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ZAP-2020-07

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

7 <strong>2020</strong><br />

1. April<br />

32. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />

Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />

Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Der Zugang zu Gerichtsentscheidungen (S. 325)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Maßnahmenpaket gegen Corona‐Krise (S. 326) • Gesetz zum Aufbau von Ladestationen<br />

für E‐Autos (S. 329) • Vergütung des Kanzleiabwicklers in der Insolvenz (S. 330)<br />

Aufsätze<br />

Viefhues, Die Bedeutung des Angehörigen‐Entlastungsgesetzes für den Elternunterhalt (S. 345)<br />

Förster/Fast, Stiftung und Nachlassrecht in der anwaltlichen Praxis (S. 349)<br />

Siefert, Bundesteilhabegesetz – Neuerungen im Recht der Eingliederungshilfe (S. 359)<br />

Rechtsprechung<br />

VerfGH NRW: Richterablehnung (S. 339)<br />

LG Bonn: Nachrichteneingang bei „WhatsApp“ (S. 340)<br />

BVerfG: Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung (S. 341)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 325–326<br />

Anwaltsmagazin – – 326–334<br />

Rechtsprechung 1 39–48 335–344<br />

Viefhues, Die Bedeutung des Angehörigen‐<br />

Entlastungsgesetzes für den Elternunterhalt 11 1571–1574 345–348<br />

Förster/Fast, Stiftung und Nachlassrecht in<br />

der anwaltlichen Praxis 12 385–394 349–358<br />

Siefert, Bundesteilhabegesetz – Neuerungen<br />

im Recht der Eingliederungshilfe 18 1721–1732 359–370<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />

Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />

Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • Dr. David<br />

Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer,<br />

Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA<br />

Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Der Zugang zu Gerichtsentscheidungen<br />

Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ist<br />

der Zugang zu aktuellen Gerichtsentscheidungen<br />

sehr wichtig, um ihre Mandanten richtig beraten<br />

zu können, aber auch, um Haftungsrisiken zu<br />

vermeiden.<br />

In vielen Verfahren sind die Entscheidungsgründe<br />

nicht nur im Einzelfall von Interesse, sondern<br />

betreffen eine Vielzahl von Fällen. Doch für viele<br />

Rechtsanwälte ist es schwierig, an Gerichtsentscheidungen<br />

zu kommen, oftmals blockiert die<br />

Gerichtsverwaltung den Zugang auch zu anonymisierten<br />

Entscheidungen, insb. mit dem Argument<br />

der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen – und<br />

das obwohl bei einer ordentlichen Anonymisierung<br />

keine Namen genannt und oftmals auch zutreffende<br />

Verfremdungen des Sachverhalts vorgenommen<br />

werden.<br />

Auch für die Medien sind Gerichtsentscheidungen<br />

von hohem Interesse, wie gerade die Auseinandersetzung<br />

des Ehemanns der Bundesfamilienministerin<br />

mit dem Verwaltungsgericht Berlin<br />

gezeigt hat. KARSTEN GIFFEY hatte versucht, die<br />

Veröffentlichung des Urteils zu verhindern, in<br />

dem das VG Berlin entschieden hatte, dass er als<br />

Beamter aus dem öffentlichen Dienst wegen<br />

Arbeitszeit- und Reisekostenbetrugs entfernt<br />

wird. Mit klaren Worten hat das VG Berlin (Beschl.<br />

v. 27.2.<strong>2020</strong> – 27 L 43/20) dieses Ansinnen zu<br />

Recht abgelehnt.<br />

Die Entscheidung betrifft zwar nur den Zugang<br />

der Medien zu der Gerichtsentscheidung, das VG<br />

Berlin verweist aber auch auf einen vielen Rechtsanwältinnen<br />

und Rechtsanwälten nicht bekannten<br />

Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom<br />

5.4.2017 (IV AR [VZ] 2/16).<br />

Der Leitsatz dieses Beschlusses soll noch einmal<br />

mitgeteilt werden:<br />

„In Zivilsachen kann der Gerichtsvorstand am Verfahren<br />

nicht beteiligten Dritten regelmäßig anonymisierte<br />

Abschriften von Urteilen und Beschlüssen<br />

erteilen, ohne dass dies den Anforderungen an die<br />

Gewährung von Akteneinsicht gem. § 299 Abs. 2<br />

ZPO unterliegt.“<br />

Der BGH begründet dies mit der öffentlichen<br />

Aufgabe der Gerichte, Gerichtsentscheidungen<br />

zu veröffentlichen. Fast schon gebetsmühlenartig<br />

wiederholen die Gerichte die Argumentation des<br />

Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Stattgebender<br />

Kammerbeschl. v. 14.9.2015 – 1 BvR 857/15, NJW<br />

2015, 3708) und des Bundesverwaltungsgerichts<br />

(BVerwG, Urt. v. 26.2.1997 – 6 C 3/96, BVerwGE 104,<br />

105), die (auszugsweise) ausgeführt haben:<br />

„Aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht,<br />

dem Demokratiegebot und<br />

dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt grds. eine<br />

Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikationsveröffentlichung<br />

würdiger Gerichtsentscheidungen.<br />

… Der Bürger muss zumal in einer zunehmend<br />

komplexen Rechtsordnung zuverlässig in Erfahrung<br />

bringen können, welche Rechte er hat und welche<br />

Pflichten ihm obliegen; die Möglichkeiten und Aussichten<br />

eines Individualrechtsschutzes müssen für ihn<br />

annähernd vorhersehbar sein. Ohne ausreichende<br />

Publizität der Rechtsprechung ist dies nicht möglich.“<br />

Der BGH wie auch die beiden anderen obersten<br />

Gerichte BVerfG und BVerwG stellen klar, dass es<br />

zur Begründung der Pflicht der Gerichte, der<br />

Öffentlichkeit ihre Entscheidungen zugänglich<br />

zu machen und zur Kenntnis zu geben, bei der<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 325


