werden Personen und Gegenstände platziert.<br />

Dies ermöglicht in bestimmten Fällen, dass ganze Sätze in einer einzigen<br />

Gebärde zusammengefasst werden können.<br />

→ Da GS natürlich entstanden ist, wie Lautsprachen auch, ist sie<br />

nicht international, sondern es gibt viele verschiedene: in Deutschland<br />

die deutsche (DGS), in der Schweiz die Deutschschweizer (DSGS),<br />

die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua dei Segni<br />

Italiana (LIS). Dazu kommt, dass sich verschiedene Dialekte gebildet<br />

haben. Der Schweizerische Gehörlosenbund nennt beispielsweise für<br />

die DSGS fünf verschiedene Dialekte.<br />

→ Die GS ist nicht einfach gebärdete Lautsprache, sondern folgt<br />

ihren eigenen grammatikalischen Regeln. Wichtigste Regel ist die<br />

Satzstellung Subjekt, Objekt, Verb. Deshalb lässt sich nicht gleichzeitig<br />

sprechen und gebärden, da dann immer die Grammatik einer<br />

der beiden Sprachen auf der Strecke bleibt. Anders ist es, wenn<br />

lautsprachbegleitend gebärdet wird, was in der Lautsprachförderung<br />

verwendet wird.<br />

→ Um vor allem Eigennamen und Fremdwörter zu buchstabieren,<br />

werden Fingeralphabete genutzt. Das deutsche Alphabet ist ein Einhand-Fingeralphabet.<br />

Wenn sich Menschen vorstellen, buchstabieren<br />

sie ihren Namen und gebärden danach ihren Gebärdennamen.<br />

→ Die Gebärden werden durch Handform, Handstellung, Bewegung<br />

und Ausführungsort bestimmt, dazu kommt noch die Mundform.<br />

Zusätzlich wird durch die Mimik ausgedrückt, ob man das Erzählte<br />

gut oder schlecht findet bzw. ob man eine Aussage macht, eine Frage<br />

stellt oder etwas befiehlt.<br />

→ Die meisten hörenden Kinder gehörloser Eltern, sog. CODAs<br />

(= Children of deaf adults), wachsen wie viele gehörlose Kinder mit<br />

der GS als Muttersprache auf. Sie sind somit (mindestens) zweisprachig.<br />

→ In Konstanz können Studierende an der Uni, alle Interessierten<br />

bei der Volkshochschule DGS lernen. Die DSGS wird z.B. an<br />

den Klubschulen Migros (u.a. St. Gallen und Winterthur) unterrichtet.


11<br />

DIE QUADRATUR DES KREISES.<br />

M A D E B Y P E T E R S C H M I D .<br />

ATELIER ZOBEL / ROSGARTEN STR. 4 / 78462 KONSTANZ / WWW.ATELIERZOBEL.COM


DIE MIT TANZENDEN HÄNDEN SCHREIBT<br />

12<br />

Wir sind es gewohnt, über<br />

gesprochene Sprachen zu kommunizieren.<br />

Ich treffe zwei<br />

Frauen hier in der Stadt, die<br />

Sprachen beherrschen, bei<br />

denen Worte in Bewegungen<br />

verwandelt werden.<br />

Die mit<br />

tanzenden<br />

Händen<br />

schreibt<br />

→<br />

WIE HULA-TANZ ALTE<br />

GESCHICHTEN ÜBERLIEFERT


13<br />

DIE MIT TANZENDEN HÄNDEN SCHREIBT<br />

TEXT — Heike Meyer<br />

ILLUSTRATION — Andrea Ringli<br />

Die Füße machen verschiedene Grundschritte, Hüftbewegungen<br />

sind wichtig, die Hände erzählen mit Gesten Geschichten.<br />

Das ist meine vage Erinnerung an einen Schnupperkurs<br />

in Hula-Tanz, den ich vor einigen Jahren bei Helga Möhring<br />

gemacht habe. Sie hat eine Praxis für Körpertherapie hier in<br />

der Stadt, in der sie hawaiianische Lomi-Körperarbeit anbietet.<br />

Darüber ist sie vor zehn Jahren dazu gekommen, Hula zu<br />

lernen. Ich verabrede mich mit ihr in der Vorstellung, dass es<br />

ganz einfach ist: Bestimmte Handbewegungen stehen für bestimmte<br />

Wörter, die ich mir zeigen lassen kann. Vielleicht lässt<br />

sich ja sogar ein eigener Tanz der Stadt daraus kreieren? Doch<br />

dazu wird es nicht kommen.<br />

Hula sei eine ganz eigene Form des Tanzes, erzählt Helga,<br />

die auch für sie als erfahrene Tänzerin schwer zu erlernen sei.<br />

Es stimmt, dass die Hände zentral sind, um die Geschichte zu<br />

erzählen, aber parallel gilt es, die Fuß- und Hüftbewegungen<br />

zu koordinieren und zumindest teilweise dazu auch auf Hawaiianisch<br />

zu singen. Dabei sei sehr große Exaktheit gefragt.<br />

Wie die Stellung des Daumens zur Handfläche, wie stark das<br />

Hand- und die Fingergelenke gebeugt und in welche Richtung<br />

die Fingerspitzen ausgerichtet sind, das mache einen Unterschied.<br />

Alles Dinge, auf die wir nicht zu achten gelernt haben.<br />

Eine weitere wichtige Regel beim Tanzen ist, dass der Blick<br />

der Tanzenden immer den Händen folgt. Da die Hände die<br />

Geschichte erzählen, lenken sie mit ihrem eigenen Blick den<br />

der Zuschauer darauf. Die Mimik spiele dagegen kaum eine Rolle.<br />

Helga holt in unserem Gespräch weit aus, erzählt vom spirituellen<br />

Gedankengut Hawaiis, der großen Rolle, die Natur<br />

und Elemente hierbei spielen, und dem Verbot des Hula zu der<br />

Zeit, als Missionare nach Hawaii kamen. Daher hat heute<br />

der Hula auch viel mit der Selbstbestimmung der Hawaiianer,<br />

der Wiederbelebung der eigenen Traditionen und mit Unabhängigkeitsbewegungen<br />

zu tun und enthält somit auch eine politische<br />

Dimension. Da die Elemente und die Natur in der<br />

hawaiianischen Kultur sehr wichtig sind, gibt es dazu auch einen<br />

großen Wortschatz. So wie es in manchen Sprachen unzählige<br />

Wörter für Schnee geben soll, so gibt es in der hawaiianischen<br />

Sprache unzählige Wörter für Wind und Lüfte, für das Meer,<br />

das Wasser und so weiter. Irgendwo lese ich, dass es 130 Wörter<br />

für Regen gebe. Ob das so stimmt, weiß ich nicht, aber Helga<br />

zeigt mir als Beispiel verschiedene Handbewegungen aus dem<br />

Hula für das Meer, je nachdem, ob es ruhig, stürmisch oder<br />

aufgewühlt ist.<br />

Aufgrund der Tradition des Hula ist es wichtig, exakt so zu<br />

tanzen, wie der Tanz weitergegeben wird. Denn mit diesen<br />

Tänzen werden nicht irgendwelche Geschichten erzählt, sondern<br />

das Wissen der Hawaiianer wurde im Tanz konserviert und<br />

weitergegeben. Die Hände ersetzten somit die Schrift, die in<br />

der alten hawaiianischen Kultur nicht vorhanden war. Dabei<br />

kann man zwischen traditionellem und modernerem Hula unterscheiden.<br />

Der traditionelle Hula erzählt die ganz alten Geschichten:<br />

von den Göttern, den Vulkanen und dem Meer, vom<br />

Lauf der Sonne, dem Ackerbau und wichtigen kulturellen<br />

Bräuchen. Er ist von den Bewegungen her geradliniger, härter,<br />

wird vom Gesang des Tänzers oder der Tänzer und ausschließlich<br />

Rhythmusinstrumenten begleitet. Der modernere Hula<br />

ist weicher, vielleicht auch blumiger, die Ukulele kommt ins Spiel.<br />

Aber er scheint nicht weniger vielschichtig zu sein. Helga berichtet,<br />

dass vordergründig oft ganz alltägliche Geschichten<br />

erzählt werden, dass es aber darunter eine weitere Ebene gibt,<br />

in der zum Beispiel von einem alten König erzählt wird. Von<br />

dieser tieferen Ebene bekomme sie erst so langsam, nach all den<br />

Jahren, in denen sie Hula bereits lernt, eine Ahnung. Und wer<br />

weiß, vielleicht verbirgt sich darunter nochmals eine Erzählung,<br />

die noch elementarere Dinge beinhaltet?<br />

Es haben sich auf den einzelnen Inseln und in unterschiedlichen<br />

Familien Hulaschulen entwickelt, so dass man nicht den<br />

einen Hula lernen kann. Traditionellerweise wurden einzelne<br />

Kinder, die besonders dafür begabt waren und eine hohe Spiritualität<br />

zeigten, ausgewählt, um Tänzer zu werden. Diese<br />

machten eine jahrelange intensive Ausbildung; im Grunde habe<br />

man ein Leben lang nicht ausgelernt. Auch Helga lernte und<br />

lernt den Hula in einer bestimmten Schule bei der Kumu Roselle<br />

Keli‘ ihonipua Bailey von der Insel Maui. Kumu heißt Ursprung<br />

und Lehrer und vielleicht lassen sich Kumu mit Zunftmeistern<br />

vergleichen. Roselle lege großen Wert auf die traditionelle Weitergabe<br />

des kulturellen Erbes und sei eine Grande Dame. Als<br />

ich ein Foto der Achtzigjährigen sehe, kann ich mir dies sofort<br />

vorstellen. Sie wirkt sogar auf dem Bild sehr lebendig, extrem<br />

präsent und energievoll, aber auch klar und resolut. In Deutschland<br />

unterrichtet sie in Niederbayern im Omna-Institut, so<br />

dass der Weg vom Bodensee weit ist. Doch da sich Helga<br />

dieser Schule angeschlossen und verpflichtet hat, könne sie<br />

nicht einfach irgendwo anders tanzen und weiterlernen.<br />

Eine Zeit lang hat Helga auch Einführungskurse in Hula hier<br />

bei uns angeboten. Doch zum einen gehe es ihr im Moment<br />

mehr darum, selbst zu lernen und zu üben, als andere anzuleiten,<br />

zum anderen sei es für sie gar nicht so einfach, sowohl dem<br />

Anspruch der Schule gerecht zu werden, als auch den Bedürfnissen<br />

der Kursteilnehmer, die ohne die traditionellen Hintergründe<br />

zu kennen einfach mal ausprobieren und Spaß mit Hula<br />

haben wollen. Damit ist für mich klar, dass meine erste Idee,<br />

nach bestimmten Handbewegungen zu fragen und damit zu<br />

experimentieren, der Sache nicht gerecht werden kann. Stattdessen<br />

weiß ich jetzt, dass im Hula zwar die Hände Geschichten<br />

erzählen, dass aber der Tanz noch viel mehr ist <strong>–</strong> eine eigene<br />

Sprache.


ROCCO<br />

14<br />

ROCCO<br />

TEXT — Manuel Güntert<br />

FOTO — Mika Jaoud<br />

Hier dreht sich alles um Hände, die von<br />

ihrem Besitzer schnell, kontrolliert<br />

und gezielt nach vorne geschossen werden,<br />

um bei ihrem Gegenüber möglichst<br />

präzise die anvisierten Punkte zu treffen.<br />

Diese Hände greifen somit an. Dieselben<br />

Hände werden von derselben Person<br />

schützend vor ihr Gesicht und ihren<br />

Körper gehalten, um zu vermeiden, dass<br />

ein Gegenüber, das genauso angreift,<br />

sich bei seinen Attacken erfolgreich erweist.<br />

Die angreifenden Hände sind zugleich<br />

auch verteidigende Hände. Diesen Händen<br />

ist von ihrem Besitzer eine unbarmherzige<br />

Aufgabe zugewiesen worden: Sie sollen<br />

ihr Gegenüber schlagen, wenn möglich<br />

niederschlagen und kampfunfähig machen.<br />

In letzter Konsequenz suchen sie den<br />

Knock-out eines Gegners, der mit just<br />

denselben Ambitionen im Ring steht.


15 ROCCO<br />

→<br />

ZWISCHEN SCHÖPFUNG UND<br />

ZERSTÖRUNG <strong>–</strong> ÜBER DIE<br />

ZWIESPÄLTIGKEIT DES BOXENS


ROCCO<br />

16<br />

Hände, die bandagiert, zur Faust geballt und in einen Handschuh<br />

verpackt werden, um dann ihr Ziel im Gesicht oder am<br />

Körper des Gegenübers zu treffen, sind die wichtigsten Werkzeuge<br />

eines Boxers. Deshalb sind seine Hände für ihn zwar von<br />

eminenter Bedeutung, und doch würde eine Reduktion auf<br />

sie über die Komplexität des Werkes hinwegtäuschen, das verrichtet<br />

wird. Es sind die Arme, die die Schlagbewegungen<br />

ausführen, die im Training in Partnerübungen und am Sandsack<br />

genauso unablässig wiederholt werden wie die Meidbewegungen,<br />

die <strong>–</strong> wie ihr Name sagt <strong>–</strong> vermeiden sollen, dass der<br />

Boxer getroffen wird. Zudem gilt es nicht nur, stets sicher auf<br />

den eigenen Beinen zu stehen, sondern sich auch mittels ausgefeilter<br />

Beinarbeit geschickt aus der Schlaglinie des Gegners<br />

zu bewegen und diesem dabei selbst die (Flucht-)Wege abzuschneiden,<br />

um ihn in die eigene Schlagdistanz zu manövrieren.<br />

Boxen erfordert eine immense Kondition, eine perfekte<br />

Körperbeherrschung und eine ausgezeichnete Körperkoordination.<br />

Nicht nur der Körper, auch der Verstand ist in das<br />

Schlagwerk involviert. Der Boxer muss flexibel sein, sich auf<br />

den Stil seines Gegenübers einzustellen wissen und über Finten,<br />

Täusch- und Ablenkungsmanöver nachdenken, damit seine<br />

Hände ihre Aufgabe erfolgreich verrichten können. Die Hände<br />

bleiben auf all das angewiesen, was hinter ihnen im Kopf des<br />

Boxers geschieht.<br />

So freut sich Rocco Rando, Trainer und Vorsitzender des<br />

Boxclubs Radolfzell, wenn einer seiner Boxer sich geschmeidig<br />

und gewandt durch den Ring bewegt und sich imstande zeigt,<br />

seinen Gegner in Schach zu halten. Immerhin liefert dieser auch<br />

eine Visitenkarte von Roccos Arbeit ab. In gewisser Weise gibt<br />

der Trainer, dessen Aufgabe es ist, seinen Boxer bestmöglich<br />

auf einen Kampf vorzubereiten, nicht nur Anweisungen von der<br />

Ringecke aus, sondern steht mit ihm im Ring. Er sei durchaus<br />

ehrgeizig und eitel, gibt Rocco zu, seine Kämpfer seien ihm ein<br />

Spiegel seiner Arbeit. Da er diese mit äußerster Leidenschaft<br />

betreibt, sind sie auch ein Spiegel von ihm selbst. Vertrauen ist<br />

wichtig, hält er fest, der Kämpfer muss sich auf seinen Trainer<br />

verlassen können. Rocco nimmt eine hierarchische Stufung<br />

vor, in der zwar seine Familie allem anderen vorangeht, der<br />

ehrenamtlich betriebene Sport ihm aber wichtiger ist als seine<br />

Arbeit. Den Boxsport sieht er sogar als eine zweite Familie an.<br />

Stolz erzählt er, einer seiner Boxer habe ihm schon gesagt, er sei<br />

ihm eine Art Ersatzvater.<br />

Manche der jungen Boxer hier im Club erinnern den 57-<br />

Jährigen Rocco an ihn selbst. Weil er auf eigenen Beinen stehen<br />

wollte, kam er im Alter von achtzehn Jahren aus Catanzaro in<br />

Kalabrien alleine nach Radolfzell. Obwohl er bei der Arbeit<br />

Freunde gefunden hat, die ihn ins soziale Leben eingebunden<br />

haben, waren die Anfänge des jungen Italieners in Deutschland<br />

keine leichten: Die Sprache hat er kaum gesprochen, die<br />

Menschen hat er als zwar freundlich, aber doch sehr reserviert<br />

empfunden. In seinem Umfeld haben die meisten Leute sich<br />

gegenseitig gekannt und sich in geschlossenen Kreisen bewegt.<br />

Er als Fremder ist dabei oft außen vor geblieben. In seiner Situation<br />

war der Schritt zum Kampfsport ein naheliegender. Als<br />

20-jähriger hat Rocco sich im Karate versucht und es bis zum<br />

braunen Gürtel gebracht, bevor er durch eine Verletzung gestoppt<br />

wurde. Ein Kumpel nahm ihn daraufhin zum Boxen mit,<br />

wo er sich sofort zu Hause fühlte. Der Faustkampf war genau<br />

das, was er immer gesucht hatte. Neben dem kämpferischen<br />

Aspekt war für ihn das Boxen sowohl ein Weg, das eigene<br />

Selbstbewusstsein zu stärken, als auch einer, in der deutschen<br />

Gesellschaft die erhoffte Anerkennung zu finden.<br />

Diesbezüglich entspricht der mit den Händen ausgefochtene<br />

Boxkampf einer veritablen Lebensschule. Für Rocco ist<br />

das Boxen eine Metapher für das Leben selbst, das er gleichfalls<br />

als Kampf ansieht: Wie der Kampf im Ring, bringt das Leben<br />

Siege und Niederlagen mit sich, wobei die Entscheidung der<br />

Ringrichter eindeutiger ausfällt. Außerhalb des Rings lassen<br />

sich die Siege nicht so ohne Weiteres von den Niederlagen<br />

unterscheiden, und es dauert oft etwas länger, bis man wirklich<br />

weiß, ob man nun das eine oder das andere eingefahren hat.<br />

Aber im Leben wie im Sport war die Niederlage Rocco immer<br />

ein Ansporn, es beim nächsten Mal besser zu machen.<br />

Wenn Rocco auf den Sandsack eingedroschen hat, stand<br />

dieser mitunter stellvertretend für Menschen, die ihn in irgendeiner<br />

Form niedergedrückt haben. So konnte er zuschlagen<br />

und zugleich dem Konflikt mit dem Gesetz aus dem Weg<br />

gehen, der unvermeidlich gewesen wäre, hätte er sie auf der<br />

Straße gestellt. Als Aggressor sah er sich dabei nie. Für ihn<br />

stand die Verteidigung, die Selbstverteidigung im Vordergrund.<br />

„Nur, wenn es darum geht, ob es dich oder mich trifft, dann“,<br />

so schränkt er ein, „lieber dich.“ Derart hat das Boxen ihm über<br />

so manchen schlechten Tag hinweggeholfen. Nach dem erschöpfenden<br />

Training hat er sich immer glücklich und lebendig<br />

gefühlt.<br />

Insofern ist der vermeintlich aggressive Boxer vielleicht<br />

nicht oder nur bedingt jener, der zuerst zuschlägt. Aus einer<br />

umgekehrten Perspektive erscheint einem ein Boxer, wie Rocco<br />

es war, als jemand, der, weil er sich in irgendeiner Weise benachteiligt<br />

oder chancenlos fühlt, weniger zu- als zurückschlägt.<br />

In dieser Perspektive werden die Hände zu einem Mittel, eine<br />

verlorene Kontrolle über seinen Körper, über seinen Kopf, ja<br />

über das Leben selbst zurückzuerlangen. Die aktiv verletzenden<br />

Hände sind dann zugleich solche, die eine tiefe Verwundung<br />

heilen wollen. Der Boxer nimmt zurück in seine Hand,<br />

was ihm verloren gegangen ist oder verweigert wird.<br />

„Respekt ist keine Einbahnstraße“, sagt Rocco, der diesen<br />

aktiv einfordern musste. Deshalb hat er sich nicht in Italiener-<br />

Cliquen abgeschottet, um dort mit Gleichgesinnten Karten zu<br />

spielen, sondern er war von Anfang an gewillt, sich in die<br />

deutsche Gesellschaft zu integrieren. Auch dabei half ihm das<br />

Boxen. Unter anderem deshalb wurde er nach seinen aktiven<br />

Jahren 1994 Trainer. Von 1996 bis 2010 trainierte er die Boxabteilung<br />

des KSV Rheinstrom Konstanz, danach gründete er<br />

den Boxclub Radolfzell, den er bis heute ehrenamtlich leitet<br />

und trainiert.<br />

Das Integrationsthema spielt hier und heute immer noch<br />

eine bedeutende Rolle: Ein iranischer Kurde trainiert mit<br />

einem jungen Afghanen. Bei einer intensiven Sparringsrunde<br />

schenken sich die beiden im wahrsten Sinne des Wortes nicht<br />

viel. Doch nach Roccos Stoppsignal umarmen sie sich herzlich.<br />

Boxprofis wollen sie werden, bekunden sie beide ruhig und<br />

bescheiden, dabei doch sehr selbstbewusst. Als ich sie darauf<br />

aufmerksam mache, dass ich sie in fünf Jahren im Fernsehen<br />

sehen will, grinsen beide.<br />

Dann gibt Rocco das Zeitsignal für die nächste Sparringsrunde.<br />

Neben ihnen messen sich weitere junge Boxer. Das<br />

Klima ist insgesamt freundschaftlich. Rocco zeigt den Kämpfern<br />


17 ROCCO<br />

Für Rocco Rando, Trainer und Vorsitzender<br />

des Boxclubs Radolfzell,<br />

ist das Boxen eine Metapher für das<br />

Leben, das wie der Kampf im Ring<br />

mal Siege, mal Niederlagen mit sich<br />

bringt.<br />

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18<br />

ROCCO 18


19<br />

ROCCO<br />

ihre Fehler auf, diese korrigieren sich, bei aller Härte, die sie<br />

einander entgegenbringen, auch gegenseitig. Das müssen sie<br />

auch, denn bald stehen wieder Kämpfe an. Unisono streichen<br />

die jungen Boxer heraus, dass es ihnen nicht darum geht, auf<br />

der Straße auf „dicke Hose zu machen“, sondern sie leidenschaftlich<br />

einen anforderungsreichen und komplexen Sport<br />

betreiben, um sich im Ring mit Gleichgesinnten zu messen.<br />

Einer der Kämpfer gibt sogar kund, dass seine Schulnoten sich<br />

verbessert haben, seit er boxt. Disziplin lautet sein Schlüsselwort.<br />

Die Boxer identifizieren ihre zuschlagenden Hände eher<br />

mit schöpferischen als mit zerstörerischen Aspekten. Dennoch<br />

bleibt, was Rocco eine Lebensschule nennt, ein extremer Sport.<br />

Man ist letztlich doch auf sich selbst angewiesen, man setzt<br />

etwas aufs Spiel und man fährt durchaus schmerzhafte Niederlagen<br />

ein. Es bedarf einer nicht zu unterschätzenden Härte.<br />

Er sehe den verletzenden Aspekt durchaus, gibt ein anderer Kämpfer<br />

zu Protokoll, aber da sei etwas Aggressives im Menschen,<br />

das sich nicht verleugnen ließe, deshalb sei es doch von Vorteil,<br />

das in einer kontrollierten Form auszuleben, wie sie es hier im<br />

Boxclub täten.<br />

Hier seien fast so viele Nationen vertreten wie Boxer, grinst<br />

Rocco. Dieser Aussage wohnt etwas Doppeldeutiges inne.<br />

Zum einen handelt es sich um einen weiteren Hinweis auf den<br />

Integrationsaspekt, den Rocco aus seiner Erfahrung sehr ernst<br />

nimmt. Man kann dieselbe Aussage zum anderen aber auch als<br />

Verweis darauf verstehen, dass der Anteil an Boxern aus ebenjenem<br />

Land sehr gering ausfällt, in dem die Boxschule steht. Wird<br />

die Summe der deutschen Boxer auf die Gesamtbevölkerungszahl<br />

hochgerechnet, wird augenscheinlich, dass nur wenige<br />

Deutsche den Weg ins Boxtraining finden. Stellt sich also die<br />

Frage, ob diese zu verweichlicht seien, um boxen zu gehen. Man<br />

fühle sich halt eher geborgen im eigenen Land, antwortet<br />

Rocco diplomatisch, die Kinder von Einwanderern müssten<br />

härter um Anerkennung kämpfen und seien deshalb oft imstande,<br />

eine größere Leidenschaft und einen enormen Stolz zu<br />

entfachen. Aus Roccos Worten ließe sich schließen, dass eine<br />

eher unsichere Lebensgrundlage sich oft als sichere Grundlage<br />

entpuppt, wenn es darum geht, Herzblut-Boxer hervorzubringen.<br />

Bis jetzt ist ausschließlich von Boxern die Rede gewesen.<br />

Das liegt schlicht daran, dass an diesem Freitagabend nur Männer<br />

anwesend sind. Man könnte annehmen, bei einem Boxclub<br />

würde es sich um eine Art letzte Bastion archaischer Männlichkeit<br />

handeln. Ob Frauen denn auf Boxer stehen? Rocco lacht<br />

und meint vorsichtig, ein durchtrainierter Körper übe wohl nach<br />

wie vor eine gewisse Anziehungskraft aus. Aber das überholte,<br />

oder vielleicht besser: das sich überholende Bild des starken Beschützers<br />

ist auch in diesem nur vermeintlichen Rückzugsgebiet<br />

längst ins Wanken geraten. Aktuell trainiert bei Rocco zwar nur<br />

eine Frau, aber die Türen des Boxclubs stehen allen weit offen.<br />

Leidenschaft für den Sport müsse man mitbringen, das hält<br />

Rocco abschließend noch einmal fest. Erkennt er, dass diese<br />

vorhanden ist, dann treten sowohl die nationale Herkunft als<br />

auch das Geschlecht in den Hintergrund.<br />

DANK<br />

Bedanken möchten wir uns auch beim Team<br />

vom Lichtblick Konstanz für die entgegenkommende<br />

und zuverlässige Unterstützung<br />

mit Kameraequipment.<br />

ÜBER DEN AUTOR<br />

In Bezug auf das Thema Hände interessiert<br />

Manuel sich für das Boxen<br />

als Schnittstelle, an der sowohl das<br />

schöpferische wie auch das zerstörerische<br />

Potential der Hände sichtbar<br />

werden. Vielleicht fallen Schöpfung<br />

und Zerstörung hier sogar in eins.


