ZAP-2020-07

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Fach 1, Seite 42 Rechtsprechung 2020 Straßenverkehrsrecht Rückstau vor einer ampelgeregelten Baustelle: Langsames Überholen (OLG Koblenz, Urt. v. 10.2.2020 – 12 U 1134/19) • Bildet sich auf einer Landstraße vor einer ampelgeregelten Baustelle ein kolonnenartiger Rückstau und überholt – in einer Phase, in welcher kein Gegenverkehr naht – ein Motorrad mit mäßiger Geschwindigkeit (ca. 15 km/h) diese Kolonne, trifft den Motorradfahrer auch unter Berücksichtigung der von seinem Motorrad ausgehenden Betriebsgefahr keine Mithaftung, wenn aus der Kolonne ohne jegliche Vorankündigung ein Pkw nach links ausschert, um in einen dort befindlichen Wirtschaftsweg einzubiegen, und es hierdurch zu einer Kollision mit dem bereits auf (nahezu) gleicher Höhe befindlichen Motorrad kommt. Die Voraussetzungen für eine Schadensabrechnung auf der Basis des gutachterlich ermittelten Reparaturaufwands (fiktive Abrechnung) sind nicht gegeben, wenn der Geschädigte eine die Weiternutzung ermöglichende Reparatur des Motorrads nicht vornimmt, sondern dieses im unreparierten Zustand weiterveräußert. Möchte der Geschädigte aus dem Regulierungsverhalten (der Versicherung) des Schädigers rechtliche Konsequenzen dergestalt herleiten, dass er wegen einer Einschränkung seines Wahlrechts hinsichtlich der Form der Schadensbehebung und einer damit einhergehenden Verletzung seines Integritätsinteresses einen (weiteren) Schaden in Höhe der Differenz zwischen dem Schadensbetrag bei fiktiver Schadensberechnung auf Reparaturkostenbasis und demjenigen auf Basis des Wiederbeschaffungsaufwands geltend machen möchte, so muss er vorab seiner Warnungspflicht nachkommen und den Schädiger bzw. dessen Versicherung auf diese drohenden Folgen hinweisen. ZAP EN-Nr. 161/2020 Versicherungsrecht Private Krankenversicherung: Geheimhaltungsinteresse bei Prämienerhöhungen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.2.2020 – 12 W 24/19) • Im Rechtsstreit über Prämienerhöhungen in der privaten Krankenversicherung kann zum Schutz der Geschäftsgeheimnisse des Krankenversicherers die Öffentlichkeit ausgeschlossen und die Geheimhaltung von Unterlagen über die technischen Berechnungsgrundlagen angeordnet werden (Anschluss an BGH, Urt. v. 9.12.2015 – IV ZR 272/15). Eine Geheimhaltungsanordnung gem. § 174 Abs. 3 GVG erstreckt sich nicht auf die im Verhandlungstermin nicht anwesende Partei. Dem im Verhandlungstermin anwesenden Prozessbevollmächtigten ist es aufgrund der Geheimhaltungsanordnung in diesem Fall untersagt, seinen Mandanten über den Inhalt der geheimzuhaltenden Schriftstücke zu informieren. Dies steht der Zulässigkeit einer Geheimhaltungsanordnung nicht entgegen. Eine Geheimhaltungsanordnung muss die geheimzuhaltenden Tatsachen oder Schriftstücke hinreichend genau bezeichnen. ZAP EN-Nr. 162/2020 Familienrecht Zugewinnausgleichsverfahren: Wesentlicher Verfahrensmangel (OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.2.2020 – 13 UF 127/17) • Eine Überraschungsentscheidung durch Verletzung der richterlichen Hinweispflicht nach § 139 Abs. 2 ZPO begründet einen wesentlichen Verfahrensmangel nach § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Auf mangelnde Substantiierung darf sich ein Gericht nie stützen, bevor auf die Ergänzungsbedürftigkeit des Sachvortrages hingewiesen worden ist. Insoweit ist nach § 139 Abs. 2 ZPO eine Erörterung unerlässlich, wenn Tatsachenvortrag, Beweisangebote oder Anträge unvollständig, unklar oder neben der Sache sind, es sei denn, die Partei war bereits durch eingehenden und von ihr erfassten Vortrag des Verfahrensgegners zutreffend über die Sach- und Rechtslage unterrichtet. Zur schlüssigen Darstellung eines Zugewinnausgleichsanspruchs aus § 1378 BGB genügt regelmäßig die Bezifferung der beiderseitigen Endvermögen; diese stellen bei regelmäßig fehlenden Verzeichnissen der Anfangsvermögen nach § 1377 Abs. 3 BGB den jeweiligen Zugewinn der Ehegatten dar. ZAP EN-Nr. 163/2020 338 ZAP Nr. 7 1.4.2020

