CMS-Magazin RADAR Nr. 10 April 2020
Die Gletscher schmelzen, die Bäume sterben, der Meeresspiegel steigt, die Erderwärmung nimmt zu: Der Klimawandel bewegt die Menschen. Er treibt manche auf die Strasse, die Stimmberechtigten wählen immer häufiger grüne Parteien, und der Basler Grosse Rat sah sich sogar veranlasst, den Klimanotstand auszurufen. Statt kühlen Kopf zu bewahren, sind die Diskussionen um das Klima und die zu ergreifenden Massnahmen fundamental und oft emotional. Manch einer mag schon gar nichts mehr davon hören. Und jetzt widmet auch noch die Christoph Merian Stiftung (CMS) ihre neueste RADAR-Ausgabe dem Thema Nachhaltigkeit … Warum? Ganz egal, ob man in der Klimadiskussion einen Hype sieht oder ein endlich erlangtes Bewusstsein für den Zustand unserer Welt, die Frage bleibt: Was bedeutet der Klimawandel für eine Stiftung wie die CMS? Was kann sie tun? Was muss sie tun? Was tut sie bereits? Die Antworten darauf sind vielfältig. Davon handelt das vorliegende RADAR, das nicht auf die soziale oder ökonomische, sondern eben auf die ökologische Nachhaltigkeit fokussiert.
Die Gletscher schmelzen, die Bäume sterben, der Meeresspiegel steigt, die Erderwärmung nimmt zu: Der Klimawandel bewegt die Menschen. Er treibt manche auf die Strasse, die Stimmberechtigten wählen immer häufiger grüne Parteien, und der Basler Grosse Rat sah sich sogar veranlasst, den Klimanotstand auszurufen. Statt kühlen Kopf zu bewahren, sind die Diskussionen um das Klima und die zu ergreifenden Massnahmen fundamental und oft emotional. Manch einer mag schon gar nichts mehr davon hören. Und jetzt widmet auch noch die Christoph Merian Stiftung (CMS) ihre neueste RADAR-Ausgabe dem Thema Nachhaltigkeit … Warum? Ganz egal, ob man in der Klimadiskussion einen Hype sieht oder ein endlich erlangtes Bewusstsein für den Zustand unserer Welt, die Frage bleibt: Was bedeutet der Klimawandel für eine Stiftung wie die CMS? Was kann sie tun? Was muss sie tun? Was tut sie bereits? Die Antworten darauf sind vielfältig. Davon handelt das vorliegende RADAR, das nicht auf die soziale oder ökonomische, sondern eben auf die ökologische Nachhaltigkeit fokussiert.
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Das Magazin der Christoph Merian Stiftung
Im Kleinen Grosses bewirken
Wie nachhaltig ist die CMS?
Nr. 10
Editorial
Inhalt
Ökologie
versus
Ökonomie
Liebe Leserin, lieber Leser
Die Gletscher schmelzen, die Bäume sterben, der Meeresspiegel
steigt, die Erderwärmung nimmt zu: Der Klimawandel bewegt die
Menschen. Er treibt manche auf die Strasse, die Stimmberechtigten
wählen immer häufiger grüne Parteien, und der Basler Grosse Rat
sah sich sogar veranlasst, den Klimanotstand auszurufen. Statt
kühlen Kopf zu bewahren, sind die Diskussionen um das Klima und
die zu ergreifenden Massnahmen fundamental und oft emotional.
Manch einer mag schon gar nichts mehr davon hören. Und jetzt
widmet auch noch die Christoph Merian Stiftung (CMS) ihre neueste
RADAR-Ausgabe dem Thema Nachhaltigkeit … Warum? Ganz
egal, ob man in der Klimadiskussion einen Hype sieht oder ein
endlich erlangtes Bewusstsein für den Zustand unserer Welt, die
Frage bleibt: Was bedeutet der Klimawandel für eine Stiftung wie
die CMS? Was kann sie tun? Was muss sie tun? Was tut sie bereits?
Die Antworten darauf sind vielfältig. Davon handelt das vorliegende
RADAR, das nicht auf die soziale oder ökonomische, sondern
eben auf die ökologische Nachhaltigkeit fokussiert.
Klar ist: Die CMS setzt sich seit Jahren aus Überzeugung stark
für ökologische Themen ein und verfolgt eine auf Nachhaltigkeit
ausgerichtete Strategie. Sie bewirtschaftet ihre landwirtschaftlichen
Pachtbetriebe, die Merian Gärten und den Landschaftspark
Gellertgut seit Langem biologisch nach den strengen ökologischen
Vorgaben von Bio Suisse (Knospe-Label). Sie engagiert sich mit Projekten
für mehr Biodiversität im städtischen Siedlungsgebiet. Sie
unterstützt zahlreiche kleinere und grössere Initiativen in der Region,
die nachhaltiges Wirtschaften und Leben fördern und etablieren
wollen, zum Beispiel den Impact Hub Basel. Sie vernetzt sich
mit Forschungsprojekten und schafft mit der Mitfinanzierung von
Studien Entscheidungsgrundlagen für künftige Massnahmen im
Bereich Biodiversität. Und sie hat sich auch beim Ausbau ihres
Hauptsitzes für nachhaltiges Bauen entschieden.
Doch zufrieden zurücklehnen dürfen wir uns noch lange nicht.
Was tun wir in unseren eigenen Immobilien, wie bewirtschaften
wir den Wald, wie organisieren wir unsere Mobilität? Wie viel wollen
wir in nachhaltige Lösungen investieren? Wie viel können wir
investieren? Das ist ein ständiges Abwägen. Wir sind uns unserer
Verantwortung bewusst. In diesem RADAR geben wir Ihnen einen
Einblick in unsere Bestrebungen – und auch in die Dilemmata, in
denen wir bei solchen Entscheiden stecken. Wir wünschen Ihnen
eine anregende Lektüre.
Dr. Lukas Faesch
Präsident der Kommission der Christoph Merian Stiftung
Carte blanche für Jan Bachmann
Für die zehnte Ausgabe des Stiftungsmagazins
hat die CMS den Basler Comiczeichner und freien
Gestalter Jan Bachmann mit der Illustration beauftragt.
Sie liess dem Künstler dabei freie Hand.
In Bild und Wort zeigt Bachmann im ersten Bund
seine Sicht auf die Welt und ihren ökologischen
Zustand. Er weist auf Ungereimtheiten und
Widersprüche hin — mal bitterernst, mal augenzwinkernd.
Jan Bachmann (geboren 1986) ist in
Basel aufgewachsen und studierte an der Deutschen
Film- und Fernsehakademie in Berlin. 2017
war Bachmann mit einem Stipendium von Atelier
Mondial in Kairo. Im selben Jahr gewann er den
Comic-Förderpreis der Schweizer Städte. Sein
jüngstes Werk «Der Berg der nackten Wahrheiten»
erschien am 1. Oktober 2019 im Schweizer
Comic-Verlag Edition Moderne.
4 Für eine enkelgerechte
Zukunft
Gedanken zur Nachhaltigkeit
6 Nachhaltig bewirtschaften,
aber wie?
- Gutsbetrieb Schlatthof
- Merian Gärten
- Waldbesitz im Jura
10 Mehr Ökologie in Basel
und Umgebung
Von der CMS unterstützte
Förderprojekte
13 Dreispitz entdecken
Geschichte vor Ort erleben
14 Steuerschulden bis zum Hals
Praxisstudie der Hochschule
für Soziale Arbeit FHNW
16 Einblicke
Aktuelles aus den Institutionen
der CMS
2
Im Dilemma
Nachhaltig
für die
Nachkommenden
Nachhaltigkeit, nachhaltiges Denken und Handeln
gehören zu den Kernaufgaben der Christoph Merian
Stiftung (CMS). Und dies nicht erst seit gestern, sondern
seit 1857. «Mein Wille ist es, dass das Capital
ganz erhalten werde, und nur die Zinsen und der
Ertrag der Güter für wohltätige und nützliche städtische
Zwecke jährlich verwendet werden sollen
[...].» Mit diesem Satz in seinem Testament verpflichtete
Christoph Merian die Verantwortlichen
seiner Stiftung zu einer nachhaltigen Bewirtschaftung
des Stiftungsvermögens. Dahinter stand sein
Wunsch, «dass diese Stiftung auch noch spätern
Generationen durch Gottes Segen und die Einsicht
der Behörden zum Nutzen und Frommen dienen
möge». In diesem ebenso ökonomischen wie philanthropischen
Kontext bedeutet «nachhaltig»,
das Vermögen im Sinne eines auf ewig angelegten
Stiftungszwecks zu erhalten und darüber hinaus
mit Blick auf die Inflation auch zu mehren.
Christoph Merian hat sich aber nicht nur zur
Nachhaltigkeit bei der Vermögensbewirtschaftung
geäussert, sondern sich auch mit Weitblick für eine
nachhaltig wirkende Förderung ausgesprochen:
Zukunftsoffen enthielt er sich einer einengenden
Zweckbestimmung, um eine «bessere und zeitgemässere
Verwendung der Mittel» nicht zu vereiteln.