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

klaren Verfassungslage keiner speziellen gesetzlichen<br />

Rechtsgrundlage bedarf. Und der BGH<br />

stellt auch in aller Deutlichkeit noch einmal klar,<br />

dass es bei der Veröffentlichung von Entscheidungen<br />

der Gerichte nicht davon abhängt, ob<br />

nach Ansicht des betreffenden Gerichts diese<br />

Entscheidung der Veröffentlichung würdig ist,<br />

sondern dass es allein auf das Interesse der<br />

Dritten ankommt. Besonders anschaulich ist der<br />

Fall des BGH deswegen, weil eine Bank hier<br />

versucht hatte, die Veröffentlichung einer für sie<br />

negativen Entscheidung zu verhindern, die Leitcharakter<br />

hatte. Das aber darf in einem Rechtsstaat<br />

auch unter dem Aspekt der Waffengleichheit<br />

nicht passieren.<br />

Es mag umstritten sein, ob dieser Beschluss des<br />

BGH auch für Strafsachen gilt, aus der Entscheidung<br />

des BVerfG (a.a.O.), die zu einem Strafverfahren<br />

erging, lässt sich dagegen eindeutig<br />

herleiten, dass es einen Anspruch auch der<br />

Rechtsanwältin und des Rechtsanwalts als Organ<br />

der Rechtspflege mit der besonderen Stellung<br />

gibt, Entscheidungen anonymisiert zu erhalten.<br />

Der BGH stellt zudem klar, dass es die Aufgabe<br />

der Justizverwaltung und nicht des einzelnen<br />

Richters, der einzelnen Kammer oder des einzelnen<br />

Senats ist zu entscheiden, ob eine Entscheidung<br />

veröffentlicht wird oder nicht. Die<br />

Verwaltung hat hier für eine Gleichbehandlung<br />

zu sorgen.<br />

Für die Rechtsanwältin/den Rechtsanwalt bedeutet<br />

dies: Erfahren Sie von einer Gerichtsentscheidung,<br />

die für ein Mandat oder allgemein von<br />

Interesse ist, so ist diese Entscheidung direkt<br />

bei der Justizverwaltung anzufordern und um<br />

eine Übersendung einer anonymisierten Kopie zu<br />

bitten. Dies allerdings erst dann, wenn man sich<br />

vorher vergewissert hat, dass die Entscheidung<br />

nicht bereits in den einschlägigen Datenbanken –<br />

die zum Teil auch tagesaktuell eingestellt werden<br />

– vorhanden ist. Nicht nur die obersten Bundesgerichte<br />

sind hier mitunter sehr schnell, sondern<br />

auch offene Datenbanken der Länder (z.B. www.<br />

nrwe.de) oder aber die Datenbank www.openjur.de.<br />

Und notfalls sollte man sich durchaus mit der<br />

Verwaltung streiten.<br />

Rechtsanwalt MARTIN W. HUFF, Köln<br />

Anwaltsmagazin<br />

Maßnahmenpaket gegen<br />

Corona-Krise<br />

Um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie<br />

einzudämmen, hat die Bundesregierung<br />

Mitte März ein umfassendes Maßnahmenpaket<br />

beschlossen. Für Beschäftigte und<br />

für Unternehmen, die durch die Auswirkungen<br />

des Corona-Virus in Schwierigkeiten geraten,<br />

soll ein „Schutzschild“ errichtet werden, der auf<br />

vier Säulen beruht:<br />

• Flexibilisierung des Kurzarbeitergelds;<br />

• steuerliche Liquiditätshilfe für Unternehmen;<br />

• Milliarden-Hilfsprogramm für die Wirtschaft;<br />

• Stärkung des Europäischen Zusammenhalts.<br />

Beim Kurzarbeitergeld werden erleichterte Zugangsvoraussetzungen<br />

eingeführt: Das Quorum<br />

der von Arbeitsausfall betroffenen Beschäftigten<br />

im Betrieb wird auf bis zu 10 % abgesenkt.<br />

Zudem wird es künftig auch für Leiharbeitnehmer<br />

gezahlt. Die Sozialversicherungsbeiträge<br />

326 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

sollen vollständig durch die Bundesagentur für<br />

Arbeit (BA) erstattet werden.<br />

Im Rahmen der vorgesehenen steuerlichen Erleichterungen<br />

werden die Möglichkeiten zur<br />

Stundung von Steuerzahlungen, zur Senkung von<br />

Vorauszahlungen und im Bereich der Vollstreckung<br />

verbessert. Insgesamt wird Unternehmen<br />

die Möglichkeit von Steuerstundungen in Milliardenhöhe<br />

gewährt. Bei den Steuern, die von der<br />

Zollverwaltung verwaltet werden (z.B. Energiesteuer<br />

und Luftverkehrssteuer), ist die Generalzolldirektion<br />

angewiesen worden, den Steuerpflichtigen<br />

entgegenzukommen. Gleiches gilt für<br />

das Bundeszentralamt für Steuern, das für die<br />

Versicherungssteuer und die Umsatzsteuer zuständig<br />

ist und entsprechend verfahren wird.<br />