DIE HAND HAT DAS ZEUG ZUM WERK<br />

20<br />

Ein kurze<br />

Geschichte<br />

des Handwerks<br />

oder<br />

die Hand<br />

hat das<br />

Zeug zum<br />

Werk<br />

→<br />

ESSAY ÜBER DEN GEBRAUCH DER HAND<br />

ALS KULTURTECHNIK <strong>–</strong> EIN ZEITVERLAUF


21 DIE HAND HAT DAS ZEUG ZUM WERK<br />

TEXT — Alexander Reb<br />

ILLUSTRATION — Louise Krank<br />

„Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle<br />

müssen zum Handwerk zurück!“ Nichts<br />

weniger als die Rückbesinnung auf die<br />

schöpferische Kraft der Hände fordert<br />

Walter Gropius in seinem 1919 verfassten<br />

Bauhausmanifest und revolutioniert damit<br />

nicht nur die Kunstausbildung, sondern<br />

zieht zudem das Handwerk aus seiner<br />

Bedeutungslosigkeit heraus. Er entstaubt<br />

das Verständnis von Handwerk und setzt<br />

dieses an den Beginn jeglichen künstlerischen<br />

Schaffens. Was ihm dabei vorschwebt,<br />

ist die Vereinigung von Handwerk<br />

und Kunst. Und dies in einer Zeit<br />

einer immer stärker voranschreitenden<br />

Industrialisierung und Mechanisierung,<br />

in der ein Großteil der Menschen seine<br />

Hände in erster Linie dazu benutzt, an<br />

der Stechuhr zu stempeln und die immer<br />

gleichen Tätigkeiten an den Fließbändern<br />

der aus dem Boden schießenden Fabriken<br />

auszuführen: Hebel nach links, Hebel nach<br />

rechts, wie in der berühmt gewordenen<br />

„Uhren-Szene“ in Fritz Langs Filmklassiker<br />

Metropolis. Zweckerfüllung im Dienste<br />

der Maschinen <strong>–</strong> sclavus ex machina. Nicht<br />

mehr das von Hand geformte, genuine<br />

Artefakt steht im Mittelpunkt, sondern<br />

die Aufrechterhaltung der maschinellen<br />

Produktionsabläufe.<br />

Doch ist das heute so viel anders? Auch<br />

gut 100 Jahre nach Gropius’ wegweisendem<br />

Manifest scheint sich auf den ersten<br />

Blick an der Situation des Handwerks<br />

nicht viel verändert zu haben, außer dass<br />

es nunmehr unter dem Diktat des Digitalen<br />

anstatt des Mechanischen steht.<br />

Um der Bedeutung, welche der handwerklichen<br />

Tätigkeit zusteht, gewahr zu<br />

werden, bedarf es einer Emanzipation<br />

des Handwerks. Doch wie kann diese<br />

aussehen? Einen entscheidenden Faktor<br />

spielen dabei die Hände und die Evolution<br />

deren Gebrauchs. Erst aus diesem<br />

Verständnis heraus lässt sich das handwerkliche<br />

Können in seiner heutigen gesellschaftlichen<br />

Funktion bewerten und<br />

verbessern.<br />

Wie wir<br />

die Hände vor dem<br />

Kopf nutzten:<br />

Vom Anbeginn bis<br />

zur Antike<br />

Das Handwerk ist deutlich älter als der<br />

Begriff dafür. Die Arbeit mit der Hand<br />

und das gelernte Wissen um deren Einsatz<br />

haben über Jahrtausende das menschliche<br />

Leben ermöglicht und gesichert.<br />

Sämtliche Zivilisations- und Kulturschritte<br />

beruhen auf der permanenten Weiterentwicklung<br />

handwerklichen Könnens.<br />

Hand und Hirn entwickelten und perfektionierten<br />

sich im Gleichklang. Anthropologen<br />

gehen mittlerweile sogar davon<br />

aus, dass die Entwicklung der händischen<br />

Fertigkeiten der Leistungsfähigkeit des<br />

Gehirns vorausgingen. Die Hände formten<br />

den Menschen zum Menschen. Für eine<br />

sehr lange Zeit war das Wissen der Menschheit<br />

in den Händen „gespeichert“. Existentielle<br />

Tätigkeiten wie das Beschaffen<br />

und der Verzehr von Nahrung, das Bauen<br />

von Behausungen oder teilweise auch die<br />

Kommunikation untereinander waren gekennzeichnet<br />

vom Gebrauch der Hände.<br />

Unmittelbar oder über die Verwendung<br />

früher Werkzeuge wie Steine, Keile oder<br />

Pfeile. Doch im Laufe der Zeit und mit<br />

jeder weiteren Entwicklungsstufe nahm<br />

der Kopf überhand und verwies die<br />

Hände spätestens in der Antike ins zweite<br />

Glied; sie wurden in den Dienst des Verstands<br />

gestellt. Geistesleben statt Handarbeit<br />

war das Credo jener Zeit, die geprägt<br />

war von philosophischen Koryphäen wie<br />

Sokrates, Platon und Aristoteles, die allesamt<br />

als große Denker denn als bemerkenswerte<br />

Handwerker in Erinnerung blieben.<br />

Auch wenn Zweiteres nicht auszuschließen<br />

ist. Im Grunde begann sich in jener<br />

Zeit eine Geist-Hand-Dichotomie heraus-<br />


DIE HAND HAT DAS ZEUG ZUM WERK 22<br />

zubilden, die bis heute vielfach zu beobachten<br />

ist. Entweder verkopft oder<br />

handwerklich geschickt. Nur in seltenen<br />

Fällen geht dies Hand in Hand.<br />

Diese Aufteilung stellt quasi die Blaupause<br />

für den schleichenden Bedeutungsverlust<br />

des Handwerks dar. Von der existentiellen<br />

Kulturtechnik hin zu den artes<br />

vulgares, den gewöhnlichen oder schmutzigen<br />

Handwerkskünsten, die sich den<br />

freien Künsten und Wissenschaften, wie<br />

der Rhetorik oder Arithmetik, unterordnen<br />

mussten. In einer moralphilosophischen<br />

Schrift Ciceros ist die Verachtung jener<br />

Zeit festgehalten: „Und alle Handwerker<br />

betätigen sich in einer schmutzigen Kunst,<br />

denn eine Werkstatt kann nichts Freies<br />

haben.“<br />

Ein neues Selbstverständnis:<br />

vom Mittelalter bis<br />

zur Neuzeit<br />

Auch in mittelalterlichen Zeiten konnten<br />

Handwerker nicht unbedingt auf die<br />

Wertschätzung und Unterstützung der<br />

damals vorherrschenden Kopfarbeiter<br />

zählen. Könige, Kaiser und Kirchenvertreter<br />

sahen sich nur zu gerne und dementsprechend<br />

oft in der Nachfolge antiker<br />

Herrscher und Gelehrter. So änderte sich<br />

auch nichts an der gängigen Überhöhung<br />

geistiger Tätigkeit gegenüber manueller.<br />

Das Handwerk war wenig erstrebenswert<br />

und somit auch nicht im Fokus<br />

bekannter Theologen und Philosophen<br />

jener Tage, wie Augustinus oder Thomas<br />

von Aquin. Dieses Weltbild legitimierte<br />

die festgesetzte Hierarchie innerhalb der<br />

Gesellschaft <strong>–</strong> auf Hilfe von außen war<br />

nicht zu hoffen.<br />

So war es an dem Handwerk selbst, das<br />

Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.<br />

Als maßgeblich gilt hier die Entstehung<br />

von Zünften, Zusammenschlüssen<br />

der einzelnen handwerklichen Berufssparten.<br />

Im Schatten königlicher Gewalt<br />

und des kirchlichen Dogmas formte sich<br />

nicht nur eine so nie da gewesene Art<br />

der Selbstorganisation, sondern auch ein<br />

neues Selbstverständnis. Nun war nicht<br />

mehr von den vulgären Künsten die Rede,<br />

sondern von den Handwerkskünsten, den<br />

artes mechanicae. Was die Zünfte veränderten?<br />

Nahezu alles: die Produktion,<br />

Marktrechte, Qualitätskontrolle und <strong>–</strong><br />

am wichtigsten <strong>–</strong> das Meisterrecht. Mit<br />

Meistern, Gesellen und Lehrlingen spiegelte<br />

sich die hierarchische Struktur der<br />

mittelalterlichen Gesellschaft in den Werkstätten<br />

wider. Und noch eine Besonderheit<br />

sticht hervor: der Zugang von Frauen<br />

zum Handwerk. Ob Witwen, die das<br />

Meisterrecht und somit die Werkstattleitung<br />

des Verstorbenen übernahmen,<br />

selbständige Meisterinnen in Spezialbereichen<br />

oder eigene Frauenzünfte, das


23<br />

Handwerk hatte spätestens jetzt seine<br />

weibliche Seite entdeckt.<br />

Zu Zeiten der Renaissance rückten der<br />

Mensch sowie seine Fähig- und Fertigkeiten<br />

in den Fokus. Handwerkliche Arbeiten<br />

wurden nun nicht mehr als Strafe<br />

Gottes für die biblische Erbsünde angesehen,<br />

sondern als wertvoller Teil menschlicher<br />

Arbeit. Der Blick auf das Handwerk<br />

wurde ökonomischer und mit der<br />

Aufklärung auch rationaler, was ihm im<br />

19. Jahrhundert wiederum zum Verhängnis<br />

werden sollte.<br />

Doch für einen Wimpernschlag der Zeitgeschichte<br />

sah sich das Handwerk auf<br />

Augenhöhe mit den freien Künsten. Fortan<br />

wurde vom dynamischen Einklang<br />

aus Handwerk, Kunst und Wissenschaft<br />

gesprochen, den „wissenden Händen“ als<br />

eigene Form von Intelligenz. Für den Aufklärer<br />

Denis Diderot ist Handarbeit gar<br />

die nützlichste Anwendung von Wissen.<br />

In der Person des Handwerkers sah man<br />

den Künstler, Techniker und Kaufmann<br />

vereint. Das Handwerk schien nobilitiert.<br />

Die Maschinen<br />

übernehmen das<br />

Zepter: Von der<br />

Industrialisierung<br />

bis zur Moderne<br />

Eine zunehmende Rationalisierung, wissenschaftlicher<br />

Fortschritt und die Erfindung<br />

der ersten leistungsfähigen Maschinen<br />

veränderten nicht nur die Bedeutung<br />

des Handwerks, sondern erschütterten<br />

auch dessen Selbstverständnis grundlegend.<br />

Das Gebot der Stunde lautete<br />

„Schneller-besser-billiger“. Von England<br />

aus starteten in der zweiten Hälfte des<br />

18. Jahrhunderts zunächst James Watts<br />

Dampfmaschine und dann der mechanische<br />

Webstuhl ihren Siegeszug unter den<br />

Produktionsmethoden und fegten schlussendlich<br />

die letzten mittelalterlichen Relikte<br />

des Handwerks, die Zünfte, fort.<br />

Einst ein Segen waren sie jetzt nicht<br />

mehr zeitgemäß. Das Handwerk musste<br />

sich neu positionieren und organisieren.<br />

Und auf etwas Hilfe hoffen. Die kam an<br />

manchen Orten für ein paar wenige: Die<br />

Möglichkeit, als Hoflieferanten an den<br />

europäischen Königshäusern zu arbeiten,<br />

war dabei die aussichtsreichste. Alle<br />

anderen waren auf sich selbst gestellt<br />

oder gaben das eigene Handwerk zugunsten<br />

einer Lohnarbeit in einer der wie<br />

aus dem Boden sprießenden Fabriken<br />

auf. Manches Handwerk, wie die Textilherstellung,<br />

sah sich bereits sehr früh<br />

mit der zerstörerischen Kraft der neuen<br />

Technologien konfrontiert. Universalspinnmaschinen<br />

lösten die Handarbeit<br />

ab und degradierten die Menschen zu<br />

Maschinisten, die der Maschine dienten.<br />

Eine eigene Verbindung bzw. Identifikation<br />

mit dem jeweils hergestellten Produkt<br />

war da längst nicht mehr gegeben.<br />

Dieser Prozess der Entfremdung formte<br />

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DIE HAND HAT DAS ZEUG ZUM WERK<br />

24<br />

letztlich den prekären Lohnarbeiter, der<br />

in perpetuierender Redundanz sein Tagwerk<br />

vollbringt. Hebel nach links. Öffnen<br />

und Einfädeln. Hebel nach rechts.<br />

Schließen. Hebel nach links…<br />

Ein Handwerk nach dem anderen sah<br />

sich diesen Veränderungen ausgesetzt.<br />

Erst die Spinnerei, dann die Weberei,<br />

dann die Gerberei und so weiter… Ein<br />

unaufhaltsamer Prozess, der aber nicht<br />

nur ein sterbendes Handwerk nach sich<br />

zog, sondern auch eine neue Hoffnung.<br />

Reformbewegungen, wie die englische<br />

„Arts and Crafts“-Bewegung, stellten bis<br />

dato unbekannte Fragen nach dem Wert<br />

von Produkten und deren Herstellungsprozessen.<br />

Und die Frage, wohin die<br />

Entwicklung der industriellen Massenproduktion<br />

führt. Die neue Idee bestand<br />

in der Forderung nach einer Rückkehr<br />

zu Ehrlichkeit, Einfachheit, guten Materialien<br />

und solider Wertarbeit und damit<br />

der Wiederbelebung des mittelalterlichen<br />

Geistes. Mit dem Handwerker alter<br />

Schule als Vorbild bildeten sich auch in<br />

weiten Teilen Kontinentaleuropas Reformbestrebungen,<br />

so z.B. die Wiener<br />

Werkstätten oder der Deutsche Werkbund.<br />

Ein neues Idealbild, welches das<br />

Bauhausmanifest von Walter Gropius vorwegnimmt,<br />

wird erschaffen. Dieses sieht<br />

den Handwerker als einen im Materialbewusstsein<br />

und dem Wissen um die<br />

Bearbeitung wurzelnden Gestalter. Die<br />

„wissenden Hände“ als Basis für Innovation<br />

im Entwurfsprozess und die interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit von Handwerkern<br />

mit Architekten, Künstlern oder<br />

Designern als Weg in die Zukunft. Einige<br />

Jahre später nimmt Walter Gropius dieses<br />

Ideal als Steilvorlage für sein Bauhausmanifest:<br />

„Wollen, erdenken, erschaffen<br />

wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft,<br />

(…) der aus Millionen Händen der<br />

Handwerker einst gen Himmel steigen<br />

wird als kristallines Sinnbild eines neuen<br />

kommenden Glaubens.“<br />

Ein neuer Gegenspieler:<br />

Artes<br />

digitalis oder das<br />

Handwerk in<br />

Zeiten von Bits und<br />

Bytes<br />

100 Jahre nach diesen Sätzen erweist sich<br />

das Kristall als Silizium und der Glaube<br />

ist entlarvt als Irrglaube an die Macht<br />

von Einsen und Nullen. Das monotheistische<br />

Weltbild, welches die westliche<br />

Hemisphäre für gut zwei Jahrtausende<br />

prägte, wurde geopfert zugunsten einer<br />

Vielzahl heilbringender Digitalgötter mit<br />

Namen wie Google, Apple oder Facebook.<br />

Sie wollen die Menschheit wischend<br />

und scrollend, frei nach dem Prinzip:<br />

Leg deinen Finger auf und ich sag dir,<br />

wer du bist.<br />

Da stellt sich die Frage: Welchen Platz hält<br />

eine solche Digitalmoderne für das analoge<br />

Handwerk bereit? Sicherlich keinen<br />

prominenten. Doch gerade in Zeiten von<br />

Wisch-und-Klick und einer permanenten<br />

Informations- und Reizüberflutung ist so<br />

etwas wie eine Rückbesinnung auf das<br />

tradierte Können des Handwerks festzustellen.<br />

Vielleicht nur als Momentaufnahme,<br />

doch als eine, die dem automatisierten<br />

Digitalen nicht nur das Analoge,<br />

sondern auch das Manuelle als Antagonisten<br />

entgegenstellt. Unsere Welt wird<br />

digitaler, unsere Träume analoger. Noch<br />

können und werden wir nicht vom Handwerk<br />

lassen. Ganz im Gegenteil. Noch<br />

bauen wir unsere Tiny Houses selbst,<br />

stricken uns die Mütze für den nächsten<br />

Winter oder töpfern Blumenvasen und<br />

Müslischalen. Das Bedürfnis nach dem<br />

Authentischen, nach Substanz und Qualität<br />

hat uns auf die Spuren des Handwerks<br />

zurückgeführt. Und davon kann<br />

jeder professionelle Handwerker profitieren,<br />

denn lange galten Handwerker<br />

nicht gerade als strebsame Macher. Das<br />

gängige Bild war eher geprägt von Pfusch<br />

und Fehlern, einer gewissen Langsamkeit<br />

auf der einen oder einer obsessiven<br />

Neigung zur Perfektion auf der anderen<br />

Seite. Witze über Handwerker wurden<br />

zur ersten Assoziation. Doch was sind<br />

die Ursachen für den aktuellen Trend<br />

hin zum Handwerk? Es ist Teil unseres


25<br />

DIE HAND HAT DAS ZEUG ZUM WERK<br />

Menschseins: Wir haben ein natürliches<br />

Streben danach, Dinge zu machen. Dabei<br />

können wir uns ausdrücken und vollenden;<br />

wir können selbst bestimmen, wie<br />

etwas zu sein hat. Die Gegenstände, die<br />

wir kreieren, werden zu einem Teil von<br />

uns, da wir uns selbst bei der Arbeit mit<br />

unseren Händen spüren. Das Verlangen<br />

nach Selbstwirksamkeit und der Verankerung<br />

in einer haptischen Realität beeinflusst<br />

unser tägliches Tun. Die zunehmende<br />

Entfremdung von den abstrakten Tätigkeiten<br />

am Arbeitsplatz 4.0 weckt die Sehnsucht<br />

nach Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit<br />

sowie der Möglichkeit, das<br />

eigene Umfeld aktiv zu gestalten. Ob<br />

scrollen oder wischen, tippen oder klicken,<br />

auf WhatsApp schreiben oder einen Blog<br />

lesen. Vielen vermittelt die Arbeit an<br />

Bildschirmen nicht den erhofften Sinn<br />

oder die eigene Arbeit fühlt sich gar irrelevant<br />

oder unwirklich an. Aus diesen<br />

grundlegenden Zweifeln nähren sich<br />

Trends wie die Do-it-yourself-Bewegung<br />

oder die New-Craft-Szene.<br />

Handwerkliches Können erfährt wieder<br />

eine neue Form der Wertschätzung im<br />

beginnenden 21. Jahrhundert. Richard<br />

Sennet, amerikanischer Kultursoziologe<br />

und eine Art Seelsorger unseres Zeitgeistes,<br />

verfasste knapp 90 Jahre nach Gropius<br />

ein neues Manifest über das Handwerk:<br />

„Handwerker gehen ihrer Arbeit mit Hingabe<br />

nach und wollen diese um ihrer<br />

selbst willen gut machen. Sie üben eine<br />

praktische Tätigkeit aus, doch ihre Arbeit<br />

ist nicht nur Mittel zu einem anderen<br />

Zweck. (…) Der Handwerker steht für<br />

die besondere menschliche Möglichkeit<br />

engagierten Tuns.“<br />

SERVIERVORSCHLAG<br />

Dieser Text liest sich besonders angenehm<br />

laut und freihändig, mit einer Portion Pathos<br />

in Stimme und Gestik.<br />

ÜBER DEN AUTOR<br />

Alexander hat sich vorgenommen,<br />

nicht nur über das Handwerk zu<br />

schreiben, sondern auch mal wieder<br />

selbst Hand anzulegen, frei nach<br />

dem Motto: was schmerzhaft aussieht,<br />

tut auch weh! Autsch.<br />

KMTG_Ins_<strong>NUN</strong>_15032019<br />

Till Velten <strong>–</strong><br />

La condition humaine<br />

Bis 27. Oktober 2019<br />

Till Velten, Petra, Videostill (Detail), 2018<br />

www.kunstmuseum.ch


ATELIER UND WERKSTATT<br />

26<br />

Atelier und<br />

Werkstatt<br />

für Schönes<br />

und Handgemachtes<br />

→<br />

EINE PLATTFORM FÜR AUSTAUSCH UND KOOPERATION KREATIVER<br />

KÖPFE UND MACHER ZWISCHEN KLASSISCHEM HANDWERK UND<br />

MODERNER TECHNIK


27 ATELIER UND WERKSTATT<br />

SEEBARDT nennt Julien C. G. Burckhardt<br />

seine Räume an der Oberen Laube in Konstanz.<br />

Der staatlich geprüfte Designer für Schmuck<br />

und Gerät forscht und formt Gebrauchs- und<br />

Gestaltungsutensilien mit unterschiedlichsten<br />

Materialien und Methoden. Einmal im Monat öffnet<br />

er seine Türen für eure neugierigen Nasen und<br />

alle, die Interesse und Leidenschaft für Handwerk<br />

mitbringen. Mehr dazu in den Tipps auf S. 102.<br />

FOTO — Julia Stepper


ATELIER UND WERKSTATT<br />

28<br />

Zwischen Tanzstudio und Casba bespielt Julien zwei<br />

Räume, die sich in Atelier und Werkstatt gliedern.<br />

Zwischen Kunst und Handwerk findet sich hier auch<br />

Raum für akkustische und elektronische Musik.


Das Kreuzlinger Kulturzentrum<br />

Es wird Hand angelegt.<br />

Das Kreuzlinger Kulturzentrum<br />

nimmt Form an.<br />

Das Kulturzentrum befindet sich seit Herbst 2017 im Aufbau<br />

und im provisorischen Betrieb. Veranstalter sind das Filmforum KuK,<br />

das Theater an der Grenze, der Verein Kultling, der Horst-Club,<br />

das Theater Konstanz, das Z88, der Campus Kreuzlingen, das KiK-Festival<br />

und etliche weitere Kulturschaffende aus der Region.<br />

www.kult-x.ch<br />

facebook.com/kultigs<br />

instagram.com/kultigs<br />

Kult-X | Hafenstrasse 8 | 8280 Kreuzlingen | buero@kult-x.ch


KNOCHENJOB<br />

30<br />

Knochen-<br />

job<br />

→<br />

ZU BESUCH BEI DER ANTHROPOLOGIN<br />

CAROLA BERSZIN


31<br />

KNOCHENJOB<br />

TEXT — Christine Zureich<br />

FOTO — Anja Mai<br />

Als Studentin hat <strong>NUN</strong>,-<br />

Autorin Christine auf einer<br />

Grabung Skelette freigelegt<br />

und vermessen. Carola Berszin<br />

bringt solche Knochen zum<br />

Sprechen.<br />

Durch die Hände von Carola Berszin<br />

gehen Jahr für Jahr Hunderte von Skeletten.<br />

Bis unter die Decke stapeln sich die<br />

grauen Plastikkisten in ihren Büroräumen<br />

in der Konstanzer Altstadt. In den akribisch<br />

nach Fundort beschrifteten Boxen liegen<br />

Knochen, Schädel. Manchmal ein Skelett<br />

pro Kiste, manchmal mehrere, je nach dem,<br />

wie die Archäologen auf den Grabungen<br />

sie verpackt haben.<br />

Es riecht nach Tee in dem Büro, ein behaglicher<br />

Ort, was auch an der Anthropologin<br />

liegt, die eine heitere Ruhe ausstrahlt.<br />

Lebensfreude. Meine zehnjährige Tochter<br />

hat eben noch ihre Nase gerümpft, als<br />

ich von meinem Termin erzählte. Seit sie<br />

weiß, dass man im Münster über Gebeine<br />

geht, setzt sie keinen Fuß mehr rein. Mehr<br />

als ein Kindertick, Ausdruck der Tabuisierung<br />

von Tod und Vergänglichkeit;<br />

unsere Gesellschaft hält sich das Thema<br />

Endlichkeit gern vom Leib. Mich selbst<br />

kann ich davon nicht ausnehmen; je älter<br />

ich werde, je spürbarer das Vergehen der<br />

Zeit, desto größer werden meine Berührungsängste<br />

mit Knochen. Habe ich tatsächlich<br />

einen komischen Geruch erwartet<br />

in Berzins Räumen?<br />

Als wir uns an ihren Schreibtisch setzen,<br />

erzählt die gebürtige Hamburgerin, wie<br />

ein Volontariat am Landesmuseum sie<br />

nach Konstanz brachte. 25 Jahre übt sie<br />

ihren Beruf schon aus, mittlerweile als<br />

freie Anthropologin mit Aufträgen aus<br />

ganz Deutschland und der Schweiz. Der<br />

Einstieg war für sie der klassische Weg<br />

über ein Archäologie-Studium. Bei Grabungen<br />

auf Friedhöfen hat sie ihr Faible<br />

für Knochen entdeckt. „Und eine morbide<br />

Ader?“, frage ich. Berszin lacht. „Nein, eher<br />

ein Interesse an Geschichte, und zwar Alltagsgeschichte.<br />

Ganz normale Menschen,<br />

nicht nur große Persönlichkeiten. Jedes<br />

Skelett erzählt seine eigene Geschichte<br />

von Krieg, Hunger, Leben, Arbeit,<br />

Krankheit, Tod.“ Bei der Grabung an der<br />

Christuskirche etwa, neben dem Münster,<br />

wurden ältere Männer mit metabolischem<br />

Syndrom ausgegraben, also Gicht,<br />

Diabetes. Wohlstandskrankheiten, wundere<br />

ich mich, schon im 17., 18. Jahrhundert?<br />

„Das waren Mönche“, erklärt Berzin,<br />

„denen ging es gut…“<br />


KNOCHENJOB<br />

32<br />

Viel Alkohol, üppiges Essen, Wasser selten<br />

pur <strong>–</strong> das führt zu entsprechenden Krankheiten,<br />

die sich wiederum in den Knochen<br />

niederschlagen. Das Croissant, das ich<br />

unterwegs noch schnell gegessen habe,<br />

liegt mir plötzlich schwer im Magen.<br />

Wie sehen wohl meine Knochen aus?<br />

Die Schnittstellen der Anthropologie zur<br />

Medizin sind offensichtlich. Aber auch<br />

mit Historikern und Kulturhistorikern<br />

arbeitet Claudia Berszin eng zusammen.<br />

Wie Menschen zur letzten Ruhe gebettet<br />

wurden, verrät viel über Glaube und Aberglaube.<br />

„Bauchbestattungen etwa sind ein<br />

Ausdruck der Furcht vor Wiedergängern“,<br />

sagt Berszin. „Wenn diese Toten aufwachten,<br />

sollten sie in die falsche Richtung<br />

graben, tiefer in die Erde rein. Alle,<br />

vor denen man Angst hatte, legte man<br />

mit dem Gesicht nach unten: verstorbene<br />

Straftäter, Kriminelle, aber auch Frauen,<br />

die im Kindsbett verstorben waren, damit<br />

sie nicht kämen, ihr Baby zu sich zu holen.“<br />

Hingerichteten wiederum habe man den<br />

Kopf zwischen die Beine gelegt. Beim jüngsten<br />

Gericht sollte sofort sichtbar sein,<br />

wer kopflos dastand, also gesündigt hatte.<br />

„In früheren Zeiten war man stärker aufs<br />

Jenseits ausgerichtet als heute“, erklärt<br />

Carola Berszin.<br />

Die Endlichkeit des Lebens jeden Tag<br />

wörtlich zu begreifen, in den Händen<br />

zu halten <strong>–</strong> in meiner Vorstellung verändert<br />

sich dadurch das Verhältnis zum<br />

Tod. Wie das bei ihr selbst sei, frage ich<br />

sie also, mit dem Verhältnis zum Jenseits,<br />

zum Tod.<br />

„Anders als bei vielen Menschen“, sagt sie.<br />

Nicht nur wegen ihrer Arbeit. Die Anthropologin<br />

engagiert sich, lässt es ihre Zeit<br />

zu, im Hospiz-Verein. „Über das Thema<br />

Tod kann ich ganz unbefangen reden.<br />

Andererseits habe ich da aber kein Sendungsbewusstsein“,<br />

sagt sie, „dränge niemandem<br />

die Auseinandersetzung auf.“<br />

„Nun bringen Grabungen aber doch<br />

das Thema manchmal mittenrein in die<br />

Fußgängerzonen, machen es sichtbar,<br />

öffentlich?“, frage ich. Mir ist ein Zaungast<br />

wieder eingefallen, der bei meiner<br />

Grabung damals am Münsterplatz täglich<br />

schimpfte: wir störten die Totenruhe,<br />

schändeten Gräber.<br />

Berszin lacht: „Ja, dabei wird mit diesen<br />

Knochen besser umgegangen als auf einem<br />

gewöhnlichen Friedhof heutzutage, wo<br />

nach 25 Jahren alles abgeräumt wird.“<br />

Bei einer Grabung sei man tatsächlich<br />

immer auch Öffentlichkeitsarbeiter, sagt<br />

sie. Ihrer Beobachtung nach habe hier<br />

in den letzten Jahren aber ein Wandel<br />

stattgefunden. Grabungskritiker, auch<br />

solche, die über die Verschwendung von<br />

Steuergeldern stänkerten, gebe es praktisch<br />

keine mehr. „Ausgestorben“, sagt<br />

sie und ihre Augen blitzen. Die nachwachsende<br />

Generation sei anders informiert.<br />

Auch über neue Wissenschaftsformate<br />

im Fernsehen. „Archäologie<br />

wird heute als spannend empfunden,<br />

interessant.“ Außerdem sind Grabungen<br />

auch rechtlich fest verankert. In Konstanz,<br />

wo man keinen Schritt machen kann, ohne<br />

über historisch dichten Boden zu gehen,<br />

müssen seit 1983 alle Baumaßnamen archäologisch<br />

begleitet werden. Gegraben<br />

wird bis Bauunterkante, alle Schichten,<br />

die von den schweren Maschinen gestört<br />

werden könnten. Fundstelle, Ausrichtung,<br />

Gruppierung von Funden werden<br />

genau dokumentiert und kartiert. Idealerweise<br />

sind Anthropologen schon auf den<br />

Grabungen mit dabei, aber jedes Skelett<br />

landet früher oder später bei ihnen.<br />

Die jüngsten Skelette, die Berszin untersucht<br />

hat, datieren ins 19. Jahrhundert<br />

zurück. Kolleginnen untersuchen aber<br />

auch Knochen aus modernerer Zeit,<br />

etwa im Rahmen von KZ-Archäologie<br />

oder der Aufbereitung der Psychiatriegeschichte.<br />

„Bis in die 1950er wurden<br />

Patienten zum Teil schwer misshandelt.<br />

Eine belastende Arbeit“, sagt Berszin.<br />

„Auch, weil es noch Angehörige gibt, die<br />

man informieren muss.“<br />

Demnächst kriegt Carola Berszin die<br />

knapp 1000 Skelette vom Vincentius<br />

Areal, dem ehemaligen Schottenfriedhof<br />

an der Laube, auf den Tisch. Einige Tausend<br />

mehr hat sie in ihrem Berufsleben schon<br />

gesichtet. Ob bei dieser Menge noch eines<br />

heraussticht, eins, das sie besonders<br />

verblüfft hat, an dessen Geschichte sie<br />

sich noch genau erinnert? „Ja!“, die Anthropologin<br />

nickt begeistert. „Ein Fund in<br />

Ensisheim, ziemlich am Anfang meiner<br />

Karriere. Ein Skelett aus der Jungsteinzeit,<br />

Bandkeramik, also die erste Bauerngeneration.<br />

Am Schädel konnte man<br />

mehrere Operationen nachweisen, in verschiedenen<br />

Stadien der Heilung, also erfolgreich.<br />

Nur die letzte, die war tödlich.“<br />

Erfolgreiche Schädel-OPs bei den ersten<br />

Siedlern? Das stellt mein Bild von der<br />

Steinzeit komplett auf den Kopf. „So<br />

ein Fund kann also auf einen Schlag die<br />

eigene Weltsicht verändern?“, frage ich.<br />

„Genau. Aber nur, wenn man mit einer<br />

bedingungslosen Offenheit rangeht, damit<br />

man die entscheidenden Details auch<br />

sieht. Nehmen wir ein anderes Beispiel:<br />

die Geschlechterforschung“, sagt Berszin.<br />

„Früher wurde auch in der Anthropologie<br />

reflexartig angenommen, in Waffengräbern<br />

lägen nur Männer. Waffe = Mann.<br />

Umgekehrt bei Ohrringen. Da ging man<br />

automatisch von einer Frau aus. Unmittelbar<br />

sichtbar ist das Geschlecht am Skelett<br />

aber nicht immer“, fährt sie fort. „Erst<br />

in den 1980ern, als man mit den ersten<br />

DNA-Analysen experimentierte, zeigte<br />

sich, dass in solchen Kriegergräbern auch<br />

Frauen bestattet wurden.“<br />

Ob diese DNA-Analysen genau deshalb<br />

vorgenommen wurden, also um das Geschlecht<br />

zu bestimmen, etwa um vom<br />

Standpunkt einer feministischen Anthropologie<br />

die Dekonstruktion von Genderzuweisungen<br />

anzugehen? Zum Zeitgeist<br />

hätte das gepasst, aber Berszin schüttelt<br />

den Kopf. „Nein, das ist eher ein überraschender<br />

Zufallsbefund gewesen, für<br />

den man aber eben offen sein musste,<br />

ihn überhaupt zu sehen.“<br />

Obwohl ich nie Zweifel an der Berechtigung<br />

von Anthropologie hatte, beginne<br />

ich gerade einen ganz neuen Aspekt zu<br />

begreifen. Dass sie uns nämlich zeigen<br />

kann, wie wandel- und damit verhandelbar<br />

menschliche Kategorien wie Geschlecht<br />

sind. Und weil sie uns einen<br />

Spiegel vorhält. Die Arroganz der Nachgeborenen,<br />

wenn es um Wissen und<br />

Kultur früherer Epochen geht.<br />

Mittlerweile gehören DNA-Analysen und<br />

C14-Bestimmung zu den Standardmethoden<br />

in der Anthropologie. Carola Berszins<br />

wichtigste Arbeitsinstrumente sind jedoch<br />

nach wie vor ihre Augen und Hände.<br />


33<br />

KNOCHENJOB


KNOCHENJOB<br />

34<br />

Zum Puzzeln, wie sie sagt, aber auch<br />

zum Erfühlen. Etwa bei Leichenbränden.<br />

Vor uns auf dem langen Tisch liegen Kuchenteller<br />

aus Pappe, darauf verkohlte<br />

Knochenstücke. „Bei Feuerbestattungen“,<br />

sagt Carola Berszin, „verbrennen die<br />

Knochen nicht unbedingt zu Asche, sie<br />

schrumpfen und fragmentieren. Menschliche<br />

und Tierknochen lassen sich dann<br />

per Augenschein nicht gut auseinanderhalten.<br />

Den Unterschied kann man jedoch<br />

oft ertasten.“ Sie greift ein Stück heraus,<br />

streicht mit dem Finger darüber. „Das<br />

ist jetzt zum Beispiel ein Tierknochen“,<br />

erklärt sie „von einer Speisebeigabe. Die<br />

Toten sollten im Jenseits was zu essen<br />

haben.“<br />

Auch das Reinigen der Knochen, noch<br />

bevor sie untersucht werden, ist Handarbeit.<br />

Zwei Mitarbeiterinnen von Berszin<br />

nehmen hierfür Bürstchen und Wasser.<br />

In luftigen Holzregalen werden die<br />

Knochen dann auf Zeitungspapier getrocknet.<br />

„Ich lese die Süddeutsche; die<br />

hat das ideale Format“, lacht Berszin.<br />

Zur Untersuchung werden die Knochen<br />

auf langen Tischen ausgelegt. Wieder<br />

die Pappteller mit gewelltem Rand. Sie<br />

sind gefüllt mit Fragmenten, kleineren<br />

Stücken, Rippenteilen, gelblich statt<br />

verkohlt hier. Kurz überlege ich, ob das<br />

mein Einstieg in ein gesundheitsbewusstes<br />

Leben ohne Kuchen sein könnte,<br />

aber der Schauer ist nur in meinem Kopf,<br />

nicht in meinem Körper. Rein intellektuell.<br />

Gruselig oder eklig ist hier nichts.<br />

Berszin nimmt einen Schädel in die Hand,<br />

zeigt auf die Zickzack-Fuge zwischen<br />

den einzelnen Knochenplatten. „Die verknöchert<br />

ein Leben lang weiter“, sagt<br />

sie. „Ein Indiz für das Alter, das erreicht<br />

wurde.“ Auf dem Tisch steht eine große<br />

Flasche. Holzleim. Mit Wasser verdünnt<br />

klebt die Anthropologin damit den<br />

Schädel wieder zusammen. „Der trocknet<br />

klar und drückt die Klebestellen nicht<br />

auseinander“, erklärt sie. Dann deutet sie<br />

mit dem Zeigefinger auf den Unterkiefer,<br />

die Zähne. „Fortgeschrittene Parodontose.<br />

Und eine Abnutzung, die darauf hinweist,<br />

dass hier jemand gewohnheitsmäßig die<br />

Zähne als Werkzeug benutzt hat, vielleicht<br />

um Lederriemen festzuzurren.“<br />

Mir tun auf Knopfdruck die Zahnhälse<br />

weh. Wie ein kalter Luftzug. Ein Hang<br />

zur Überidentifikation. Berszin lacht.<br />

„Na, das hier ist ein Mann von zirka 40,<br />

45 Jahren. Ein Römer von einer Grabung<br />

in Speyer.“ Sie nimmt einen langen Knochen<br />

auf. Femur, Oberschenkel. „Abnutzung<br />

und Verknöcherung weisen auf einen<br />

Reiter hin.“ Tatsächlich kann sie auf manche<br />

Berufe Rückschlüsse ziehen, Musiker,<br />

Handwerker. Typische Belastungen. Was<br />

kommenden Anthropologen-Generationen<br />

wohl an uns auffallen wird, wenn<br />

sie unsere Knochen einmal ausgraben?<br />

Wie aus der Pistole geschossen kommen<br />

die Antworten. „Bandscheibenvorfälle<br />

vom Sitzen! Bildschirmnacken! Smartphone-Daumen!“<br />

Carola Berszin fischt einen Knochen<br />

von einem der Kuchenteller. „Das ist das<br />

Brustbein des Römers. Hier sieht man<br />

die Ansatzstellen. Die verknöchern mit<br />

der Zeit. Ab 50 knackt es, wenn man bestimmte<br />

Bewegungen macht.“ Erschrocken<br />

rechne ich, wie wenig geräuscharme<br />

Zeit mir bleibt. Berszin lacht. „Deswegen<br />

machen fast alle Anthropologen<br />

Yoga. Wir wissen, was sonst passiert.“<br />

Während ich unauffällig meine Schultern<br />

zu kreisen versuche, nimmt die Anthropologin<br />

einige Wirbel in die Hand, die<br />

miteinander verwachsen zu sein scheinen.<br />

„Sehen Sie. Wie Zuckerguss. Morbus<br />

Forestier. Ein Hinweis auf Diabetes. Die<br />

meisten Krankheiten sind jedoch knochenstumm.“<br />

Ob sie so etwas hat wie einen Röntgenblick,<br />

durch die Altstadt geht, die Knochen<br />

hinter den Menschen sieht, eine<br />

Art Berufskrankheit?<br />

Berszin lacht, schüttelt den Kopf. „Nur in<br />

Kunstmuseen, auf alten Porträts, da interessieren<br />

mich Spuren von Krankheiten,<br />

da suche ich nach Symptomen, Zeichen.<br />

Im Alltag bin ich immer neugierig auf<br />

die Person, nicht die Physiognomie.“<br />

Jetzt endlich macht es Klick, und ich<br />

begreife, was Carola Berszin mir schon<br />

die ganze Zeit zu verstehen gab, gegen<br />

meine fixe Vorstellung, nach der sie sich<br />

mit dem Tod beschäftigte, dem Sterben.<br />

Den ganzen Nachmittag hat sie mir vom<br />

Leben erzählt. Ihre Augen, grünblau,<br />

blitzen auf, vielleicht hat sie mein Aha<br />

bemerkt.<br />

Als wir uns verabschieden nehme ich neben<br />

meinen Notizen eine ausgesprochen lebendige<br />

Erkenntnis mit: Wir müssen uns offen<br />

und flexibel halten, unsere Vorstellung<br />

vom Menschsein. Unsere Knochen und<br />

Gelenke unbedingt auch.<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Nach dem Interview hat Christine<br />

ihre Yogamatte ausgegraben und<br />

die ganze Familie zu einer Stunde<br />

Hardcore Hatha verdonnert.