Bloss, was bedeutet Nachhaltigkeit heute, wo der Begriff
inflationär verwendet und damit oft verwässert und
weichgespült wird? Und wie soll sich eine Stiftung wie
die CMS konkret nachhaltig verhalten? Wie kann sie sich
in der Klimadiskussion engagieren, wie in ihrem Handeln
vorbildlich sein? Welchen Beitrag kann sie zum Schutz
der Umwelt leisten?
Hier beispielhaft ein paar wenige Fragen, wie sie sich für
uns im Alltag stellen:
• Wie gross ist eigentlich der CO 2 -Ausstoss der CMS-
Immobilien? Wie kann dieser technisch verringert
werden? Wie kann die Reduktion finanziert werden,
ohne dass die Erträge darunter leiden?
• Wie verhält es sich mit der Mobilität? Soll die Stiftung
konsequent auf elektrische Fahrzeuge setzen? Kann
sie mit Fördermitteln ein Benzinauto einer Behindertenorganisation
finanzieren oder müsste sie nicht
darauf bestehen, dass die Partnerorganisation ein
Elektroauto anschafft?
• Wie gehen wir mit Pächtern landwirtschaftlicher
Flächen um? Die Gutsbetriebe der Stiftung werden
allesamt mit dem Knospe-Label biologisch bewirtschaftet.
Können oder müssen wir dies nicht auch von
Dritten verlangen?
• Dürfen wir nach Kopenhagen fliegen, um uns Beispiele
von sozialem Wohnungsbau anzuschauen?
• Wie sollen wir unsere Wälder im Sinne der Nachhaltigkeit
bewirtschaften?
• Welche nachhaltigen Kriterien wenden wir bei den
Finanzanlagen an? Kann man, soll man zum Beispiel
in Nestlé-Aktien investieren? Welches Nachhaltigkeitsprodukt
welcher Bank kann garantieren, dass es nur in
Firmen investiert, die rundum nachhaltig sind? Und
was würde dies für die Renditeerwartung bedeuten?
• Wie können wir leben, was wir postulieren?
Die Liste der offenen Fragen könnte leicht verlängert
werden. Aber schon die wenigen Beispiele führen mitten
ins Dilemma der CMS: Wie kann der Spagat zwischen
klimaneutralem, nachhaltigem Verhalten und einer im
Dienst der Philanthropie stehenden Vermögensbewirtschaftung
gelingen? Um es vorwegzunehmen, wir haben
kein Patentrezept. Aber wir haben einen Prozess gestartet,
um nicht nur unser Denken, sondern vor allem unser
Handeln auf Nachhaltigkeit einzustellen. Gemeinsam mit
einer externen Beratungsfirma untersuchen wir in den
drei Bereichen Vermögensbewirtschaftung, Förderung
und Dienste die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und
ökologischen Dimensionen der Nachhaltigkeit. Daraus
leiten wir jeweils Aussagen zu folgenden Themengruppen
ab: sozialer Zusammenhalt, Diversität, Zielgruppen,
Wirtschaftlichkeit, Kosten und Lebenszyklus, Vermögensbewirtschaftung,
Energie und Klima, Ressourcen und
Umwelt, Natur und Kulturgut. Aus diesen Themengruppen
wiederum ergeben sich konkrete Themen und detailliertere
Unterthemen. Zu jedem dieser Unterthemen
wird ein internes Steuerungsinstrument (Leitbild, Strategie,
Qualitätsmanagement, Beschaffungsgrundlagen,
Energiekonzept, Umweltkonzept) bezeichnet, in dem
Aussagen respektive Verhaltensregeln festgehalten sind.
Das klingt nun sehr abstrakt. Was es konkret bedeutet,
verdeutlicht das folgende Beispiel:
Die CMS hat 2017 ihren Hauptsitz an die St. Alban-Vorstadt
12 verlegt und das historische Vorderhaus bezogen.
Das Hinterhaus, in dem sich bis vor Kurzem die Schulzahnklinik
befand, soll nun für die Stiftung hergerichtet
werden. In Anwendung der Nachhaltigkeitsstrategie
wurde zunächst geprüft, ob der Bau mit vertretbarem
Aufwand saniert werden kann oder abgebrochen werden
muss. Unter Abwägung aller Faktoren entschloss sich die
CMS für einen Neubau, und zwar einen Neubau unter
Verwendung von Buchenholz. Als grosse Waldbesitzerin
4
Im Dilemma
hat sich die CMS bei Fagus Suisse beteiligt, einem Unternehmen,
das den nachwachsenden Rohstoff Buche als
Baustoff fördern möchte. Die CMS wollte konsequent
sein und errichtet nun einen Holzbau mit maximalem
Holzeinsatz von Buche für die Tragkonstruktion sowie
von Fichte und Lärche für die Fassade und den Innenraum.
Als Energiequellen dienen die Fernheizung und
eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach. Nachhaltiges
Planen geht aber noch weiter: Materialien werden auf
ihre Herkunft geprüft, auf ihre graue Energie bei der
Herstellung, auf ihre Lebensdauer und ihre dereinstige
Entsorgung.
Genau dies soll unser Nachhaltigkeitskonzept ermöglichen:
eine bewusste Abwägung zwischen der rein
finanziellen Betrachtung einer Investition einerseits und
einer nachhaltigen Klima- und Umweltverträglichkeit
andererseits. Manchmal wird der Entscheid eher für die
kostengünstigere statt die maximal nachhaltige Variante
ausfallen, aber dem Entscheid geht immer eine
fundierte Prüfung und zu begründende Evaluation voraus.
Die Kunst wird sein, den Aufwand für die bewusste
Entscheidungsfindung unbürokratisch und effizient zu
gestalten.
Im Vordergrund der Anstrengungen für die Nachhaltigkeit
steht unser Liegenschaftenportfolio. Hier haben wir die
grösste Hebelwirkung. Aber auch bei den Finanzanlagen
werden wir uns verstärkt mit dem Nachhaltigkeitsaspekt
auseinandersetzen. Wir sind überzeugt, dass nachhaltige
Finanzanlagen langfristig sinnvoll sind.
Sie sehen: Nachhaltigkeit beschäftigt uns intensiv. Und
das nicht nur auf der vermögensbewirtschaftenden Seite,
sondern auch in der Förderung. Aus diesem Grund haben
wir bereits vor drei Jahren unter dem Titel «Lebensraum
Stadt» einen interdisziplinären Förderbereich geschaffen.
Er befasst sich vor allem mit dem Thema «Nachhaltige
Entwicklung», wobei der Gleisbogen im Dreispitz eine
ideale Plattform für verschiedenste Projekte sein wird. Aber
auch die Handlungsfelder «Umgang mit Ressourcen» und
«Digitalisierung» stehen im Förderfokus. Für die nächste
Förderperiode haben wir die personellen Ressourcen für
diesen Förderschwerpunkt verstärkt und wollen auch mehr
Fördermittel zur Verfügung stellen.
Auf die immer komplexer werdenden Fragestellungen in
Bezug auf die Nachhaltigkeit gibt es keine einfachen
Lösungen. Entscheidend ist, dass man sich mit ihnen
auseinandersetzt und auch im Kleinen Grosses bewirkt.
Das möchten wir tun.
Dr. Beat von Wartburg, Direktor
5
Landbesitz
Höfe, Gärten, Wald
Der Grundbesitz der CMS umfasst eine Fläche von rund neun Quadratkilometern in den
Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Jura. Davon sind mehr als 80 Prozent
Wald und Landwirtschaft (inkl. Familiengärten). Die Flächen im Siedlungsraum, zu
denen auch Pärke und die Merian Gärten zählen, machen mit 1,6 Quadratkilometern 18
Prozent des Grundbesitzes aus.
Bei der Bewirtschaftung dieser Gebiete stellt sich für die CMS jeweils die Frage, wie
ökonomische Anforderungen zu ihrem Anspruch an ökologische Nachhaltigkeit passen.
Und umgekehrt. Wir zeigen dieses Spannungsfeld anhand dreier Beispiele, dem Schlatthof
in Aesch, den Merian Gärten in Brüglingen und dem Wald bei der Löwenburg in
Pleigne (JU).
Landwirtschaft:
Biobetriebe im harten Umfeld
Vor mehr als 20 Jahren hat die CMS ihre Bauernbetriebe auf biologische
Bewirtschaftung nach den Auflagen von Bio Suisse umgestellt.
Der Schlatthof in Aesch ist einer der fünf Höfe und ein Pionierbetrieb.
Warum der Hof seither mehr Tiere halten muss, sein Biofleisch nicht
immer unter dem Knospe-Label vermarkten kann und das Pächterehepaar
der grünen Welle skeptisch gegenübersteht.
scy. Oberhalb von Aesch liegt der grösste biologisch bewirtschaftete
Bauernhof im Baselbiet. Mit seinen rund
110 Hektaren gehört der Schlatthof sogar zu den grössten
der rund 7 000 Biobetriebe der Schweiz, die nach den
Richtlinien von Bio Suisse produzieren. 1930 hat die CMS
den Hof erworben. In den Anfangszeiten wurde er noch
konventionell bewirtschaftet, 1997 wurde umgestellt,
seit 1999 hat er das Knospe-Label.