Kern des Milliarden-Schutzschilds für Betriebe und<br />

Unternehmen ist die massive Aufstockung der<br />

KfW-Kreditprogramme. Diese Liquiditätshilfen sollen<br />

im Volumen unbegrenzt sein. Zudem will der<br />

Bund den Unternehmen leichteren Zugang zu<br />

Bankbürgschaften verschaffen. Zu diesem Zweck<br />

werden sowohl der Risikoanteil des Bundes bei<br />

den Bürgschaftsbanken als auch der jeweilige<br />

Bürgschaftshöchstbetrag erhöht. Das bislang auf<br />

Unternehmen in strukturschwachen Regionen beschränkte<br />

Großbürgschaftsprogramm wird für Unternehmen<br />

außerhalb dieser Regionen geöffnet. Für<br />

Unternehmen, die krisenbedingt vorübergehend in<br />

ernsthaftere Finanzierungsschwierigkeiten geraten<br />

und daher nicht ohne Weiteres Zugang zu den<br />

bestehenden Förderprogrammen haben, werden<br />

zusätzliche Sonderprogramme aufgelegt. Betriebe,<br />

die im Exportgeschäft tätig sind, erhalten verstärkt<br />

Exportkreditgarantien (sog. Hermesdeckungen).<br />

Die Bundesregierung verweist zudem auf europäische<br />

Hilfsmaßnahmen wie etwa die „Corona<br />

Response Initiative“ der EU-Kommission mit einem<br />

Volumen von 25 Mrd. Euro und finanzielle Lockerungen<br />

durch die europäische Bankenaufsicht.<br />

Es sei eine vergleichbare Situation mit den Jahren<br />

nach der Finanzkrise 2009 zu bewältigen, so die<br />

Begründung der Bundesregierung bei Vorstellung<br />

des Maßnahmenpakets. Viele der Instrumente<br />

hätten sich damals schon bewährt und die jetzt<br />

im Haushalt <strong>2020</strong> verfügbaren Mittel reichten aus<br />

für ein vergleichbares Hilfsprogramm. Zugleich<br />

kündigte die Bundesregierung eine kurzfristig zu<br />

erlassende gesetzliche Stundungsregelung für Fälle<br />

pandemiebedingter Zahlungsrückstände an; sie soll<br />

z. B. Miet- und Darlehensschuldner in den nächsten<br />

Monaten vor Kündigungen schützen.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Hinweise der BRAK zur<br />

Corona-Pandemie<br />

Speziell mit Blick auf die Rechtsanwaltschaft<br />

hat sich auch die Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK) mit Hinweisen zur aktuellen Pandemie<br />

geäußert. Die Kammer erhalte zur Zeit „vermehrt<br />

Anfragen von besorgten Kollegen und Kolleginnen“ und<br />

gab deshalb auf ihrer Internetseite (www.brak.de)<br />

am 13. März eine Reihe von Hinweisen, die die<br />

Pandemie sowohl allgemein als auch mit Blick auf<br />

das anwaltliche Berufsrecht betreffen.<br />

Was allgemeine Informationen rund um die Erkrankung<br />

und Schutz vor Ansteckung angeht,<br />

verweist die BRAK auf eine Reihe von Internetseiten,<br />

so u.a. des Robert-Koch-Instituts (https://<br />

www.rki.de), der World Health Organization (WHO;<br />

www.euro.who.int/de/home), der Bundeszentrale für<br />

gesundheitliche Aufklärung (BZGA; https://www.<br />

bzga.de) sowie des Bundesgesundheitsministeriums<br />

(BMG; https://www.bundesgesundheitsministerium.de/<br />

ministerium.html); diese stellen zahlreiche Informationen,<br />

insb. Hinweise zu Hygienemaßnahmen<br />

und zu den aktuellen Fallzahlen, zur Verfügung.<br />

Viele Kolleginnen und Kollegen, so die BRAK, fragten<br />

sich aber auch, wie sie sich selbst im Falle einer<br />

Erkrankung oder der Verhängung von Quarantänemaßnahmen<br />

zu verhalten hätten. Die Antwort<br />

enthalte die Bestimmung des § 53 Abs. 1<br />

BRAO; diese lege fest, dass ein Rechtsanwalt für<br />

seine Vertretung sorgen müsse, wennerlängerals<br />

eine Woche daran gehindert ist, seinen Beruf<br />

auszuüben, oder wenn er sich länger als eine Woche<br />

von seiner Kanzlei entfernen wolle oder müsse.<br />

Kolleginnen und Kollegen, insb. mit Kanzleien in<br />

besonders betroffenen Gebieten, sollten daher<br />

vorsorgen, damit sie notfalls auch in Quarantäne<br />

arbeitsfähig seien, so die BRAK. Es empfehle sich,<br />

soweit vorhanden, beispielsweise notwendige<br />

technische Arbeitsmittel wie Laptop, Kartenlesegerät<br />

etc. täglich mit sich zu führen. Auch solle<br />

rechtzeitig überprüft werden, ob alle gewünschten<br />

bzw. notwendigen Zugriffsrechte auf das<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 327