STADTK LAVIATUR<br />

36<br />

Stadtklaviatur<br />

TEXT — Katharina Brenner<br />

→<br />

MIT DEM KLEINEN FINGER<br />

DURCH DIE NIEDERBURG<br />

Das Altstadtrelief zeigt<br />

Konstanz im Kleinformat.<br />

Bei einem Spaziergang<br />

mit ihren Händen erklärt<br />

Manu, wie sie die Stadt<br />

als Blinde wahrnimmt.<br />

Manu hat Konstanz in Hüfthöhe vor sich. Sie streicht mit<br />

den Fingern über Dächer und Fassaden. „Das müsste die Laube<br />

sein. Welcher Teil ist nochmals der in Richtung Schnetztor?“,<br />

fragt sie. „Obere Laube“, sagt ihr Mann Roland, der neben<br />

ihr steht, die Hände in den Hosentaschen. Das Altstadtrelief<br />

auf dem Münsterplatz zeigt Konstanz im Maßstab 1:650.<br />

Die meisten Häuser sind gerade mal zwei Zentimeter hoch.<br />

Ein paar Gassen und Gebäude sind in lateinischer und in<br />

Brailleschrift ausgewiesen <strong>–</strong> ein Stadtplan für Blinde und<br />

Sehbehinderte.<br />

Behutsam, aber zügig tastet sich Manu weiter vor, bis die<br />

Häuserzeile endet. Gleich muss das Schnetztor kommen,<br />

meint sie, und umfasst im selben Moment mit Daumen und<br />

Zeigefinger der rechten Hand den Turm. Ihren linken Zeigefinger,<br />

ihren „Lesefinger“, führt sie über das Punktmuster am<br />

Boden: „Schnetztor.“<br />

Die 55-Jährige hat bald ihr halbes Leben in Konstanz verbracht.<br />

Sie kennt die Stadt gut. Sie sieht sie nicht, aber sie<br />

hört, riecht und fühlt sie. „Wenn im Sommer die Türen offen<br />

sind, rieche ich sofort, wo eine Bäckerei ist. Klamottenläden<br />

erkenne ich am Plastikgeruch.“ Dafür sei es im Sommer<br />

schwieriger, durch die Stadt zu gehen <strong>–</strong> wegen der Stühle,<br />

Schilder und Ständer.<br />

Manu war neun Monate alt, als sie eine Augenblutung bekam.<br />

Im Krankenhaus wurden der rechte Sehnerv verletzt<br />

und der linke zerstört. Ihr blieb ein Sehvermögen zwischen<br />

zehn und fünfzehn Prozent. „Ich konnte Farben sehen,<br />

schreiben und sehr große Buchstaben lesen.“ Im Lauf der<br />

Jahre hat sich ihr Sehvermögen weiter verschlechtert. „Heute<br />

nehme ich Hell und Dunkel wahr, Schatten und Umrisse.“<br />

Manu hält die rechte Hand vor ihr Gesicht und spreizt die<br />

Finger. Es sieht aus, als wäre ihre Hand ein Spiegel, in dem<br />

sie ihre großen blauen Augen betrachtet. Dann ballt sie die<br />

Finger zu einer Faust. „Diese Bewegung sehe ich.“<br />

In der Innenstadt ist Manu meistens mit ihrem Mann unterwegs.<br />

Sie hakt sich bei ihm ein, hat aber auch einen Taststock<br />

dabei, an dessen Ende eine Kugel sitzt. Der Stock ist wie ein<br />

verlängerter Arm, die Kugel wie eine weitere Hand. Mit ihr<br />

ertastet Manu Unebenheiten und Hindernisse.<br />

Wie blindenfreundlich ist die Stadt? Ihr gehe es gut hier, vieles<br />

habe sich gebessert. An einigen Bushaltestellen würden inzwischen<br />

Rillen- und Noppenplatten liegen, die sie mit dem<br />

Stock fühlen kann, am Bahnhof allerdings noch nicht. Und<br />

die Bewohner seien hilfsbereit. Neulich zum Beispiel habe sie<br />

sich auf dem Weg zum Friseur verlaufen. „Ich wollte in die<br />

Kreuzlinger Straße in Konstanz und landete in der Freiestrasse


in Kreuzlingen.“ Als ihr die Wegbeschreibung ihres Handys<br />

nicht mehr weiterhalf, fragte sie einen Passanten. „Er musste<br />

in die gleiche Richtung. Ich durfte mich einhaken.“ Ob sie<br />

noch in Deutschland oder schon in der Schweiz ist, merkt<br />

Manu nicht. „Der Übergang ist fließend.“<br />

37<br />

Städtische<br />

Museen<br />

Konstanz …<br />

XXXXX XXXX XXXX<br />

Was sie in Konstanz stört: die Ampeln. Vor allem an viel<br />

befahrenen Straßen seien sie zu leise. Bei Bauprojekten<br />

holt die Stadt inzwischen Manus Rat sein, als Mitglied im<br />

Konstanzer Behindertenbeirat setzt sie sich für die Belange<br />

der Blinden und Sehbehinderten ein.<br />

Das Modell auf dem Münsterplatz findet sie toll, es habe<br />

ihr eine andere Perspektive auf die Stadt gegeben. Straßen<br />

und Wege, Kurven und Kreuzungen kennt sie jetzt besser.<br />

„Und ich kann mir endlich vorstellen, welche Form das<br />

Münster hat.“ Das höchste Gebäude auf dem Relief ist auch<br />

eines der abgegriffensten: an der Münsterspitze glänzt die<br />

Bronze golden.<br />

Manu wandert mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger<br />

vom Schnetztor zum Bodanplatz und biegt in die Rosgartenstraße<br />

ein. Die Häuser auf dem Modell stehen eng beieinander.<br />

Die Straßen und Gassen sind höchstens einen Finger<br />

breit; durch die in der Niederburg passt nicht einmal der<br />

kleine. „Hier müsste gleich die Marktstätte kommen“, sagt<br />

Manu, doch sie biegt eine Straße zu früh ab. Als sie den<br />

Turm des Bahnhofs berührt, merkt sie, dass sie falsch ist, geht<br />

mit dem Finger zurück und weiter geradeaus auf der<br />

Rosgartenstraße, bis sie einen Hubbel spürt. „Da ist der<br />

Brunnen, da ist die Marktstätte. Und hier“, Manu führt<br />

Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand die Marktstätte<br />

hinab, bis sie auf zwei Einkerbungen stößt, „hier ist die<br />

Unterführung“.<br />

In den Einkerbungen hat sich Wasser gesammelt, am Morgen<br />

hat es geregnet. Manu nimmt die feuchten Finger vom<br />

Modell. Sie reibt die Hände wärmend aneinander und sagt:<br />

„Wenn es kalt ist, verliere ich schnell das Gefühl in den<br />

Fingerspitzen“. Deshalb sei es an kalten Tagen schwierig, die<br />

Schrift auf dem Modell zu lesen, die ohnehin etwas zu klein sei.<br />

Manu tastet sich am Rand des Reliefs entlang und geht<br />

ein paar Schritte weiter. Als sie über die Widmung streicht,<br />

bleibt sie stehen. „Hier ist die Schrift größer, das ist angenehmer.“<br />

Der Text steht in Brailleschrift und in lateinischer:<br />

„für die Bürgerinnen und Bürger und die Gäste der Stadt<br />

Konstanz“. Manus Lesefinger gerät ins Stocken. Sie setzt noch<br />

einmal an. „Tourismusförderverein <strong>–</strong> ein schwieriges Wort.“<br />

„Nicht nur für Blinde“, meint ihr Mann.<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Seit Katharina mit Manu beim Altstadtrelief<br />

war, findet sie, dass<br />

viel mehr Städte solche Modelle<br />

haben sollten.<br />

Städtische Wessenberg Galerie<br />

➜ Südwestdeutsche Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts und des<br />

Bodenseeraums.<br />

Rosgartenmuseum<br />

➜ Kunst- und Kulturhistorisches Museum im spätmittelalterlichen<br />

Zunfthaus „Zum Rosgarten“. Stilvoll eingerichtetes Museumscafé.<br />

Bodensee-Naturmuseum<br />

➜ Naturkundliches Museum für den Bodenseeraum im Sealife-Centre<br />

Gebäude.<br />

Hus-Haus<br />

… bewegen.<br />

➜ Gedenkstätte für den 1415 hingerichteten Reformator Johannes Hus.<br />

Aktuelles unter: www.rosgartenmuseum.de


EINE SUMME VON CHANCEN<br />

38<br />

→<br />

IM GESPRÄCH MIT CHRISTIAN<br />

LOHR ÜBER DEMUT, EINE<br />

GESUNDE LEBENSHALTUNG UND<br />

ETWAS, DAS NIE DA WAR<br />

TEXT — Mandy Krüger<br />

FOTO — Markus Schwer<br />

Eine<br />

Summe<br />

von<br />

Chancen<br />

Ein türkises Mehrfamilienhaus schräg<br />

gegenüber eines meterhoch umzäunten<br />

Sportplatzes. Von drüben klingt fröhliches<br />

Geschrei eines Fußballspiels in das dicht<br />

bebaute Wohnviertel nahe des Kreuzlinger<br />

Bahnhofs. Wir klingeln, die Tür geht auf,<br />

eine Bewohnerin mit einem Kind an der<br />

Hand kommt uns an der Treppe entgegen<br />

und ahnt bereits, zu wem wir wollen.<br />

„Gleich dort oben“, sagt sie und deutet auf<br />

einen offenen Wohnungseingang, in dem<br />

schon das freundliche Gesicht einer älteren<br />

Dame zu sehen ist. „Grüezi. Kommen Sie<br />

rein. Er wartet schon nebenan.“ Wir tun,<br />

wie geheißen, und betreten den geräumigen<br />

Flur. „Kommen Sie rein! Ich muss nur noch<br />

kurz diese eine Mail zu Ende schreiben,<br />

einen Moment“, begrüßt uns jetzt auch<br />

Christian Lohr aus einem Raum zu unserer<br />

Rechten. Er tippt konzentriert auf einem<br />

Tablet, das er vor sich auf dem Esstisch<br />

stehen hat. Wir legen derweil unsere Jacken<br />

ab, richten uns ein, sammeln uns kurz und<br />

setzen uns Christian Lohr gegenüber. In<br />

seiner Wohnung habe er zwar auch ein<br />

Büro, erzählt er uns und legt den Touchpen<br />

beiseite, er empfange uns aber lieber in<br />

seinem Esszimmer <strong>–</strong> so klassisch im Büro<br />

finde er langweilig.<br />

Christian Lohr hat alle Hände voll zu tun,<br />

könnte man sagen. Neben seinen Ämtern<br />

als Nationalrat 1 in der Schweiz und als<br />

Thurgauer Kantonsrat arbeitet er noch als<br />

Journalist, ist Dozent an vier Hochschulen<br />

und engagiert sich darüber hinaus in<br />

drei verschiedenen Vereinen: Als Co-<br />

Präsident bei Pro Infirmis, als Vorstandsmitglied<br />

im Regionalverein insieme<br />

Thurgau und als Mitglied der Politik- und<br />

Sport-Kommission bei PluSport. „Und<br />

dann kommen auch noch die Interviews“,<br />

scherzt er auf die Frage, wie er das alles<br />

schafft.<br />

„Man muss viel Zeit investieren“, erzählt<br />

er. „Wenn ich zuhause bin, dann gibt es<br />

Phasen, in denen ich sehr oft morgens<br />

um 5 Uhr im Büro sitze und zwei, drei<br />

Stunden in Ruhe arbeite. Ich kann dann<br />

meine Texte schreiben, Reden vorbereiten<br />

und so weiter. Ich habe das Glück, dass<br />

ich ein Morgenmensch bin und nicht so<br />

viel Schlaf brauche“, beendet er den Satz<br />

lächelnd und lehnt sich etwas zurück.<br />

Auch am Vortag sei er erst um 22 Uhr von<br />

einem Termin nach Hause gekommen.<br />

Er kann dann nicht sofort schlafen, trinkt<br />

vielleicht noch ein Bier, zappt durch das<br />

Fernsehprogramm. „Ich bin eben auch<br />

ein Informationsmensch. Man hat ja immer<br />

das Gefühl, dass man die ersten und<br />

die letzten Nachrichten sehen muss.“<br />

Als Politiker ist Christian Lohr in den<br />

jeweils drei Wochen andauernden Sitzungsphasen<br />

nur an den Wochenenden<br />

zuhause und unter der Woche in Bern.<br />

Hinzu kommen 20 Kommissionssitzungen<br />

von bis zu drei Tagen am Stück <strong>–</strong><br />

ebenfalls in Bern. „Wenn wir keine Sitzung<br />

haben, heißt das aber nicht, dass wir<br />

nicht arbeiten. In dieser Zeit muss man<br />

die ganzen Grundlagen erarbeiten, sich<br />

mit den verschiedensten Themen auseinandersetzen,<br />

viel lesen, sich mit Bürgerinnen<br />

und Bürgern treffen. Es ist ja unsere<br />

Aufgabe, dass wir vor allem einmal<br />

zuhören und uns dazu Gedanken machen<br />

und dann entscheiden, wie wir vorgehen<br />

wollen. Das ist schon sehr zeitintensiv.“<br />

Wie zeitintensiv, lässt sein Smartphone<br />

auf dem Tisch erahnen, das kontinuierlich<br />

nach Aufmerksamkeit fragt.<br />

„Ja, organisieren ist bei mir ein zentrales<br />

Thema.“ Er beugt sich vor und kratzt sich<br />

am Kopf, während er darüber nachdenkt,<br />

1) Entspricht einem Bundestagsabgeordneten in Deutschland.


39 EINE SUMME VON CHANCEN<br />

was er als nächstes sagen wird. „Ich habe<br />

gelernt, mich und mein Leben zu organisieren.“<br />

Zusätzlich noch. Ganz abgesehen<br />

von dem, was er beruflich und<br />

ehrenamtlich macht. „Ich brauche doch<br />

eine ganz wesentliche Unterstützung im<br />

Alltag. Habe verschiedene Menschen, die<br />

mir helfen. Sogar meine Mutter, die<br />

mittlerweile 85 ist, will auch noch mithelfen.<br />

Das finde ich toll.“ Das war also<br />

die freundliche Dame, die uns die Tür geöffnet<br />

hatte. Sie wohnt in einer Wohnung<br />

ein Stockwerk tiefer. „Schön getrennt.<br />

Das funktioniert wunderbar. Sie spürt,<br />

dass sie eine wichtige Aufgabe im Leben<br />

hat. Die hat sie natürlich mit meiner Geburt<br />

eh bekommen.“ Denn Christian Lohr<br />

kam am 5. April 1962 ohne Arme und<br />

mit fehlgebildeten Beinen zur Welt. Er ist<br />

einer der letzten Contergan-Geschädigten<br />

in der Schweiz, wo das Medikament<br />

auch unter dem Namen Softenon bekannt<br />

ist. Beide waren als Beruhigungsmittel<br />

von 1957 bis 1961 auf dem Markt und<br />

führten in der Schwangerschaft zu<br />

schweren Fehlbildungen der Embryonen.<br />

„Ich bin in den<br />

letzten zehn,<br />

zwanzig Jahren<br />

voll zu der<br />

Überzeugung<br />

gelangt, dass<br />

ich ein Gewinner<br />

im Leben bin.“<br />

Obwohl er nicht gehen kann, ist Christian<br />

Lohrs wichtigstes Werkzeug sein rechter<br />

Fuß. Dieser ist länger als der linke und<br />

extrem beweglich. Während unseres Gesprächs<br />

ruht er die meiste Zeit auf dem<br />

Tisch, wenngleich die Sitzfläche seines<br />

Stuhls nicht höher ist als die unsere.<br />

Als andere Kinder das Laufen lernten,<br />

lernte er, mit mit seinem rechten Fuß<br />

sein Leben zu gestalten. Er arbeitet viel<br />

am Tablet und unterwegs am Handy <strong>–</strong><br />

beides bedient er mit seinem Fuß geschickter<br />

als so mancher Zweihänder.<br />

Er hat gelernt, mit der Technik umzugehen<br />

<strong>–</strong> so wie alle anderen aus seiner<br />

Generation und davor es auch mussten,<br />

die nicht zu den „Digital Natives“ gehören.<br />

„Die Leute nehmen immer an,<br />

dass mir was fehlt. Viele fragen: Fehlen<br />

dir die Arme nicht? Fehlt dir die Hand<br />

nicht? <strong>–</strong> Nein. Ich habe nie eine Hand<br />

gehabt. Ich kenne das gar nicht. Ich sehe<br />

zwar in der Gesellschaft jeden mit Händen.<br />

Das ist normal, könnte man sagen. Aber<br />

für mich ist es nie normal gewesen, eine<br />

Hand zu haben“, erläutert Christian Lohr.<br />

„Wenn jemand einen Unfall hat und eine<br />

Hand verliert <strong>–</strong> dann hat er sie verloren.<br />

Aber ich habe sie nicht verloren. Ich vermisse<br />

sie auch nicht.“ Er geht nicht mal so<br />

weit zu denken: Was wäre wenn? „Alles,<br />

was ich dazu sagen könnte, wäre reine<br />

Spekulation. Natürlich ist die Tatsache,<br />

ohne Arme auf die Welt gekommen<br />

zu sein, nicht die Situation, die ich mir<br />

gewünscht hätte. Aber das ist wieder<br />

ein anderer Ansatz. Das Leben mit einer<br />

Behinderung ist kein Wunschkonzert.<br />

Punkt.“ Mit dem rechten Fuß unterstreicht<br />

er gestikulierend die Bedeutung<br />

seiner Worte <strong>–</strong> wie jeder andere Mensch.<br />

Nur haut er im Zweifel eben nicht mit<br />

der Hand auf den Tisch.<br />

„Ich bin in den letzten zehn, zwanzig<br />

Jahren voll zu der Überzeugung gelangt,<br />

dass ich ein Gewinner im Leben bin. Ich<br />

habe gelernt, mit dieser Situation umzugehen,<br />

und dadurch gewonnen. Es<br />

ist eine Herausforderung, das darf man<br />

schon sagen. Nicht im negativen Sinne.<br />

Aber es ist eine Herausforderung.“<br />

Christian Lohrs positive Lebenseinstellung<br />

schlägt sich auch in seinem Umgang<br />

mit dem Contergan-Skandal nieder: „Ich<br />

finde, man muss nicht immer darauf<br />

rumreiten. Ah, das ist der Conti. In<br />

Deutschland gibt es einige Contis, die<br />

haben das Gefühl, dass das Thema nicht<br />

mehr wahrgenommen wird. Dass man<br />

es vergisst. Das ist dann aber auch eher<br />

aus einer kritischen Lebenseinstellung<br />

heraus. Wenn man das Thema zu sehr<br />

an sich heranlässt, dann kann es einen<br />

schon festhalten. Da bin ich irgendwo<br />

froh und dankbar, dass das bei mir nicht<br />

der Fall ist. Ich weiß zwar, dass das nicht<br />

hätte passieren müssen. Ich bin mir aber<br />

nicht sicher, ob es mir persönlich etwas<br />

bringen würde, wenn ich wüsste, welche<br />

Person genau schuld war“. Christian Lohr<br />

richtet sich auf und holt kurz Luft, bevor<br />

er sagt: „Die andere Seite ist eben, man<br />

darf es nicht vergessen.“<br />

Damit meint er, kritisch zu bleiben, sich<br />

bewusst zu machen, was da vor 50 Jahren<br />

passiert ist. Denn wenn die ganze Geschichte<br />

irgendeinen tieferen Sinn gemacht<br />

habe, dann, dass daraufhin die<br />

Kontrollen der Medikamente drastisch<br />

verschärft wurden. „Ich möchte mit meiner<br />

Contergan-Behinderung auch nicht<br />

als Denkmal gesehen werden. Das man<br />

anschaut und im schlimmsten Fall noch<br />

irgendwann anpinkelt, wenn es Nacht<br />

und dunkel wird und niemand mehr<br />

hinschaut“, sagt er und sein Lächeln bekommt<br />

etwas Schelmisches. →


EINE SUMME VON CHANCEN<br />

Humor spielt im Leben von Christian<br />

Lohr eine sehr große Rolle. Davon zeugen<br />

nicht nur drei bunte Drucke mit unterschiedlichen<br />

Clown-Motiven hinter<br />

uns an der Wand. Als er Präsident des<br />

Thurgauer Kantonsrats und für ein Jahr<br />

der „höchste Thurgauer“ war, sprach er<br />

in seiner Abschlussrede davon, dass es<br />

ein historisches Jahr gewesen sei. Dabei<br />

blickte er nicht mit übersteigertem Selbstbewusstsein<br />

auf seine Amtszeit zurück,<br />

wie ihm vielleicht der eine oder andere<br />

zunächst unterstellte. Vielmehr bezog<br />

er sich auf die rund 1.000 Seiten, die<br />

er in dieser Zeit mit dem Fuß unterschrieben<br />

hatte. „Das ist historisch. Das<br />

wird es wohl so nicht mehr geben“, lacht<br />

er. Über sich selbst zu lachen, fällt ihm<br />

nicht schwer. Statt seine Behinderung<br />

zu tabuisieren, macht er lieber ab und zu<br />

selbst mal einen witzigen Spruch darüber.<br />

„Man darf, man soll sogar darüber<br />

lachen, finde ich. Es darf natürlich nicht<br />

respektlos oder entwürdigend sein. Aber<br />

es ist gut für die eigene Hygiene, dass<br />

man sich selber nicht so wichtig nimmt.“<br />

40<br />

Mit dem rechten<br />

Fuß unterstreicht<br />

er gestikulierend<br />

die Bedeutung seiner<br />

Worte. Nur haut er<br />

im Zweifel eben<br />

nicht mit der Hand<br />

auf den Tisch.<br />

Christian Lohr kam über seine Tätigkeit<br />

als Journalist 1999 in die Politik. Damals<br />

kam er an einen Punkt, da hat es ihm<br />

nicht mehr gereicht, nur darüber zu<br />

schreiben. „Ich wollte auch mitgestalten<br />

und mitreden.“ Angefangen habe alles<br />

am heimischen Esstisch.: „Wir sind eine<br />

Familie gewesen, die immer sehr offene<br />

Gespräche geführt hat. Meine Eltern haben<br />

mich und meinen vier Jahre älteren<br />

Bruder zu reifen Persönlichkeiten heranwachsen<br />

lassen. Wir hatten Interesse an<br />

dem, was auf der Welt passiert. Wieso<br />

etwas nicht funktioniert. Was kann ich<br />

selber machen? Sich selber engagieren.“<br />

Heute setzt er sich unter anderem für die<br />

Rechte der Menschen mit Beeinträchtigungen<br />

ein: „Ich habe schon etwas zu<br />

sagen. Es ist wirklich bemerkenswert, es<br />

wird auf mich gehört. Ich bin im Parlament<br />

der einzige in dieser Lebenssituation.“<br />

In Bern kann heute keiner mehr<br />

die Diskussion über das Thema Behinderung<br />

einfach nur über Kosten, Finanzen<br />

oder Statistiken führen. Christian Lohr<br />

erinnert mit seiner Präsenz und mit<br />

Vehemenz an die Menschen hinter den<br />

Zahlen. Auch andere soziale Themen liegen<br />

ihm am Herzen. In allen Bereichen<br />

mache er sich stark für die Gleichwertigkeit<br />

der Menschen. Und lebt das auch.<br />

„Man muss sich dabei schon bewusst<br />

machen, dass nicht jeder die gleiche<br />

Chance hat, so zu wählen, wie es für einen<br />

gut ist. Daran müssen wir auch arbeiten,<br />

dass wir für mehr Fairness sorgen.“ Er<br />

wählt bewusst Begriffe wie Fairness oder<br />

Gleichwertigkeit und möchte nicht von<br />

Gleichheit sprechen und geht dabei sicher,<br />

dass wir auch wirklich zugehört haben.<br />

„Das ist mir zu einfach. Wir können gar nie<br />

alle Menschen gleich machen. Ich weiß<br />

auch gar nicht, ob das so erstrebenswert<br />

ist.“ Es geht ihm um Beseitigung von Benachteiligung.<br />

Aber nicht um das „gleich“<br />

machen. „Das geht nicht und das kann<br />

auch nie der Sinn sein. Ich sage, alle<br />

Menschen sind gleichwertig, aber nicht<br />

alle Menschen sind gleich.“ Nicht nur an<br />

diesem Kreuzlinger Esstisch ist er derjenige,<br />

der am besten weiß, wovon er spricht.<br />

„Gerade während der Kindheit wahrzunehmen,<br />

dass man anders ist oder dass<br />

man Einschränkungen hat, dass man<br />

nicht wie die anderen auf Bäume klettern,<br />

Fußball Spielen oder Skifahren kann. Das<br />

auszuhalten, das tut auch weh.“ In solchen<br />

Momenten hat sich seine Familie mit ihm<br />

zusammengesetzt und aufgeschrieben,<br />

was er alles kann. „Meine Eltern waren<br />

so geschickt darin <strong>–</strong> die Liste mit dem<br />

Plus war immer länger.“<br />

Dass Christian Lohr sich heute außerdem<br />

in der Sportpolitik und für die Sportförderung<br />

junger Menschen engagiert, dafür<br />

ist sein Bruder mitverantwortlich. Dank<br />

ihm war er schon früh dem Sport eng<br />

verbunden. „Er hat mich als kleiner Junge<br />

immer mitgenommen, wenn er Fußballspielen<br />

gegangen ist oder sonst irgendwas<br />

gemacht hat. Und ich bin dadurch<br />

irgendwann ein Teil dieser Sportgemeinschaft<br />

geworden.“ Anstatt zu denken,<br />

‚Scheiße, ich kann nicht mitspielen‘<br />

wusste er seine besondere Rolle zu schätzen.<br />

„Sie haben mich dann zum Schiedsrichter<br />

gemacht. Mir eine Trillerpfeife<br />

organisiert. Und ich habe die Entscheidungen<br />

getroffen, wann es ein Foulspiel<br />

war. Und das hat verdammt gut funktioniert.<br />

Ich habe erfahren dürfen, wie ich<br />

respektiert wurde. Dass ich ein Teil des


EINE SUMME ECHTES VON CHANCEN<br />

Ganzen bin. Natürlich bin ich am Rand<br />

gestanden, aber ich bin nie wirklich am<br />

Rande gestanden. Und das ist sehr wertvoll<br />

gewesen.“ Schräg gegenüber, auf dem<br />

Sportplatz der Schule, auf dem bei unserer<br />

Ankunft fröhlich Fußball gespielt<br />

wurde, schaute Christian Lohr sich mit<br />

zwölf, dreizehn Jahren regelmäßig Handballspiele<br />

an. Dort hat ihn auch der Präsident<br />

des Handball Sportklub Kreuzlingen<br />

gefragt, ob er für die Zeitung schreiben<br />

würde. „Das habe ich dann gemacht und<br />

seither schreibe ich Spielberichte über<br />

Handball. Das mache ich heute noch,<br />

nur weniger regelmäßig. Was ich heute<br />

auch noch immer ab und zu mache, ist<br />

Speaker, Hallensprecher. Mein dichtgefüllter<br />

Kalender lässt wenig zu, aber das<br />

mache ich noch immer mit großer Freude.“<br />

„Ich bin 57 und ich bin eigentlich privilegiert.“<br />

Wenn Christian Lohr das sagt,<br />

schauen ihn die meisten Leute mit großen<br />

Augen an. Mit dieser schweren Behinderung<br />

von privilegiert zu sprechen, erstaunt<br />

sie. „Warum muss man ein Leben<br />

mit einer Behinderung immer negativ<br />

sehen? Ja, ich bin privilegiert, weil ich<br />

ein saumäßig tolles, glückliches und<br />

schönes Leben führen kann. Ich habe<br />

interessante Aufgaben, die nicht selbstverständlich<br />

sind. Und ich habe wirklich<br />

jeden Tag das Gefühl, mein Leben<br />

macht Sinn.“ Dabei spricht er nicht von<br />

dem halb leeren oder halb vollen Glas.<br />

Das findet er ausgeleiert. „Es ist ja auch<br />

nicht so, dass ich in jedem Moment oder<br />

in jeder Situation so denke. Es gibt Situationen,<br />

da stinkt’s mir. Da ärgert’s mich.<br />

Aber ich wache nie morgens auf und<br />

denke: Oh man, mir stinkt’s, dass ich behindert<br />

bin.“ Aus diesen Worten spricht<br />

große Demut vor dem Leben, der Kern<br />

seiner Haltung. „Demut ist ein Begriff, der<br />

heute nicht mehr modern ist, aber ich<br />

finde ihn eigentlich wichtiger denn je. Demut<br />

ist für mich nicht zu verwechseln mit<br />

unterwürfig sein, sondern entsteht aus<br />

einer gesunden Lebenshaltung heraus.<br />

Aber eben schon mit dem Bewusstsein,<br />

dass nicht alles für mich möglich sein<br />

muss.“<br />

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„Wir haben immer wieder gewisse<br />

Chancen im Leben. Man muss nicht<br />

alle packen. Viele vermasselt man auch<br />

fürchterlich, oder? Gut so. Und wenn<br />

man dann ein paar Chancen nutzen<br />


EINE SUMME VON CHANCEN<br />

42


kann und weiterkommt, dann ist es auch<br />

gut so. Aber das Leben ist eben eine<br />

Summe von Chancen.“<br />

Die Summe Christian Lohr besteht zu<br />

großen Teilen aus hohem beruflichen<br />

und ehrenamtlichen Engagement. Addiert<br />

mit etwas Freizeit, in der er gerne<br />

reist, mit Freunden und Bekannten unterwegs<br />

ist. Im Ergebnis ein ganz normaler<br />

Mensch eben. „Ich glaube, ich werde<br />

auch als das wahrgenommen in Kreuzlingen.<br />

Ich will kein großer Politiker<br />

sein, sondern ich will meinen Job machen.<br />

Ich lebe hier, ich fühle mich wohl.“<br />

Als Kreuzlinger sei er auch Bodensee-<br />

43<br />

„Man muss sich<br />

dabei schon bewusst<br />

machen, dass nicht<br />

jeder die gleiche Chance<br />

hat, so zu wählen, wie<br />

es für einen gut ist.“<br />

Mensch. Konstanz ist seine Nachbarschaft,<br />

nicht die Grenze. Nicht das Ausland.<br />

Er lebt gern hier in der Grenzregion.<br />

Dabei scheint er auch gern immer wieder<br />

Grenzen zu überschreiten, die man ihm<br />

setzt oder nachsagt. „Ja, im Leben ist es<br />

mir schon das eine oder andere Mal geglückt,<br />

Grenzen zu überwinden. Aber<br />

ich muss manchmal auch Grenzen brutal<br />

wahrnehmen. Aber wenn du lernst, das<br />

auszuhalten, dann hast du wahnsinnig<br />

viel gewonnen.“ Mit einem Lächeln fährt<br />

er fort: „Ich lebe mit meinem Leben immer<br />

wieder an Grenzen. Und darum passt<br />

das so fantastisch, dass ich in einer Grenzregion<br />

lebe.“<br />

EINE SUMME VON CHANCEN<br />

INFO<br />

In Deutschland kamen laut dem<br />

Bundesverband Contergangeschädigter e.V.<br />

rund 5.000 missgebildete Kinder zur Welt,<br />

davon leben noch etwa 2.400. 40 Prozent<br />

starben kurz nach der Geburt oder im Säuglingsalter.<br />

Hinzu kommt eine unbekannte<br />

Zahl an Totgeburten. In der Schweiz bewegt<br />

sich die Zahl im niedrigen zweistelligen Bereich,<br />

da hier das Medikament von Anfang an<br />

rezeptpflichtig war. Ein Zusammenhang des<br />

Medikamentes mit den vermehrt auftretenden<br />

Fehlbildungen wurde erst 1961 öffentlich.<br />

Die Firma Grünenthal nahm, nachdem sie<br />

zuvor einen Zusammenhang leugnete und versucht<br />

hatte, die Verschreibungspflicht zu<br />

verhindern, das Medikament schließlich vom<br />

Markt. 1968 kam es zum Prozess gegen den<br />

Firmeninhaber und leitende Angestellte. Der<br />

Contergan-Skandal ging in die Geschichte<br />

ein. Contergan wie Softenon enthielten Thalidomid.<br />

Dieser Wirkstoff behindert in der<br />

Schwangerschaft die Entwicklung der Organe<br />

und Gliedmaßen des Embryos. Je nach dem,<br />

zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft<br />

das Medikament genommen wurde, kam es<br />

zu ganz unterschiedlichen Fehlbildungen.<br />

Heute wird Thalidomid bei der Therapie von<br />

Krebs, Aids und Lepra eingesetzt.<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Hat eine latente Fußphobie. War<br />

deswegen etwas nervös wegen dem<br />

begrüßenden Hand-Fuß-Geben.<br />

Tatsächlich fühlte es sich dann gar<br />

nicht so ungewöhnlich an.<br />

Von Kopf bis Fuss<br />

Menschenbilder<br />

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Alle Kunstaktivitäten des Forum Würth<br />

Rorschach sind Projekte von Würth.