Rechtsprechung 2020 Fach 1, Seite 43 Nachlass-/Erbrecht Nacherbentestamentsvollstrecker: Entlassung (OLG München, Beschl. v. 28.1.2020 – 31 Wx 439/17) • Ist im Fall der Nacherbschaft ein Vermögensverzeichnis zu erstellen, so hat dies die im Nachlass befindlichen Vermögensgegenstände, nicht jedoch bloße Erinnerungsstücke ohne materiellen Wert oder Verbindlichkeiten zu umfassen. Ist den Nacherben der Umfang des Nachlasses bekannt und weiß der Nacherbentestamentsvollstrecker daher, dass im Nachlass keine Wertgegenstände vorhanden sind, die nicht im Nachlassverzeichnis aufgeführt sind, wäre es reiner Formalismus, würde vom Nacherbentestamentsvollstrecker dennoch verlangt, vom Vorerben eine über das Nachlassverzeichnis hinausgehende Auskunft anzufordern. ZAP EN-Nr. 164/2020 Zivilprozessrecht Revisionszulassung: Entgegenwirken einer Gehörsverletzung (BGH, Beschl. v. 28.1.2020 – VIII ZR 57/19) • Eine Zulassung der Revision wegen eines dem Berufungsgericht unterlaufenen Gehörsverstoßes kommt nicht in Betracht, wenn es der Beschwerdeführer versäumt hat, i.R.d. ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 17.3.2016 – IX ZR 211/14, NJW-RR 2016, 699). Hierbei ist eine anwaltlich vertretene Partei auch gehalten, das Berufungsgericht auf von ihm bislang nicht beachtete höchstrichterliche Rechtsprechungsgrundsätze hinzuweisen (hier: Voraussetzungen einer Behauptung „ins Blaue hinein“ und eines „Ausforschungsbeweises“). Hinweis: Das Berufungsgericht hatte das Vorbringen des Klägers zum Vorhandensein einer oder mehrerer unzulässiger Abschalteinrichtungen zu Unrecht als unbeachtliche Behauptungen „ins Blaue hinein“ gewertet und den hierfür angetretenen Sachverständigenbeweis nicht erhoben, obwohl ein solches Vorgehen im Prozessrecht keine Stütze findet. Schon als Referendar lernt man, dass der Anwalt den Sachverhalt vorträgt und das Gericht Recht findet. Offensichtlich brauchen manche Gerichte etwas Nachhilfe. ZAP EN-Nr. 165/2020 Richterablehnung: Grenzen einer Selbstentscheidung (VerfGH NRW, Beschl. v. 11.2.2020 – VerfGH 32/19.VB-3) • Ein wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnter Richter in einem zivilgerichtlichen Verfahren kann über das Ablehnungsgesuch selbst entscheiden, wenn es wegen Rechtsmissbräuchlichkeit als offensichtlich unzulässig zu verwerfen ist. So verhält es sich, wenn das Ablehnungsgesuch offensichtlich lediglich dazu dient, das Verfahren zu verschleppen, oder verfahrensfremde Ziele verfolgt. Diese – gesetzlich nicht geregelte – Ausnahme von den Zuständigkeitsbestimmungen der Zivilprozessordnung gerät bei strenger Prüfung ihrer Voraussetzungen mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter nicht in Konflikt, soweit die Prüfung der Rechtsmissbräuchlichkeit keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt und deshalb keine echte Entscheidung in eigener Sache ist. Eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters für das Ablehnungsverfahren kann nicht in jeder fehlerhaften Annahme eines abgelehnten Richters, über das Ablehnungsgesuch wegen offensichtlicher Unzulässigkeit selbst entscheiden zu dürfen, gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich als Verfassungsverstoß angesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber dann überschritten, wenn das Vorgehen des abgelehnten Richters im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder die Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters grundlegend verkennt. Der Verfassungsgerichtshof hegt Bedenken gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), nach der bei einer verfassungswidrigen Überschreitung der Grenzen der Selbstentscheidung durch den abgelehnten Richter das im Beschwerdeverfahren nach § 46 Abs. 2 ZPO entscheidende Gericht diesen Verfassungsverstoß nur durch die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache beheben kann (so namentlich BVerfG, Beschl. v. 14.11.2007 – 2 BvR 1849/07). Hinweis: Der Verfassungsgerichtshof hat letztgenannte Bedenken ZAP Nr. 7 1.4.2020 339

Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 43<br />

Nachlass-/Erbrecht<br />

Nacherbentestamentsvollstrecker: Entlassung<br />

(OLG München, Beschl. v. 28.1.<strong>2020</strong> – 31 Wx 439/17) • Ist im Fall der Nacherbschaft ein Vermögensverzeichnis<br />

zu erstellen, so hat dies die im Nachlass befindlichen Vermögensgegenstände, nicht jedoch<br />

bloße Erinnerungsstücke ohne materiellen Wert oder Verbindlichkeiten zu umfassen. Ist den Nacherben<br />

der Umfang des Nachlasses bekannt und weiß der Nacherbentestamentsvollstrecker daher, dass im<br />