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

besondere elektronische Anwaltspostfach (beA),<br />

also auch solche für den Vertretungsfall, ordnungsgemäß<br />

vergeben seien. Infos dazu, wie man<br />

Rechte vergebe, finde man im beA-Newsletter<br />

auf der Webseite der BRAK (www.brak.de). Bei<br />

Fragen rund um die Vertreterbestellung könne<br />

man sich an die zuständige regionale Rechtsanwaltskammer<br />

wenden. [Quelle: BRAK]<br />

Anwaltsorganisationen<br />

verabschieden Resolution<br />

zur Rechtsstaatlichkeit<br />

Über 50 Anwaltsorganisationen haben auf Initiative<br />

von EDITH KINDERMANN, Präsidentin des Deutschen<br />

Anwaltvereins (DAV), eine gemeinsame<br />

Resolution zur Rechtsstaatlichkeit in der EU verabschiedet.<br />

Anlässlich der Europäischen Präsidentenkonferenz<br />

in Wien betonen die Berufsverbände<br />

und Kammern damit die Unabdingbarkeit<br />

von Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit<br />

von Justiz und Anwaltschaft in der EU. Mit der<br />

Resolution werden die europäischen Institutionen<br />

wie auch die nationalen Regierungen dazu aufgerufen,<br />

diese Prinzipien mit allen verfügbaren<br />

Mitteln zu schützen. Insbesondere die EU-Kommission<br />

wird aufgefordert, die notwendigen Maßnahmen<br />

einzuleiten, um einen weiteren Vollzug<br />

der polnischen Justizreformen zu verhindern. DAV-<br />

Präsidentin KINDERMANN betont: „Die Anwaltschaft<br />

kann und wird angesichts der permanenten Angriffe auf<br />

den Rechtsstaat in Europa nicht schweigen. Es ist<br />

unsere Pflicht, aufzustehen, laut zu werden und die<br />

Prinzipien zu verteidigen, auf denen die Europäische<br />

Union beruht.“ Die unterzeichnenden Organisationen<br />

rufen zu einem Marsch der europäischen<br />

Roben auf, der zwischen dem 24. und 26.6.<strong>2020</strong> in<br />

Brüssel stattfinden soll. Damit wollen die Initiatoren<br />

mit Vertretern aller Rechtsberufe in Europa ein<br />

gemeinsames, sichtbares und starkes Zeichen für<br />

die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in der<br />

Europäischen Union setzen. [Quelle: DAV]<br />

Experten sehen Gefahr<br />

für die Demokratie<br />

Desinformation, politisches Hacking sowie politische<br />

Online-Werbung und Cyberangriffe auf Wahlmaschinen<br />

beeinflussen nach Ansicht zahlreicher<br />

Experten zunehmend die politische Willensbildung<br />

in der Europäischen Union. Deutschland und die EU<br />

müssten die Forschung zu politischer Kommunikation<br />

und Meinungsmanipulation stärker vorantreiben<br />

und gemeinsame Gegenstrategien entwickeln,<br />

forderten daher u.a. der Rechtswissenschaftler<br />

CHRISTIAN CALLIESS (Freie Universität Berlin) und JULIAN<br />

JAURSCH von der Stiftung Neue Verantwortung e.V.<br />

in einer öffentlichen Anhörung des Europaausschusses<br />

im Bundestag Anfang März zum Thema<br />

„Schutz der liberalen Demokratie in Europa“. Der<br />

Kulturwissenschaftler JÜRGEN NEYER von der Europa-<br />

Universität Viadrina warnte hingegen vor staatlichen<br />

Eingriffen in die Meinungsbildungsprozesse,<br />

da eine liberale Gesellschaft „maximalen Freiraum“<br />