PERSPEKTIVE<br />

44<br />

Salzteiche, wie die hier abgebildeten,<br />

gibt es auf allen Kontinenten.<br />

Sie entstehen durch natürliche Verdunstung<br />

Meereswasser aus<br />

künstlich angelegten Teichen. Die<br />

von Mikroorganismen verursachte<br />

Farbe zeigt den Salzgehalt des Wassers<br />

in hellen Grüntönen bis hin zu<br />

leuchtendem Rot an. Die Salzbecken<br />

und Sümpfe sind ein wichtiger<br />

Lebensraum für viele Lebewesen.<br />

FOTO — Tom Hegen


45 PERSPEKTIVE<br />

Die Welt von oben gleicht in mancher<br />

Hinsicht der Hand unter dem Mikroskop:<br />

Unsere Finger und Handflächen werden<br />

durchzogen von Arterien, Nerven und<br />

Muskelsträngen. Sie bilden Transportwege<br />

für Blut, Sauerstoff, Information und<br />

Bewegungsreiz.


BERÜHRBAR<br />

46<br />

TEXT — Franziska Schramm<br />

FOTO — Ella Fiebig


47 BERÜHRBAR<br />

B e r<br />

ü h r<br />

b a r<br />

.<br />


BERÜHRBAR<br />

48<br />

Wie berührbar sind<br />

wir Menschen<br />

im 21. Jahrhundert?<br />

Wir haben uns<br />

auf Spurensuche gemacht.<br />

Beim<br />

Arbeiten, beim Einkaufen,<br />

beim<br />

Fernsehen … Kurz:<br />

In den Bruchstücken<br />

des Alltags.<br />

Die Hände meines Chefs sind unglaublich stark. Es sind<br />

sehr warme Hände, die Stärke, Mitgefühl und Wohlwollen<br />

vermitteln, wenn man sie drückt. Ich frage mich, ob das Teil<br />

seines Erfolgsgeheimnisses als Geschäftsführer ist. Ob wohl<br />

jeder, der seine Hand schüttelt, sofort mit ihm arbeiten will,<br />

weil diese Hände so viel Zuversicht ausstrahlen?<br />

Meine Hände sind im Winter oft kalt und die Haut ist rau.<br />

Ich kaufe mir eine Handcreme, ich sehe nicht so genau hin,<br />

was ich da im Drogeriemarkt aufs Kassenband lege. Zuhause<br />

stelle ich fest, dass die Handcreme antibakterielle Wirkung hat.<br />

Ich frage mich, wozu das gut sein soll, „Handcreme Winter 2 in 1,<br />

pflegend und antibakteriell“. Ich denke an Wintergrippe und<br />

beginne mich zu gruseln. All die Jahre, in denen ich völlig schutzlos<br />

herumgelaufen bin, mit Händen voller Bakterien, ohne<br />

mir darüber Gedanken zu machen.<br />

Ein Freund von mir ist Lehrer an einem Gymnasium. Er<br />

darf seine Schüler nicht berühren, sagt er. Aber, sage ich, das<br />

ist doch eine Art, zu kommunizieren, manchmal sehr viel direkter<br />

und einfacher als mit Worten. Jemanden eine Hand auf die<br />

Schulter zu legen, um Trost zu spenden. Ein High five, um zu<br />

zeigen, dass man sich miteinander freut. Nein, sagt er, er hält<br />

sich an die Regeln, er will schließlich keinen Ärger.<br />

Ich stehe in der Stiftsbibliothek in St. Gallen, unfassbare<br />

barocke Üppigkeit, viel dunkles Holz, hohe Decken, unzählige<br />

Regale. Die Bücher, die hier stehen, stammen aus einer anderen<br />

Zeit. Sie sind groß, beinahe mächtig, dunkles Leder, die<br />

Buchrücken reich verziert, die Buchstaben in Gold, das leise<br />

schimmert. Mich juckt es in den Fingern, ich will diese Bücher<br />

anfassen! Ihr Gewicht spüren, an dem Papier riechen, die<br />

Finger über den Einband gleiten lassen, die Prägungen unter<br />

den Fingerkuppen spüren. Die Bücher sind hinter Draht, zu<br />

ihrem Schutz. Auf diese Weise bleiben sie unversehrt für kommende<br />

Generationen, die diese Bücher auch nicht anfassen<br />

dürfen, konserviert der Konservierung wegen.<br />

Mein Chef und ich arbeiten noch nicht lange zusammen,<br />

drei Monate ungefähr. Aus einem mir unerfindlichen Grund<br />

habe ich das Bedürfnis ihm zu erzählen, wo ich gewesen bin,<br />

am finstersten Punkt meines Lebens, vier Jahre zuvor. Ich<br />

beiße mir wochenlang auf die Zunge, weil es mir unangemessen<br />

vorkommt, das zu erzählen. Dann platzt es doch aus mir<br />

heraus und ich erzähle von dem Moment, als ich verlassen,<br />

einsam und arbeitslos dasaß und nicht wusste, wohin mit mir.<br />

Mein Chef tut das einzig Richtige. Er sagt: „Das klingt wirklich<br />

sehr schlimm“, nimmt meine Hand und drückt sie. Der<br />

Schmerz, der nun ein ausgesprochener und geteilter Schmerz<br />

ist, lässt sofort nach. Ein paar Tage später stelle ich fest, dass der<br />

Schmerz verschwunden ist, nicht mehr existent. Er scheint<br />

sich im Moment der Berührung aufgelöst zu haben wie ein kleines<br />

Wunder.<br />

Eine Freundin ist schwanger, vierter Monat. Hey, sage ich,<br />

langsam sieht man ja etwas und stupse mit einem Finger ihr<br />

kleines Bäuchlein an. Wäre sie nicht schwanger, würde ich diese<br />


49 BERÜHRBAR


BERÜHRBAR<br />

50<br />

Geste nicht machen, niemals, ich stupse niemanden am Bauch.<br />

Ich begegne in der Altstadt einem befreundeten Paar. Sie<br />

kommen vom Weihnachtsmarkt, sehen glücklich aus. Wir bleiben<br />

stehen und plaudern. Er bietet mir gebrannte Mandeln an,<br />

die sie gekauft haben, pickt eine Mandel aus der Tüte und hält<br />

sie mir hin. „Lass sie doch selbst reingreifen“, sagt seine Frau<br />

etwas pikiert. „Wieso“, fragt er, „weil ich sie angefasst habe oder<br />

wie?“ Ich nehme die Mandel aus seiner Handfläche, dann<br />

greife ich in die Tüte, die er mir hinhält.<br />

Es gibt eine Fernsehserie, die ich mag und die eine Zeitlang<br />

auf VOX lief: „Der Club der roten Bänder“. Fünf Teenager<br />

im Krankenhaus, zwei mit Krebs, einer im Koma, eine mit<br />

Bulimie, einer Autist mit Mopedunfall. Die Serie hat Preise bekommen,<br />

die Darsteller auch. Das eigentlich bemerkenswerte<br />

an dieser Serie ist, dass in ihr körperliche Nähe unaufgeregt<br />

und ohne die sonst so gern inszenierte erotische Aufladung<br />

geschieht. Da wird wortlos umarmt und mit Berührungen<br />

getröstet, da werden Hände gehalten, sehr viele Hände,<br />

Teenagerjungs halten die Hände ihrer männlichen Teenagerfreunde,<br />

eigentlich ein No-Go, aber im Angesicht von Chemotherapie<br />

und Sterben dann doch eine Option.<br />

Ich kaufe Gemüse in meinem Lieblingshofladen. Drei<br />

Generationen stehen hinter der Theke. Eine junge Verkäuferin<br />

mit Brille und feinen Händen; sie schreibt manchmal kleine<br />

Gedichte, die sie auf einer Tafel vor dem Laden notiert. Eine<br />

Frau, die ihre Mutter sein könnte, die mir ab und zu eine Kleinigkeit<br />

extra draufgibt. Und die Hofladen-Älteste, deren<br />

Hände so aussehen, als hätten sie nie etwas anderes gemacht,<br />

als in Erde zu graben; große Hände, die locker vier Kartoffeln<br />

auf einmal umschließen. Kartoffeln, Möhren, Rosenkohl nimmt<br />

sie in die Hand und packt sie in meinen Stoffbeutel, als würde<br />

sie mir alles direkt aus ihrem Garten reichen.<br />

Bevor ich angefangen habe, für meinen jetzigen Chef zu<br />

arbeiten, war ich Backwarenverkäuferin, zwei Jahre lang. Wir<br />

hätten Plastikhandschuhe tragen müssen beim Einräumen der<br />

Ware ins Regal frühmorgens. Wir haben es nicht getan, der<br />

einzige unbeobachtete Moment des Tages. Das Gewicht der<br />

Brote, ihre unterschiedliche Beschaffenheit, einige der Laibe<br />

rund und glatt, andere mit aufgeplatzter Kruste, hart und kantig.<br />

Der einzige Moment des Tages, an dem ich spüren konnte,<br />

was ich da verkaufte. Meine Hände ansonsten in schwitzigem<br />

Plastik, die Brote kaum zu spüren, alles Plastik im Namen<br />

der Hygiene. So gerne die Kunden Worte wie „Brotmanufaktur“<br />

und „echte Handarbeit“ auch auf den Schildern lesen <strong>–</strong> so<br />

wenig ertragen sie manchmal den Gedanken, dass jemand ihr<br />

Brötchen angefasst haben könnte.<br />

In meiner Familie wurde eine Zeitlang nicht viel berührt<br />

und geküsst. Vielleicht machen das die Pubertät, das Erwachsenwerden<br />

der Kinder, die Studienzeit, die Entfernung, die<br />

Kämpfe, die man als Familie miteinander austrägt. Letzte


51<br />

BERÜHRBAR<br />

Weihnachten umarmt mich mein Vater. Mehrmals und von<br />

sich aus. Meine Mutter küsst mich, als sie mir gute Nacht<br />

wünscht. Sie ist überraschend, diese Nähe, und sie ist schön.<br />

Zu Schulzeiten war die Welt gewichtig und schwer. Das<br />

lag am Atlas, jenem großformatigen Ungetüm, das den Schulrucksack<br />

schwer machte und den Erdkundeunterricht anschaulich.<br />

Da war sie, die Erde, sie benötigte Platz, sie war so<br />

umfangreich, dass sie in kein normales Buch passte. Heute<br />

gibt es Google Maps und die Erde passt auf jeden x-beliebigen<br />

Bildschirm und man wischt über sie hinweg.<br />

Zwischen Weihnachten und Neujahr sortiere ich aus, Generalüberholung<br />

aller meiner Dinge. Irgendwo habe ich mal ein<br />

Bild gesehen, auf dem nachgezeichnet war, wo wir uns in unserer<br />

Wohnung aufhalten und welche Dinge wir normalerweise<br />

tagtäglich berühren. Viele Dinge haben wir einfach nur, ohne<br />

sie zu benutzen, ohne mit ihnen etwas zu tun <strong>–</strong> sie warten in<br />

Schubladen und Schrankfächern, in Kisten im Keller oder auf<br />

dem Dachboden darauf, dass sie zum Einsatz kommen. Weil<br />

ich wissen will, was ich eigentlich alles habe und was davon ich<br />

schon ewig nicht mehr in Händen hatte, trage ich alles zusammen.<br />

Alles auf einen großen Haufen. Erst alle Klamotten.<br />

Dann alle Bücher. Dann alles andere. Drei Tage lang mache ich<br />

nichts anderes, als Dinge in Händen zu halten, das Gewicht<br />

ihrer Erinnerungen abzuwiegen und zu entscheiden, was davon<br />

ich nicht mehr haben will. Es ist ein mühsamer Prozess,<br />

emotional anstrengend, körperlich anstrengend. Stifte, Papier,<br />

Ordner, Schals, Schuhe, Medikamente, CDs, Fotos, Klaviernoten,<br />

Tagebücher, Kerzen, Cremes, Shampoos, Kleider und<br />

Kissenbezüge gleiten durch meine Hände. Am 1. Januar fühle<br />

ich mich leicht.<br />

Dass ich einen Körper besitze, habe ich zum ersten Mal<br />

begriffen, als ich mit einer Schauspielerin gearbeitet habe.<br />

Auf der Bühne konnte ich plötzlich meinen Körper spüren,<br />

meine Gliedmaßen, die Ausmaße meines physischen Seins.<br />

Bis dato war mein Körper nur das Ding, das unten an meinem<br />

Kopf dran ist. Jenes überflüssige Etwas, das anfällig ist für<br />

Schwitzen, Frieren, Rückenschmerzen und Erkältung. Jenes<br />

Etwas, das meinen Alltag stört, unterbricht, und zumindest<br />

erschwert. Plötzlich wurde mein Körper etwas, das ich bewohnen<br />

konnte, etwas, das der Aufmerksamkeit wert war. Wie sich<br />

der Boden unter den Füßen anfühlt. Die Vibration der eigenen<br />

Stimme im Brustkorb. Die Luft auf den nackten Armen. Es<br />

war, als hätte ich zum ersten Mal entdeckt, dass ich tatsächlich<br />

existent bin.<br />

Das hat mich total berührt, sagt das Jury-Mitglied im Fernsehen<br />

und meint das Lied, das gerade in einem großen Fernsehstudio<br />

vor laufender Kamera gesungen wurde. Ich habe Pipi<br />

in den Augen, sagt ein anderes Jury-Mitglied. Ich hatte Gänse-<br />


BERÜHRBAR<br />

52


53 BERÜHRBAR


54


55<br />

haut, sagt das dritte. Von Künstlern, Musikern und Sängern<br />

erwartet man, dass sie uns berühren. Offenbar steht jene Art<br />

von Berührung <strong>–</strong> eine geistig-emotionale Berührung ohne<br />

Körperkontakt <strong>–</strong> weitaus weniger in Verdacht.<br />

Ich kaufe zum ersten Mal in einem Unverpackt-Laden ein.<br />

Alles ist anders als im Supermarkt. Es gibt lange Röhren, aus<br />

denen man Reis, Bohnen, Hirse, Quinoa und Bulgur zapfen<br />

kann, Nudeln kann man sich mit kleinen Schaufeln aus Behältnissen<br />

abfüllen, genauso wie Gewürze, Nüsse und Rosinen.<br />

Ich habe meine Plastikbox dabei, ich wiege sie, halte sie unter<br />

die Röhre mit dem Basmati-Reis. Die Röhre ist schon fast<br />

leer, es rieselt viel zu wenig Reis heraus, ich frage bei der Verkäuferin<br />

nach. Sie holt einen großen Reissack aus dem Hinterraum,<br />

füllt mit einem Kännchen Reis aus dem Sack in meine<br />

Box. Die Röhre muss sie erst noch spülen, bevor sie sie wieder<br />

befüllt, sagt sie. Plötzliche Plastik-Sehnsucht überkommt<br />

mich, ich hätte gerne perfekt abgewogene 500 Gramm Reis,<br />

clean verpackt und hübsch designt, merkwürdigerweise.<br />

Mein Chef hat Angst und ist überfordert. Er erzählt mir<br />

vom schlimmsten Augenblick im Jahr zuvor, als eine unerwartet<br />

hohe Steuerzahlung an seinen Reserven kratzte. Er hatte Angst<br />

um seine Existenz, Angst, seine Rechnungen nicht bezahlen zu<br />

können. Es ist egal, dass wir in einem Büro sitzen, es ist egal,<br />

dass er der Chef ist und ich die Mitarbeiterin. Ich nehme seine<br />

Hand, halte sie fest in meiner und sage „Es ist vorbei, mein<br />

Freund, es ist vorbei“. Ich sehe in seinen Augen, dass meine<br />

Worte bei ihm ankommen, und hoffe, dass die Wärme meiner<br />

Hand Wunder wirkt.<br />

KONS<br />

TANZER<br />

KLEIN<br />

KUNST<br />

IM K9<br />

Bühne für<br />

Musik,<br />

Theater,<br />

Tanz,<br />

Literatur,<br />

Film und<br />

vieles mehr...<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Als Autorin ist Franziska Schramm<br />