André und Elsbeth Leimgruber leben und arbeiten
seit 31 Jahren auf dem Schlatthof, seit drei Jahren
sind sie Pächter des CMS-Gutes. Sie haben die Anfänge
der Umstellung hautnah miterlebt. André Leimgruber
erinnert sich: «Weil es in der Schweiz keine vergleichbar
grossen Biohöfe gab, schauten die Stiftungskommission
der CMS und wir uns Anfang der 90er-Jahre Höfe in
Deutschland und Österreich an. Die Herrmannsdorfer
Landwerkstätten etwa in der Nähe von München. Besonders
interessierte uns die Direktvermarktung – und ob das
eine Möglichkeit wäre, den Zwischenhandel auszuschalten
und kostendeckend biologisch zu produzieren.» Der
Bio-Grossbetrieb im Münchner Umland mit integrierter
Käserei, Metzgerei, Bäckerei, Brauerei, Beiz und Hofladen
war in den 80er-Jahren ein Pionier. Ein ähnliches Modell
kam für den Schlatthof allerdings nicht infrage. Eine
Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz riet dem
Schlatthof von Direktvermarktung ab, dafür sei der Hof
zu klein, zu abgelegen und die Arbeit zu personalintensiv.
Nichts für kleinräumige Schweizer Verhältnisse.
Die CMS liess sich bezüglich ihrer Pläne von den Landwirtschaftlichen
Forschungsanstalten des Bundes und
vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL)
beraten. 1997 wagte sie die Umstellung, trotz Bedenken:
«Jene Generation in der Stiftung und auch hier auf dem
Hof, die den Krieg noch erlebt hat, tat sich erst schwer
mit der Vorstellung einer extensiven Landwirtschaft. Die
waren auf Maximalerträge aus, was der Biolandbau
eben gerade nicht bringt», erinnert sich André Leimgruber.
Gemurrt hätten nach der Umstellung auch
Angestellte auf dem Hof, weil Unkraut nicht mehr mit
Spritzmitteln bekämpft werden durfte, sondern mühsam
von Hand ausgerissen werden musste. Denn chemischsynthetische
Pestizide sind im Biolandbau tabu.
Die Umstellung auf Bio-Suisse-Kriterien bedeutete
aber nicht nur den Verzicht auf Pestizide und Mineraldünger.
Wer biologisch wirtschaftet, ist einer ganz anderen
Philosophie verpflichtet. In Biobetrieben muss eine
möglichst geschlossene Kreislaufwirtschaft geschaffen
werden: Pflanzen sollen mit betriebseigenem Dünger wie
Kompost oder Gülle der eigenen Tiere gedüngt, Futtermittel
für die Tiere möglichst selbst angebaut werden. Und
natürlich müssen die Tiere möglichst artgerecht mit viel
Auslauf gehalten werden. Zentral im Biolandbau aber ist
die Sorgfalt im Umgang mit dem Boden zur Erhaltung der
Fruchtbarkeit und der Biodiversität.
6
Landbesitz
Um die Bio-Suisse-Auflagen zu erfüllen und ein Gleichgewicht
der Nutzungen zu erreichen, musste der Schlatthof
den Ackerbau reduzieren und zusätzliche Tiere anschaffen.
Nur so war die Düngung der Betriebsflächen
mit eigener Gülle möglich. Es kamen also 50 zusätzliche
Mutterkühe zu den bisher nur 7 dazu. Für sie brauchte es
zusätzliche Stallungen. Die Anzahl der Schweine (rund
300) und Mastrinder (70) blieb etwa gleich.
Umgestellt wurde auch die Fruchtfolge. Raps
und Zuckerrübenkulturen wurden durch Wiesen für
den Futteranbau ersetzt. Das bedauert André Leimgruber
manchmal noch heute, so sehr das Pächterehepaar
hinter der Umstellung steht: «Zuckerrüben sind eine tolle
Kultur! Und früher zumindest waren die sehr einträglich.»
Die sinkenden Preise für Landwirtschaftsprodukte
sind auch im Biolandbau eine grosse Herausforderung.
Leimgrubers könnten gemäss Bio-Suisse-
Richtlinien wegen der Hofgrösse eigentlich noch viel
mehr Schweine halten. Das zahlt sich aber nicht aus. Der
Preis für Schweinefleisch mit Knospe-Label ist dramatisch
gesunken. Umgekehrt ist manchmal «Bio» drin, wo
kein «Bio» draufsteht: Aus Preisgründen verkaufen die
Leimgrubers ihre Rinder nicht unter dem Knospe-Label,
sondern an die beiden Vermarktungsgesellschaften Swiss
Black Angus und Swiss Prime Beef. Die eine beliefert die
Migros in der Westschweiz, die andere ausgewählte
Gastronomiebetriebe. Ist das nicht schade? André Leimgruber:
«Klar. Aber solange der Biomarkt nicht besser
läuft, zählt für mich der Preis und nicht das Label.»
Seit die CMS den Leimgrubers den Betrieb zur
Pacht übergeben und ihnen damit auch den Zugang zu
Bundessubventionen ermöglicht hat, würden sie zwar
noch mehr arbeiten als früher, als sie noch Angestellte
der CMS waren, sagen sie. «Aber wir sind gut aufgestellt.
Und für die konventionell wirtschaftenden Bauern wird
es in Zukunft noch schwieriger.»
Die Leimgrubers sind aus Überzeugung Biobauern.
Mit grüner Politik haben sie allerdings wenig am
Hut. «Viel heisse Luft», sagt Elsbeth Leimgruber. Viele
links-grüne Politiker würden den Fleischkonsum verteufeln
und überhaupt mächtig auf der Landwirtschaft
herumhacken. Oder die Grünliberalen: «Die fordern den
internationalen Freihandel, der auch uns einheimischen
Biobauern extrem zu schaffen macht. Das ist vielleicht
liberal. Aber sicher nicht grün.»
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Landbesitz
Merian Gärten:
Ökologie hat ihren Preis
und ihren Lohn
Seit 2010 bewirtschaften die Merian Gärten ihr Areal biologisch nach den
Auflagen von Bio Suisse. 2012 erhielten sie die Knospe-Zertifizierung, als
erster botanischer Garten der Schweiz. Die entsprechende Garten- und
Parkpflege ist anspruchsvoll. Sie hat ihren Preis – aber auch ihren Lohn:
bessere Bodenfruchtbarkeit und mehr Biodiversität, neues fachliches
Know-how und einen guten Ruf.
scy. «Die Gärten biologisch bewirtschaften? Das geht
doch nicht!» Viele Gärtnerinnen und Gärtner – und zwar
nicht nur die eigenen – waren 2010 skeptisch, als die CMS
ankündigte, den damaligen Merian Park auf biologische
Bewirtschaftung umzustellen. Doch das Gärtnerteam
stellte sich der Herausforderung. Die Gärten sollten die
Zertifizierung mit der Bio-Knospe erhalten, damit die
CMS den Merian Park und den Brüglinger Hof zu den
heutigen Merian Gärten zusammenlegen konnte. Der
Hof inmitten des Areals hätte sein Bio-Label verloren,
wenn der Rest der neuen Gesamtanlage nicht ebenfalls
biologisch bewirtschaftet worden wäre. Als Pionierin des
biologischen Landbaus, die schon in den 1990er-Jahren
ihre landwirtschaftlichen Gutsbetriebe umgestellt hatte,
war für die CMS der Verzicht auf das Knospe-Label in
Brüglingen undenkbar. Damals hatte die Umstellung
erst einmal ein radikales Umdenken bedeutet: Im Bio-
Landbau stehen nicht die einzelne Pflanze und ihre
Schönheit im Vordergrund, sondern der Erhalt der Biodiversität
und der Bodenfruchtbarkeit. Weil chemisch-
synthetische Pestizide und Dünger verboten sind, kul-
tivieren Bio-Landwirtschaftsbetriebe robuste Sorten:
Topaz-Äpfel etwa anstelle empfindlicher Mode-Äpfel.
Nun stellte sich die Frage, was die Umstellung für die
Merian Gärten und ihre sieben teils international
bekannten Pflanzensammlungen bedeuten würde. Die
1 500 Bartiris-Sorten? Die Rhododendren? Auf empfindliche
Sorten verzichten und damit die Reputation der
Sammlung aufs Spiel setzen?
Nein. Als botanischer Garten bemühen sich
die Merian Gärten, in ihren Sammlungen und im ge-
samten Sortiment die Sortenvielfalt zu erhalten und
gesunde und schöne Pflanzen zu kultivieren. Aber die
Umstellung hatte ihren Preis in einem ganz wörtlichen
Sinn. Nicht nur chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel
und Dünger waren verboten, sondern auch das
Dämpfen der Erde in den Irisbeeten mit heissem Wasserdampf:
weil dabei ausser den lästigen Winden auch
Kleinstlebewesen abgetötet werden. Pflege und Förderung
der Biodiversität in den Gärten unter Einhaltung
der Auflagen von Bio Suisse bringen mit sich, dass im
Sommer mehr Einsatzstunden bei den Gartenhilfskräften
anfallen, die nichts anderes tun als jäten und
den Boden auflockern. Desgleichen erfordern die Auflagen
bei Pilzbefall und Schädlingsbekämpfung sehr viel
mehr vorausschauendes Eingreifen, auch mehr Kenntnisse
über Pflanzen und Bodenbeschaffenheit und sanftere
Mittel. Das ist aufwendig und anspruchsvoll, erweitert
aber auch die Fachkenntnisse des Gärtnerteams.