brauche und jede Intervention in Willensbildungsprozesse<br />

der Versuch einer Manipulation sei. Die<br />

Gesellschaft solle den Staat prägen, nicht der Staat<br />

die Gesellschaft, betonte er. Mitberaten wurde in<br />

der zweistündigen Sitzung auch ein Antrag aus<br />

dem Bundestag, in dem die Abgeordneten die<br />

Bundesregierung auffordern, die Vorschläge des<br />

französischen Staatspräsidenten EMMANUEL MACRON<br />

zur Einrichtung einer europäischen Agentur für<br />

den Schutz der Demokratie positiv zu begleiten.<br />

Für eine solche Agentur sah CHRISTIAN CALLIESS<br />

allerdings keine Notwendigkeit. Das in der Europäischen<br />

Agentur für Cybersicherheit versammelte<br />

Know-how sei besser in der Lage, die<br />

komplexen Bedrohungslagen einzuschätzen und<br />

die Mitgliedstaaten zu beraten. CALLIES sieht außerdem<br />

die EU in der Verantwortung, Standards<br />

für die sozialen Medien und die Datenerhebung<br />

durch Plattformen zu formulieren. Die Projektmanagerin<br />

für Internationale Cybersicherheitspolitik<br />

bei der Stiftung Neue Verantwortung, JULIA SCHUET-<br />

ZE, wies auf die verbreitete Wahrnehmung hin, dass<br />

IT-Systeme und Wahl-Infrastrukturen angreifbar<br />

und manipulierbar seien. Dies könne dem demokratischen<br />

Prozess seine Legitimation entziehen,<br />

warnte sie. Wahlrelevante Systeme und Daten<br />

müssten daher besser vor Cyberangriffen geschützt<br />

werden. Ihr Kollege JULIAN JARUSCH forderte<br />

überdies, digitale Plattformen stärker zu regulieren<br />

und deren Handeln besser zu erforschen.<br />

CONSTANZE KURZ vom Chaos Computer Club sah<br />

Meinungen und Handlungen insb. durch die „Manipulationsmacht“<br />

von Social Media-Plattformen<br />

wie Facebook und Twitter beeinflusst. Die über<br />

diese kommerziellen Werbeplattformen geführten<br />

Kampagnen seien intransparent, die Bürger könnten<br />

normale politische Wahlwerbung nicht mehr<br />

328 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

von Desinformation unterscheiden. KURZ nannte<br />

Beispiele für derart manipulierte Wahlen, etwa die<br />

Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 und die<br />

Brexit-Abstimmung in Großbritannien, und warnte<br />

vor einer grundlegenden Gefährdung der Demokratie.<br />

Es brauche u.a. Transparenzanforderungen<br />

gegenüber den kommerziellen Plattformen und<br />

eine Stärkung der Medien- und Technikkompetenz<br />

in allen Altersgruppen, appellierte sie.<br />

Für ULRIKE KLINGER von der Freien Universität Berlin<br />

gibt es hingegen bisher keinen Beleg dafür,<br />

dass automatisierte Accounts (Social Bots) entscheidenden<br />

Einfluss auf Wahlen gehabt hätten.<br />

Meinungs- und Willensbildungsprozesse seien<br />

sehr komplex und Social Media-Plattformen für<br />

die meisten eine Nachrichtenquelle von vielen,<br />

betonte sie. Allerdings sprach auch sie sich für<br />

mehr Forschung zu politischer Kommunikation<br />

und ein systematisches Monitoring von Meinungsmanipulation<br />

aus. Das Wissen über Kampagnendynamiken<br />

sei bislang zu gering.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Gesetz zum Aufbau von<br />