auf ihre Hände angewiesen; erste<br />

Entwürfe für Gedichte und Geschichten<br />

schreibt sie meist von<br />

Hand. Außerdem arbeitet sie für das<br />

Improtheater Konstanz, wo sie als<br />

Assistenz nicht selten die rechte<br />

Hand ihres Chefs ist.<br />

* Konzerte & Live Musik<br />

* Offene Bühne & Jam Sessions<br />

* Gesellschaftspolitische Thementage<br />

* Umweltschutz & Nachhaltigkeit<br />

* Improvisationstheater & Gastspiel<br />

* Disco & Salsa Nächte<br />

* Kabarett & Comedy<br />

K9-KULTURZENTRUM.DE


DER GLÜCKLICHSTE HAUSMEISTER DER WELT<br />

56<br />

DER<br />

GLÜCKLICHSTE<br />

HAUSMEISTER<br />

DER WELT<br />

→<br />

MIT DSCHONNIE VOM SCHAUFENSTER<br />

DURCH DIE SAHARA BIS INS NEUWERK


57<br />

DER GLÜCKLICHSTE HAUSMEISTER DER WELT<br />

Christmas is over <strong>–</strong><br />

if you want it. Ich<br />

bin mit Dschonnie<br />

im Innenhof des<br />

Neuwerk verabredet,<br />

um den vermutlich<br />

letzten Christbaum<br />

des Jahres ab<br />

zuräumen. Der<br />

steht als weiße Plastikvariante<br />

in<br />

einer alten, gelben<br />

Telefonzelle <strong>–</strong> der<br />

Kleinkunstzelle <strong>–</strong><br />

und soll heute einer<br />

neuen Installation<br />

weichen.<br />

Dschonnie, erzähl mir mal ein<br />

bisschen was über die Hintergründe<br />

dieser Kleinkunstzelle.<br />

Diese Kleinkunstzelle stand ursprünglich<br />

im Oberdorf, bei einem Freund von<br />

mir. Als der sie nicht mehr haben wollte,<br />

hab ich sie hier ins Neuwerk geholt.<br />

Und jetzt bist du Kurator<br />

einer Telefonzelle.<br />

Richtig, und ich entscheide, was da<br />

rein kommt und was nicht (lacht).<br />

Hast du schon mal einen<br />

Beitrag abgelehnt?<br />

(lacht) Die AfD hat mal nach einem<br />

kostengünstigen kleinen Raum für eine<br />

Veranstaltung gesucht. Das hab ich abgelehnt,<br />

weil die Nutzung nicht kostengünstig,<br />

sondern kostenlos ist.<br />

Auf dem Hinweisschild an der<br />

Zelle steht: Profankunstgalerie<br />

für den öffentlichen Raum.<br />

Schöner Ansatz, was interessiert<br />

dich daran?<br />

Daran gefällt mir ganz viel: Das Niedrigschwellige,<br />

das erstmal alle zum Mitmachen<br />

einlädt. Die Möglichkeit, dort Absurdes,<br />

Schräges oder Lustiges stattfinden<br />

zu lassen, abseits von den Zwängen, die<br />

die etablierten Räume so mit sich bringen.<br />

Du musst kein erfolgreicher Künstler sein,<br />

um hier ausstellen zu dürfen. Du musst<br />

nicht mal Künstler sein.<br />

TEXT — Torben Nuding<br />

FOTO — Ines Njers<br />

Der Kalender sagt Februar, die Sonne<br />

sagt Mai und Dschonnie sagt: ganz schön<br />

viel. Das liegt daran, dass er viel zu sagen<br />

hat, because of: Lebenserfahrung und ungeheurer<br />

Umtriebigkeit. Trifft sich gut,<br />

ich will nämlich ganz schön viel wissen.<br />

Wir reden über das Leben und die<br />

Bühne, Korruption und Kunst am Bau.<br />

Ein beschwingtes Gespräch bei moderater<br />

Installationsarbeit und Kaltgetränken.<br />

Wir brauchen ein Kissen!<br />

Ein Kissen? Für was?<br />

Um den Nagel drauf zu legen!<br />

Ach so, ich dachte, du wolltest den<br />

hängen? Aber auf einem Kissen<br />

präsentiert, das hat auch was.<br />

Und daneben stellen wir dann die<br />

Küchenpapier-Rolle.<br />

Verstehe, das wird ein Nagelstudio<br />

der anderen Art.<br />

Die Ausstellung steht. Kurator und technische<br />

Assistenz sind zufrieden und gehen<br />

zum gemütlichen Teil des Interviews über.<br />

Wir sitzen bei Kaltgetränken im Besprechungsraum<br />

des Neuwerk-Vorstandsbüros <strong>–</strong><br />

ein Raum, in dem Dschonnie schon viele,<br />

viele Stunden zugebracht hat. Aber dazu<br />

später mehr.<br />

Dschonnie, du bist gelernter<br />

Schaufenstergestalter. Ich unterstelle<br />

mal: Das ist ein Beruf, den<br />

es in der Form, wie du ihn erlernt<br />

hast, heute gar nicht mehr wirklich<br />

gibt. Erzähl <strong>–</strong> wie bist du dazu<br />

gekommen?<br />

Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen,<br />

in Rastatt bei Baden-Baden,<br />

und kann mich daran erinnern, dass ich<br />

die Arbeit der Dekorateure, wie der Beruf<br />

im Volksmund genannt wurde, sehr bewundert<br />

habe. Als es 1969 darum ging,<br />

mich um einen Ausbildungsplatz zu bewerben,<br />

war mir schnell klar, dass ich diesen<br />

Beruf gerne erlernen wollte. Leider gab<br />

es im einzigen großen Kaufhaus vor Ort<br />


DER GLÜCKLICHSTE HAUSMEISTER DER WELT<br />

58<br />

keinen freien Ausbildungsplatz, weshalb<br />

ich erstmal eine Lehre zum Automechaniker<br />

in Würzburg angetreten habe.<br />

Aber in Würzburg kannte ich niemanden<br />

und war dort sehr einsam. Als ich in den<br />

Weihnachtsferien auf Familienbesuch<br />

war, habe ich meinen Vater darum gebeten,<br />

die Ausbildung abbrechen zu dürfen.<br />

Und wie es der Zufall so wollte, wurde<br />

just zu diesem Zeitpunkt eine Stelle in<br />

der Dekorationsabteilung des besagten<br />

Kaufhauses in Rastatt frei. Und nach einer<br />

kurzen Aufnahmeprüfung habe ich die<br />

Stelle dann bekommen und sollte sie<br />

einige Tage später in Arbeitskleidung <strong>–</strong><br />

einem weißen Kittel <strong>–</strong> antreten.<br />

Gibt es diesen Beruf<br />

eigentlich noch?<br />

Ja, aber sicher in einer anderen Form.<br />

Heute werden die Schaufenster-Dekorationen<br />

von größeren Warenhäusern zentral<br />

produziert und ausgeliefert. Zu meiner<br />

Zeit ging es um ganz viel handwerkliche<br />

Details: Wollpullover auf Kartons aufziehen,<br />

Schaufenster mit Stoff ausschlagen,<br />

Schriften entwerfen, Zierleisten kleben.<br />

Ich habe das Berufsbild aber auch nicht<br />

weiterverfolgt, weil mir recht schnell klar<br />

war, dass ich nicht in diesem Beruf alt<br />

werden will.<br />

Schulabschluss 1969, das klingt<br />

nach einer wilden Zeit: Studentenproteste,<br />

Unruhen, Strukturen<br />

aufbrechen. Wie viel von dieser<br />

Bewegung kam denn in der Kleinstadt<br />

damals an?<br />

Doch ‘ne ganze Menge. Ich habe<br />

schon früh in einem linken Hausprojekt<br />

gewohnt, das hieß „Das Haus“ <strong>–</strong> und das<br />

war unsere Insel, wo diskutiert und Politik<br />

gemacht wurde. Da wohnten überwiegend<br />

Studenten, die neue Themen<br />

und Ansätze eingebracht haben. Wir<br />

haben dort auch unser erstes Theater gegründet,<br />

das Kellertheater Rastatt. Da<br />

haben wir im kleinen Rahmen angefangen,<br />

Stücke zu schreiben und zu produzieren.<br />

Alles geschah aus einer Do-It-<br />

Yourself-Geisteshaltung. Ohne übergeordneten<br />

Plan, aber mit einer Menge<br />

Enthusiasmus.<br />

Das Theater wird dich auch nach<br />

Rastatt noch eine ganze Weile begleiten.<br />

Wie ging es damit weiter?<br />

1979 bin ich nach Konstanz gekommen.<br />

Ich habe hier bei einem Freund in<br />

der Klosterkaserne am Benediktinerplatz<br />

als Autoschrauber angefangen zu<br />

arbeiten. Im Jugendzentrum, das damals<br />

auch in dieser Gegend angesiedelt war,<br />

fand irgendwann ein Clown-Workshop<br />

unter der Leitung von Hilde Schneider<br />

statt, bei dem ich teilnehmen wollte.<br />

Aber da Hilde und ich gleich alt waren<br />

und die restlichen Teilnehmer deutlich<br />

jünger, wurde ich recht schnell vom Teilnehmer<br />

zum Kursleiter befördert. So kam<br />

eins zum anderen. Recht zeitnah wurde in<br />

besagter Werkstatt ein erstes Stück einstudiert<br />

und Hilde und ich wurden zu einer<br />

kleinen Theatergruppe. 1983 haben wir<br />

dann offiziell „Das noie Paratheater“ gegründet.<br />

Mit Georg Schramm, der recht<br />

schnell zu uns stieß, bildeten wir dann<br />

für einige Jahre die Kerngruppe dieses<br />

Kabarett-Ensembles.<br />

Einen unserer ersten Auftritte hatten<br />

wir im Saal des „Fischkult“, das war<br />

eine Bar in einem besetzten Haus am<br />

Fischmarkt (mittlerweile abgerissen,<br />

ungefähr dort, wo aktuell das Alnatura-<br />

Kaufhaus ist). An diesem Ort ist Denkwürdiges<br />

passiert. Ich erinnere mich zum


Beispiel an einen Auftritt der damals<br />

noch völlig unbekannten Band Trio. Von<br />

da aus ging es dann weiter: Wir haben<br />

regelmäßig am Stadttheater gespielt,<br />

damals noch unter der Intendanz von<br />

Ulrich Khuon. Eines der Highlights war<br />

sicher die Soap-Opera, die wir anlässlich<br />

der Baden-Württembergischen Theatertage<br />

fünf Tage lang in einem Zelt im Stadtgarten<br />

unter dem Namen „Die Wichsers<br />

von nebenan“ entwickelt haben. Großer<br />

Klamauk und völlig ausverkaufte Veranstaltungen,<br />

das war ein Riesenspaß.<br />

59<br />

Warum ging es mit dem<br />

Paratheater zu Ende?<br />

Das hat mehrere Gründe. Georg<br />

Schramm hat sein Kabarettprogramm<br />

professionalisiert und ging damit auf<br />

ausgedehnte Tour. Ich habe das Booking<br />

für ihn übernommen. Als er 1991 den<br />

deutschen Kleinkunstpreis bekommen<br />

hat, war der Durchbruch perfekt, und es<br />

war klar, dass er als Solo-Kabarettist weitermachen<br />

würde. Ich habe auch einige<br />

seiner Bühnenbilder entworfen, zum Teil<br />

recht aufwendige und ausgefuchste Klappkonstruktionen,<br />

da kam dann wieder<br />

der Schaufenstergestalter in mir durch.<br />

Und Hilde Schneider hat Georgs erste<br />

Bühnenprogramme mitgeschrieben und<br />

inszeniert.<br />

Ich habe danach noch einige Jahre als<br />

Kleindarsteller am Theater Konstanz gespielt.<br />

Das ging ungefähr bis 1993, war<br />

dann aber mit dem Weggang von Ulrich<br />

Khuon abrupt zu Ende. Wie üblich bei<br />

einem Intendantenwechsel kam es auch<br />

zu größeren Veränderungen im Ensemble,<br />

und ich hatte, um ehrlich zu sein, ein<br />

bisschen Angst davor, mich als eigentlicher<br />

Laie mit dem neuen Ensemble<br />

auseinanderzusetzen, weshalb ich die<br />

Anfragen, die tatsächlich auch von der<br />

neuen Intendanz kamen, abgelehnt habe.<br />

Helge Schneider hat mal gesagt:<br />

„Ich spiele keine Rolle, deshalb<br />

spiel’ ich keine Rolle.“ Wie siehst<br />

du denn deine Rolle in der<br />

Gesellschaft?<br />

(grübelt) Meine Rolle in der Gesellschaft…<br />

Ich war oft witzig und ich mag<br />

es gerne, leichte Irritationen zu erzeugen.<br />

Das ist eine Konstante. Ich bin hilfsbereit<br />

und das hoffentlich so wertungsfrei<br />

wie möglich. Ich habe ein offenes Auge<br />

für Situationen und ich bin ein guter<br />

Unterhalter.<br />

Das unterschreibe ich. Hast du<br />

dir da ein Stück Bühne mit in den<br />

Alltag genommen?<br />

Mit Sicherheit. Ich spiele nach wie<br />

vor ein bisschen Theater, allerdings zu<br />

anderen Bedingungen und in einem<br />

anderen Rahmen. →<br />

im April & mAi im<br />

DSCHONNIE<br />

ZebrA kino<br />

border<br />

At eternity's GAte<br />

der himmel über berlin<br />

GretA<br />

supA modo<br />

spielzeiten und<br />

mehr programminfos<br />

auf www.zebra-kino.de


DER GLÜCKLICHSTE HAUSMEISTER DER WELT<br />

60<br />

DSCHONNIE IN DER WÜSTE<br />

Dschonnie, eines der Bilder, das<br />

mir als erstes in den Sinn kommt,<br />

wenn ich an dich denke, zeigt<br />

dich kopfüber im Wüstensand.<br />

Handstand in der Sahara. Wie<br />

ist es dazu gekommen?<br />

1986 hat mich ein Kumpel gefragt,<br />

ob ich ihn auf einer Fahrt nach Ghana<br />

begleiten würde. Er hatte einen großen<br />

LKW, vollgepackt mit Ersatzteilen, Werkzeug,<br />

Fahrrädern und Kleidung; unter<br />

anderem Material, das er einem Freund<br />

zukommen lassen wollte, um ihm beim<br />

Aufbau einer Autowerkstatt zu unterstützen.<br />

Ich war natürlich sofort dabei.<br />

Wir hatten mit einer ungefähren<br />

Fahrtzeit von drei bis vier Wochen gerechnet,<br />

von Genua nach Tunis, von<br />

dort aus weiter über die algerische<br />

Grenze, dann nach Mali, Burkina Faso<br />

und weiter nach Ghana. Die Reise gestaltete<br />

sich aber deutlich schwieriger als<br />

zunächst gedacht, was unter anderem<br />

mit der Weigerung meines Kumpels zu<br />

tun hatte, den materiellen oder finan-<br />

ziellen Aufforderungen der Grenzbeamten<br />

nachzukommen. Wir hingen teilweise<br />

über Wochen an Grenzposten fest.<br />

Das begann direkt im Hafen von<br />

Tunis, wo wir die erste Woche verbrachten,<br />

und setzte sich an der algerischen<br />

Grenze fort. Die Beamten wollten meist<br />

ein wenig Bargeld oder ein altes Fahrrad,<br />

das sie auf dem LKW entdeckt hatten,<br />

aber die Position meines Auftraggebers<br />

blieb unverändert. Auf seine Weise<br />

ziemlich bewundernswert, sich so klar<br />

gegen Korruption zu stellen, aber das<br />

hat uns natürlich enorm viel Zeit, Nerven<br />

und Vorräte gekostet. Im Niemandsland<br />

vor Algerien hingen wir<br />

ganze dreieinhalb Wochen fest. Wir,<br />

das heißt, eigentlich nur ich, weil mein<br />

Kompagnon sich auf den Weg nach Tog-<br />

gourt gemacht hatte, um irgendwie die<br />

von den Zöllnern geforderten 20.000 DM<br />

Kaution für die Fahrt durch Algerien<br />

aufzubringen. Da saß ich also: allein in<br />

der Wüste, um mich nur das Zollhaus,<br />

einige Beamte und unser LKW. Und es<br />

gab witzigerweise auch eine Schranke.<br />

Das muss man sich mal vorstellen:<br />

Rechts und links hunderte von Kilometern<br />

Platz, aber dieses Symbol haben<br />

sie sich einfach nicht nehmen lassen.<br />

Absurd.<br />

Mit der Zeit habe ich mit den ersten<br />

Zöllnern Freundschaften geknüpft. Wir<br />

konnten uns rudimentär verständigen,<br />

weil ich ein bisschen französisch konnte.<br />

Und mein Fantasie-Arabisch, das ich öfter<br />

mal zum Besten gab, kam wahnsinnig<br />

gut bei den Zöllnern an und wurde


zum festen Bestandteil unserer abendlichen<br />

Runden. Ich erinnere mich gerne<br />

an die „Parle arabe!“-Aufforderungen.<br />

Während meiner Strandung begann irgendwann<br />

der Ramadan und ich wurde<br />

auch in das allabendliche Essen miteinbezogen.<br />

Eine Erfahrung, an die ich gerne<br />

zurückdenke.<br />

Nach dreieinhalb Wochen war die<br />

Kautions-Sache dann endlich geklärt<br />

und wir konnten unsere Reise fortsetzen.<br />

Mein unbeugsamer Kumpel wurde zumindest<br />

ein bisschen gerissener, wir<br />

haben dann einfach selbstständig in<br />

den KFZ-Schein den Vermerk „Wohnmobil“<br />

eingetragen und mit einem<br />

Ein-Mark-Stück und Tinte einen Adler<br />

daneben gestempelt, um immerhin die<br />

61<br />

LKW-Gebühren zu umgehen. Das war<br />

sein maximales Zugeständnis an die<br />

Welt der Korruption (lacht).<br />

Tolle Geschichte, die ja auch ein<br />

bisschen etwas über die achtziger<br />

Jahre aussagt, oder? Einfach mal<br />

5000 Kilometer mit dem Laster<br />

durch die Sahara fahren. Wäre<br />

das heute noch so denkbar?<br />

Ach, das wäre heute schon auch noch<br />

denkbar. Ich mache dafür weniger die<br />

Zeit als meine individuelle Situation verantwortlich.<br />

Ich habe damals halt so rumgejobbt,<br />

war niemandem verpflichtet,<br />

hatte keine Kinder und keinen festen<br />

Job. Ähnliche Lebensverhältnisse gibt es<br />

ja heute auch.<br />

→<br />

präsentiert das<br />

Ticket Vorverkauf<br />

ab 19.03.19<br />

Foottit und<br />

Chocolat<br />

Ab 15.06.2019<br />

Nach einer wahren Geschichte<br />

Zirkusspiel von Christoph Nix<br />

Regie Mark Zurmühle, Olli Hauenstein<br />

und Christoph Nix<br />

Uraufführung<br />

Sagt der Walfisch<br />

zum Thunfisch<br />

Ab 23.06.2019<br />

Kinderstück von Carsten Brandau<br />

Regie Nora Bussenius<br />

Katharina Knie<br />

Ab 29.06.2019<br />

Seiltänzerstück von Carl Zuckmayer<br />

Regie Martina Eitner-Acheampong<br />


DER GLÜCKLICHSTE HAUSMEISTER DER WELT<br />

62<br />

DAS NEUWERK<br />

Lass uns über das Neuwerk reden.<br />

Erzähl mir von den Anfängen.<br />

Wie ging das los?<br />

Das Neuwerk hatte zuletzt ja zur<br />

Stromeyer-Fabrik gehört. Nachdem das<br />

Unternehmen pleitegegangen war, ging<br />

das Gebäude an das Bundesvermögensamt<br />

und sollte in den neunziger Jahren<br />

dem Neuausbau der B33 weichen. Zu<br />

dem Zeitpunkt war das Neuwerk schon<br />

komplett voll mit Mietern unterschiedlichster<br />

Ausrichtung. Ich bin 1990 eingezogen<br />

und habe dann erstmal fünf Jahre<br />

illegal hier gewohnt.<br />

Illegal?<br />

Ja, illegal, weil das <strong>–</strong> wie heute auch <strong>–</strong><br />

keine Wohn-, sondern Gewerbeflächen<br />

waren. Das lief damals ganz pragmatisch<br />

ab, man ist einfach zur Verwaltung<br />

gegangen, hat gesagt: „Ich hätte gerne<br />

eine Fläche von ungefähr der Größe X“<br />

und dann ging das los. Der Quadratmeter<br />

für 2 DM. Heizung gabs nicht, also hat<br />

man einfach einen Kamin hochgemauert,<br />

Loch ins Dach, Ölofen, fertig. So hatte<br />

ich dann auf 200 Quadratmetern meine<br />

Wohnung, meine Werkstatt und noch<br />

einen großen Theaterproberaum <strong>–</strong> ein<br />

Traum.<br />

Uns Mietern war zu der Zeit schon<br />

klar, dass wir uns in irgendeiner Art formieren<br />

müssen, sobald es konkret um den<br />

Abriss des Neuwerks gehen sollte. Gegen<br />

1997 gingen die ersten Kündigungen<br />

ein, worauf wir einen Verein gegründet<br />

haben, den Neuwerk-Bund e.V. Das war<br />

die erste Rechtsform des neuen Neuwerks,<br />

bestehend aus circa 20 bis 25<br />

Akteuren, von denen einige immer noch<br />

sehr aktiv im heutigen Neuwerk sind. Ich<br />

habe die Geschäftsführung des Vereins<br />

übernommen, der jährliche Mitgliedsbeitrag<br />

lag bei 25 DM. Wir hatten ein<br />

konkretes Ziel: den Erhalt des Kerngebäudes<br />

Neuwerk. Dabei handelt es sich<br />

immerhin um eine Nutzfläche von knapp<br />

9000 Quadratmetern. Uns war schnell<br />

klar, dass wir dafür mehr als 25 Mitglieder<br />

brauchen würden. Deshalb haben wir die<br />

Info gestreut: Wer uns 150 DM auf unser<br />

Konto überweist, bekommt von uns<br />

eine Nummer zugewiesen, die ihm oder<br />

ihr eine Option auf einen Raum im Neuwerk<br />

gewährleistet. Das hat super funktioniert,<br />

da gab es reges Interesse.<br />

Aus dieser Vereinsgeschichte hat sich<br />

dann die Genossenschaft entwickelt, die<br />

Rechtsform, die das Neuwerk auch heute<br />

noch hat. Ich erinnere mich an eine etwas<br />

diffuse Interessenslage, weil einige Mieter<br />

damals auch großes Interesse hatten,<br />

Anteile des Neuwerks zu kaufen, um persönliches<br />

Eigentum zu bilden. Aber der<br />

Mehrheit war wichtig, dass das Neuwerk<br />

ein solidarisches Gemeinschaftsprojekt<br />

bleibt, wo Proberäume und Ateliers<br />

ebenso möglich und erschwinglich sind<br />

wie Handwerksbetriebe und Büros. Diversität<br />

nennt man das heute.<br />

Bei einem Gespräch mit dem damaligen<br />

OB und dem Baubürgermeister<br />

zeigte sich, dass durch eine kleine Radius-<br />

Änderung beim Straßenbau die Chance<br />

darauf bestand, das Neuwerk nicht abreißen<br />

zu müssen. Die Fläche wäre größtenteils<br />

ohnehin als ökologische Ausgleichsfläche<br />

benutzt worden, was an<br />

dieser Stelle nur sehr bedingt Sinn gemacht<br />

hätte.<br />

Zu dieser Zeit haben wahnsinnig viele<br />

Leute ihr Können und ihre Mittel ehrenamtlich<br />

eingesetzt, um dieses Projekt zu<br />

stemmen. Es wurde eine Satzung entworfen,<br />

die Architekten haben Pläne gezeichnet,<br />

mit denen wir beim technischen<br />

Ausschuss der Stadt überzeugen<br />

konnten. Schließlich haben wir das Neuwerk<br />

gekauft. Von eigenem Geld, mit den<br />

Einlagen, die die Genossen und Genossinnen<br />

geleistet haben.<br />

Das war der erste große Kraftakt. Als<br />

wir dann gekauft hatten, stand der nächste<br />

Schritt an: die Sanierung <strong>–</strong> ein Millionenprojekt!<br />

Wenn du auf die letzten 28 Jahre<br />

Neuwerk zurückblickst? Was war für<br />

dich der entscheidende Schritt, der<br />

dieses Projekt zum Erfolg geführt<br />

hat?<br />

Ganz klar: die Entscheidung für die<br />

Rechtsform einer Genossenschaft. Weil<br />

jede Genossin und jeder Genosse in der<br />

Generalversammlung genau eine Stimme<br />

hat, unabhängig von seiner oder ihrer<br />

finanziellen Ausstattung.<br />

18 Jahre Genossenschaft, annähernd<br />

100 Akteure. Über den<br />

Erfolg haben wir geredet, aber<br />

es dürfte auch ordentlich Reiberreien<br />

gegeben haben, oder?<br />

Vergleichsweise wenig. Sicher gibt es<br />

Konflikte, aber die empfinde ich meistens<br />

als produktiv. Über die großen Fragen<br />

herrscht erstaunlich viel Einigkeit und die<br />

Details finden sich dann schon im Miteinander.<br />

Die Stimmung empfinde ich als<br />

gut und ich bin wirklich glücklich darüber,<br />

was wir hier gemeinsam geschaffen haben.<br />

Deine Rolle innerhalb des Neuwerks<br />

hat sich kontinuierlich verändert.<br />

Du warst hier erst Mieter,<br />

dann Geschäftsführer des Vereins,<br />

dann zusammen mit Christine<br />

Dehnert Vorstand der Genossenschaft.<br />

Heute bist du laut eigener


63<br />

DER GLÜCKLICHSTE HAUSMEISTER DER WELT<br />

Aussage „der glücklichste Hausmeister<br />

der Welt.“ Beim Wort<br />

Hausmeister denke ich erstmal an<br />

latent aggressive, schlecht gelaunte<br />

alte Männer. Alter und Geschlecht<br />

sind relativ, aber weder<br />

aggressiv noch schlecht gelaunt<br />

trifft auf dich zu. Was ist dein<br />

Trick?<br />

Ach, das entspricht sicher auf eine gewisse<br />

Weise meinem eher fröhlichen Naturell.<br />

Und dann bin ich natürlich auch<br />

in der luxuriösen Position, dass ich viele<br />

der Mieter des Neuwerks schon sehr<br />

lange kenne, dass ich das Gebäude und<br />

seine technischen Details sehr gut kenne<br />

und dass ich gehörig Freiheiten in der<br />

Erledigung meiner Aufgaben habe.<br />

Dschonnie, vorletztes Jahr standen<br />

wir zusammen mit Rainer Nootz<br />

im Innenhof auf einem Baugerüst<br />

und haben dem Neuwerk ein<br />

Messer durch die Fassade gerammt.<br />

Ein schönes Bild, das für mich<br />

vieles, was dich ausmacht, auf den<br />

Punkt bringt. Handwerk, Kunst,<br />

Engagement und ein bisschen<br />

Schabernack. Der Lebensweg eines<br />

Schaufenstergestalters. Du bist<br />

angekommen, oder?<br />

Ja, das sehe ich tatsächlich genau so.<br />

Gar nicht statisch, im Sinne eines Endpunkts,<br />

aber sicher so, dass ich mich<br />

immens wohl und aufgehoben fühle in<br />

dem, was ich tue. Bei der besagten Aktion<br />

ging es ja um die Installation eines Kunstwerks<br />

am Neuwerk <strong>–</strong> und zwar um ein<br />

zweieinhalb Meter langes Messer, ein sogenanntes<br />

Artefakt von Davor Ljubiĉić.<br />

Und dafür habe ich einen Teil der Fassade<br />

aufgebohrt und vorher mit Davor genau<br />

abgesprochen, in welchem Winkel das<br />

Messer in das Mauerwerk eindringen soll.<br />

Die Frage, die dieses Kunstwerk stellt, ist<br />

auf der Klinge aufgedruckt, die ins Treppenhaus<br />

des Neuwerks ragt: „Steckt das,<br />

wonach du verlangst, nicht schon längst<br />

in dir?“<br />

Letzte Frage: Auf deinem Auto<br />

stand mal „Produzentur Brand <strong>–</strong><br />

bis 2019“. Mittlerweile ist das<br />

durch Schriftsymbole ersetzt, die<br />

nicht so ohne Weiteres lesbar sind.<br />

Was passiert nach 2019? Wird<br />

weiter produzentiert werden?<br />

(lacht) Das bleibt offen. Vorerst will<br />

ich in jedem Fall noch ein Weilchen der<br />

glücklichste Hausmeister der Welt bleiben.<br />

INFO<br />

Die Kleinkunstzelle bei instagram<br />

→ instagram.com/klein.kunst.zelle.neuwerk


URZEITFISCH<br />

64<br />

Der<br />

Urzeitfisch<br />

Eigentlich hatte der Urzeitfisch zu Anfang gedacht: Es ist ja<br />

wirklich kitschig hier <strong>–</strong> aber auch pittoresk. Vor allem wenn<br />

die Wetterlage stimmte und er die Berge sah <strong>–</strong> vorausgesetzt,<br />

er tauchte auf und hob seinen schuppigen Kopf oder zumindest<br />

ein Auge aus dem Wasser <strong>–</strong> gefiel es ihm. Dann schwamm<br />

er schleunigst in Richtung Rorschach oder Bregenz, um den<br />

Bergen noch näher zu sein. Er war noch jung, was sind schon<br />

fünfhundert Jahre für einen Urzeitfisch, und bedauerte, dass<br />

er kein Amphibienurzeitwesen war. Wie gerne wäre er auf Füßen<br />

an Land geschlurft, um den Bergen noch näher zu kommen.<br />

Nachdem er irgendwie im Bodensee gelandet war, hatte er vorgehabt,<br />

ein paar Monate, vielleicht ein Jahr zu bleiben und<br />

dann schleunigst den Weg ins abenteuerliche, weltumspannende<br />

Meer anzutreten, welches selbst ein Urzeitfisch in seinem<br />

langen, nahezu unendlichen Leben nicht ergründen konnte.<br />

Aber die Jahre vergingen, wie Jahre eben immer unerklärlich<br />

und unwiederbringlich im Handumdrehen vergehen, und<br />

fast gegen seinen Willen wurde der Urzeitfisch im Bodensee<br />

immer heimischer. Als ihn die Unruhe das erste Mal heftig an<br />

der Flosse packte, schwamm er in wenigen Atemzügen wild<br />

entschlossen bis nach Basel. Dort angelangt hatte er bereits<br />

mehr als genug vom Leben im Fluss und kehrte schleunigst<br />

um. Es war einfach nicht die richtige Zeit. Er musste in der<br />

richtigen Stimmung sein, um sich auf eine längere Flussreise<br />

zu begeben. Das sagte der Urzeitfisch zu sich selbst, so wie sich<br />

alle Urzeitfische gut zureden, wenn es einmal nicht so läuft<br />

wie geplant. Beim nächsten Versuch kam er nur noch bis Stein<br />

am Rhein. Kein Wunder: Die Enge und Geschwindigkeit der<br />

Flüsse hatte er schon immer gehasst.<br />

Natürlich ist der Bodensee kein Meer. Aber mit der Zeit war<br />

dem Urzeitfisch alles so vertraut, längst hatte er seine Lieblingsplätze<br />

auserkoren. Es gab so viele bezaubernde Stellen<br />

unter Wasser, die er immer wieder aufsuchte. Und wenn ihn<br />

die Sehnsucht nach Tiefenrausch überfiel, tauchte er am Teufelstisch.<br />

Tiefer als zweihundert Meter kam er sowieso nie, dann<br />

wurde ihm regelrecht schwarz vor Augen. Er erinnerte sich,<br />

wie er, sich nach Luft und Leichtigkeit sehnend, nach einem<br />

wagemutigen Tauchgang emporschoss. Just in diesem Augenblick<br />

sprang ein Menschenpärchen splitterfasernackt ins<br />

Wasser und tobte und spritze und jubelte. Ringsum glühte die<br />

Luft, die Abendsonne spiegelte sich rubinrot im ringsum fast<br />

schon schwarzen Wasser, die Schatten der grünen Hügel mit<br />

ihren hohen Bäumen tanzten auf den Wellen. Selten hatte sich<br />

der Urzeitfisch so verzaubert gefühlt. Es war ein gigantisches<br />

Gemälde, in dem der Urzeitfisch bis spät in die Nacht seine<br />

Bahnen zog, während der Rauch eines Feuers fächerartig über<br />

dem Wasser hinweg kroch, und er fragte sich vergeblich, was<br />

er zuvor dort unten in der schaurigen, kühlen und düsteren tiefsten<br />

Tiefe eigentlich gesucht hatte.<br />

Der Urzeitfisch belauschte Generationen von ulkigen Paaren,<br />

von unternehmungslustigen Familien, von an Deck stehenden<br />

Schiffspassagieren, von streng Kurs haltenden Freizeitkapitänen.<br />

Und beim Anblick der würdevoll am Lindauer Ufer entlang<br />

Promenierenden fühlte er sich selbst stets ganz feier- und sonntäglich.<br />

So zieht der Urzeitfisch behaglich seine Bahnen in<br />

vertrauten Gewässern, und es bleibt ungewiss, ob er nochmals<br />

die vom Flusslauf des Rheins vorgegebene lange Reise Richtung<br />

Meer antritt.<br />

Damit wäre die Geschichte eigentlich zu Ende, aber es fehlt<br />

etwas und dies ist der Mensch. Natürlich blieb es nicht aus,<br />

dass der Urzeitfisch eines unglückseligen Tages von einem<br />

Menschen gesichtet wurde. Nachdem seine Existenz erst<br />

einmal bekundet war, wurde regelrecht Jagd auf ihn gemacht.<br />

Es entspann sich im Handumdrehen ein Wettbewerb zwischen<br />

Österreichern, Schweizern und Deutschen, die nach ihm<br />

suchten, und nicht wenige träumten davon, eine Wand in<br />

ihrer Wohnung mit dem Urzeitfisch, auf einem Brett fixiert, zu<br />

dekorieren.<br />

Der Urzeitfisch bemerkte allzu bald, dass die paradiesische<br />

Zeit einer sorglosen Unbekanntheit ein Ende gefunden hatte<br />

und nun auch er der Mühsal einer getriebenen Welt ausgeliefert<br />

war. Er seufzte kiementief auf und verwünschte den Tag,<br />

an dem er gesichtet worden war <strong>–</strong> aber daran war nun nichts<br />

mehr zu ändern. Es war nun wohl doch die Zeit gekommen,<br />

die langwierige Flussreise anzutreten, um in die herrliche Anonymität<br />

der sieben Weltmeere einzugehen. Dann konnten<br />

sie im Bodensee nach ihm suchen, bis sie kohlrabenschwarz<br />

wurden, auf ewig langatmige Legenden ranken oder ihn non-


65 URZEITFISCH<br />

→<br />

VIERLÄNDERPROSA<br />

TEXT — Markus Reich<br />

ILLUSTRATION — Annabelle Höpfer<br />

chalant vergessen. Schade war es nur um seine allerliebsten<br />

Bodenseemomente: Wie jenen Abend in der Dämmerung vor<br />

der Marienschlucht. Aber wiederholt werden konnte sowieso<br />

nichts <strong>–</strong> man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss <strong>–</strong> bescheuertes<br />

Sprichwort, vor allem, da der Urzeitfisch… Aber<br />

das wissen wir ja bereits.<br />

Abschied nehmen war nicht gerade seine Stärke. Deshalb<br />

schwamm er drauf los, was das Zeug hielt, sonst würde alles<br />

nur noch schwerer werden. Schon sauste er unter der alten<br />

Konstanzer Rheinbrücke hindurch, ließ sich von der Strömung<br />

mitreißen und navigierte geschickt zwischen zahlreichen<br />

Strudeln. Im ruhiger werdenden Wasserlauf jedoch wandte er<br />

den Kopf nach links und rechts, wollte so viele Eindrücke<br />

wie möglich mitnehmen, sah Lichter, hörte Gelächter und bestaunte<br />

das bunte Treiben ein letztes Mal. Der Urzeitfisch<br />

war mit seinen Gedanken überall, nur nicht bei seiner Route.<br />

Nur so ist es zu erklären, dass so ein erfahrener Fisch wie er,<br />

denn es gibt in keinem Gewässer erfahrenere Fische als Urzeitfische,<br />

in einer Reuse landete.<br />

Natürlich hatte auch der Bottighofener Fischer von dem Urzeitfisch<br />

gehört und gelesen, über ihn gesprochen und nach ihm<br />

gesucht, aber nicht im Traum daran gedacht, dass der Urzeitfisch<br />

geradewegs in seiner Reuse landen würde. Oh, ich werde<br />

auf meine alten Tage noch ein bekannter Mann, dachte der<br />

Fischer, der seit ein paar Jahren damit haderte, dass seinem Berufsstand<br />

zu wenig Beachtung geschenkt wird. Schließlich<br />

saß er seit Jahrzehnten um fünf Uhr in der Früh in seinem Boot<br />

in der nebligen Bucht und ging seinem Gewerbe nach. Wobei<br />

er sich, trotz seiner zahlreichen Klagen, auch nichts Schöneres<br />

vorstellen konnte. Und nun zappelte der Urzeitfisch vor<br />

seinen Augen. Es war unglaublich. Es war ein Geschenk des<br />

Himmels! Gerade jetzt, da er sich doch bereits damit<br />

abgefunden hatte, dass dieses Leben keine allzu großen Überraschungen<br />

mehr bereithalten würde. Jedenfalls keine, die<br />

Gutes bedeuteten. In seinem Alter war eher mit unliebsamen<br />

Veränderungen zu rechnen.<br />

Er konnte sich nun feiern lassen. Sein Bild würde in den Zeitungen,<br />

die rund um den See erschienen, abgedruckt werden.<br />

Sein Leben bekam doch noch einen erkennbaren Höhepunkt<br />

verpasst. Dennoch zögerte der Fischer. Das war ungewöhnlich,<br />

war es nun mal sein Beruf, Fische zu fangen. Aber ein verrückter<br />

Gedanke, woher auch immer, kam ihm ungebeten in<br />

den Kopf. Gerade hatte er noch gedacht, dass dieser Fang der<br />

Abschluss, der verdiente Höhepunkt seines Daseins als Fischer<br />

sei. Alles hatte doch auf diesen Moment abgezielt. Doch wenn<br />

genau das Gegenteil wahr wäre? Wenn all die Jahre auf diesen<br />

Moment abgezielt hätten, aber nicht, damit er berühmt würde,<br />

sondern damit er <strong>–</strong> er erschrak nicht wenig <strong>–</strong> dem Urzeitfisch<br />

die Freiheit schenken durfte? Hatte er nicht tausende und<br />

abertausende erfüllte Stunden auf dem See verbracht? Sollte<br />

er sein glückliches Fischerleben damit krönen, zu säen oder zu<br />

ernten? Sollte er dem See für all die glücklichen und erfüllten<br />

Jahre nicht etwas zurückgeben statt zu nehmen?<br />

Er hielt den Urzeitfisch in seinen Händen. Seine Finger zuckten.<br />

Er spürte die Verantwortung. Der Urzeitfisch lag still, versuchte<br />

sich nicht zappelnd zu befreien. Vielleicht gab dies den<br />

Ausschlag. Der Fischer dachte nicht länger darüber nach,<br />

überließ die Entscheidung seinem Gefühl und dem Gespür<br />

seiner zehn Finger, die den Urzeitfisch berührten und das<br />

Kostbare spürten. Mochten andere lachen, spotten, ihm nicht<br />

glauben oder ihn einen rührseligen Idioten nennen. Seine<br />

Finger spreizend ließ er den Fisch los. Als der Urzeitfisch ins<br />

Wasser plumpste und dem Fischer nichts blieb als aufspritzendes<br />

Wasser und eine ungenutzte Gelegenheit, war alles gut.<br />

ÜBER DEN AUTOR<br />

Markus Reich ist Autor, lebt in Konstanz,<br />

liebt den See und die Natur,<br />

ist viel unterwegs und weit gereist.<br />

Fische hat er selten in den Händen,<br />

den Stift dafür umso öfter, und so erschien<br />

2018 sein Buch „Tante Bella<br />

und die Grünpflanzenkommissarin“.