Für die Rhododendren haben die Merian
Gärten mit Bio Suisse eine Ausnahmebewilligung ausgehandelt:
Vorübergehend darf im kalkigen Boden eine
begrenzte Menge an Torf einarbeitet werden, bis ein
geeignetes anderes Substrat gefunden wird, das den
Boden saurer macht. Hierzu machen die Merian Gärten
seit einigen Jahren Substrattests. So schön die Pflanzen
auch sind: «Heute würden wir die Schenkung aus den
70er-Jahren wohl nicht mehr annehmen, weil die Pflanzen
eine andere Bodenbeschaffenheit brauchen, als sie
natürlicherweise in der Brüglinger Ebene vorkommt.
Aber die Rhododendren gehören zu unserer Geschichte
und unseren Highlights, die wir auch unter dem Bio-
Pflegeregime unbedingt erhalten möchten», sagt Bettina
Hamel, Geschäftsleitern der Merian Gärten. Ausnahmebewilligungen
erhalten die Merian Gärten auch, wenn sie
zur Ergänzung ihrer Sammlungen und Sortimente neue
Sorten anpflanzen. Zum Beispiel im Arzneipflanzengarten
oder in Zusammenarbeit mit ProSpecieRara bei alten
Gemüsesorten, die nachweislich noch nicht in Bio-Qualität
erhältlich sind. Dann darf auch eine konventionell
angezogene Pflanze ins Sortiment aufgenommen werden.
Wird diese Sorte dann während zwei Jahren in den
Merian Gärten nach den Knospe-Prinzipien kultiviert, ist
sie «Bio».
Die vorwiegend auf Landwirtschaftsbetriebe
ausgerichtete Zertifizierungsbehörde von Bio Suisse
kontrolliert jährlich und lernt im ungewohnten Terrain
eines botanischen Gartens ebenso dazu wie die
Wald:
Auswirkungen des Klimawandels
Die CMS besitzt insgesamt 340 Hektaren Wald. Davon gehören 150
Hektaren zum historischen Gut Löwenburg in Pleigne im Jura, ihrem
grössten Landwirtschaftsbetrieb. Doch der Wald ist in einem schlechten
Zustand. Das hat mit dem Klimawandel zu tun, aber auch mit der
Aufforstungspolitik der 60er-Jahre. Jetzt muss einiges ausgebügelt
werden.
scy. Der Wald des Gutshofs Löwenburg auf dem jurassischen
Hochplateau über dem Lützeltal ist für Schweizer
Verhältnisse riesig und mit 150 Hektaren fast so gross
wie der Hardwald in Muttenz. Die Schäden sind für Laien
von blossem Auge sichtbar: überall kahle Lichtungen
mit Baumstümpfen von Rottannen, die gefällt werden
mussten, weil ihnen der Borkenkäfer zusetzte. Oder
schwächelnde Buchen, wegen denen der Kanton Jura im
letzten Sommer Katastrophenalarm ausrief («catastrophe
forestière»). Im Forst der Löwenburg trafen die Klima-
schäden sehr viele Rottannen – oder «gemeine Fichten»,
wie sie korrekt heissen. Die Art stammt ursprünglich aus
Skandinavien, gedeiht vor allem in kühlen Regionen und
verträgt Trockenheit und Hitze schlecht. Die letzten, sehr
heissen Sommer auch im Jura haben die Bäume anfällig
gemacht, sie können Schädlinge wie den Borkenkäfer
nicht mehr abwehren.
Dass es im Löwenburger Wald so viele serbelnde
Rottannen gibt, ist nicht bloss der Natur zuzuschreiben.
«Das ist auch die Folge einer rein ökonomisch
gefärbten Aufforstungspolitik in den 60er-Jahren», konstatiert
Rolf Bolliger, ehemaliger Betriebsleiter der
Löwenburg. Bolliger ist Präsident des Forstreviers «Triage
forestier du Haut-Plateau» und vertritt heute die CMS in
der Forstkommission. Nach dem Erwerb durch die CMS
im Jahr 1956 hätten die damals Verantwortlichen begonnen,
gut 40 Hektaren Weideland in grossem Umfang mit
Rottannen aufzuforsten. Aus rein ökonomischen Erwägungen
wählte man die ursprünglich ortsfremden
Bäume, weil sie schnell wachsen, das Holz als Baustoff
begehrt war und gute Erträge abwarf. Bern war zu jener
Zeit noch Standortkanton der Löwenburg und musste,
nachdem für den Autobahnbau der A1 durch das Grauholz
eine immense Waldfläche abgeholzt worden war,
Ersatzflächen aufforsten. Dafür gab es hohe Subventionen
von Bund und Kanton. Bolliger: «Als die Verantwortlichen
der Löwenburg bei den Berner Behörden die Aufforstung
von Weideland beantragten, war man allerorts
sehr einverstanden. Das war eine ganz andere Zeit.»
In den 80er- und 90er-Jahren erwachte dann das ökologische
Gewissen, auch als Folge des fortschreitenden
Waldsterbens. Der Wald wurde nicht mehr nur als Ertragsquelle
verstanden, sondern als wichtige und gefährdete
ökologische Lebensgrundlage. Der Förster der Löwenburg
begann, Lücken mit Linden, wilden Kirschen und Wildbirnen
aufzuforsten, um den Wald wieder in seiner ursprünglichen
Zusammensetzung wachsen zu lassen. Die
scharf akzentuierten Fichtenwaldränder versuchte man
Schritt für Schritt – auch im Interesse einer möglichst hohen
Biodiversität von Flora und Fauna – wieder in einen
gestuften Waldrand zurückzuführen.
Seither ist der Holzpreis massiv gesunken und
hat sich nur wenig erholt. Obwohl Holz als Baustoff zunehmend
interessant wird, ist die maschinelle «Ernte»
der Bäume im Jura weit teurer als in leicht zugänglichen
Wäldern. Dazu haben im Rahmen des Freihandels Holzimporte
aus Billigländern wie den baltischen Staaten
dem Schweizer Holzmarkt schwer zugesetzt. Wer heute
sogenanntes Schwachholz als Industrieholz verkaufen
wolle, lege pro Kubikmeter rund 15 bis 20 Franken drauf,
sagt Bolliger. «Den Wald als Renditeobjekt gibt es so
nicht mehr. Fehlende Erträge verunmöglichen geeignete,
eigentlich notwendige Massnahmen gegen die Folgen
des Klimawandels.»
Was also tun mit all dem Schwachholz, das
herumliegt? Wie den Wald ökologisch und nachhaltig
pflegen? Alternativen wie etwa Wärme- und Stromproduktion
mit sogenannten Hackschnitzelanlagen
erfordern relativ viel Kapital, das zum Teil nur ungern
investiert wird. Der Löwenburg-Wald ist, zusammen mit
allen Wäldern des Forstreviers Haut-Plateau, seit 2008
FSC-zertifiziert, muss also nach den ökologischen Auflagen
des internationalen Forest Stewardship Council
(FSC) gepflegt werden: keine Monokulturen, sondern Aufforstungen
mit standortgerechten einheimischen Arten.
8
Landbesitz
Verantwortlichen der Merian Gärten. Bio Suisse kontrolliert
auch die Tierhaltung in den Merian Gärten, der
Schafe, Hühner, Kaninchen und Bienen, und soziale Faktoren
wie die Arbeitsverhältnisse. Bei der Tierhaltung
schneiden die Merian Gärten regelmässig hervorragend
ab. «Der Kontrolleur sagte uns schon, wenn er ein Huhn
wäre, würde er am liebsten bei uns leben», lacht Bettina
Hamel.
Bio-Suisse-Auflagen sind das eine – die CMS-
Verpflichtung zu nachhaltigem Wirtschaften das andere.
Im 2012 neu erstellten Lehmhaus gibt es auf den Toiletten
nur kaltes Wasser und Vorhänge statt elektrisch
betriebener Storen. Die Heckenschneidmaschinen sind
keine Benziner mehr, demnächst soll für die Bewässerung
Regenwasser effizienter genutzt werden. Auch die
Arbeitskleider wurden nach Nachhaltigkeitskriterien
ausgesucht. Bei jeder Entscheidung spielen heute ökologische
Erwägungen eine Rolle, und manchmal stehen
ihnen ökonomische Faktoren diametral entgegen. Bei
der Neuanschaffung von Maschinen etwa, wenn das
Elektromodell doppelt so teuer ist und es schnell um
Zehntausende von Franken geht. «Das ist ein anspruchsvoller
Prozess», sagt Bettina Hamel, die auch Mitglied
der Geschäftsleitung der CMS ist. «Aber wir sind auf dem
richtigen Weg und daran, umfassende Leitlinien für die
ganze Stiftung auszuarbeiten.»