Nachlass keine Wertgegenstände vorhanden sind, die nicht im Nachlassverzeichnis aufgeführt sind,<br />

wäre es reiner Formalismus, würde vom Nacherbentestamentsvollstrecker dennoch verlangt, vom<br />

Vorerben eine über das Nachlassverzeichnis hinausgehende Auskunft anzufordern.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 164/<strong>2020</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Revisionszulassung: Entgegenwirken einer Gehörsverletzung<br />

(BGH, Beschl. v. 28.1.<strong>2020</strong> – VIII ZR 57/19) • Eine Zulassung der Revision wegen eines dem Berufungsgericht<br />

unterlaufenen Gehörsverstoßes kommt nicht in Betracht, wenn es der Beschwerdeführer<br />

versäumt hat, i.R.d. ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des<br />

Berufungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken (im Anschluss an BGH,<br />

Beschl. v. 17.3.2016 – IX ZR 211/14, NJW-RR 2016, 699). Hierbei ist eine anwaltlich vertretene Partei auch<br />

gehalten, das Berufungsgericht auf von ihm bislang nicht beachtete höchstrichterliche Rechtsprechungsgrundsätze<br />

hinzuweisen (hier: Voraussetzungen einer Behauptung „ins Blaue hinein“ und eines<br />

„Ausforschungsbeweises“). Hinweis: Das Berufungsgericht hatte das Vorbringen des Klägers zum<br />

Vorhandensein einer oder mehrerer unzulässiger Abschalteinrichtungen zu Unrecht als unbeachtliche<br />

Behauptungen „ins Blaue hinein“ gewertet und den hierfür angetretenen Sachverständigenbeweis nicht<br />

erhoben, obwohl ein solches Vorgehen im Prozessrecht keine Stütze findet. Schon als Referendar lernt<br />

man, dass der Anwalt den Sachverhalt vorträgt und das Gericht Recht findet. Offensichtlich brauchen<br />

manche Gerichte etwas Nachhilfe. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 165/<strong>2020</strong><br />

Richterablehnung: Grenzen einer Selbstentscheidung<br />

(VerfGH NRW, Beschl. v. 11.2.<strong>2020</strong> – VerfGH 32/19.VB-3) • Ein wegen Besorgnis der Befangenheit<br />

abgelehnter Richter in einem zivilgerichtlichen Verfahren kann über das Ablehnungsgesuch selbst<br />

entscheiden, wenn es wegen Rechtsmissbräuchlichkeit als offensichtlich unzulässig zu verwerfen ist. So<br />

verhält es sich, wenn das Ablehnungsgesuch offensichtlich lediglich dazu dient, das Verfahren zu<br />

verschleppen, oder verfahrensfremde Ziele verfolgt. Diese – gesetzlich nicht geregelte – Ausnahme von<br />

den Zuständigkeitsbestimmungen der Zivilprozessordnung gerät bei strenger Prüfung ihrer Voraussetzungen<br />

mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter nicht in Konflikt, soweit die Prüfung der<br />

Rechtsmissbräuchlichkeit keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt<br />

und deshalb keine echte Entscheidung in eigener Sache ist. Eine verfassungswidrige Entziehung<br />

des gesetzlichen Richters für das Ablehnungsverfahren kann nicht in jeder fehlerhaften Annahme eines<br />

abgelehnten Richters, über das Ablehnungsgesuch wegen offensichtlicher Unzulässigkeit selbst entscheiden<br />

zu dürfen, gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen<br />

Rechts zugleich als Verfassungsverstoß angesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind<br />

aber dann überschritten, wenn das Vorgehen des abgelehnten Richters im Einzelfall willkürlich oder<br />

offensichtlich unhaltbar ist oder die Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des gesetzlichen<br />

Richters grundlegend verkennt. Der Verfassungsgerichtshof hegt Bedenken gegen die Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), nach der bei einer verfassungswidrigen Überschreitung der<br />

Grenzen der Selbstentscheidung durch den abgelehnten Richter das im Beschwerdeverfahren nach § 46<br />

Abs. 2 ZPO entscheidende Gericht diesen Verfassungsverstoß nur durch die Aufhebung der erstinstanzlichen<br />

Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache beheben kann (so namentlich BVerfG,<br />

Beschl. v. 14.11.20<strong>07</strong> – 2 BvR 1849/<strong>07</strong>). Hinweis: Der Verfassungsgerichtshof hat letztgenannte Bedenken<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 339

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