IM WUNDERWERK<br />

66<br />

Im<br />

Wunder<br />

werk


67 IM WUNDERWERK<br />

TEXT — Nicolai Eckert und Marc-Julien Heinsch<br />

FOTO — Nico Jenni<br />

→<br />

EIN MUSIKER UND SEIN<br />

INSTRUMENT IM PORTRÄT<br />

„EIN GROSSER KLANG“ heißt es in gelben Lettern auf rotem<br />

Grund über ihrem Eingangsportal. Gemeint ist der Klang jener<br />

Orgel, die Martin Weber nicht nur regelmäßig spielt, sondern<br />

auch mitentworfen hat. Es ist ein Klang, der unter die Haut<br />

geht, der Räume und Menschen in Schwingung versetzt. Einer,<br />

der alle Sinne anspricht, der einen ergreift und mitreißt.<br />

Sanft tropfen die Höhen aus den horizontalen Pfeifen, die<br />

direkt über dem Spielpult nicht zur Kirchendecke, sondern in<br />

den Raum hineinragen. Martin Webers Finger bespielen geschickt<br />

und routiniert das erste Manual. Seine Hände sind filigran<br />

und auffallend gepflegt, seine Fingernägel kurz und rundgefeilt,<br />

die umgebende Haut makellos.<br />

Helle Trompeten schrauben sich das Langhaus entlang bis<br />

in die Seitenflügel hinein und vereinigen sich zu einer wirren<br />

Melodie. Weber hebt die rechte Hand und aktiviert weitere Register,<br />

der Ton wird voller, umfangreicher und ein warmer,<br />

dunklerer Klang strömt tief aus dem Inneren der Orgel. Mit<br />

den Füßen beginnt Weber, über das Pedal zu tanzen, und was<br />

jetzt geschieht, nimmt nicht nur das Ohr, sondern der ganze<br />

Körper wahr. Mariannengrabentiefe Bässe dringen in jede Zelle<br />

Für Martin Weber sind<br />

seine Hände Werkzeuge<br />

und Medien. Ihre 54<br />

Einzelknochen, zahlreichen<br />

Gelenke, Bänder<br />

und mehr als 60 Muskeln<br />

müssen perfekt harmonieren.<br />

Erst dann erwecken<br />

sie die Orgel<br />

in St. Gebhard zum Leben<br />

und lassen die Empore<br />

über dem Narthex, der<br />

Vorhalle der Kirche an<br />

der Grenze zwischen<br />

Petershausen Ost und<br />

West, vibrieren.<br />


IM WUNDERWERK<br />

68<br />

ein. Einzelne Töne verschmelzen zu einer virtuosen Spontankomposition.<br />

Beim Improvisieren überraschten ihn seine eigenen Hände<br />

manchmal, sagt der Organist, „die Hände sind schon Werkzeuge.<br />

Aber man macht viel mehr als nur Tasten zu drücken.<br />

Ich will ja mit Ausdruck spielen. Ich will Affekte erzielen und<br />

künstlerisch etwas aussagen. Was ich denke und fühle, das<br />

sollten die Hände durchlassen.“<br />

Wenn Martin Weber spricht, kann seine Intonation die<br />

Karlsruher Herkunft nicht verleugnen. Der 40-Jährige ist seit<br />

2011 Kirchenmusiker in St. Gebhard, freier Musiker, Orgellehrer<br />

und Jazzpianist. Er hat lichtes, dunkles Haar und große<br />

braune Augen mit auffallend langen Wimpern. Mit einem<br />

Schmunzeln erinnert er sich an sein erstes richtiges Konzert als<br />

Organist. Er war 16 und die Orgel ein paar hundert Jahre alt: „Das<br />

war ganz grausam!“ Mit erst einer Handvoll Stunden Orgelunterricht<br />

sollte er bei der Christmette spielen. „Die Orgel<br />

hatte kein Pedal und nur ein Manual, und es war eiskalt in der<br />

Kapelle.“ Weber musste mit Handschuhen spielen und die Tasten<br />

klemmten immer wieder, sodass die angeschlagenen Töne<br />

einfach stehenblieben. „Da habe ich zu meinem Vater gesagt:<br />

Ich kann da nicht alleine spielen. Du musst mitkommen! Also<br />

hat mein Vater die feststeckenden Tasten ständig von unten<br />

hochgedrückt“, erinnert sich der Organist. Trotz alledem verliebte<br />

sich Martin Weber in die Königin der Instrumente, wie<br />

die Orgel wegen ihrer orchestralen Bandbreite genannt wird.<br />

An zwei der besten Musikhochschulen in Freiburg und<br />

Straßburg studierte er Kirchenmusik, Musik fürs Gymnasiallehramt<br />

und Orgel. Er spielt nicht nur Solokonzerte an besonderen<br />

Orgeln in ganz Europa, sondern ist auch selbst als Komponist<br />

tätig. In St. Gebhard spielt Weber ein ganz besonderes Exemplar.<br />

Pünktlich zum Beginn des Konziljubiläums im Juli 2014<br />

ließ er das Instrument zum ersten Mal vor großem Publikum<br />

erklingen. Daher auch ihr Name: Konzilsorgel. Ihren Bau durch<br />

den Orgelbauer Claudius Winterhalter und dessen Team hat<br />

er überwachen und anleiten dürfen, sie ist nach seinen Vorstellungen<br />

und Wünschen gebaut: ein Herzensprojekt. Weber<br />

weiß, dass er mit dieser Orgel ein Instrument mitgestaltet hat,<br />

das in seiner Form einzigartig ist.<br />

Weit über die Grenzen von Konstanz hinaus ist die Konzilsorgel<br />

bekannt. Durch ihre klangliche Vielfalt und Eigenheiten<br />

in ihrer Konstruktion <strong>–</strong> etwa ihr zweigeschossiges Schwellwerk.<br />

Ein solches ist sonst eher den Hausinstrumenten in weltbekannten<br />

Kirchen wie der Pariser Notre Dame vorbehalten. „Mit<br />

einer vielfarbigen Orgel wie dieser kannst du die feinsten Gefühlsnuancen<br />

ausdrücken“, Webers Stimme bebt vor Begeisterung,<br />

„beim Spielen fällt dir so viel ein.“ Die hohe klangliche Flexibilität<br />

der Konzilsorgel macht es Organisten möglich, auf ihr<br />

Werke von klassischen Größen ebenso wie zeitgenössische<br />

Kompositionen zu interpretieren.<br />

2009 beschädigte ein Hagelsturm die unspektakuläre Vorgängerorgel<br />

in St. Gebhard so stark, dass sie nicht länger bespiel-


69 XXXX XXXXX XXXX<br />

bar war. Eine neue konzerttaugliche Orgel musste her. Was Weber<br />

bis heute erstaunt und freut, ist die hohe Beteiligung der Konstanzer<br />

Bürgerinnen und Bürger an diesem Projekt. „Wir hatten<br />

die Vision und die richtigen Leute, die genial waren im Fundraising“,<br />

erklärt er. Mit Sebastian Vettels Formel-1-Wagen auf<br />

dem lokalen Oktoberfest, dem Sammeln von Pfandbons im<br />

Supermarkt und den sogenannten Pfeifenpatenschaften gelang<br />

es Weber und seinen Mitstreitern, den über eine Million<br />

Euro teuren Orgelbau zu finanzieren.<br />

Das Wunderwerk im Inneren der Konzilsorgel mutet kaum<br />

weniger komplex an als das Innenleben der menschlichen Hand.<br />

Hölzerne Streben überkreuzen sich zu einem verwinkelten Geäst.<br />

Dutzende Wellen aus Karbon verlaufen zwischen Elementen<br />

aus Holz. Sie sind schlank wie die Saiten einer Gitarre,<br />

jedoch stabil genug, um den Tastenanschlag des Organisten<br />

mechanisch um Kurven und bis ins zweite Stockwerk des Orgelinneren<br />

zu übertragen. Im Obergeschoss öffnen sie die Ventile<br />

der 3306 Pfeifen, aktivieren die 72 Register und erlauben dem<br />

Orgelwind im Zusammenspiel mit der Schwingung der unterschiedlichen<br />

Materialien, die Orgel erklingen zu lassen. Martin<br />

Webers Hände mögen klein sein. Der Klang, den sie in perfekter<br />

Symbiose mit der Konzilsorgel erschaffen, ist groß.<br />

ÜBER DIE AUTOREN<br />

Marcs große Helden an der Orgel<br />

heißen Keith Emerson, Jon Lord,<br />

Ray Manzarek und Joakim Svalberg.<br />

Sie spielten die Hammond-Orgel<br />

in der Blütezeit der progressiven<br />

und psychedelischen Musik oder<br />

tragen ihren charakteristischen<br />

Klang im Progressive Metal der<br />

Neuzeit weiter. Marcs erster Kontakt<br />

zur „klassischen“ Orgel fand nun<br />

auf eindrückliche Weise in der<br />

St. Gebhard-Kirche statt, wo er direkt<br />

in ihr Innenleben eintauchen durfte.<br />

Nicolai erstand vier Schallplatten<br />

der Orgelkonzerte von Johann<br />

Sebastian Bach, gespielt von Helmut<br />

Walcha für zwei Euro auf dem<br />

Konstanzer Nachtflohmarkt. Der<br />

Schnäppchenpreis lässt allerdings<br />

keine Rückschlüsse auf seine<br />

Liebe zu dem Instrument mit der<br />

monumentalen Wucht eines ganzen<br />

Orchesters zu. Die ist so ausgeprägt,<br />

dass er seine Nachbarn mit<br />

seiner riesigen Anlage gerne daran<br />

teilhaben lässt.<br />


STADTPOESIE<br />

70<br />

TEXT — Thomas Bissinger<br />

FOTO — Michael Rainer<br />

Greif<br />

maschine<br />

jeden Abend zwischen den Pfützen,<br />

vorm Automaten am Supermarkt.<br />

die Wolken hängen rosa Röcke<br />

zum Trocknen in die Scheibe.<br />

Yoshis und Bären und Pokémon,<br />

darüber die Klaue vom Kran,<br />

ein zahnloses Fangeisen, sinkt<br />

in die Dünen aus Plüsch. verfehlt.<br />

wir wollen nicht heim, können nicht<br />

kniekalt nach Haus durch den Matsch.<br />

die ersten Leuchtstoffknospen<br />

flackern in den Pfützen.<br />

2€: 2 Versuche. wortarme Stunden.<br />

wir sehen den Kran in Verrenkung,<br />

schwerfällig, sehnig und tumb,<br />

die Suffhand eines Onkels.<br />

stromzufuhr endet um acht.<br />

das letzte Wagenpfand ist geschnorrt.<br />

wir treten noch gegen die Tonnen,<br />

stampfen den Müll in die Böschung.<br />

die Meute verliert sich. es nieselt.<br />

Plüsch ist für andere Leute.<br />

ich muss noch für Mama zur Tanke<br />

und heim durch asbestene Nacht.<br />

ÜBER DEN AUTOR<br />

Thomas hat in Recherche des<br />

Gedichts verschiedene Erfahrungsberichte<br />

und Übersichtsartikel der<br />

NACOA Deutschland (Interessenvertretung<br />

für Kinder aus Suchtfamilien<br />

e.V.) gelesen. Er möchte hiermit<br />

wertschätzend auf diese wichtige<br />

Arbeit hinweisen.


71 STADTPOESIE


STADT HAND FLUSS<br />

Stadt<br />

Hand<br />

Fluss<br />

72<br />

Webersteig 3<br />

TEXT — Katharina Brenner<br />

ILLUSTRATION — Louise Krank<br />

Wer durch Konstanz<br />

und Kreuzlingen geht,<br />

begegnet vielen Fingern.<br />

Dicken und dünnen,<br />

langen und kurzen:<br />

Ein Spaziergang durch<br />

zwei Städte, die Hände<br />

im Blick.<br />

Hämmern<br />

Vor der Handwerkskammer<br />

stehen überlebensgroß zwei<br />

Männer. Der eine hält eine Axt in<br />

der Hand, der andere einen<br />

Hammer. Den Hammer hat er, nach<br />

hinten geschwungen, auf seiner<br />

Schulter abgelegt, bereit, ihn auf<br />

den Amboss fallen zu lassen.<br />

Was wäre das für ein herrlicher<br />

Krach!<br />

Torgasse im Torbogen zur Laube<br />

Schwören<br />

Zwei dunkle Wülste ragen in<br />

der Torgasse aus dem Boden.<br />

Zwei riesige Raupen, die Richtung<br />

Laube kriechen? Aus der Nähe<br />

ist eine dritte Wulst auszumachen,<br />

deutlich kleiner und mit Kuppe.<br />

Da wird klar: drei Schwurfinger<br />

Finger sind’s - wegen der Gerichte<br />

und der Staatsanwaltschaft in der<br />

Gegend.<br />

Hochheben<br />

Schrumpelig sitzen Papst und<br />

König da. Was für ein Kontrast<br />

zur Kurtisane! Aufrecht steht sie,<br />

die großen Hände ausgestreckt.<br />

Gut möglich, dass der Papst mehr<br />

wiegt; die Tiara ist größer als<br />

die Krone. Die Kurtisane lässt sich<br />

davon aber nichts anmerken. Sie<br />

hält beide Hände, Papst links, König<br />

rechts, auf gleicher Höhe.<br />

Hafen


73<br />

STADT HAND FLUSS<br />

Standhalten<br />

Das Schilf im Seeburgpark steht<br />

still, doch es muss ein starker Wind<br />

gehen. Das schulterlange Haar der<br />

Frau weht nach hinten. Sie stützt<br />

ihre rechte Hand auf die Hüfte, die<br />

linke liegt mit dem Handrücken auf<br />

dem Oberschenkel auf. Kraftvoll<br />

und ruhig zugleich wirkt diese Pose.<br />

Die Frau trotzt jedem Wind.<br />

Seeburgpark<br />

Backen<br />

Bärenstrasse 4<br />

Seeburgpark<br />

Stützen<br />

Das Mädchen sieht traurig aus.<br />

Es kniet und hat den Kopf gesenkt.<br />

Sein Oberkörper ist leicht vorgebeugt;<br />

das Gewicht lastet auf der<br />

linken Hand. Würde sie nachgeben,<br />

fiele das Mädchen kopfüber vom<br />

Sockel ins Seeburgparkgras.<br />

Eine Brezel mit goldgelben<br />

Händen begrüßt den Kunden<br />

vor dem „Knusperhüsli“. Hexe,<br />

Hänsel und Gretel sind auf<br />

den Giebel der Bäckerei an der<br />

Bärenstrasse gemalt. Im Märchen<br />

sperrt die Hexe Hänsel ein. Sie<br />

will ihn mästen und später essen.<br />

Sie fühlt an seinem Finger, ob<br />

er dicker wird. Doch Hänsel ist<br />

gewieft. Er streckt der Hexe,<br />

die schlecht sieht, ein Knöchlein<br />

hin statt seines Fingers.<br />

Entschweben<br />

Ursprünglich sollte der nackte<br />

junge Mann in einem Brunnen<br />

stehen, jetzt steht er in einem Blumenbeet<br />

im Dreispitzpark. Beide<br />

Hände hat er erhoben. Die linke auf<br />

Brusthöhe mit einer einladenden<br />

Geste, die rechte weist zum Himmel.<br />

Obwohl die Füße fest auf dem<br />

Boden stehen, wirkt es, als würde<br />

der Körper entschweben.<br />

Dreispitzpark<br />

Fließen<br />

Diese Finger sind so groß, dass sie<br />

nur von der Luft aus zu erkennen<br />

sind: die beiden Finger des Bodensees.<br />

Der Überlingersee-Finger ist lang<br />

und steif. Der andere hingegen droht<br />

abzufallen, so mager ist die Verbindung<br />

am Seerhein. Doch das Wasser<br />

fließt und fließt in den krummen<br />

Unterseefinger.<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Bodensee<br />

Katharina hat sich als Kind von<br />

allen Hexen am meisten vor der aus<br />

„Hänsel und Gretel“ gefürchtet.


VELO-JUWEL<br />

74<br />

Velo-<br />

Juwel<br />

→<br />

EIN BESUCH IN DER<br />

SAVE ME FAHRRADWERKSTATT


75<br />

VELO-JUWEL<br />

TEXT — Amanda Shala<br />

FOTO — Markus Schwer, Steffen Blomeier<br />

Rückblick: 2014/15 beschließt<br />

der gemeinnützige Verein<br />

Save me e.V., Geflüchteten mit<br />

preiswerten Fahrrädern<br />

Mobilität zu geben und aktiv<br />

bei der Reparatur miteinzubinden.<br />

Um Horst Schließer,<br />

der das Projekt zunächst<br />

alleine übernahm, bildete sich<br />

bald ein buntes Helferteam.<br />

Bis heute wurden über 1.200<br />

Räder gespendet.<br />

„Komm’ rein! Ich führ’ dich rum!“ Nach<br />

kurzem, kräftigem Händeschütteln folge<br />

ich mit schnellen Schritten Energiebündel<br />

Helmut. Wir marschieren direkt zu<br />

einem Lagerraum, in dem ungefähr ein<br />

Dutzend Velos auf den wöchentlichen Verkauf<br />

warten. „Das meiste stammt vom<br />

Fundamt. Früher sind wir durch die Dörfer<br />

getingelt. Aber da war nur Schrott<br />

dabei“, erklärt mir Helmut. Seit acht<br />

Jahren ist der ehemalige Ingenieur in<br />

Rente. Bei einem Spielabend wurde er<br />

durch einen Initiator auf Save me aufmerksam<br />

<strong>–</strong> und stieg ein. Eine Zeit lang<br />

gab es einen Mangel an Helfern, heute<br />

sieht es besser aus. Es sind vor allem<br />

Rentner, Studierende und Heimatsuchende,<br />

die hier Seite an Seite schrauben<br />

und sich austauschen. Reden steht bei<br />

Save me im Zentrum des Miteinanders.<br />

Die Mentalität von Menschen aus verschiedenen<br />

Ländern sei nämlich oft eine<br />

unterschiedliche. „Jene, die zu uns kommen,<br />

sind zuerst eher ruhig und schüchtern.<br />

Sie warten ab, gucken zu. Ihre<br />

Schwierigkeiten kriegt man so gar nicht<br />

mit. Und oft kommt die Hilfe dann zu<br />

spät.“<br />

Seit ein paar Jahren betreut Helmut zwei<br />

junge Männer afghanischer Herkunft,<br />

die bei ihrer Ankunft in Deutschland irrtümlich<br />

als Erwachsene eingestuft worden<br />

waren. Auch in ihrem Fall kam die Hilfe<br />

fast zu spät. Erst nach einem halben<br />

Jahr und einer Klage vor Gericht hatten<br />

sie den Irrtum endlich behoben. Heute<br />

machen seine zwei „klugen Jungs“ beide<br />

eine Ausbildung in Konstanz. Es schwingt<br />

Stolz in Helmuts rauer Stimme und seine<br />

Augen funkeln.<br />

Wir steuern auf das Herz der Schrauberwerkstatt<br />

zu. Männer allen Alters sind um<br />

einen wuchtigen Tisch versammelt, vor<br />

jedem thront ein reparaturbedürftiges<br />

Geschoss. „Mein Name ist Peter, und ich<br />

arbeite gerne mit unseren Freunden hier<br />

zusammen und dazu ist die Werkstatt<br />

wunderbar“, sagt Peter, auch ehemaliger<br />

Ingenieur, und legt dabei lächelnd einen<br />


VELO-JUWEL<br />

76<br />

„Nabendynamo!“, ergänzt Peter aus einer<br />

anderen Ecke der Schraubstube.<br />

Ich lasse die beiden weiterwerkeln und<br />

laufe um den Tisch herum, an dem auch<br />

Michael* an Fahrradteilen feilt. Bei einer<br />

Demo in Konstanz sprach ihn ein Freund<br />

an, ob er nicht in der Werkstatt helfen<br />

möchte, da er jetzt als Rentner Zeit übrig<br />

hat. Früher war Michael Geschäftsführer<br />

einer Firma. Seit einiger Zeit betreut er<br />

zusammen mit seiner Frau Menschen aus<br />

Eritrea. Eine Familie zum Beispiel unterstützen<br />

sie häufig bei Behördengängen.<br />

Sie wohnt zur Miete in seiner Wohnung.<br />

Kennengelernt hat er die meisten über<br />

„Verschenk’s Konstanz“, eine Social Mediagruppe,<br />

in der Menschen Dinge verschenken<br />

„anstatt sie wegzuwerfen“, betont<br />

Michael.<br />

Bernd, der einst „reiner Büroarbeiter“ war<br />

und noch immer „leidenschaftlicher Fahrradfahrer“<br />

ist, kam über eine Infoveranstaltung<br />

von Save me zur Werkstatt.<br />

„Horst, der damals hier alles leitete, sah<br />

meine rote Fahrradtasche und schluss-<br />

Arm um die Schulter von Haben, der vor<br />

drei Jahren aus Eritrea nach Deutschland<br />

kam. Seit rund drei Jahren ist Peter<br />

bei Save me aktiv. Habens Finger sind<br />

voller Öl. „Ich repariere die Bremse und,<br />

Peter, wie heißt das nochmal?“, sagt er.<br />

„Schaltzug“, antwortet dieser, „der Schaltzug<br />

war oxidiert und dadurch schwergängig.<br />

Deswegen konnte Haben die<br />

vielen Gänge, die er eigentlich hat,<br />

nicht nutzen. Aber jetzt läuft es wieder<br />

gut. Weil er alles so schön geputzt hat“,<br />

grinst Peter. Herzliches Lachen folgt.<br />

Ich frage Peter, inwiefern es ihn bereichert,<br />

hier arbeiten zu können. „Wir konnten<br />

erleben, dass schon viele Geflüchtete<br />

hauptberuflich angestellt wurden und<br />

ihr eigenes Geld verdienen. Das macht<br />

auch mir Freude. Ebenso, wenn mir jemand<br />

in der Stadt ein ‚Hallo, Peter!‘ zuruft<br />

<strong>–</strong> das gibt mir sehr viel.“<br />

Peter mahnt Haben väterlich, nicht zu<br />

viel zu putzen. Das Zahlenschloss sei<br />

schon ganz trocken. Haben erzählt, dass<br />

er im Sudan <strong>–</strong> nur eine Station auf seiner<br />

Flucht <strong>–</strong> in einer Autowerkstatt arbeitete.<br />

Dort lernte er, wie alte Autoteile, zum<br />

Beispiel Lampen, für das Fahrrad Verwendung<br />

finden können, und rostige<br />

Ketten auszutauschen. Als er in Deutschland<br />

sah, dass einfach neue Ketten gekauft<br />

wurden, war das zunächst befremdlich<br />

für ihn. In der Save me-Werkstatt<br />

fand er schließlich einen Ort, der aus<br />

Altem Neues macht sowie kostenlose<br />

Hilfestellung beim Reparieren und Warten<br />

seines Fahrrads und natürlich das passende<br />

Werkzeug. Für Haben eine wertvolle<br />

Einrichtung, da er keinen anderen<br />

Ort kennt, an dem er diese Unterstützung<br />

bekommen könnte. Und seine Lichtanlage<br />

geht häufiger mal kaputt. „Peter,<br />

wie heißt das Licht mit dem Dynamo?“


VELO-JUWEL<br />

folgerte kurzerhand, „Bernd, du kannst<br />

bestimmt schrauben. Komm doch mal zu<br />

uns.“ „Als Nicht-Techniker kann ich hier<br />

einiges lernen. Wir haben eine gute Crew.“<br />

Seit drei Wochen versucht Bernd die<br />

Schaltung seines Fahrrads in den Griff zu<br />

kriegen. Die passenden Teile fehlen, es<br />

wird improvisiert. Kreativität ist gefragt.<br />

„Mir macht das schon etwas Kopfzerbrechen.<br />

Aber irgendwie kriegen wir es<br />

immer hin.“ Und selbst wenn ein Fahrrad<br />

nicht mehr zu gebrauchen sein sollte,<br />

werden die funktionsfähigen Teile ausgebaut<br />

und wiederverwendet. Ich frage<br />

Bernd nach den häufigsten Schäden:<br />

Bremsen, Schaltung und platte Räder<br />

müssen häufig gerichtet, Schläuche ausgetauscht<br />

werden, und die Lichtanlage<br />

ist oft kaputt.<br />

Was ist das für ein Gefühl, wenn die Arbeit<br />

getan ist, frage ich Bernd. „Für mich ist<br />

das etwas besonders Spannendes, weil<br />

ich hier ein richtiges Ergebnis unserer<br />

Arbeit sehe. Das ist ein tolles Gefühl,<br />

wenn etwas funktioniert hat.“<br />

*Name geändert<br />

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ÜBER DIE AUTORIN<br />

Amanda suchte nach einem Ort, an<br />

dem Wegwerfen nicht die Norm ist.<br />

Bei Save me fand sie etwas darüber<br />

hinaus: eine starke Gemeinschaft,<br />

die Menschen mehr als nur eine helfende<br />

Hand gibt. Als Velo-Reparatur-<br />

Laie erweiterte sie nebenbei ihren<br />

Wortschatz.


DIE LETZTE/ERSTE HAUSGEBURT<br />

78<br />

Die<br />

letzte ___<br />

erste<br />

Hausgeburt<br />

Diese abstrakte Bebilderung des Artikels verdanken wir<br />

den jungen Eltern Louise und Giorgio, deren Sohn<br />

vor drei Jahren auch zu Hause zur Welt kommen durfte.


79 DIE LETZTE/ERSTE HAUSGEBURT<br />

TEXT — Veronika Fischer<br />

FOTO — Louise Krank, Giorgio Krank<br />

→<br />

ZWEI HEBAMMEN<br />

BERICHTEN<br />

Vor etwas mehr als einem<br />

Jahr kam der kleine<br />

Arthur zur Welt. Zu Hause<br />

unterm Gummibaum.<br />

Begleitet haben ihn dabei<br />

die erfahrene Hebamme<br />

Sabine Friese-Berg (62) und<br />

die Hebammenstudentin<br />

Amandine Lidy (29). Für<br />

beide Frauen war es ein<br />

besonderes Erlebnis: die<br />

erste Hausgeburt für<br />

Amandine, die letzte für<br />

Sabine.<br />

Amandines Bericht zur Hausgeburt<br />

Ich war am Ende meines Vorpraktikums bei Sabine Friese-<br />

Berg und freute mich sehr darüber, bei einer Hausgeburt<br />

dabei sein zu dürfen. In der Praxis habe ich viel traditionelle<br />

Hebammenarbeit erlebt. Ich spürte in all der Zeit, dass diese<br />

Arbeit mit meiner inneren Einstellung im Einklang war<br />

und freute mich über jede neue Situation. Die Hausgeburt<br />

war für mich die Spitze des Berggipfels und schloss somit<br />

mein Praktikum auf eine sehr schöne Weise ab.<br />

Am 20. Dezember erhalte ich um 1:38 Uhr einen Anruf von<br />

Sabine: Amandine? <strong>–</strong> Ja, Sabine? <strong>–</strong> Du kannst dich auf den Weg<br />

machen! <strong>–</strong> Ok. Ist es eilig? <strong>–</strong> Nein, du hast Zeit. Setz dich ins<br />

Taxi, die Adresse habe ich dir geschrieben. <strong>–</strong> Danke, bis gleich!<br />

Ich fahre mit dem Taxi von Kreuzlingen aus durch die Nacht.<br />

Die Fahrt geht aus der Stadt heraus, durch Wälder, vorbei an<br />

Apfelplantagen und Feldern. Irgendwo ins Nirgendwo. Dann<br />

erscheint in der Dunkelheit ein Haus, in dem das Licht brennt.<br />

Sabine öffnet mir die Tür. Gleich im Flur werde ich von einem<br />

sechsjährigen Jungen empfangen. Er ist wach, sehr gesprächig<br />

und aufgeregt, da sein Geschwisterchen nun gleich zur Welt<br />

kommen wird. Seine Mama liegt mit Wehen in der Badewanne<br />

und ihr Partner legt in der Küche Handtücher in den Backofen,<br />

damit sie warm werden. Die Atmosphäre ist entspannt <strong>–</strong> trotz<br />

der Aufregung.<br />

Ich führe mit der jungen Frau in einer Wehenpause ein kurzes<br />

Gespräch, um sie noch etwas besser kennenzulernen. Mich interessiert,<br />

wie sie die Entscheidung zur Hausgeburt getroffen<br />

und sich auf die Geburt vorbereitet hat. Dabei erzählt sie, dass<br />

sie Sabine schon seit Jahren kenne. Sie hat ihren ersten Sohn in<br />

der Klinik Radolfzell mit Sabine als Beleghebamme geboren.<br />

Diese Geburtsstation wurde geschlossen, die Möglichkeit mit<br />

einer vertrauten Hebamme ins Krankenhaus zu gehen, gibt es<br />

nun nicht mehr. Sie sagt, dass die Beziehung mit Sabine sehr<br />

vertraut sei. Sie habe auch in der aktuellen Schwangerschaft<br />

immer wieder Vorsorgekontrollen in Sabines Praxis gemacht.<br />

Für sie war klar, dass sie mit Sabine gebären möchte. Toll findet<br />


DIE LETZTE/ERSTE HAUSGEBURT<br />

80<br />

sie jetzt, in den Wehen nirgendwo hinfahren zu müssen.<br />

Es ist Ende Dezember, mitten in der Nacht und sehr kalt<br />

draußen. In der Badewanne ist es also definitiv gemütlicher.<br />

Als die Wehen schwächer werden, holt Sabine die<br />

Gebährende aus der Wanne. Auf einem Gymnastikball<br />

geht es weiter. Bald setzen die Wehen stärker ein. Der<br />

kleine Sohn wird abgeholt, die Katze legt sich in einer<br />

ruhigen Ecke zum Schlafen und das Paar auf das Sofa<br />

im Wohnzimmer. Alles ist im Schlafzimmer für die<br />

Geburt bereit, jedoch hat die Frau keine Lust, die Treppe<br />

hochzulaufen, sie fühlt sich im Hier und Jetzt genau<br />

richtig.<br />

Sabine setzt sich in einen Sessel. „Wir haben Zeit,<br />

wir müssen jetzt warten“, sagt sie. Die Gebärende ist<br />

mit sich selbst und der vorangehenden Geburt ihres<br />

Kindes beschäftigt: Mit geschlossenen Augen veratmet<br />

sie ihre starken Wehen und entspannt sich in den Pausen.<br />

Ich versuche auch, kurz die Augen zu schließen. Die<br />

Nacht ist noch lang, und am Morgen wird es mit einem<br />

Babymassage-Kurs in der Praxis weitergehen. Die Aufregung<br />

hält mich aber wach.<br />

Ich nehme ein Buch und versuche, mich damit zu<br />

beschäftigen. Schwierig finde ich, dass ich nichts tun<br />

kann. Ich staune über die Kraft der werdenden Mutter.<br />

Sabine hat alle ihre Sinne auf sie gerichtet. Sie äußert<br />

gezielte, einfache und ermutigende Sätze. Intervenieren<br />

muss sie kaum. Bewundernswert!<br />

Die Geburt geht nun voran. Die letzte Phase steht<br />

kurz bevor. So bekomme ich den Auftrag, Kaffee aufzusetzen.<br />

Zum Teil trinken wir ihn, ein wenig braucht<br />

Sabine, um Wickel zu machen. Die schonen das Gewebe,<br />

so dass die Haut nicht so leicht reißt.<br />

Sabine hat sich der Frau jetzt angenähert. Bewegungsfreiheit<br />

lässt sie ihr weiterhin, leitet sie aber gezielt, mit viel Sicherheit<br />

und Wissen und ohne Hektik an. Bald darf ich hinter ihrem Rücken<br />

sitzen und ihr mit meinen Händen Halt geben. Die letzte<br />

Phase der Geburt beginnt. Sabine bleibt sehr konzentriert<br />

und sagt mir, was zu tun ist. Ich überlege dabei nicht viel, ich funktioniere<br />

einfach. Jede hat eine Rolle <strong>–</strong> wie auf einer Theaterbühne.<br />

Jede von uns weiß, was zu tun ist. Nur fällt am Ende des Aktes<br />

der Vorhang nicht, sondern er geht auf! Arthur erblickt um<br />

6.30 Uhr das Licht der Welt. Die Freude ist unfassbar. Sabine<br />

überlässt den Eltern den Augenblick. Sie dürfen ihren Sohn<br />

als erste Menschen berühren und ihn in der Welt willkommen<br />

heißen. Es gibt niemanden, der sie in diesem Moment stört.<br />

Eine Geburt ist wie der Frühling:<br />

Ein langer Augenblick voll Wärme<br />

und Vorfreude. Wenn auch durchaus<br />

mit Schmerzen bestückt. Ein<br />

stachliges bis wohliges Keimen<br />

und Aufblühen finden wir das ganze<br />

Jahr über auch im botanischen<br />

Garten in St. Gallen.<br />

Ich bin voller Staunen. Das Zimmer ist warm, Mutter und<br />

Vater liegen auf dem Sofa, Arthur nackt auf Mamas Haut, mit<br />

warmen Tüchern zugedeckt. Das erste Kennenlernen beginnt.<br />

Es ist jetzt Zeit für Sabine und mich, uns zurückzuziehen, aufzuräumen<br />

und an der Dokumentation zu arbeiten.<br />

Meine erste Hausgeburt erlebe ich als riesiges Privileg. Ich<br />

spüre einen großen Respekt. Respekt, so nah an das Paar gekommen<br />

zu sein; Respekt vor dem größten Wunder unserer<br />

Welt; und Respekt vor der Verantwortung der Hebamme. Erst<br />

zwei Tage später realisiere ich wirklich, was ich erlebt habe.<br />

Ich bin sehr dankbar, diese Situation miterlebt zu haben. Sie<br />

gibt mir Halt und dadurch weiß ich auch, weshalb ich mich für<br />

diesen Beruf entschieden habe.