Das kostet und bringt in den nächsten Jahrzehnten nichts
ein. Dort, wo der betroffene Wald als Schutzwald definiert
ist, beteiligen sich Bund und Kantone finanziell an den
notwendigen Eingriffen.
Die CMS ist in Übereinstimmung mit ihren
Nachhaltigkeitszielen bereit, für künftige Generationen
in eine nachhaltige Waldpflege zu investieren. Sie wird
demzufolge mit ihrem Waldbesitz, vor allem in den
schwierigen Regionen, in den nächsten Jahren vorwiegend
rote Zahlen schreiben. Trotzdem sind Investitionen
in die Infrastruktur vorgesehen, zum Beispiel in das Waldwegnetz
als wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige
Bewirtschaftung. Zurzeit läuft zudem im Rahmen der
Revision des Wirtschaftsplanes der Löwenburger Waldungen
eine quantitative und qualitative Analyse des
Waldbestands. Sie wird die Basis bilden für alle künftigen
Massnahmen.
9
Projektförderung
Für mehr Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit spielt für die CMS eine wichtige Rolle.
Bei vielen Projekten liegt der Fokus auf der Förderung von Biodiversität.
Hier eine Auswahl.
Pilotprojekt Sesselacker
Mehr Biodiversität
im städtischen Raum
Das ökologische Pilotprojekt in der CMS-eigenen Überbauung
Sesselacker mit ihren über 200 Wohnungen und
vielen Freiflächen am Fusse des Bruderholzes ist nicht nur
ein Beispiel für das finanzielle Engagement der CMS in
Sachen Nachhaltigkeit. Es zeigt auch, wie wichtig es ist,
dass sich die CMS mit Know-how und Personalressourcen
in wichtige nationale Forschungsprojekte einbringt und
sich auf dieser Ebene vernetzt: Nach einem von verschiedenen
Fachgremien und der Universität Bern organi-
sierten Symposium über Biodiversität und Immobilien,
an dem auch die CMS teilnahm, initiierte ein Initiativ-
komitee im Jahr 2018 unter der Leitung des Forums Bio-
diversität das Projekt «Siedlungsnatur gemeinsam
gestalten». Ziel ist es, in fünf nationalen Pilotprojekten
Wissens- und Handlungsgrundlagen zu entwickeln, wie
die Wahrnehmung und Bewertung von Biodiversität bei
allen beteiligten Akteuren verbessert und ein neues Entscheidungsverhalten
erreicht werden kann. Eines der fünf
nationalen Pilotprojekte ist jenes im Basler Sesselacker.
Auch dicht überbaute Siedlungsgebiete bergen
ein Potenzial für die Erhaltung und Förderung der Biodiversität,
das bisher zu wenig ausgeschöpft wird. Durch
bauliche Massnahmen, eine nachhaltige Siedlungspflege
und die gezielte Vernetzung von Grünräumen könnte
vieles verbessert werden – nicht nur für die bedrängte
Flora und Fauna, sondern auch in Bezug auf die Lebensqualität
der hier lebenden Menschen.
Für die gesamte Wohnüberbauung Sesselacker
wird nun eine Bestandsaufnahme durchgeführt, eine
qualitative Abschätzung des aktuellen ökologischen
Werts vorgenommen und unter Einbezug der relevanten
Akteurinnen und Akteure ein Gesamtkonzept zur Auf-
wertung ausgearbeitet. Drei Wissenschaftlerinnen
leiten das breit abgestützte, interdisziplinäre Projekt.
Vonseiten der CMS sind drei Abteilungen involviert:
Liegenschaften, Finanzen und Natur. Projektpartner sind
das Bürgerspital Basel und die Stadtgärtnerei, welche die
Grünräume auf und um den Sesselacker bewirtschaften.
Ebenfalls beigezogen werden die Hauswarte der Siedlung
Sesselacker sowie im Verlauf des Projekts die Mieterinnen
und Mieter. Die Erhaltung und schonende Nutzung
unserer Lebensgrundlagen ist Teil der Strategie der CMS.
Als Besitzerin bedeutender Grünflächen im städtischen
Raum hat die Stiftung eine grosse Verantwortung und
bewirtschaftet heute schon ihre Merian Gärten und das
Gellertgut ökologisch nachhaltig. Vom Pilotprojekt Sesselacker
erhofft sich die CMS wertvolle Erkenntnisse für
ihre anderen Grünräume in der Stadt.
Ein Impact Hub
jetzt auf dem Dreispitz
Das globale Netzwerk Impact Hub wurde 2005 in London
gegründet, um Start-ups und Kreative international
besser zu vernetzen und sie bei ihren ökologischen und
sozialen Engagements zu unterstützen. Nach Zürich,
Bern, Genf und Lausanne hat auch Basel seinen Hub:
auf dem Dreispitz.
Der Impuls für den Basler Impact Hub kam
weder von der einheimischen Politik noch aus der Wirtschaft
noch von einzelnen Basler Organisationen, sondern
von einer jungen Generation hochqualifizierter,
global vernetzter und engagierter Einzelpersonen. Ihr
Ziel ist allerdings das Gegenteil von Einzelmaskendasein:
nämlich mit Schwarmwissen, also kollektiver Intelligenz
und Zusammenarbeit, Lösungen im Nachhaltigkeitsbereich
für die Probleme unserer Zeit zu finden. Und das
hochprofessionell – und lustvoll.
Doch von vorne: 2013 kam die aus Singapur
stammende Expertin für Menschenrechte und nachhaltige
Lieferketten, Connie Low, nach ihrem Studium in
London zu Novartis und vermisste den Londoner Impact
Hub. Zusammen mit dem aus der Region stammenden
Unternehmensentwickler André Moeri, der schon den
Swiss Innovation Park in Allschwil aufgebaut und geleitet
hat, und der Anwältin Hanna Byland gründete sie den
Verein Impact Hub Basel. Ein Zukunftslabor für Nachhaltigkeit,
das möglichst viel innovatives Wissen zusammentragen
und produktiv umsetzen sollte. Unter dem
Label «Impact Hub» arbeiten Start-ups auf der ganzen
Welt in einem globalen Netzwerk an einer sozial und öko-
logisch nachhaltigen Wirtschaft der Zukunft – angelehnt
an die Ziele der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Die
Londoner Zentrale des 2005 gegründeten Netzwerks
überprüft die Qualität der lokalen Netzwerke und erteilt
nach Prüfungsverfahren das Okay für den lokalen Start
unter dem geschützten Label. Mittlerweile gibt es weltweit
über 100 Impact Hubs. Sie alle funktionieren nach
demselben Prinzip: gemeinsam genutzte Räume (Cowor-
king), vernetzte Communities, Programme und Events
zu gesellschaftlich relevanten Themen.
Die CMS und andere Stiftungen haben den
Verein Impact Hub Basel beim Aufbau unterstützt. Nach
einer intensiven Vorbereitungsphase hat der Basler Hub
mit der Eröffnung seines Coworking- und Eventgebäudes
an der Münchensteinerstrasse 274a auf dem Dreispitz im
November 2019 nun richtig losgelegt: Neben diversen
Organisationen und einzelnen Akteuren arbeiten seit
Januar fünf Start-ups aus den Bereichen Gesundheit,
Kreislaufwirtschaft und Bildung im Coworking Space des
Impact Hub Basel und werden in einem Jahresprogramm
mit Coachings und Workshops von einem Team von 30
Freiwilligen und Angestellten unterstützt. Im Februar hat
das Team auch das erste Basler Zero Waste Café eröffnet,
das «Café spurlos», ebenfalls an der Münchensteinerstrasse
274a. Das Projekt soll aufzeigen, wie auch in
der Gastronomie mit Recherche, Innovation und En-
gagement nachhaltig gewirtschaftet werden kann –
ohne Abfallberge.
Ergänzend zum «Café Spurlos» wird während
drei Jahren ein Zero Waste Innovation Lab (ZEWIL) aufgebaut
und betrieben. Im ZEWIL sollen praxistaugliche
Lösungen zur Abfallvermeidung erarbeitet und vermittelt
werden. Die Nähe zum «Café Spurlos» bietet die
Chance, dass Produkte und Prozesse dort gleich im
Tagesgeschäft getestet und im ZEWIL weiter optimiert
werden können.
Langzeitstudie zum Biolandbau
Ein biologisch wirtschaftender Agrarbetrieb trägt zu
mehr Biodiversität bei. Zum Beispiel leben dort mehr
Spinnen und Insekten, die für das ökologische Gleichgewicht
wichtig sind. Zu diesem Ergebnis kam das Forschungsinstitut
für biologischen Landbau (FiBL) in einer
ersten Studie bereits 1993 bis 1995, als zwei Bauernbetriebe
der Region verglichen wurden: der schon länger
biologisch wirtschaftende Bruderholzhof in Oberwil und
der damals noch konventionell bewirtschaftete Schlatt-
hof in Aesch.
Seit 1997 hat der Schlatthof auf Biolandbau
umgestellt. Jetzt führt das FiBL ein Nachfolgeprojekt
durch, das die Artenvielfalt von Flora und Fauna auf dem
Schlatthof vor und nach der Umstellung dokumentiert.
