ZAP-2020-07

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Fach 1, Seite 46 Rechtsprechung 2020 gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen. Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staats, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen. Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben beimisst, ist grds. geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten. ZAP EN-Nr. 174/2020 Rechtsreferendarinnen: Kopftuchverbot (BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17) • Die Rechtsreferendarinnen und -referendaren auferlegte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentanten des Staats wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden könnten, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Als mit der Glaubensfreiheit in Widerstreit tretende Verfassungsgüter, die einen Eingriff in die Religionsfreiheit im vorliegenden Zusammenhang rechtfertigen können, kommen der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staats, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und mögliche Kollisionen mit der grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit Dritter in Betracht. Keine rechtfertigende Kraft entfalten dagegen das Gebot richterlicher Unparteilichkeit und der Gedanke der Sicherung des weltanschaulich-religiösen Friedens. Die Verpflichtung des Staats auf Neutralität kann keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität, denn der Staat kann nur durch Personen handeln. Allerdings muss sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen. Eine Zurechnung kommt aber insb. dann in Betracht, wenn der Staat – wie im Bereich der Justiz – auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss nimmt. Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zählt zu den Grundbedingungen des Rechtsstaats und ist im Wertesystem des Grundgesetzes fest verankert, da jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient. Funktionsfähigkeit setzt voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die Justiz insgesamt existiert. Ein „absolutes Vertrauen“ in der gesamten Bevölkerung wird zwar nicht zu erreichen sein. Dem Staat kommt aber die Aufgabe der Optimierung zu. Hinweis: Vgl. dazu RÖDEL, Das Kopftuch als religiöses Symbol im öffentlichen Raum. Überblick über die neuere Rechtsprechung und Literatur, ZAP F. 19 R, S.393–398, insb. zum Kopftuchverbot für Rechtsanwältinnen und (ehrenamtliche) Richterinnen. Zu begrüßen ist auf jeden Fall die eindeutige Begründung der BVerfG-Entscheidung, die sich auch auf andere Bereiche im öffentlichen Raum übertragen lassen wird. ZAP EN-Nr. 175/2020 Verfassungsbeschwerdeverfahren: Antrag auf Wertfestsetzung (BVerfG, Beschl. v. 21.1.2020 – 1 BvR 1867/17) • Gemäß § 37 Abs. 2 S. 2 RVG beträgt der Mindestgegenstandswert im Verfahren der Verfassungsbeschwerde 5.000 €. Ein höherer Gegenstandswert kommt in Fällen, in denen eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen oder zurückgenommen worden ist, regelmäßig nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 79, 365, 369). Ist deshalb vom Mindestgegenstandswert auszugehen, so besteht für die gerichtliche Festsetzung des Gegenstands- 342 ZAP Nr. 7 1.4.2020

Rechtsprechung 2020 Fach 1, Seite 47 wertes kein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.5.1999 – 2 BvR 1790/94, NJW 2000, 1399). Hinweis: Diese wenig anwaltfreundliche Entscheidung ist abzulehnen, da sie an der Wirklichkeit vorbeigeht. Für Gebühren aus einem Gegenstandswert von 5.000 € lässt sich der Zeit- und Arbeitsaufwand für das Abfassen einer Verfassungsbeschwerde nicht ansatzweise rechtfertigen. ZAP EN-Nr. 176/2020 Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheids: Reichweite der Rechtskraft (OVG Hamburg, Beschl. v. 3.2.2020 – 5 Bf 228/18.Z) • Anders als bei einem Bescheidungsurteil erstreckt sich bei einem Urteil, mit dem die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts festgestellt wird, die Rechtskraft nicht auf die Entscheidungsgründe (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 18.7.2013 – 5 C 8/12, juris Rn 15). Gegenstand der materiellen Rechtskraft eines Urteils, das einem Begehren nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO stattgibt, ist die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Für einen späteren Prozess entfaltet ein solches Urteil präjudizielle Bindungswirkung, wenn die rechtskräftig entschiedene Frage vorgreiflich für die Beurteilung des zur Entscheidung stehenden Rechtsverhältnisses ist (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 31.1.2002 – 2 C 7/01, juris Rn 13 ff.). Die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheids, mit dem Fördermittel für ein bestimmtes Forschungsvorhaben für einen bestimmten Zeitraum versagt wurden, entfaltet keine Bindungswirkung bezüglich der Behandlung zukünftiger Anträge für andere, wenn auch vergleichbare Ausschreibungen von Fördermitteln. Die Zulassung der Berufung kommt nicht in Betracht, wenn das Verwaltungsgericht seine Feststellung, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig gewesen, auf mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt und die Beklagte die Zulassungsgründe nicht wegen eines jeden die Entscheidung tragenden Grundes dargelegt hat. ZAP EN-Nr. 177/2020 Steuerrecht Schenkungsteuer: Begünstigung von Betriebsvermögen (BFH, Urt. v. 6.11.2019 – II R 34/16) • Die Begünstigung von Betriebsvermögen nach § 13a ErbStG i.d.F. des Jahres 2007 setzt voraus, dass der Gegenstand des Erwerbs bei dem bisherigen Rechtsträger Betriebsvermögen war und bei dem neuen Rechtsträger Betriebsvermögen wird. Ist Gegenstand des Erwerbs eine Beteiligung an einer Personengesellschaft, muss der Erwerber Mitunternehmer werden. Der Eigentümer eines nießbrauchbelasteten Kommanditanteils kann Mitunternehmer sein. Die Übertragung der Steuerberechnung auf das Finanzamt im Tenor der finanzgerichtlichen Entscheidung setzt voraus, dass dem Finanzamt nur noch die Berechnung der Steuer verbleibt. Wertungs-, Beurteilungs- oder Entscheidungsspielräume sind unzulässig. Ein Zuwarten auf eine gesonderte Feststellung geht über die Steuerberechnung hinaus. ZAP EN-Nr. 178/2020 Strafsachen/Ordnungswidrigkeitenrecht Einspruchsverwerfung: Abwesenheit des Verteidigers (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.1.2020 – 3 Rb 32 Ss 983/19) • Der Umstand, dass auch der Verteidiger des von der Anwesenheitspflicht entbundenen Betroffenen der Hauptverhandlung ferngeblieben ist, rechtfertigt den Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht. ZAP EN-Nr. 179/2020 Gebührenrecht Übernachtungskosten: Erforderlichkeit (LG Memmingen, Beschl. v. 20.1.2020 – 34 O 1272/16) • Übernachtungskosten nach Nr. 7006 VV RVG sind zu erstatten, wenn diese angemessen sind. Dies ist regelmäßig dann gegeben, wenn die Übernachtung zweckmäßig, oder aber, wenn Hin- und Rückreise am selben Tag nicht möglich oder nicht zumutbar sind. Dies ist in Anlehnung an § 758a Abs. 4 ZPO dann anzunehmen, wenn die Hin- und Rückreise nicht im Zeitfenster von 6 Uhr bis 21 Uhr erfolgen können. ZAP EN-Nr. 180/2020 ZAP Nr. 7 1.4.2020 343