Ladestationen für E-Autos<br />

beschlossen<br />

Das Bundeskabinett hat im März einen vom<br />

Bundeswirtschafts- und vom Bundesinnenministerium<br />

erarbeiteten Entwurf eines Gesetzes<br />

zum Aufbau einer gebäudeintegrierten Ladeund<br />

Leitungsinfrastruktur für die Elektromobilität<br />

(Gebäude-Elektromobilitätsinfrastrukturgesetz<br />

– GEIG) beschlossen. Das Gesetz hat v.a. Wohnund<br />

Nicht-Wohngebäude mit größeren Parkplatzanlagen<br />

im Blick. Er soll die Voraussetzungen<br />

dafür schaffen, das Laden von Elektrofahrzeugen<br />

zu Hause, am Arbeitsplatz oder bei der Erledigung<br />

alltäglicher Besorgungen zu verbessern.<br />

Werden Wohngebäude mit mehr als zehn Stellplätzen<br />

gebaut oder umfassend renoviert, müssen<br />

künftig alle Stellplätze mit Schutzrohren für<br />

Elektrokabel ausgestattet werden. Diese Schutzrohre<br />

sind Voraussetzung dafür, dass Ladepunkte<br />

bei Bedarf rasch errichtet werden können. Bei<br />

Nicht-Wohngebäuden muss mindestens jeder<br />

fünfte Stellplatz ausgerüstet und mindestens ein<br />

Ladepunkt errichtet werden. Ab 2025 muss dann<br />

jedes dieser Nicht-Wohngebäude mit mehr als<br />

zwanzig Stellplätzen mit mindestens einem Ladepunkt<br />

ausgestattet werden. Verstöße sollen mit<br />

Bußgeldern geahndet werden.<br />

Das geplante Gesetz sieht auch Ausnahmen für<br />

bestimmte Gebäude vor, um besonders kleine<br />

und mittlere Unternehmen nicht über Gebühr zu<br />

belasten. Ausgenommen sind deshalb u.a.<br />

• Gebäude, die sich im Eigentum von kleinen<br />

und mittleren Unternehmen befinden und<br />

überwiegend von ihnen selbst genutzt werden,<br />

sowie<br />

• Bestandsgebäude, wenn die Kosten für die<br />

Lade- und Leitungsinfrastruktur sieben Prozent<br />

der Gesamtkosten einer größeren Renovierung<br />

überschreiten.<br />

Das neue Gebäude-Elektromobilitätsinfrastrukturgesetz<br />

ist eine Umsetzung der EU-Gebäude-<br />

Richtlinie 2018/844 in deutsches Recht. Hintergrund<br />

ist die Überlegung, dass Elektrofahrzeuge<br />

einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Klimabilanz<br />

des Verkehrssektors zu verbessern. In<br />

ihrem Klimaschutzprogramm hatte die Bundesregierung<br />

deshalb auch das Ziel definiert, dass in<br />

Deutschland bis 2030 sieben bis zehn Millionen<br />

Elektrofahrzeuge zugelassen sein sollen. Als eines<br />

der größten Hindernisse für den flächendeckenden<br />

Einsatz von Elektrofahrzeugen wurde u.a.<br />

das Fehlen einer ausreichenden Ladeinfrastruktur<br />

ausgemacht.<br />

Ergänzend zu dem neuen Gesetz verweist die<br />

Bundesregierung auf ihre Förderprogramme zum<br />

Ausbau der Elektromobilität, z.B. die erst jüngst<br />

erhöhte Kaufprämie (Umweltbonus). Zudem hat<br />

sie sich i.R.d. „Masterplans Ladeinfrastruktur“ verpflichtet,<br />

öffentliche Fördergelder für Ladepunkte<br />

zur Verfügung zu stellen.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Persönlichkeitsschutz<br />

bei Bildaufnahmen<br />

Der Persönlichkeitsschutz bei der Herstellung und<br />

Verbreitung von Bildaufnahmen soll verbessert<br />

und das Strafgesetzbuch zu diesem Zweck entsprechend<br />

geändert werden. Ein entsprechender<br />

Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht dazu u.a.<br />

vor, den geschützten Personenkreis auf Verstorbene<br />

auszuweiten (vgl. BT-Drucks 19/17795).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 329


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Vom Straftatbestand erfasst werden sollen das<br />