Für die Projektarbeit werden auch Studierende beigezogen.
Die Untersuchung soll 2023 abgeschlossen sein. Das
international anerkannte FiBL wird die Ergebnisse dieser
in der Schweiz einzigartigen Untersuchung auch in den
internationalen Wissenschaftsdiskurs einspeisen.
Future Planter
Biodiversität
auch auf dem Balkon
Jede Baslerin, jeder Basler könnte mit ganz einfachen
Mitteln mehr zur Biodiversität beitragen. Fast die Hälfte
der über 600 einheimischen Wildbienenarten ist heute
bedroht – und damit auch die Bestäubung von Kultur-
und Wildpflanzen, die für das Gleichgewicht des Öko-
systems existenziell sind.
Wer in Basel nur schon auf dem Balkon Pflanzen
hält, soll bald auf dem Internet auf einer kostenlosen
Webanwendung Empfehlungen erhalten, welche Pflanzen
für die Förderung der Biodiversität am geeignetsten
wären. Diese Idee hat die Stiftung Green Advance lanciert,
die national mit zahlreichen Partnern und Fachstellen
zusammenarbeitet und erste Anwendungs-
empfehlungen bereits für Zürich, Cham und Zug zur
Verfügung stellt. Bis 2022 soll die Abfrage in 50 grösseren
Schweizer Gemeinden möglich sein. Voraussetzung dafür
sind standortspezifische Erhebungen von Wildbienen.
Jene für Basel ist aktuell in Vorbereitung.
10
Projektförderung
Umwelt Plattform
Einfach mehr Basel!
Der Verein Umwelt Plattform will aufzeigen und vermitteln,
dass man sich für eine suffiziente, also genügsame
und nachhaltige Lebensweise ohne Ressourcenverschleiss
und Umweltbelastung nicht kasteien muss,
sondern durchaus auch mit Lust und Spass agieren kann.
Er ist seit 2016 aktiv, mittlerweile in sechs Schweizer
Städten. Die rund 50 Mitglieder unterschiedlichen Alters
engagieren sich mit humorvollen Aktionen und mit verschiedenen
Partnern, in Basel etwa in Zusammenarbeit
mit dem Amt für Umwelt und Energie und neben der
CMS mit weiteren Sponsoren. Sie sind letztes Jahr in
Basel bereits mit Schnitzeljagden zum Wildkräuter
sammeln, Zeitschenken-Aktionen in der Weihnachtszeit
und Aktivitäten auf dem Matthäusmarkt und in der
Markthalle in Erscheinung getreten. Für dieses Jahr sind
weitere Pop-up-Events an frequentierten Orten in Basel
geplant.
Dokumentation
des Landschaftswandels
Auf seiner Website www.regionatur.ch dokumentiert
der Verein Natur und Landschaft der Region Basel seit
fünf Jahren zusammen mit zahlreichen Partnern den
Wandel unseres Lebensraums in den letzten 500 Jahren.
Mit historischen und aktuellen Karten, zahlreichen Informationen,
Abbildungen und Links informiert die Website
Fachpersonen, Schülerinnen und Schüler und die Öffentlichkeit
über die Landschaftsveränderungen in der Region.
Insgesamt stehen 290 Module und 8 000 Bilder zur
Verfügung. Der Einstieg ins Programm erfolgt über Orte
oder Themen.
Nachhaltige Ernährung
mit 4seasons
Armutsbetroffene haben häufig mit gesundheitlichen
Problemen zu kämpfen, die auch auf einer schlechten
Ernährung mit ungesunden Lebensmitteln beruhen können.
Der Verein 4seasons will dem entgegenwirken und
bietet Menschen mit kleinem Budget Kochkurse, Exkursionen
und Workshops an, in denen vermittelt wird, wie
auch mit sehr wenig Geld gesund und saisongerecht
gekocht werden kann. Zum einen werden die Angebote
über soziale Institutionen an spezifische Zielgruppen
vermittelt, zum anderen werden die Kurse öffentlich
ausgeschrieben. Der Verein organisiert ausserdem gemeinsame
Kochevents und leistet damit einen Beitrag
zur sozialen Integration. Nach einer erfolgreichen Startphase
will 4seasons mit neuen Angeboten für die breite
Öffentlichkeit weitermachen.
11
Dreispitz
Der Dreispitz als
Schauplatz künstlerischer
Interventionen
Initiiert von der CMS, beleuchten die Kunstschaffenden Isabelle
Stoffel, Benedikt Wyss und Samuel Leuenberger zusammen mit
weiteren Akteurinnen und Akteuren den Dreispitz mitten in
seiner Transformation: «Dreispitz entdecken» lautet das Motto
der verschiedenen Aktionen, die 2020 und 2021 der Öffentlichkeit
präsentiert werden.
tri. Mit dem Audio-Video-Walk «Freizone Dreispitz» führen die Regisseurin
Isabelle Stoffel und das Theaterkollektiv Recycled Illusions im Mai
2020 Besucher und Besucherinnen über einen Teil des Dreispitz. Ausgestattet
mit Kopfhörern und einem Tablet gehen sie auf eine Reise in
die mehr als 100-jährige Geschichte des Logistikareals. Mit Stimmen und
Geräuschen, Bildern und Videosequenzen erzählt Stoffel Geschichten
vom Quartier am Rand der Stadt, stellt bisher wenig Bekanntes ins
Rampenlicht, widmet sich den diversen Mikrokosmen auf dem Dreispitz.
Sie führt uns über ein Gebiet, auf dem hinter dicken Mauern Konsumgüter
wie Tabak, Rum und Autos zollfrei gelagert wurden. Wie haben
das die Menschen, die hier gearbeitet haben, erlebt? Heute wohnt man
in architektonisch herausragenden Bauten zwischen den Lagerhallen,
andere studieren hier Kunst. Der Alltag ist von Lastwagen geprägt, die
Güter bewegen. Was verraten ihre Wege über unser heutiges Konsumverhalten?
Die Antworten auf diese Fragen verwandeln die Reise in die
Vergangenheit in eine Reise in die Zukunft.
Isabelle Stoffel und ihrem Team von Recycled Illusions ist es
gelungen, etliche Personen in ihr Stück zu integrieren, deren Biografien
eng mit dem Dreispitz in Verbindung stehen. Sie kommen zu Kurzauftritten
und beleben auf diese Weise den Rundgang, der damit zu einem
Ausflug wird, in dem sich Geschichte und Gegenwart, Realität und Fiktion
wie in einem Tagtraum vermischen.
«Explorers Film Club»
«Freizone Dreispitz»
Ganz anders nähern sich die Kuratoren Benedikt Wyss und Samuel Leuenberger
mit ihrem «Explorers Film Club» dem Dreispitz. Sie laden in den
kommenden vierzehn Monaten vier internationale Filmkünstlerinnen
und Filmkünstler ein, jeweils vier Wochen bei Atelier Mondial auf dem
Dreispitz zu leben und das Areal subjektiv zu entdecken. Historische
Vorlage für diese Konstellation bietet «The Explorers Club». So heisst
eine internationale Forschervereinigung mit Sitz in New York, die eine
Vielzahl wegweisender Entdecker-Leistungen für sich in Anspruch
nimmt, darunter die Erstbesteigung des Mount Everest, den ersten
Atlantiküberflug und die erste Mondlandung. Ihr Kernthema lautet:
«terra incognita» – unbekanntes Land. Die Verbindung zum Dreispitz
liegt nahe, denn auch hier handelt es sich um weitgehend unbekanntes
Land. Gerade das ehemalige Zollfreilager, aber auch weitere grosse Teile
des Gebiets waren lange eine geschlossene Zone in der Stadt. Bis heute
kennen viele den Dreispitz nur vom Vorbeifahren.
Durch die Brille der vier Filmschaffenden lässt sich das Areal
neu entdecken, öffnen sich neue Perspektiven auf die Stadt. Die vor Ort
gefertigten Filme erleben auf dem Dreispitz ihre Premiere. Den Anfang
macht am 29. Mai die Niederländerin Puck Verkade, wohnhaft in London,
die den Dreispitz mit schrägem Humor und einer Vorliebe fürs Absurde
thematisiert. Nach drei weiteren Premieren werden die Kuratoren im
Sommer 2021 aus dem gesamten Material eine Überblicksausstellung
zusammenstellen, die in Kooperation mit dem Kunsthaus Baselland, das
künftig auch auf dem Dreispitz zu Hause sein wird, während der Art Basel
gezeigt wird. Parallel dazu entsteht ein «Logbuch», das sich inklusive
Smartphone-Video-App als Forschungstagebuch versteht und Einblick
in den Arbeitsalltag der Beteiligten gibt. Begleitet wird der «Explorers
Film Club» vom Basler Kulturwissenschaftler Michel Massmünster. Er
wird für die Zürcher Hochschule der Künste analysieren, wie unterschiedliche
Akteure über die künstlerische Arbeit zu einer Auseinandersetzung
mit einem städtischen Areal gelangen.