Fach 1, Seite 46 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der<br />

Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig<br />

angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der<br />

Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen. Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist<br />

zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld<br />

unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden,<br />

auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener<br />

Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt<br />

in Kollision zu der Pflicht des Staats, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe<br />

Rechtsgut Leben zu schützen. Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben<br />

beimisst, ist grds. geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu<br />

rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der<br />

Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu<br />

freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung<br />

der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem<br />

solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich<br />

geschützten Freiheit verbleibt. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 174/<strong>2020</strong><br />

Rechtsreferendarinnen: Kopftuchverbot<br />

(BVerfG, Beschl. v. 14.1.<strong>2020</strong> – 2 BvR 1333/17) • Die Rechtsreferendarinnen und -referendaren auferlegte<br />

Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentanten des Staats wahrgenommen werden oder<br />

wahrgenommen werden könnten, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht<br />

durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in<br />

die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Als mit der Glaubensfreiheit<br />

in Widerstreit tretende Verfassungsgüter, die einen Eingriff in die Religionsfreiheit im vorliegenden<br />

Zusammenhang rechtfertigen können, kommen der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität<br />

des Staats, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und mögliche Kollisionen mit<br />

der grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit Dritter in Betracht. Keine rechtfertigende<br />

Kraft entfalten dagegen das Gebot richterlicher Unparteilichkeit und der Gedanke der Sicherung des<br />

weltanschaulich-religiösen Friedens. Die Verpflichtung des Staats auf Neutralität kann keine andere<br />

sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität, denn der Staat kann nur durch Personen<br />

handeln. Allerdings muss sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private<br />

Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen. Eine Zurechnung kommt aber<br />

insb. dann in Betracht, wenn der Staat – wie im Bereich der Justiz – auf das äußere Gepräge einer<br />

Amtshandlung besonderen Einfluss nimmt. Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zählt zu den<br />

Grundbedingungen des Rechtsstaats und ist im Wertesystem des Grundgesetzes fest verankert, da<br />

jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient. Funktionsfähigkeit setzt voraus,<br />

dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die<br />

Justiz insgesamt existiert. Ein „absolutes Vertrauen“ in der gesamten Bevölkerung wird zwar nicht zu<br />

erreichen sein. Dem Staat kommt aber die Aufgabe der Optimierung zu. Hinweis: Vgl. dazu RÖDEL, Das<br />

Kopftuch als religiöses Symbol im öffentlichen Raum. Überblick über die neuere Rechtsprechung und<br />

Literatur, <strong>ZAP</strong> F. 19 R, S.393–398, insb. zum Kopftuchverbot für Rechtsanwältinnen und (ehrenamtliche)<br />

Richterinnen. Zu begrüßen ist auf jeden Fall die eindeutige Begründung der BVerfG-Entscheidung,<br />

die sich auch auf andere Bereiche im öffentlichen Raum übertragen lassen wird.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 175/<strong>2020</strong><br />

Verfassungsbeschwerdeverfahren: Antrag auf Wertfestsetzung<br />

(BVerfG, Beschl. v. 21.1.<strong>2020</strong> – 1 BvR 1867/17) • Gemäß § 37 Abs. 2 S. 2 RVG beträgt der Mindestgegenstandswert<br />

im Verfahren der Verfassungsbeschwerde 5.000 €. Ein höherer Gegenstandswert<br />

kommt in Fällen, in denen eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen oder<br />

zurückgenommen worden ist, regelmäßig nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 79, 365, 369). Ist deshalb vom<br />

Mindestgegenstandswert auszugehen, so besteht für die gerichtliche Festsetzung des Gegenstands-<br />

342 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>

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