81 DIE LETZTE ERSTE HAUSGEBURT<br />

Interview mit Sabine<br />

Wie erinnerst du dich an die Geburt von Arthur?<br />

Das war entspannt, seine Mutter hat ja alles allein gemacht.<br />

Sie hatte einen guten Kontakt zu ihrem ungeborenen Kind<br />

und ihr Partner, den ich zuvor als skeptisch wahrgenommen<br />

habe, war ohne Angst, weil er gesehen hat, dass sie das alleine<br />

schafft. So ist das oft mit den Männern. Sie können sich das<br />

vorher nicht vorstellen und haben Angst. Wenn sie dann sehen,<br />

wie souverän ihre Frauen sind, werden sie ganz cool und entspannt…<br />

Deine wievielte Geburt war das denn?<br />

Ach, das kann ich gar nicht sagen. Wenn ich hochrechne,<br />

dann komme ich insgesamt vielleicht auf fünf- bis sechstausend<br />

Geburten, die ich begleitet habe. Seit 1993 biete ich hier in<br />

Konstanz Hausgeburten an. Das waren dann so ungefähr eintausend.<br />

Wie war deine erste Hausgeburt?<br />

Das war in meiner Ausbildung. Meine Lehrhebamme ließ<br />

mich viel Kontakt mit der Frau aufnehmen und alleine mit ihr<br />

sein. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich<br />

am Morgen danach zum Brötchen holen geschickt wurde. Ich<br />

stand auf der Straße und konnte es gar nicht fassen. Ich kam<br />

aus einer ganz anderen Welt und musste erst einmal wieder zurück<br />

in die Realität finden. Wenn mir heute Ärzte in der Klinik<br />

sagen, dass sie eine natürliche Geburt anstreben, denke ich<br />

immer, dass sie vielleicht gar nicht wissen, was das ist. Weil sie<br />

dieses Wunder nie erleben durften.<br />

Und warum war Arthurs Geburt<br />

deine letzte Hausgeburt?<br />

Das hat verschiedene Gründe. Die Frauen gehen meistens<br />

schon zur Feststellung der Schwangerschaft zu ihrem Gynäkologen<br />

und bleiben dann dort für die Untersuchungen. Ich<br />

erlebe eine Hysterie und Bevormundung in der heutigen Betreuung.<br />

Die Hebammenarbeit wird an den Rand gedrängt.<br />

Obwohl das ja eigentlich unser Job wäre: Die Frauen sind ja nicht<br />

krank, sondern schwanger. Es ist also schwieriger geworden,<br />

die Frauen zu begleiten. Das Hebammenwissen ist 2016 zum<br />

UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden. Es stirbt aus. Daher<br />

gebe ich jetzt Fortbildungen und Seminare, um mein langjähriges<br />

Wissen, meine vielen körperzentrierten Ausbildungen<br />

und meine wissenschaftliche Basis an Kolleginnen und Kliniken<br />

weiterzugeben. Und ich begleite weiterhin Frauen vor und<br />

nach der Geburt und setze meine Kraft für die Unterstützung<br />

der Frauen und Paare ein, damit sie ihren Weg gehen. Die Geburt<br />

ist das Herzstück der Hebammenarbeit und es ist eine<br />

Katastrophe, dass dieser Teil nicht mehr außerhalb der Klinik<br />

angeboten wird. Nur noch ein Prozent der Kinder kommen<br />

zuhause zur Welt, obwohl geklärt ist, dass es in einer gesunden<br />

Schwangerschaft genauso sicher ist wie in der Klinik. Vielleicht<br />

werde ich später wieder in die Geburtshilfe einsteigen… wer<br />


DIE LETZTE/ERSTE HAUSGEBURT<br />

82<br />

weiß! Meine Hebamme war bei der Geburt meiner Kinder auch<br />

schon über 60 Jahre alt.<br />

Warum stirbt die Hausgeburt aus?<br />

Die Ausbildung erfolgt immer an einer Klinik. Die außerklinische<br />

Geburtshilfe ist nur optional. Neu ist die Akademisierung<br />

als Studiengang mit Praxissemestern. Eine junge<br />

Hebamme hat im Extremfall einen Bachelor- oder Masterabschluss,<br />

aber nie eine außerklinische Geburt gesehen. Sie<br />

kennt also dieses Wunder nicht, das ich gerade beschrieben<br />

habe. Den Ausbildungsberuf „Hausgeburtshebamme“ gibt es<br />

nicht. Darum war es schön, dass Amandine bei Arthurs Geburt<br />

mit dabei sein konnte!<br />

Was fällt dir zum Thema Hände ein?<br />

Eine ganze Menge! Sie sind mein wichtigstes Werkzeug.<br />

Mit ihnen taste ich zum Beispiel das Kind im Bauch der Mutter<br />

ab, so kann ich die Größe und die Lage einschätzen. Das lässt<br />

sich auch mit dem Ultraschall machen, aber jetzt wurde nachgewiesen,<br />

dass die Strahlung das Kind stresst und unnötige<br />

Ultraschalluntersuchungen werden ab 2021 verboten sein. Gut<br />

ausgebildete Hände können die Technik ersetzen. Ich ertaste<br />

genau, wie ein Kind liegt und wie schwer es ist. Mit den Händen<br />

kann ich zudem Kontakt zu der Frau aufnehmen. Mit Massagen<br />

und manuellen Behandlungen kann ich die Frau stärken. Die<br />

Berührung ist in meiner Arbeit fundamental. So baut sich gegenseitiges<br />

Vertrauen auf. Auch die Hände der Frau sind für<br />

mich wichtig. An ihnen kann ich sehen, wie weit der Geburtsprozess<br />

ist. Wenn sie zum Beispiel angespannt ist und die<br />

Hände zu Fäusten ballt, dann ist es fast geschafft. Und auch<br />

die Eltern nehmen mit den Händen Kontakt zu ihrem Baby<br />

auf und begreifen es. Schon während der Schwangerschaft und<br />

dann auch nach der Geburt entsteht die Bindung von Eltern<br />

und Kind durch die Berührung <strong>–</strong> so entwickelt sich ein lebenslanges<br />

Band.<br />

Worauf kommt es bei deiner Arbeit während<br />

einer Hausgeburt am meisten an?<br />

Am wichtigsten ist es, nichts zu tun. Die Hebamme ist eine<br />

Meisterin der Zurückhaltung. Die Frau kann alles alleine, sie<br />

weiß, was für sie und ihr Kind am besten ist. Ich begleite sie<br />

dabei, lobe sie und unterstütze sie. Wenn die Frau ihre Position<br />

verändert oder eine Pause macht, ist das okay. In der Klinik<br />

kommt meist ein Wehenmittel zum Einsatz, wenn die Geburt<br />

stagniert. Dabei braucht die Frau vielleicht einfach nur eine<br />

Runde Schlaf.<br />

Warum ist es so wichtig, dass die Frau in Ruhe<br />

gebären kann? Manche Frauen sind ja sehr froh um<br />

die Versorgung in der Klinik. Eine PDA und schon<br />

hat man keine Schmerzen mehr. Oder gleich ein<br />

Kaiserschnitt, dann muss man sich nicht quälen.<br />

Warum hältst du an der traditionellen Form der<br />

Geburt fest?<br />

Es gibt Geburtsverläufe, da ist ein medizinischer Eingriff<br />

notwendig, das ist ganz klar. Aber das sind wenige Fälle. In<br />

Geburtshäusern, die von Hebammen geleitet werden, wird<br />

nicht mal ein Fünftel der Frauen in die Klinik verlegt und<br />

selbst, wenn das geschieht, gibt es nur bei wenigen einen<br />

Kaiserschnitt. Der Großteil der Frauen entbindet natürlich.<br />

Das ist aber weit entfernt von den Zahlen, die wir sonst in<br />

Deutschland haben. Jedes dritte Kind kommt mittlerweile per<br />

Kaiserschnitt zur Welt. Die natürliche Geburt ist aber ungemein<br />

wichtig für die Frauen und das gesamte System Familie.<br />

Da kommt man an eine Grenze, die man sonst nicht mehr<br />

spürt im Alltag. Und diese zu überwinden, gibt den Frauen<br />

eine Kraft, die sie im Leben mit ihren Kindern brauchen. Das ist<br />

ein Wissen, das ganz tief verankert ist: „Egal, was kommt, ich<br />

schaffe das!“<br />

Klingt nach einer Extremerfahrung …<br />

Ja genau! Und diese Erfahrung ist eine der wichtigsten<br />

Ressourcen der Frau. Gerade mache ich eine Yoga-Ausbildung,<br />

dort wird uns erklärt, was „Human Mind“ ist: ganz bei sich sein,<br />

die Tiefe spüren, im Hier und Jetzt sein, geerdet sein, sich auf<br />

die Atmung konzentrieren, Gedanken fließen lassen, auf die<br />

Intuition des Körpers hören… das alles ist die natürliche Geburt!<br />

Die Menschen suchen danach, gehen ins Yoga, zum Meditieren<br />

und machen Achtsamkeitsseminare. Aber eine natürliche Geburt<br />

ist genau DAS. Und auch die Kinder sind ganz anders. Sie<br />

kommen zur Welt und da ist Friede.<br />

INFOS HAUS-<br />

GEBURTSHEBAMMEN<br />

Region Konstanz:<br />

→ Frederike Bohl<br />

Alemannenstr. 3a, 78476 Allensbach<br />

→ Heidrun Ullmann,<br />

Untertorstrasse 20, 78315 Radolfzell<br />

Region Kreuzlingen:<br />

→ Marianne Schuppli,<br />

Fidlerstrasse 4, 8272 Ermatingen<br />

Da es nur wenige Hebammen in der<br />

Region gibt, die Beleggeburten und<br />

Hausgeburten anbieten, sollte man<br />

sich bei Interesse schon früh in der<br />

Schwangerschaft melden.


83<br />

HAUSGEBURTEN:<br />

ZAHLEN/FAKTEN<br />

→ Bis in das Jahr 1945 finden 98 Prozent der Geburten zuhause<br />

statt. Heute entbinden über 98 Prozent der Frauen in einer Klinik.<br />

Die Kaiserschnittrate liegt in Deutschland bei ca. 30 Prozent. In Ländern<br />

mit hoher Hebammenbetreuung sinkt die Rate der medizinischen<br />

Eingriffe während der Geburten.<br />

→ Das Hebammenwesen ist in seiner ursprünglichen Form als<br />

immaterielles Kulturerbe geschützt worden: „Das Expertenkomitee<br />

würdigt ihren Vorschlag als wichtiges, über einen langen Zeitraum entwickeltes<br />

Wissen im Umgang mit der Natur und dem Leben. Dass<br />

dieses Wissen und Können auch dann abrufbar und einsatzbereit sind,<br />

wenn die technische Infrastruktur der Medizin nicht verfügbar ist,<br />

überzeugt von seinem Charakter als immaterielles Kulturerbe. Die<br />

große Breite des Hebammenwissens, das sich über Geburtsvorgänge,<br />

Kindesentwicklung, Naturheilkunde, Akupressur, Massage usw. erstreckt,<br />

ist beachtlich.“ Aus der Begründung der Deutschen UNESCO<br />

Kommission vom 9. Dezember 2016<br />

VERANSTALTUNGSHINWEIS<br />

→ Öffentliche Vortragsreihe: „Hebammenkunst im Wandel. Interdisziplinäre<br />

Perspektiven auf Geburt und Geburtshilfe“, Universität<br />

Konstanz<br />

→ Im Mai 2019 veranstaltet die Universität Konstanz im Rahmen<br />

des Seminars „Hebammenkunst im Wandel“ drei öffentliche Vorträge.<br />

In den Gastvorträgen behandeln renommierte Referentinnen<br />

historische und aktuelle Aspekte der Geburtshilfe, sprechen von den<br />

schwierigen Bedingungen des Hebammenberufes in Deutschland<br />

und der gesellschaftlichen Relevanz des Themas. Außerdem werden<br />

in Kooperation mit dem Zebra Kino zweiwöchig Filme zum Thema<br />

Geburt und Geburtshilfe ausgestrahlt. Zum Auftakt wird am 23. April<br />

der Film „Die sichere Geburt“ von Carola Hauck gezeigt.<br />

→ 03. Mai 2019, 11.30 Uhr, Astoria-Saal im Kulturzentrum: „Was<br />

braucht die Gebärende? Was ist nötig für das Ungeborene? Ein<br />

Rückblick auf den Streit um die somatische Zeitlichkeit unter der<br />

Geburt“, Vortrag von Prof. Dr. Barbara Duden (Universität Hannover).<br />

→ 17. Mai 2019, 11.30 Uhr, Wolkenstein-Saal im Kulturzentrum: „Von<br />

der Hebammenkunst zur akademischen Disziplin <strong>–</strong> Zur Geschichte<br />

der Geburtshilfe im 19. Jahrhundert“, Vortrag von Prof. Dr. Marita<br />

Metz-Becker (Universität Marburg).<br />

→ 31. Mai 2019, 11.30 Uhr, Astoria-Saal im Kulturzentrum:<br />

„Hebammenwissenschaft. Transdisziplinäre Perspektiven für einen<br />

sehr alten Beruf“, Vortrag von Prof. Dr. Mechthild Groß (Medizinische<br />

Hochschule Hannover).


ROCK’N’ROLAND<br />

84<br />

Rock’n’<br />

Roland<br />

TEXT — Katharina Brenner<br />

FOTO — Manuel Fleig<br />

Roland ist stets auf Achse,<br />

steigt im Rollstuhl Treppen,<br />

spielt Basketball, fährt<br />

Wasserski. Seine Hände sind<br />

für ihn weit mehr als Hände.<br />

lernte er, wie er mit Hilfe der Rollstuhlräder<br />

und seiner Hände in vielen<br />

Situationen seine gelähmten Beine und<br />

Füße ersetzen kann. Die vorderen<br />

Räder hat er inzwischen gegen zwei<br />

Inlinerrollen ausgetauscht. „Damit<br />

geht’s schneller. Und es sieht gut aus.“<br />

Demonstrativ kippt sich Roland auf<br />

den großen Rädern nach hinten und<br />

dreht eines der kleinen vorderen, das<br />

beginnt, rot zu blinken. Einmal hat eine<br />

Kastanie das Rad blockiert und Roland<br />

aus dem Rollstuhl katapultiert. Er zeigt<br />

auf die Narbe an seinem Kinn und<br />

zuckt mit den Schultern. „Passiert.“<br />

In der Stadt ist er viel unterwegs,<br />

stets auf Achse. In manche Kneipen<br />

geht er nicht, weil es enge Kellertreppen<br />

zu den Toiletten runter geht. Aber eigentlich<br />

sei nur der Bahnhof schlimm.<br />

„Zum Glück wird der jetzt umgebaut.<br />

Ach ja, und die Hundescheiße nervt.“<br />

Was die Räder des Rollstuhls streifen,<br />

hat Roland danach an den Händen kleben.<br />

Er ist auf Tuchfühlung mit der<br />

Stadt.<br />

In Rolands Wohnzimmer in Petershausen<br />

hängt ein Bass an der Wand.<br />

Er wird von einer Skeletthand aus Plastik<br />

gehalten. Wie oft Roland in den letzten<br />

Jahren Gitarre gespielt hat, kann er an<br />

einer Hand abzählen. Früher hat er<br />

in einer Punkrockband gespielt: Bürger<br />

Würger. „Irgendwann war das zu belastend<br />

für mein Gelenk. Mein Ellbogen<br />

hat gesponnen.“<br />

Rolands Hände sind kräftig und<br />

rau. Man sieht ihnen an, dass sie viel<br />

leisten jeden Tag. Dass sie schieben,<br />

rollen, drehen und tragen. Auch Auto<br />

fährt Roland mit den Händen, dank<br />

Hebeln statt Pedalen. Auf seinen Handrücken<br />

sind kleine weiße Risse auszumachen,<br />

die Winterkälte hat ihre Spuren<br />

hinterlassen. „Eigentlich“, sagt<br />

Roland, „habe ich Hände wie ein Bauarbeiter,<br />

obwohl ich eine Tippse<br />

bin“. Er arbeitet bei den Stadtwerken<br />

Konstanz in der Verwaltung.<br />

Seit dreißig Jahren sitzt Roland im<br />

Rollstuhl. Als der lebensverändernde<br />

Unfall passierte, war er fünfzehn.<br />

Er hatte eine schwere Angina und<br />

reagierte auf das Penicillin mit einem<br />

Fiebertraum. Roland stürzte aus<br />

dem Küchenfenster, zwanzig Meter<br />

tief. „Ich hatte Glück.“ In der Reha<br />

Auch wenn er heute keinen Punkrock<br />

mehr macht, klingt Rolands Stimme<br />

tief und rau, so als hätte er erst gestern<br />

einen Auftritt gehabt, bei dem er sich<br />

stundenlang die Bürgerwürgerwut aus<br />

dem Bauch geschrien hat. Dabei war er<br />

nur mit Freunden etwas trinken. „Ich<br />

hab’ wohl ein bisschen zu viel geraucht<br />

und die Musik war laut.“ Damit die<br />

anderen ihn dann hören, muss Roland<br />

lauter reden. Sie stehen, er sitzt. Und<br />

trotzdem ist Roland sportlicher als die<br />

meisten, die auf zwei Beinen durchs<br />

Leben gehen. In seinen Schultern, Armen<br />

und Händen hat er eine Kraft, die<br />

ihn zum erfolgreichen Sportler machen.<br />

Über dem Sofa, neben dem Bass,


85<br />

ROCK’N’ROLAND<br />

der Woche spielt Roland Rollstuhlbasketball.<br />

Wasserski fährt er noch, aber<br />

ganz entspannt nur für sich. An Wettkämpfen<br />

nimmt er seit einigen Jahren<br />

nicht mehr teil, er will die Gelenke schonen.<br />

Seine Disziplin war Trick-Ski,<br />

Drehungen von 720 Grad, also zweimal<br />

um die eigene Achse. „Das geht voll<br />

in die Schultern. Und meine Schultern“,<br />

sagt Roland und klopft sich mit der<br />

rechten Hand ein paar Mal aufs linke<br />

Schulterblatt, „brauche ich.“<br />

Auch wenn er heute keinen Punkrock<br />

mehr macht, klingt Rolands Lachen<br />

tief und rau, so als hätte er erst gestern<br />

einen Auftritt gehabt.<br />

hängen etliche Medaillen. Sieben Mal<br />

war Roland Deutscher Meister im<br />

Wasserskifahren, hat an Europa- und<br />

Weltmeisterschaften teilgenommen. In<br />

seiner Wohnung hängen Fotos, die<br />

ihn auf dem Wasser zeigen. Mal saust<br />

er mit dem Mono-Ski übers Wasser,<br />

mal schwebt er darüber. Eine Hand an<br />

der Hantel, die andere in der Luft.<br />

„Das Wasser war schon immer mein<br />

Element“, sagt Roland. Als Jugendlicher,<br />

bis zum Unfall, war er aktives<br />

Mitglied im Schwimmclub.<br />

„Meine Hände sind für mich das<br />

Wichtigste“, meint er und fährt mit<br />

dem rechten Daumen in Kreisen über<br />

den linken <strong>–</strong> an der Stelle, an der der<br />

Finger in den Handrücken übergeht.<br />

Mit dem Daumensattelgelenk hat er in<br />

letzter Zeit Scherereien, „überstrapaziert.“<br />

Das findet er aber nicht weiter<br />

schlimm, das gehe vorbei. Einmal in<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Katharina achtet inzwischen in<br />

Kneipen darauf, wie rollstuhlfreundlich<br />

sie sind.


SNEAK PEEK INS LEBEN<br />

86<br />

→<br />

WIE ASTROLOGIE DIE ZUKUNFT ZU LESEN VERSUCHT<br />

„Wir sind Sternenstaub. Die Grundstoffe unseres Körpers stammen aus dem Inneren der Sterne. Über Jahrmillionen<br />

haben die kosmischen Kräfte eine Entwicklung vorangetrieben, die zu unserer Existenz hier und heute geführt hat. Wir<br />

können nur staunen, dass es so gekommen ist. Unser Dasein erweist sich als eigentlicher Glücksfall. Als Geschenk. Und<br />

als Geheimnis, das nie ganz zu ergründen ist“, beginnt der Schweizer Schriftsteller Lorenz Marti sein Buch Eine Handvoll<br />

Sternenstaub: Was das Universum über das Glück des Daseins erzählt und wandert dabei zwischen naturwissenschaftlicher<br />

Erkenntnis, Lebenskunst und Spiritualität.


87<br />

SNEAK PEEK INS LEBEN<br />

Sneak<br />

Peek ins<br />

Leben<br />

TEXT — Yasmin Auerswald<br />

ILLUSTRATION — Fabian Halder<br />

*Geprüft vom deutschen Astrologenverband (DAV)<br />

„Mama, um wieviel Uhr<br />

bin ich geboren?<br />

Möglichst genau, also<br />

auf die Minute.“<br />

„…wofür musst du das<br />

denn bitte wissen??“<br />

„Ich lasse mir heute<br />

meine Zukunft vorhersagen!“<br />

Zu wissen, was die Zukunft für uns bereit hält, welche unserer<br />

Vorhaben zum Scheitern verurteilt sind, welche Beziehungen<br />

uns glücklich machen werden <strong>–</strong> kurz, zu wissen, was das Universum<br />

mit uns vorhat, dieser Wunsch beschäftigt die Menschen<br />

schon seit Jahrtausenden. Bereits in der Antike wandten sich<br />

Ratsuchende an Seher, befragten Orakel und suchten in Opfergaben<br />

nach Hinweisen auf die Zukunft. Heute kann man bequem<br />

vom Sofa aus durch das Tageshoroskop auf Snapchat swipen<br />

oder sich online aus der Hand lesen lassen. So wie die Menschen<br />

zahlreicher Generationen vor mir bin auch ich neugierig,<br />

wohin mich mein Weg einmal führen wird. Bei meiner Recherche<br />

wird jedoch schnell klar: Der Begriff der Wahrsagerei<br />

ist mehr als schwammig. Sucht man online nach Handlesen,<br />

auch Chirologie genannt, landet man unweigerlich auf Webseiten,<br />

die sich auch mit Traumdeutung, Horoskopen und Pendeln<br />

beschäftigen. Esoterik-Shops bieten Räucherstäbchen,<br />

Astrologiebücher und Tarotkarten an. Angepriesen werden eindeutige<br />

Zukunftsvorhersagen und magische Offenbarungen.<br />

Die Grenzen zwischen den Praktiken und Lehren scheinen<br />

verschwommen.<br />

„Auch wenn in den Branchenseiten oft Astrologie, Hellseherei<br />

und Handlesen in einer Rubrik geführt werden, ist es<br />

wichtig, nicht alles in einen Topf zu werfen“, erklärt mir Elvira<br />

Grübel, geprüfte Astrologin*, die mich in ihrer Wohnung in<br />

Konstanz empfängt. Die Wohnung ist auffallend… normal. Die<br />

einzige Ausnahme sind ein paar Astrologiebücher hier und da<br />

und einige Papierseiten mit Zeichnungen, Notizen und Abbildungen<br />

<strong>–</strong> mein Horoskop, wie ich bald herausfinden werde.<br />

Was hatte ich erwartet? Einen dunklen, mit Tüchern verschleierten<br />

Raum, tief hängende Weihrauchwolken und feingliedrige,<br />


SNEAK PEEK INS LEBEN<br />

88<br />

vergoldete, sanft tickende Messinstrumente? Ein bisschen<br />

vielleicht. Offensichtlich habe auch ich mich von Vorurteilen<br />

leiten lassen. Auch die Astrologin selbst erinnert nicht an klischeehafte<br />

Darstellungen einer Wahrsagerin. Zuerst einmal<br />

macht sie mir Tee.<br />

Was genau aber macht eine Astrologin? Elvira Grübel erstellt<br />

für Ratsuchende anhand ihrer exakten Geburtsdaten <strong>–</strong><br />

Datum, Ort und genauer Zeitpunkt <strong>–</strong> individuelle Horoskope.<br />

Aus ihnen lässt sich die exakte Konstellation der Planeten zum<br />

Zeitpunkt der Geburt bestimmen und lassen sich laut der Lehre<br />

der Astrologie, persönliche Charaktereigenschaften ablesen.<br />

Entgegen meines, zugegebenermaßen nur sehr rudimentären ,<br />

Astrologiewissens stellt sich heraus, dass jeder Mensch mehr<br />

als nur die Eigenschaften eines Sternzeichens in sich trägt. Elvira<br />

Grübel beschreibt das Horoskop als „eine Bühne, auf der<br />

mehrere Schauspieler agieren, bei denen es sich um eigene<br />

Teilpersönlichkeiten handelt“. Ihre Aufgabe als astrologische<br />

Beraterin sieht sie nun darin, ihre Klienten individuelle Stärken,<br />

Schwächen und Potentiale erkennen zu lassen und in ihr Leben<br />

zu integrieren. „Ich übernehme nicht die Rolle der ‚Wissenden‘,<br />

die dem Laien vorgibt, welche Entscheidungen zu treffen<br />

sind“, stellt sie klar. „Meine Beratung baut auf einem Dialog<br />

auf, in dem ich den Klienten unterstützend begleite“.<br />

Oft wenden sich Menschen an sie, die vor großen Umbrüchen<br />

und Entscheidungen in ihrem Leben stehen. Es sind Menschen<br />

aller Altersklassen und Berufsgruppen. Vom Verkäufer bis zum<br />

Manager, von der Studentin bis zur Psychotherapeutin. Frauen<br />

machen dabei etwa drei Viertel ihrer Klienten aus. Horoskope<br />

sind heutzutage in fast allen Mainstream-Medien präsent:<br />

egal ob Frauenzeitschrift, Fernsehzeitung, Snapchat, Twitter<br />

oder Wochenblatt, überall finden sich, sorgfältig kategorisiert<br />

in Liebe, Beruf und Freizeit, Tages-, Wochen-, oder sogar Jahreshoroskope.<br />

Glauben tatsächlich so viele Menschen an die Vorhersagen?<br />

Die professionelle Astrologin räumt ein, dass diese<br />

Art der Horoskope vorrangig der Unterhaltung diene, mit<br />

seriöser Astrologie allerdings nicht viel zu tun habe.<br />

Mit was für Fragen also wenden sich Ratsuchende an die<br />

Sterne? Was offenbart mir mein Horoskop über die Zukunft?<br />

Werde ich reich? Wann und wie wird mein Leben zu Ende gehen?<br />

Die Astrologin zieht hier klare Grenzen: „Heikle Fragen<br />

wie Zeitpunkt für Eheschließung oder Wunschtermine für Kaiserschnittentbindung<br />

lehne ich generell ab. Natürlich werden<br />

auch Fragen gestellt wie: Wann treffe ich den Richtigen oder die<br />

Richtige? Da die Astrologie <strong>–</strong> wie ich sie betreibe <strong>–</strong> hierauf<br />

allerdings keine Antwort geben kann, richte ich das Gespräch<br />

eher auf das innere Suchbild eines Partners, um sich bewusst<br />

zu werden, was man beim ‚Traumpartner‘ sucht, um sich<br />

‚ganz‘ zu fühlen. Eigenschaften, die man letztendlich in sich<br />

selbst finden kann. Damit lenke ich das Gespräch in konstruktive<br />

Bahnen.“ Ich bin neugierig geworden: Wie oft die Astrologin<br />

wohl in ihre eigene Zukunft spickt? „Ich selbst schaue<br />

nicht jeden Tag in mein Horoskop, wie man das vielleicht erwarten<br />

könnte. Bei der Festlegung von wichtigen Terminen<br />

lasse ich mich hingegen schon mal leiten. Aber es ist eigentlich<br />

eher so, dass ich mir im Nachhinein das Horoskop eines<br />

bestimmten Ereignisses ansehe und die Lernaufgabe zu erkennen<br />

versuche.“<br />

Für die Besprechung meines Horoskops nimmt sich die<br />

Astrologin dann viel Zeit. Über eine Stunde lang brüten<br />

wir über dem Kosmogramm, einem Zirkel mit den 12 Sternzeichen<br />

und der Konstellation der Planeten zu meinem Geburtszeitpunkt.<br />

Farbige Linien verlaufen zwischen den Sternzeichen<br />

und Planetensymbolen, die das komplexe Zusammenspiel<br />

der Akteure beschreiben. Herauslesen kann die Astrologin<br />

nun Eigenschaften, die ich in mir trage, und solche, die noch<br />

entwicklungsfähig sind. Ein betonter Saturn beispielsweise<br />

steht für Affinität zu Struktur und Gesetzmäßigkeit, der Merkur<br />

unter anderem für Sprache und Kommunikation, aber auch für<br />

Körperausdruck, handwerkliches Geschick und Feinmotorik.<br />

Ich muss mir ein Lachen verkneifen, als die Astrologin augenzwinkernd<br />

eine „Tendenz zur Völlerei“ erwähnt und ich an meinen<br />

exorbitanten Schokoladenkonsum denke.<br />

Immer wieder, insbesondere während der Besprechung<br />

meines Horoskops mit Elvira Grübel merke ich jedoch, dass<br />

ich mich weniger mit der Wahrscheinlichkeit der getroffenen<br />

Vorhersagen oder meiner Einstellung gegenüber dem unabänderlichen<br />

Lauf des Schicksals auseinander setze, sondern<br />

vielmehr mit mir und meiner eigenen Intuition. Im Gespräch<br />

mit der Astrologin sehe ich mich gezwungen, Inventur meines<br />

eigenen Charakters zu nehmen. Kann ich mich mit den Eigenschaften,<br />

die sie, beziehungsweise die Sterne mir zuschreiben<br />

identifizieren? Halte ich mich wirklich für durchsetzungsfähig<br />

oder wäre ich nur gerne jemand, der das ist? Was kann ich tun,<br />

um zu dieser Person zu werden?<br />

Sicher, Fragen zur Selbsterkenntnis können am Ende des<br />

Tages wohl mit oder ohne Befragung von Horoskopen, Karten,<br />

Pendeln, Opfergaben und Co. erarbeitet werden. Entscheidungen<br />

sollte jeder wohl auch weiterhin selbst treffen, denn<br />

die Eigenverantwortung kann einem schlussendlich niemand<br />

abnehmen, so verlockend das Delegieren an andere auch sein<br />

mag. Doch ob man dabei <strong>–</strong> vollkommen unverbindlich <strong>–</strong> hin<br />

und wieder dem Rat des Universums lauscht, bleibt wohl jedem<br />

selbst überlassen.<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Yasmin, Sternzeichen Jungfrau, versuchte,<br />

sich ihre Zukunft aus der<br />

Hand lesen zu lassen. Nicht nur dem,<br />

was vor uns liegt, ist aber schwer<br />

auf die Schliche zu kommen, auch<br />

Handleser waren in der Region nicht<br />

aufzufinden. Weshalb sie kurzum<br />

Rat in den Sternen suchte.


89<br />

Universität<br />

ohne Konstanz<br />

ist wie See<br />

ohne Boden<br />

Universität Konstanz<br />

<strong>–</strong> Wissenschaft im Dialog mit Wirtschaft, Politik und<br />

Öffentlichkeit in Diskussionsformaten wie zum Beispiel<br />

„Grenzgänger Wissenschaft“.<br />

<strong>–</strong> Innovationsanschub für die Region durch wissenschaftlich<br />

qualifizierte Fachkräfte zum Beispiel über die jährliche<br />

Karrieremesse kontaktpunkt.<br />

<strong>–</strong> Studentisches Engagement für die Stadt zum Beispiel im<br />

Kulturleben der Stadt <strong>–</strong> und in der Mannschaft der HSG.<br />

<strong>–</strong> Größte Arbeitgeberin der Region mit 2.300 Beschäftigten.<br />

<strong>–</strong> uni.kn/gesellschaft-und-wirtschaft


ES SCHLIESST SICH DER KREIS<br />

90<br />

KONZEPT — Veronika Fischer<br />

FOTO —Niklas Spiegler<br />

Es<br />

schließt<br />

sich der<br />

Kreis<br />

→<br />

EIN LYRISCHER STREIFZUG<br />

ZUM PERFEKTEN RING<br />

Ringel, Ringel, Rosen! Schöne Aprikosen!<br />

— KINDERVERS<br />

Markgrafenstraße


91 ES SCHLIESST SICH DER KREIS<br />

Napoleonmuseum Thurgau<br />

Vor grauen Jahren lebt ein Mann im Osten,<br />

der einen Ring von unschätzbarem Wert<br />

aus lieber Hand besaß.<br />

Der Stein war ein Opal,<br />

der hundert schöne Farben spielte,<br />

und hatte die geheime Kraft,<br />

vor Gott und Menschen angenehm zu machen,<br />

wer in dieser Zuversicht ihn trug.<br />

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING<br />

Drei Ringe den Elbenkönigen hoch im Licht,<br />

Sieben den Zwergenherrschern<br />

in ihren Hallen aus Stein.<br />

Den Sterblichen, ewig dem Tode verfallen, neun,<br />

einer dem Dunklen Herrn<br />

auf dunklem Thron.<br />

DER HERR DER RINGE<br />

Napoleonmuseum Thurgau


ES SCHLIESST SICH DER KREIS<br />

92<br />

Kleinod Konstanz<br />

Und jener spricht, von Furcht beweget:<br />

„Von allem, was die Insel heget,<br />

Ist dieser Ring mein höchstes Gut.<br />

Ihn will ich den Erinnen weihen,<br />

Ob sie mein Glück mir dann verzeihen.“<br />

Und wirft das Kleinod in die Flut.<br />

FRIEDRICH SCHILLER<br />

Atelier Zobel Konstanz<br />

I fell into into the burning ring of fire<br />

And it burns burns burns burns the ring of fire the ring of fire<br />

The ring of fire.<br />

JOHNNY CASH


93<br />

AUF DER SUCHE<br />

Sie hat mir Treu versprochen,<br />

Gab mir ein’n Ring dabei, Sie hat die Treu gebrochen,<br />

Mein Ringlein sprang entzwei.<br />

JOSEPH VON EICHENDORFF<br />

BLING Konstanz


ES SCHLIESST SICH DER KREIS<br />

94<br />

BLING Konstanz<br />

Eine Werkstatt in Kreuzlingen<br />

Und ich schreib für dich ein Lied weedgetränkt umkreist<br />

uns die Musik von Green Berlin bis New Orleans<br />

verschenk ich diesen Ring bevor der Diamant am<br />

Horizont versinkt.<br />

MARSIMOTO<br />

Wenn du mich nachts in dem Benz durch die Stadt cruisen siehst<br />

Verbeuge dich vor dem King fuck mich ab und das Letzte, was du<br />

Crack-Nutte siehst ist mein goldener Ring.<br />

KOLLEGAH<br />

Haselberger Schnittblumen Insel Reichenau<br />

Before you die, you see the ring.<br />

THE RING


95 HEIRATSANTRAG RING<br />

Die Antwort sehen wir in <strong>NUN</strong>, #4.