Audio-Video-Walks «Freizone Dreispitz»:
7. bis 24. Mai 2020, jeweils Donnerstag bis Sonntag zwischen 18 und 21.30 Uhr
Filmpremieren «Explorers Film Club»:
Puck Verkade am 29. Mai 2020 im Club Elysia, weitere: September 2020, Februar und Juni 2021
Mehr Informationen unter www.dreispitz.ch
13
Studie
Amtliche
Steuereinschätzungen
Nicht-Abgabe Folge einer allgemeinen Lebenskrise, ausgelöst durch
Trennung, Stellenverlust oder gesundheitliche Probleme. Eine spezifische
Gruppe sind Selbstständigerwerbende, die nicht nur mit dem Ausfüllen
der Steuererklärung, sondern allgemein mit den buchhalterischen
Anforderungen einer selbstständigen Erwerbstätigkeit überfordert sind.
Eine dritte Gruppe sind Personen mit Wissensdefiziten oder einer Verweigerungshaltung.
Sie bekunden seit Beginn der Steuerpflicht Mühe
mit dem Ausfüllen der Steuererklärung und geben zum Teil an, noch nie
eine solche abgegeben zu haben. Oft sind hier Personen mit psychischen
Problemen vertreten.
Was motiviert Steuerpflichtige,
ihre Steuererklärung wieder auszufüllen?
Bei Herrn W. kam vieles zusammen: Zuerst die Trennung von
seiner Partnerin, später der Stellenverlust und schliesslich seine
Suchterkrankung. Herrn W.s Situation steht beispielhaft
dafür, wie eine Lebenskrise zur Überforderung bei scheinbar
Alltäglichem führen kann; so auch beim Ausfüllen und Einreichen
der Steuererklärung.
Tatsache jedoch ist: Eine nicht eingereichte Steuererklärung
kann fatale Konsequenzen haben. Eine Betreibung mit
Pfändung bis auf das Existenzminimum wird wahrscheinlich,
ebenso die damit verbundenen Folgeerscheinungen wie soziale
Ausgrenzung, gesundheitliche Probleme oder Schwierigkeiten
am Arbeitsplatz.
Etwa zwei Drittel der Befragten reichen die Steuererklärung heute wieder
ein. Die Motivationsgründe dafür sind zwar individuell, jedoch lassen sich
auch hier Tendenzen ausmachen. Oftmals stand am Anfang der Motivation
eine positive Veränderung der Lebensumstände, wie zum Beispiel
eine neue Beziehung oder der Antritt einer neuen Arbeitsstelle. Bezeichnend
dafür steht die Aussage von Herrn M.: «Geholfen hat es dann im
Endeffekt, dass mir die jetzige Frau über den Weg gelaufen ist. Das ist
eigentlich die grosse Veränderung im Leben gewesen: Zuverlässiger
Umgang [...] und tatsächlich auch das erledigen, was zu erledigen ist.»
Bei der Frage nach der Erreichbarkeit Betroffener sind sowohl
die soziale Integration (Beruf, Familie) als auch die strukturelle Integration
(Bezug zu öffentlichen Akteuren wie Sozialhilfe, Regionale Arbeitsvermittlungszentren
RAV) von entscheidender Bedeutung. In der Stadt
Basel besteht ein breites Angebot an Möglichkeiten, günstig oder kostenlos
Unterstützung beim Ausfüllen der Steuererklärung zu erhalten.
Soziale Beratungsstellen unterstützen beim Ausfüllen einfacher Steuererklärungen
oder verweisen an kostengünstige Angebote wie zum Beispiel
«GGG Steuern». Einzelne Stellen bieten entsprechende Kurse an. Es
zeigte sich jedoch auch, dass Hilfsangebote in einer akuten Krisensituation
oft nicht aufgesucht werden.
Die meisten Steuerbetreibungen beruhen
auf Einschätzungen
Steuerschulden sind in der Schweiz das Schuldenproblem Nummer eins.
Für das Steuerjahr 2015 wurden gut 6000 Betreibungen gegen natürliche
Personen eingeleitet. Fast zwei Drittel davon (61 % oder 3 780 Betreibungen)
basierten dabei auf einer sogenannten amtlichen Einschätzung.
Mehr als 70 Prozent aller Einschätzungen enden in einer Betreibung. Die
Steuerverwaltung nimmt eine amtliche Steuereinschätzung dann vor,
wenn «die steuerpflichtige Person trotz Mahnung ihre Verfahrenspflichten
nicht erfüllt». 1 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Steuererklärung
gar nicht oder unvollständig abgegeben wird.
Das Forschungsprojekt
Vor diesem Hintergrund lancierte die Hochschule für Soziale Arbeit
FHNW im Herbst 2018 die Praxisstudie «Amtliche Steuereinschätzungen
im Kanton Basel-Stadt». Das Pionierprojekt wurde von der CMS finanziert
und von der FHNW in enger Zusammenarbeit mit der Budget- und
Schuldenberatungsstelle Plusminus Basel durchgeführt. Ziel war es,
Einblicke in die Lebensrealitäten von Betroffenen zu erhalten und daraus
konkrete Massnahmen abzuleiten, welche die Anzahl der Steuereinschätzungen
und die damit verbundenen Folgen reduzieren. Für dieses
Vorhaben wurden verschiedene methodische Zugänge gewählt (siehe
rechts in Lila). Die Studie richtete ihren Fokus bewusst auf die Praxis
und arbeitete zu diesem Zweck mit einer Begleitgruppe, bestehend aus
unterschiedlichen zentralen Akteuren. So sollte sichergestellt werden,
dass zielführende Massnahmen zur Reduktion der amtlichen Steuereinschätzungen
gefunden und die damit verbundenen Folgen im Anschluss
an das Projekt in der Praxis umgesetzt und mitgetragen würden.
Weshalb reichen Steuerpflichtige
ihre Steuererklärung nicht ein?
Was ist zu tun?
Die Ergebnisse der Studie wurden in einer Begleitgruppe diskutiert,
bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern von Basler Sozialberatungsstellen
und Stellen der kantonalen Verwaltung sowie der CMS. Die
Gruppe evaluierte, was in der bisherigen Praxis und hinsichtlich bestehender
Angebote gut funktioniert hat und wo Entwicklungsbedarf
besteht. Dabei haben sich verschiedene Themen herauskristallisiert, die
über die Begleitgruppentreffen hinaus in Arbeitsgruppen weiterverfolgt
werden: Steuerbezug und Veranlagung, Koordination und Ausbaubedarf
von Hilfsangeboten sowie Verbesserung der Erreichbarkeit von Risikogruppen.
Nun geht es darum, die umsetzbaren Massnahmen in den
Arbeitsgruppen zu entwickeln und in Zusammenarbeit mit den relevanten
Akteuren zu realisieren.
Christian Eckerlein und Dr. Christoph Mattes,
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
FORSCHUNGSDESIGN
19 themenzentrierte Interviews mit Betroffenen,
Auswertung statistischer Daten durch
das Statistische Amt des Kantons Basel-Stadt,
schriftliche Umfrage bei Basler Beratungsstellen
zum bestehenden Hilfsangebot zum
Ausfüllen der Steuererklärung, zwei Austauschtreffen
mit einer Begleitgruppe
(bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern
Basler Sozialberatungsstellen, Stellen
der kantonalen Verwaltung sowie der CMS).
Aus den 19 Interviews geht hervor, dass eine nicht erfolgte Steuerdeklaration
meist mit einer allgemeinen Vernachlässigung administrativer
und finanzieller Angelegenheiten einhergeht. Auch wenn es hierfür keine
eindeutig identifizierbaren Gründe gibt, lassen sich schemenhaft drei
verschiedene Konstellationen unterscheiden: In vielen Fällen ist die
1 Gesetz über die direkten Steuern (StG) § 158 Abs. 2 StG / Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer
(DBG) Art. 130 Abs. 2.
14
Studie
Ein Weg aus der
Schuldenspirale
Der 33-jährige Marco Conti* hat sich nach einer privaten Krise
und früher Vaterschaft sehr jung hoch verschuldet. Den grössten
Teil machten Steuerschulden aus. Die Schuldenberatungsstelle
Plusminus hat ihm bei der Schuldensanierung geholfen.
RADAR hat ihn im Januar zum Gespräch getroffen.
Wo lebten Sie nach dem Tod Ihrer Mutter?
Ich habe eine Frau kennengelernt und bin zu ihr gezogen. Als ich 23 Jahre
alt war, haben wir einen Sohn bekommen. Eigentlich ein Wunschkind.
Ich habe alles bezahlt. Mein niedriger Lohn reichte aber hinten und vorne
nicht, und meine damalige Frau wollte nicht arbeiten. Es wurde immer
schlimmer mit den Schulden und den Betreibungen. Wir haben uns später
getrennt – und ich sass mit 30 Jahren auf einem Schuldenberg von
rund CHF 100 000. Fast die Hälfte davon waren Steuerschulden.
Und dann?
Meine Brüder haben mir geholfen. Zuerst wollten wir das Problem selber
lösen, aber schliesslich sind wir zur Schuldenberatung von Plusminus
gegangen.
Wie lief das ab bei Plusminus?