NEWCOMER<br />

96<br />

TEXT — Florian Roth<br />

ILLUSTRATION — Isabell Schmidt-Borzel<br />

a<br />

u<br />

f<br />

s<br />

t<br />

i<br />

e<br />

g<br />

1. Nach Feierabend ein Hauch von Himalaya<br />

Klettern ist der Trendsport der letzten Jahre. Kaum eine<br />

andere Sportart scheint so zu den Freizeitbedürfnissen der<br />

urbanen Gesellschaft zu passen: Fitness nach Feierabend für<br />

den ganzen Körper, ohne Vereinsmeierei oder Muckibuden-<br />

Mief, dafür ein Hauch von Yosemite, Fontainebleau, Himalaya.<br />

Zwar meist nur an der Nachbildung einer echten Felswand,<br />

aber doch irgendwie in Verbindung zur (imaginierten) Natur.<br />

Kein Wunder, dass seit einigen Jahren landauf, landab die<br />

Kletterhallen und -türme wie Pilze aus dem Boden schießen.<br />

Vor allem das Bouldern, Klettern in Bodennähe ohne Seil,<br />

wird zunehmend zum Fitnessstudio-Ersatz. Schön unkompliziert,<br />

nicht mal einen Partner braucht es. Fast schon minimalistisch:<br />

nur Wand, Füße, Hände. Festgekrallt, volle Konzentration<br />

auf den eigenen Körper, Tetris mit Armen und Beinen.<br />

Aber auch für Kletternde auf der Suche nach sozialem Anschluss<br />

entstehen laufend neue Varianten und Angebote,<br />

vom „Kinderklettergeburtstag“ bis zum „Disco-Bouldern“.<br />

Ein Ende des Hypes ist nicht in Sicht. Im kommenden Jahr<br />

wird das Klettern erstmals olympisch <strong>–</strong> und damit die Sportart<br />

vermutlich weiteren Auftrieb bekommen. Mittlerweile<br />

gibt es in Deutschland über 500 Kletterhallen, im Sommer<br />

2019 wächst nun auch auf Konstanzer Boden eine erste<br />

kommerzielle Indoorwand empor.


97<br />

NEWCOMER<br />

→<br />

DREI JUNGINGENIEURE AUF<br />

DER SUCHE NACH DEM<br />

PERFEKTEN KLETTERGRIFF<br />

3. Entscheidung im Auto<br />

2. Das Problem<br />

Was die meisten Hobby-Huberbuam nicht wissen: Ihr<br />

wichtiges Sportgerät, der Klettergriff, ist ein Wegwerf-<br />

Produkt, hergestellt aus wenig nachhaltigem Polyester, nach<br />

wenigen Monaten abgegriffen und dann kaum sinnvoll<br />

zu recyceln. Nach Schätzungen landen deshalb allein in<br />

Deutschland jedes Jahr über eine Million Griffe im Müll.<br />

Irgendwie passt das nicht zum naturnahen Image, dachte<br />

sich Marcel Bajerke. Im Sommer 2016 begann der Maschinenbau-Student<br />

zu tüfteln. Im Labor der HTWG Konstanz<br />

experimentierte er mit unterschiedlichen Materialien, mit<br />

denen Klettergriffe haltbarer werden sollten, mit weniger<br />

giftigen Dämpfen bei der Produktion und dabei möglichst<br />

angenehm für die Hände der Sportler.<br />

In der Mittagspause schaute immer wieder sein Jugendfreund<br />

Adrian Flaig vorbei, der um die Ecke für ein lokales<br />

Startup bei der Entwicklung eines Greifarm-Roboters mitwirkte.<br />

Marcel und Adrian quatschten über dies und das,<br />

ihre unterschiedlichen Projekte, über den nächsten Ausflug<br />

an die Felsen im Donautal oder im Tessin. „Wir saßen in<br />

der Sonne auf der Mauer vor dem Labor“, erinnert sich Adrian,<br />

„und ich hatte schon die Tage zuvor gemerkt, dass Marcel<br />

irgendwas beschäftigt.“ Zwischen Sonnenstrahlen und selbstgedrehten<br />

Kippen stellte Marcel schließlich die wegweisende<br />

Frage: Ob sie sich nicht gemeinsam selbständig machen<br />

wollen, um neuartige Klettergriffe zu entwickeln, die weniger<br />

Ressourcen verschwenden und gleichzeitig Lust zum Klettern<br />

machen, hergestellt in Konstanz?<br />

Die ersten Laborversuche waren vielversprechend.<br />

Hierbei wurden Kunstharze auf Basis von Polyurethan in<br />

spezielle Silikonformen gegossen, wie sie bislang vor allem in<br />

der Prototypen-Produktion, unter anderem im Fahrzeugbau,<br />

eingesetzt wurden. Durch die Zugabe von Edelkoround und<br />

Silikaten ließ sich zudem die Haltbarkeit der Griffe erhöhen.<br />

Vielleicht könnte es ihnen tatsächlich gelingen, ein neuartiges,<br />

langlebiges Produkt ohne stinkenden Polyester zu entwickeln.<br />

Trotz dieser ersten Erfolge blieb Adrian zunächst skeptisch,<br />

wusste er doch wenig über den Markt für Klettergriffe. Klar<br />

war, dass die gängigen Herstellungsverfahren viel Handarbeit<br />

erforderten, vom Schnitzen der Muster für die Gussformen,<br />

dem sogenannten „Shapen“, bis zum Abgießen und Entformen<br />

der einzelnen Griffe. Könnte sich eine solch personalintensive<br />

Produktion je im Hochlohnland Deutschland rechnen? War<br />

nicht das Risiko zu groß, für ein solches Projekt eine feste Stelle<br />

aufzugeben?<br />

Doch die Idee hatte ihn gepackt. Er begann zu recherchieren<br />

und zu rechnen. Er fand heraus, dass heutzutage die Klettergriffe<br />

fast aller bekannter Marken aus der gleichen Fabrik in<br />

Osteuropa kommen. Über die Produktionsbedingungen<br />

erfuhr man wenig, nur, dass die Griffe billig sind, war unbestritten.<br />

Um als deutsches Unternehmen konkurrenzfähig<br />

sein zu können, müsste der Herstellungsprozess in weiten Teilen<br />

automatisiert ablaufen. Theoretisch könnte es funktionieren.<br />

Aber würde es überhaupt Nachfrage für haltbare oder gar<br />

nachhaltige Griffe geben? Um das herauszufinden, fuhren die<br />

beiden zur „Halls & Walls“, eine der größten Fachmessen<br />

der Kletterszene. Im Kofferraum mit dabei hatten sie eine Handvoll<br />

Prototypen ihrer Eigenentwicklungen. Zu ihrem Erstaunen<br />

erhielten Marcel und Adrian viel Zuspruch. Vor allem Betreiber<br />

von Kletterhallen ermutigten die beiden Newcomer, auf<br />

ihre selbstentwickelte Materialmischung zu vertrauen und<br />

auf dieser Grundlage ihre eigene Griffmarke aufzubauen. Auf<br />

der Rückfahrt fassten Marcel und Adrian den Beschluss, es<br />

zu riskieren. Marcel erinnert sich: „Wir haben einfach auf Plan A<br />

gesetzt und dachten uns, über Plan B kann man sich Gedanken<br />

machen, wenn Plan A nicht funktioniert hat“.<br />


NEWCOMER<br />

98<br />

5. Was Hände wollen<br />

4. In die Hände gespuckt<br />

Zurück in Konstanz begannen sie, ihren Entschluss in die<br />

Tat umzusetzen. Mit Unterstützung der HTWG bewarben sie<br />

sich um eine Start-up-Förderung und holten mit Philipp Ruf<br />

einen weiteren ehemaligen Studienkollegen an Bord, der das<br />

Team vor allem im Bereich Produktionsmanagement verstärken<br />

sollte. Philipp hatte nach seinem Ingenieursstudium<br />

Konstanz verlassen und arbeitete zwischenzeitlich für ein<br />

großes Industrieunternehmen im Raum Stuttgart. Doch die<br />

Chance, mit Freunden ein eigenes Unternehmen zu gründen,<br />

wollte er sich nicht entgehen lassen und zog zurück an den See.<br />

Kurze Zeit später besuchten die drei als Teil der Start-up-<br />

Förderung ein Teambuilding-Seminar. Das Trio merkte schnell,<br />

dass das nicht nötig war, ihre Chemie stimmte bereits.<br />

„Das mit Kumpels machen zu können, ist einfach das Beste,<br />

was einem passieren kann“, freut sich Marcel.<br />

Im nächsten Schritt begann die Suche nach einem passenden<br />

Firmennamen, welche sich als schwieriger herausstellte,<br />

als ursprünglich gedacht. Zu Beginn nannten sie sich „Greifbar“,<br />

mussten aber rasch feststellen, dass die gewünschte<br />

Domain bereits an eine Schwulenbar in Berlin vergeben war.<br />

Nach intensiver Suche entschieden sie sich schließlich für<br />

„Polytalon“, eine Verbindung aus dem englischen Wort für<br />

Kralle und der griechischen Vorsilbe für vielseitig. Mit einer<br />

handfesten Portion Glück fanden die drei im Frühjahr 2018<br />

ihr Forschungszuhause im Technologiezentrum Konstanz,<br />

wo sie nun oft bis in die Abendstunden an ihren Gussformen<br />

feilen und an neuen Materialmischungen tüfteln. Wenn sie<br />

dabei ein kreatives Loch haben, greifen die drei zu Gitarre,<br />

Drum-Set und anderen Musikinstrumenten, die zwischen<br />

den Maschinen, Messgeräten und Werkbänken stehen, und<br />

jammen gemeinsam.<br />

Bei einem Rundgang durch das Werkstattlabor von Polytalon<br />

zeigt sich, wie schwierig es ist, einen gut zu kletternden<br />

Griff herzustellen. Der erste Schritt, die Formgebung, braucht<br />

viel Gefühl und Erfahrung. Hierbei wird die gewünschte<br />

Form des Klettergriffs aus einem Schaumstoffklotz herausgeschnitzt.<br />

„Das Shapen ist eine hohe Kunst, da gibt es keine<br />

Norm“, erläutert Adrian. „In der Theorie ist das Ziel eine gute<br />

Ergonomie, die unterschiedliche Muskelpartien fordert und<br />

trainiert, aber ob ein Griff auch tatsächlich an der Wand<br />

funktioniert, ist nochmal etwas ganz anderes.“ Das Urmodell<br />

wird anschließend in flüssiges Silikon getaucht. Nachdem<br />

das Silikon getrocknet ist, wird das Urmodell entfernt. In das<br />

so entstandene Negativ aus Silikon wird daraufhin Kunstharz<br />

gegossen. Nach rund zehn Minuten ist das Harz gehärtet,<br />

und das Silikon wird abgezogen. Nach einem letzten Feinschliff<br />

ist der Griff schließlich fertig.<br />

In den Formen, die so hergestellt werden können, gibt es<br />

eine große Bandbreite von kugelrund bis kantig, vom blumenkohlkopfgroßen<br />

Henkel bis zum winzigen Aufleger. Der<br />

Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Entscheidend ist,<br />

dass die Hand sich daran wohlfühlt.*<br />

Nach der Form spielt die Haptik eine zentrale Rolle. Auch<br />

wenn Hallenklettern und Bouldern ihren gemeinsamen Ursprung<br />

im Felsklettern haben, dürfen die Griffe nicht so rau<br />

sein wie Naturstein. „Sonst bekommt man dann zu hören:<br />

Wenn ich mir die Finger kaputt machen will, gehe ich an den<br />

Felsen, dafür brauche ich keinen Klettergriff“, erzählt Philipp.<br />

Sind die Griffe jedoch zu glatt, zum Beispiel weil sie sich<br />

schnell abnutzen, bieten sie Händen und Füßen keinen Halt.<br />

6. Industrie in Konstanz <strong>–</strong> geht das?<br />

Auf der Suche nach dem perfekten Griff setzen Adrian,<br />

Philipp und Marcel auf enge Kooperation mit Kletterhallen<br />

der Region, wo sie ihre Neuentwicklungen in der Praxis testen.<br />

Am Kletterturm der Uni Konstanz beispielsweise müssen<br />

die Griffe nicht nur Schweiß und Kalk, sondern auch Sonne,<br />

Regen und Frost standhalten. „Ein schönes Gefühl ist das“,<br />

schwärmt Philipp, „wenn man einen eigenen gebrauchten<br />

Griff zurückbekommt und man sich vorstellt, dass da jetzt<br />

hunderte Leute schon Spaß gehabt haben.“<br />

„Eigentlich ist Konstanz für uns ein super Standort“, finden<br />

die drei, „durch die Hochschulen gibt es viele qualifizierte<br />

Nachwuchskräfte, die dem Unternehmen beim Wachsen<br />

helfen können. Leider ziehen die meisten Absolventen schnell


99<br />

KIRCHGASSE<br />

Kirchgasse Gallery<br />

XXXXX XXXX Kirchgasse XXXX 11<br />

CH<strong>–</strong>8266 Steckborn<br />

wieder weg, weil es hier kaum Industrie gibt. Dem wollen<br />

wir ein Stück weit etwas entgegensetzen.“<br />

Eine Schwierigkeit stellen die hohen Kosten am<br />

Standort Konstanz dar. Spätestens Anfang 2020 müssen<br />

die Polytalon-Jungs aus ihrer liebgewonnenen Werkstatt<br />

ausziehen, wenn das alte Technologiezentrum im Paradies<br />

abgerissen und in Petershausen auf dem Siemens-Areal neu<br />

aufgebaut wird. Zwar soll auch das neue Technologiezentrum<br />

für Konstanzer Verhältnisse günstig bleiben, die<br />

Mieten werden dennoch sicher steigen. Generell sind bezahlbare<br />

Gewerberäume Mangelware: „Wir möchten gerne<br />

in Konstanz bleiben, aber wenn vor allem Hotels gebaut<br />

werden, macht es das nicht leicht für Industrieunternehmen“,<br />

so Adrian.<br />

Im Vordergrund steht die nächsten Monate der Aufbau<br />

einer automatisierten Produktion für eine eigene Klettergriffmarke.<br />

Auch wenn sie eine gewisse Ironie nicht ganz<br />

verneinen können. „Durch die Automatisierung arbeitet<br />

der Mensch immer weniger mit den Händen und rennt<br />

dann in die Kletterhalle, um sich mal wieder auszupowern“,<br />

gibt Philipp lachend zu. Darüber hinaus suchen die Jungingenieure<br />

nach weiteren Anwendungsbereichen für ihre<br />

haltbaren Materialien. Auch wenn sie noch lange nicht am<br />

Ziel sind, haben die drei den Schritt ins Unternehmertum<br />

bislang keinen Augenblick bereut: „Das Leben ist wie eine<br />

Kletterroute, es gibt Zitterpartien und dann wieder Henkel<br />

zum Ausruhen, mal muss man beißen und dann gibt’s wieder<br />

eine Belohnung“, meint Adrian.<br />

Ulrike Ottinger<br />

Madame X <strong>–</strong> Bildnis<br />

einer absoluten<br />

Herrscherin<br />

4. Mai 2019<br />

kg<br />

*APROPOS<br />

PHANTASIE:<br />

Nach Beobachtungen<br />

einiger Hallenbetreiber<br />

klettert die menschliche<br />

Hand am liebsten an<br />

Griffen in Form von<br />

weiblichen Brüsten.<br />

ÜBER DEN AUTOR<br />

Für seinen Artikel traf sich Florian<br />

Roth über mehrere Wochen mehrmals<br />

einzeln mit Philipp, Adrian und<br />

Marcel, um deren unterschiedliche<br />

Perspektiven auf ihr gemeinsames<br />

Unternehmen zu erfahren. Die ersten<br />

Mitschnitte der Interviews gingen<br />

unglücklich bei einem Ausflug<br />

des Autors in die Berge verloren, als<br />

sein Telefon unter einem grossen<br />

Schneehaufen begraben wurde. Wer<br />

sie hören möchte, kann sich gerne<br />

melden und nach der Schneeschmelze<br />

an einer kleinen Suchexpedition<br />

im Montafon beteiligen.


TIPPS UMS ECK 100<br />

Geheimtipps gerne an:<br />

tippsumseck@nun-magazin.de<br />

Tipps ums Eck<br />

1. Filmforum Kreuzlingen und Konstanz<br />

KuK: Eine Gruppe Filmbegeisterter<br />

zeigt ehrenamtlich Dokumentarfilme,<br />

gesellschaftspolitische und historische,<br />

Klassiker und Arthousefilme.<br />

Kult-X-Kino<br />

Hafenstrasse 8, Kreuzlingen<br />

25.4., 20 Uhr: Woman at War<br />

28.4., 17 Uhr: Das stille Leuchten<br />

5.5., 17 Uhr: Ganz schön schräg<br />

9.5., 20 Uhr: Sir<br />

23.5., 20 Uhr: Shoplifters<br />

13.6., 20 Uhr: Styx<br />

Eintritt frei / Kollekte<br />

www.kult-x.ch<br />

2. kultling Festival: Kostenloses Alternativprogramm<br />

zum Seenachtsfest. Beats von<br />

rockig bis elektronisch auf der Bühne des<br />

See-Burgtheaters, Sonntags-Brunch, Familienprogramm<br />

am Nachmittag und der<br />

schönste Underground-Club am abendlichen<br />

Seeufer.<br />

Seeburgpark Kreuzlingen<br />

09.<strong>–</strong>11. August<br />

Fr. und So. freier Eintritt / Kollekte<br />

Sa. Einritt Fantastical 10 CHF<br />

www.kultling.ch/fantastical2019<br />

3. Von Kopf bis Fuss <strong>–</strong> Menschenbilder im<br />

Fokus der Sammlung Würth: Ausstellung<br />

von über 50 Künstlern als spannender<br />

Diskurs über Wandel und Konstanten des<br />

aktuellen Menschenbildes in Zeiten unerschöpflicher<br />

digitaler und chirurgischer<br />

Bearbeitungsmöglichkeiten und dem täglichen<br />

Spagat zwischen Body Mass Index<br />

und leiblichem wie seelischem Wohl.<br />

Würth Haus Rorschach<br />

Churerstrasse 10, Rorschach<br />

12. Februar 2019<strong>–</strong>21. Februar 2021<br />

April<strong>–</strong>September: tägl. 10<strong>–</strong>18 Uhr<br />

Eintritt frei<br />

www.wuerth-haus-rorschach.ch<br />

4. Hereinspaziert! Theater Konstanz präsentiert<br />

Zirkuszelt: Ein besonderes Stück<br />

Theater in Kooperation mit Familie Bügler<br />

vom Circus Salto Mortale. Das Zirkuszelt<br />

auf Klein Venedig erwacht zu buntem<br />

Leben.<br />

Theater Konstanz im Zirkuszelt<br />

VVK-Start am 19. März<br />

www.theaterkonstanz.de<br />

5. KIRCHGASSE Gallery: Im beschaulichen<br />

Steckborn lässt sich in der Kirchgasse<br />

eine erstaunliche Institution entdecken,<br />

die den Flair einer Metropole ans<br />

Seeufer bringt. Ab 4. Mai sind Fotografien<br />

des Filmes Madame-X der Konstanzer<br />

Künstlerin Ulrike Ottinger zu sehen. Ab<br />

29. Juni präsentiert der Künstler André<br />

Butzer seine Werke.<br />

KIRCHGASSE Gallery<br />

Kirchgasse 11, Steckborn<br />

Do.<strong>–</strong>Fr. 11<strong>–</strong>18 Uhr, Sa. 10<strong>–</strong>17 Uhr<br />

www.kirchgasse.com<br />

6. Alpaka Yoga-Stunde: Alpakas strahlen<br />

Ruhe aus während sie sich unter die<br />

Teilnehmer mischen und verstärken so<br />

die entspannende Wirkung des Yogas.<br />

20 CHF inkl. Tee.<br />

Alpaka-Wanderung: In Begleitung von<br />

vier neugierigen Alpaks von Güttingen<br />

aus ca. 1,5 Stunden am Bodensee entlang<br />

Richtung Moosburg. 35 CHF pro<br />

Person inkl. Stärkung in mongolischer<br />

Jurte.<br />

Alpaka Yoga und Wanderungen<br />

Weide vor dem Restaurant Sokrates<br />

Im Park 5, Güttingen<br />

Termine online<br />

www.alpaka-zauber.com<br />

7. Ausstellung eines Töpfer-Lyrikers: Ungewöhnliche<br />

Kunst von Tonwerk bis Lyrik<br />

erschafft der 80-jährige Klaus Rothe. Seine<br />

offene Werkstatt in der Schiffgasse 22 in<br />

Ermatingen lädt jeden Sa. 13<strong>–</strong>17 Uhr zu<br />

Austausch und Inspiration ein.<br />

Töpferkunst und Kurzgeschichten<br />

Bahnhof Ermatingen<br />

6. April<strong>–</strong>18. Mai<br />

Mo.<strong>–</strong>Fr. 9<strong>–</strong>19 Uhr, Sa.<strong>–</strong>So. 9<strong>–</strong>18 Uhr<br />

So. 16 Uhr: Kurzgeschichten-Lesung<br />

keramikklausrothe.blogspot.com<br />

8. Fliegende Vielfalt kennenlernen: Kleine<br />

Entdeckungsreise von Kreuzlingen bis<br />

zur Reichenau. Eine Naturkennerin des<br />

NABU-Naturschutzzentrums Wollmatinger<br />

Ried begleitet die Rundfahrt mit<br />

allerhand Fachwissen zur Vogelwelt.<br />

Vogelschau-Schifffahrt<br />

Hafenareal Kreuzlingen, Seestrasse 47<br />

7. / 14. / 21. und 28. Mai, jeweils 9 Uhr<br />

9,50 CHF inkl. Leih-Fernglas<br />

9. Die Vielfalt der Kulturen unserer Erde:<br />

Feiert das Festival Afro-Pfingsten mit<br />

Sounds und Begegnungen. Musikgenuss<br />

von traditionell afrikanischen Klängen<br />

bis zu groovigem jamaikanischem Reggae.<br />

Festival Afro-Pfingsten<br />

Grosse Reithalle<br />

Gärtnerstrasse 18, Winterthur<br />

4<strong>–</strong>10. Juni<br />

www.afro-pfingsten.ch<br />

10. Kaffee und Kooperationen:<br />

Ein Zusammentreffen unter Gestaltern,<br />

Bastlern, Machern zwischen alten und<br />

neuen Handwerks-Techniken von 3D<br />

Scan und Druck über CNC Drechselwerk<br />

und Musik bis Musikproduktion.<br />

Seebardt Atlier und Werkstatt<br />

Obere Laube 55, Konstanz<br />

12.5., 9.6. und 14.7., ab 14.30 Uhr<br />

für Getränke wird gesorgt<br />

www.seebardt.de


101<br />

TIPPS UMS ECK<br />

Konstanz<br />

Wollmatinger Straße<br />

Oberlohnstraße<br />

Reichenaustraße<br />

Schänzlebrücke<br />

Rhein<br />

Mainaustraße<br />

Seerhein<br />

Europastraße<br />

Grenzbachstraße<br />

Reichenaustraße<br />

Theodor-Heuss-Straße<br />

Fahrradbrücke<br />

10<br />

Obere Laube Untere Laube<br />

Rheinbrücke<br />

4<br />

Bodensee<br />

TIPPS — Gesamte Redaktion<br />

LANDKARTE — Isabell Schmidt-Borzel<br />

5<br />

7<br />

Kreuzlinger Str.<br />

Unterseestrasse<br />

Kreuzlingen<br />

Tägerwilerstrasse<br />

Konstanzertrasse<br />

9<br />

Bahnhofstrasse<br />

Hauptstrasse<br />

8<br />

1<br />

Egelseestrasse<br />

Hauptstrasse<br />

Hafenstrasse<br />

2<br />

Seetalstrasse<br />

3<br />

6


TOLLE MENSCHEN<br />

102<br />

D a n k e<br />

Alexander Reb Text. Amanda Shala Text.<br />

Andrea Ringli Illustration. Annabelle Höpfer<br />

Herausgeberin und Art Direktion. Alex<br />

Wucherer Illustration. Anja Mai Fotografie.<br />

Carolin Weigele Redaktionelle Unterstützung.<br />

Christine Zureich Text. Ella Fiebig Fotografie.<br />

Fabian Halder Illustration. Florian Roth Text.<br />

Franziska Schramm Text. Giorgio Krank<br />

Fotografie. Heike Meyer Text, Lektorat und Korrektur.<br />

Ines Njers Fotografie. Isabell Schmidt-Borzel<br />

Illustration. Julia Stepper Fotografie. Katharina<br />

Brenner Text. Kathrin Rochow Akquise,<br />

Versand Gönnerabos. Louise Krank Praktikantin,<br />

Fotografie und Illustration. Mandy Krüger Text.<br />

Manuel Fleig Fotografie. Manuel Güntert Text.


103 TOLLE STADT<br />

Marc-Julien Heinsch Text. Markus Reich Text.<br />

Markus Schwer Fotografie. Mika Jaoud<br />

Fotografie. Michael Reiner Fotografie. Miriam<br />

Stepper Herausgeberin und Social Media. Nicolai<br />

Eckert Text. Nico Jenni Fotografie. Niklas<br />

Spiegler Fotografie. Simone Warta Korrektorat.<br />

Stadt Kreuzlingen Partnerschaft und Support. Stadt<br />

Konstanz Partnerschaft und Support. Steffen<br />

Blomeier Fotografie. Tom Hegen Fotografie.<br />

Thomas Bissinger Text. Tomasz Robak Vertonung.<br />

Torben Nuding Text. Veronika Fischer Text.<br />

Viktoria Cichon Coverillustration. Yasmin<br />

Auerswald Text.<br />

Wir danken allen, die uns Fachwissen und Leidenschaft geschenkt haben, für Greifbares und Unbegreifliches<br />

und ungebremste Unterstützung. Wir danken unseren Anzeigenkunden, die Teil der Geschichten der Stadt sind<br />

und vor allem allen, die das <strong>NUN</strong>, lesen, darin schmökern, es teilen und ihren Nachbarn schenken.<br />

Auch für zahlreiche Mails, Briefe, Online-Bewertungen, Einladungen und Besucher, die uns erreicht haben,<br />

möchten wir uns von Herzen bedanken. Ihr seid alle ein Stückchen <strong>NUN</strong>,.


IMPRESSUM<br />

104<br />

<strong>NUN</strong>, Magazin<br />

Ausgabe 3/Frühling 2019<br />

Druck:<br />

Druckhaus Müller, Langenargen<br />

Herausgeber & Redaktion:<br />

Annabelle Höpfer, Miriam Stepper<br />

Art Direktion, Layout:<br />

Annabelle Höpfer<br />

Reinzeichnung:<br />

Isabell Schmidt-Borzel<br />

Autoren:<br />

Alexander Reb, Amanda Shala, Christine Zureich<br />

Florian Roth, Franziska Schramm, Heike Meyer,<br />

Katharina Brenner, Mandy Krüger, Manuel Güntert,<br />

Marc-Julien Heinsch, Markus Reich, Nicolai<br />

Eckert, Thomas Bissinger, Tomasz Robak, Torben<br />

Nuding, Veronika Fischer, Yasmin Auerswald<br />

Fotografen & Illustratoren:<br />

Andrea Ringli, Anja Mai, Ella Fiebig, Fabian<br />

Halder, Giorgio Krank, Ines Njers, Isabell<br />

Schmidt-Borzel, Julia Stepper, Louise Krank,<br />

Manuel Fleig, Markus Schwer, Mika Jaoud,<br />

Michael Reiner, Nico Jenni, Niklas Spiegler,<br />

Steffen Blomeier, Tom Hegen<br />

Titelmotiv:<br />

Viktoria Cichon<br />

Handillustrationen S. 4:<br />

Alex Wucherer<br />

Foto Editorial:<br />

Julia Stepper<br />

Korrektorat:<br />

Heike Meyer, Simone Warta<br />

Anzeigenakquise:<br />

Kathrin Rochow<br />

Papier:<br />

Papier Inhalt: 100 g/m² h`frei weiß Maxi Offset<br />

Papier Umschlag: 250 g/m² h`frei weiß Maxi Offset<br />

Schriften:<br />

Practice (Optimo), Moderat (Tighttype)<br />

Auflage:<br />

3.000 Stück<br />

Copyright:<br />

Alle enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich<br />

geschützt. Ein Nachdruck der Texte und Fotos<br />

des <strong>NUN</strong>, Magazins <strong>–</strong> auch im Internet <strong>–</strong> ist nur mit<br />

schriftlicher Genehmigung der Herausgeber<br />

gestattet. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen<br />

Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung der<br />

Herausgeber strafbar.<br />

Gönnerabo:<br />

Du findest <strong>NUN</strong>, wertvoll und möchtest etwas<br />

zurückgeben? Unter www.nun-magazin.de/goenner<br />

kannst du ein Gönnerabo erwerben.<br />

Anzeigenanfragen:<br />

-> anzeigen@nun-magazin.de<br />

Kontakt:<br />

<strong>NUN</strong>, GbR<br />

Annabelle Höpfer und Miriam Stepper<br />

Brauneggerstr. 34a<br />

D<strong>–</strong>78462 Konstanz<br />

www.nun-magazin.de/ch<br />

-> mail@nun-magazin.de<br />

<strong>NUN</strong>, #4 erscheint im Spätsommer 2019 unter dem<br />

Titelthema Grüne Luft und widmet sich der Vielfalt<br />

und Energie unserer natürlichen Umgebung.<br />

<strong>NUN</strong>, wird gefördert von:<br />

Die Stadt Kreuzlingen und das Kulturamt Konstanz sind Partner<br />

von <strong>NUN</strong>, und unterstützen somit die Interreg-Förderung.


Das Beste<br />

kommt zum<br />

Schluss:<br />

Freie Stellen<br />

bei ines.<br />

Wir sind der Marktführer für Klinik-Informationssysteme für das<br />

Schweizer Gesundheitswesen, unseren Sitz haben wir hier in Konstanz.<br />

Als offenes, innovatives Unternehmen bieten wir attraktive Arbeitsbedingungen,<br />

ein hochmodernes Umfeld und ein entspanntes Arbeitsklima.<br />

Bist du bereit, dich für uns ins Zeug zu legen?<br />

Mehr Einblick und Informationen findest du auf:<br />

www.arbeitenbeiines.de<br />

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MO<strong>–</strong>DO 11:00<strong>–</strong>23:00<br />

FR<strong>–</strong>SA 10:00<strong>–</strong>00:00<br />

SO 10:00<strong>–</strong>23:00<br />

BODANSTRASSE 41<br />

KONSTANZ

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