Die Beraterin hat zuerst ein ausführliches Gespräch mit uns geführt und
dann gemeinsam mit uns einen Plan für eine Schuldensanierung innerhalb
von 36 Monaten aufgestellt. Ich wollte bewusst keinen Privatkonkurs
anmelden, sondern die Sache wirklich abschliessen und Schulden
zurückzahlen. Das war für mich auch psychologisch wichtig. Das Nachlassgericht
hat dem Sanierungsplan zugestimmt: Die rund CHF 30 000
Krankenkassenschulden muss ich gemäss Gesetz ganz zurückzahlen.
Und dann noch zusätzliche CHF 20 000 an die anderen Gläubiger. Der
Rest wurde mir erlassen.
Plusminus, Budget- und Schuldenberatung BaseI
RADAR: Herr Conti, weshalb haben Sie überhaupt
Schulden gemacht?
Marco Conti: Als ich im dritten Lehrjahr war, ist meine Mutter gestorben.
Der Stiefvater hat mich und meine Brüder dann rausgeworfen. Das hat
mich total aus der Bahn gehauen. Ich habe die Lehrabschlussprüfung
nicht bestanden, jobbte danach temporär und machte immer mehr
Schulden: Krankenkasse und vor allem Steuern. Vorher hatte das alles
meine Mutter erledigt und bezahlt. Ich hatte keine Ahnung, wie mit Geld
umgehen und wie das mit der Steuererklärung läuft. Am Anfang habe
ich der Steuerverwaltung einfach den Lohnausweis eingeschickt, später
wuchs mir alles über den Kopf. Ich reichte nichts mehr ein und stopfte
die Steuererklärung, alle Rechnungen und Betreibungen in eine Schublade.
Wie zahlen Sie das ab?
Ich arbeite in der Produktionsstrasse eines grossen Unternehmens und
verdiene CHF 4 250 pro Monat. Seit zweieinhalb Jahren zahle ich jeden
Monat CHF 900 an die Gläubiger zurück, plus den 13. Monatslohn und
Boni. Nach Abzug der Alimente für meinen Sohn, der laufenden Steuern,
der Krankenkasse und Kosten für das U-Abo bleiben mir noch knapp
CHF 1 600 für die restlichen Lebenshaltungskosten – einschliesslich der
berufsbedingten auswärtigen Verpflegung. Aber nur, weil ich gratis wohne.
Bis vor Kurzem bei meinem Bruder. Der ist jetzt aber weggezogen.
Jetzt wohne ich bei meinem leiblichen Vater als Notlösung. Diesen Mai
ist die Schuldensanierung abgeschlossen. Ich bin überglücklich! Dann
werden auch die Einträge im Betreibungsregister gelöscht, und ich kann
mir endlich eine eigene Wohnung suchen und ganz neu anfangen.
Keine Angst, wieder in dieselbe Situation zu kommen?
Nein. Ich habe sehr viel gelernt und gehe mit meinen Ausgaben und Verpflichtungen
jetzt sorgfältig um.
Was raten Sie Menschen in einer ähnlichen Situation?
Unbedingt früher Hilfe holen bei Beratungsstellen wie Plusminus. Und
dann fände ich es auch gut, wenn die Steuern direkt vom Lohn abgezogen
würden.
Interview: Sylvia Scalabrino
* Name geändert
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Aktuell
Am Abgrund
Postcards
Postkarten sind wie gute Popsongs. Sie sind auf Anhieb
verständlich, und sie lösen unterschiedliche Erinnerungen
und Gefühle aus. Wenn zehn Menschen dieselbe
Postkarte von einem Strand in Rimini anschauen, erinnert
sich eine Frau vielleicht an ihre ersten Sommerferien
mit ihrem Freund, eine andere denkt an die schmerzhafte
Begegnung mit einer Feuerqualle, ein Jugendlicher
träumt von einer ausschweifenden Strandparty und eine
Familie erinnert sich an den gerissenen Keilriemen auf
der Autostrada Adriatica kurz vor Faenza. Ich selbst erinnere
mich bei Rimini-Postkarten immer an die beste
Tagliata di Manzo vom Grill, die ich je hatte. Frau Fischer
und ich hatten eine bestimmte Osteria zu unserem Ferienstammlokal
erklärt und verbrachten jeden Abend
dort. Als wir abreisten, schenkte uns der Padrone zwei
wunderschöne Porzellanteller.
Postkarten haben etwas Anrührendes und
Sentimentales. Diese einfache und direkte Art, Gefühle
und Stimmungen auszudrücken, gefällt mir. Eine Postkarte
muss einen besonderen Zauber haben, sie muss
visuell und emotional stimulieren. Sie kurbelt das Fernweh
an und stillt vorübergehend die Sehnsucht.
Der Mann, der hier einen äusserst waghalsigen Weg eingeschlagen
hat, ist Christoph Fischer, Künstler, Zeichner
und Illustrator. Er kommt gerade aus dem Urwald von
Ecuador und blickt nun von seinem wackeligen Standpunkt
aus auf die Dachlandschaft der Aarauer Altstadt.
Besorgt hoffen wir, dass die lose gestapelte Büchermauer
nicht nachgibt und er sein Gleichgewicht halten kann.
Christoph Fischer ist am Träumen, und im
Traum ist alles möglich: Dinge kommen zusammen,
die nicht zusammengehören, Proportionen verschieben
sich, Materialien verhalten sich ungewohnt, die Zeit
läuft anders, aus etwas Schönem kann unvermittelt
etwas Gefährliches werden.
Christoph Fischer hat das Comic-Stipendium
der Deutschschweizer Städte, mit dem er 2019 ausgezeichnet
wurde, genutzt, um aus über 450 in Tagebüchern
skizzierten und notierten Träumen eine Auswahl zu
treffen und diese als grossformatige Bleistiftzeichnungen
umzusetzen. In «Während ich schlief», der neuesten Publikation
des Cartoonmuseums Basel im Christoph Merian
Verlag, sehen wir diese Traumbilder, dazu erläuternde
Kurztexte und Filzstiftskizzen des 1976 in Luzern geborenen
Künstlers. Das Buch begleitet die Retrospektive
«Christoph Fischer. Der Welt abgeschaut» im Cartoonmuseum,
in der bis 1. Juni 2020 auch die Originale seiner
Traumbilder zu sehen sind.
www.cartoonmuseum.ch
Marktstand
Als botanischer Garten sind die Merian Gärten spezialisiert
auf Sortenvielfalt bei Zier- und Nutzpflanzen. Allein
im Bauerngarten wachsen über 150 einzigartige Gemüsesorten
von ProSpecieRara. Von Frühling bis Spätherbst
finden Sie besondere Sorten immer donnerstags frisch
aus den Gärten an unserem Marktstand.
Das Angebot wechselt mit den Jahreszeiten.
Bereits im April gibt es karottenförmige Radieschen
«Candela di fuoco», lila-weisse und knollenartige Mairüben
«Rose de Verdun» oder den milden, mehrköpfigen
Strauchkohl (Ewiger Kohl), alles ProSpecieRara-Sorten.
Ab Mitte Mai sollten Lattich, Rettich, Schnitt- und Blattsalat
erhältlich sein, falls nicht das Wetter oder Schädlinge
den Ernteplan durcheinanderbringen. Die raren
Sorten aus dem Bauerngarten unterscheiden sich in
Farbe, Form und Geschmack deutlich vom Gemüse aus
dem Supermarkt.
Nicht nur Gemüse findet sich am Marktstand:
Je nach Ernte gibt es reife Äpfel, Quitten und Kürbisse
und gelegentlich auch Kräuterteemischungen, hausgemachte
Konfitüren aus Quitten oder Beeren sowie Sirup.
Äusserst beliebt sind die Eier der mit grosszügigem Auslauf
gehaltenen Hühner und der Merian-Gärten-Honig.
Die Produkte der Merian Gärten gibt es nicht in grossen
Mengen, dafür sind es spezielle Sorten, die tolle Geschmackserlebnisse
in Bio-Qualität bieten und sich auf
dem Teller bestens präsentieren lassen.
Marktstand auf dem Brüglingerhof, ca. Mai bis Oktober
jeweils donnerstags, 10 bis 12.30 Uhr
www.meriangaerten.ch
Beat Schlatter, «Postcards»
www.merianverlag.ch
Redaktion: Carlo Clivio, Elisabeth Pestalozzi, Kommunikation CMS
Texte: Dr. Tilo Richter (tri); Sylvia Scalabrino (scy)
Gestaltung: BKVK, Basel — Vanessa Serrano, Beat Keusch
Korrektorat: Dr. Rosmarie Anzenberger, Basel
Druck und Bildbearbeitung: Gremper AG, Basel/Pratteln
Auflage April 2020: 3 500 Exemplare; erscheint dreimal jährlich
Illustrationen erster Bund: Jan Bachmann
Bildnachweis: Alex Urosevic, Involt (S. 13, oben), Explorers Film Club & Puck Verkade (S. 13, unten), Plusminus (S. 15),
Maya & Daniele, Zürich (S. 16, links), Christoph Fischer (S. 16, Mitte), Kathrin Schulthess (S. 16, rechts)
St. Alban-Vorstadt 12
Postfach
CH-4002 Basel
T + 41 61 226 33 33
kommunikation@cms-basel.ch
www.cms-basel.ch
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