Herstellen und das Übertragen einer Bildaufnahme,<br />

die in grob anstößiger Weise eine verstorbene<br />

Person zur Schau stellt, sowie das Herstellen<br />

und das Übertragen einer Bildaufnahme<br />

von bestimmten gegen Anblick geschützten<br />

Körperteilen. Auch das Gebrauchen und Zugänglichmachen<br />

von solchen Bildaufnahmen gegenüber<br />

Dritten soll erfasst werden.<br />

Hintergrund ist dem Entwurf zufolge, dass Schaulustige<br />

bei Unfällen oder Unglücksfällen Bildaufnahmen<br />

vom Geschehen, insb. von verletzten<br />

und verstorbenen Personen, anfertigen und diese<br />

Aufnahmen über soziale Netzwerke verbreiten.<br />

Oftmals würden solche Bildaufnahmen auch an<br />

die Medien weitergegeben. Den damit verbundenen<br />

Verletzungen der Rechte der Abgebildeten<br />

gelte es zu begegnen.<br />

Darüber hinaus gebe es Fälle, in denen unbefugt<br />

eine i.d.R. heimliche Bildaufnahme hergestellt<br />

oder übertragen wird, die den Blick unter den<br />

Rock oder unter das Kleid einer anderen Person<br />

zeige. Auch entsprechende Bildaufnahmen, die in<br />

den Ausschnitt gerichtet seien und die weibliche<br />

Brust abbildeten, würden gefertigt. Damit setze<br />

sich der Täter über das Bestreben des Opfers,<br />

diese Körperregionen dem Anblick fremder Menschen<br />

zu entziehen, grob unanständig und ungehörig<br />

hinweg und verletze damit die Intimsphäre<br />

des Opfers. [Quelle: Bundestag]<br />

Vergütung des Kanzleiabwicklers<br />

in der Insolvenz<br />

Auf eine interessante Entscheidung des BGH zur<br />

Vergütung des Kanzleiabwicklers hat die Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK) hingewiesen. In dem<br />

Fall hatte das Gericht die Gelegenheit, sich mit der<br />

seit Längerem umstrittenen Frage nach dem Verhältnis<br />

von Kanzleiabwicklung und Insolvenz zu<br />

befassen.<br />

Der BGH entschied, dass die Vergütungsansprüche<br />

des Abwicklers für seine Tätigkeit keine Masseverbindlichkeiten<br />

darstellen. Bürgerlich-rechtliche<br />

Rechtsbeziehungen zwischen dem Kanzleiabwickler<br />

und dem ehemaligen Rechtsanwalt bestehen<br />

nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das<br />

Vermögen des Rechtsanwalts nicht zulasten der<br />

Masse fort, soweit der ehemalige Rechtsanwalt als<br />

Auftraggeber anzusehen ist. Zudem stellte der<br />

BGH klar, dass ein Dienstvertrag des Schuldners,<br />

der kein Dauerschuldverhältnis begründet, nicht<br />

mit Wirkung für die Insolvenzmasse fortbesteht –<br />

dies gelte auch für Anwaltsverträge.<br />

Der Entscheidung liegt ein Fall zugrunde, in dem<br />

die zuständige Rechtsanwaltskammer (RAK)<br />

einem Anwalt die Zulassung entzogen hatte,<br />

nachdem über sein Vermögen das Insolvenzverfahren<br />

eröffnet worden war; zudem bestellte die<br />

Kammer einen Abwickler für die Kanzlei. Dessen<br />

Vergütung stellte sie mit zwei Bescheiden fest<br />

und zahlte sie ihm aus. Das Honorar verlangte sie<br />

anschließend vom Insolvenzverwalter erstattet.<br />

Das Amtsgericht hat der Klage hinsichtlich des<br />

Honorars für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens<br />

stattgegeben und sie für die Zeit<br />

vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgewiesen.<br />

Gegen die teilweise Abweisung wandte die<br />

Kammer sich mit ihrer Sprungrevision. Auf die<br />

Anschlussrevision des Insolvenzverwalters hat<br />

der BGH die Klage jetzt insgesamt abgewiesen.<br />

Weder der Vergütungsanspruch für die Zeit vor<br />

Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch derjenige<br />

für die Zeit danach sei eine Masseverbindlichkeit.<br />

Dass der Kanzleiabwickler die anwaltlichen<br />

Pflichten des ehemaligen Rechtsanwalts<br />

übernehme, stelle sich nicht als reine Verwaltung<br />

von Teilen der Insolvenzmasse dar und<br />

knüpfe auch nicht an eine auch nach Insolvenzeröffnung<br />

fortbestehende Rechtsstellung des<br />

Schuldners an, da die Zulassung gem. § 14 Abs. 2<br />

Nr. 7 BRAO zu widerrufen sei. Auch daraus, dass<br />

der Abwickler die Verpflichtungen des ehemaligen<br />

Rechtsanwalts aus Mandatsverträgen erfülle,<br />

ergebe sich kein ausreichender Bezug zur<br />

Insolvenzmasse.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

Doppelbesteuerung von Renten<br />

Führt die sog. nachgelagerte Besteuerung von<br />

Renten am Ende zu einer doppelten Steuerbelastung<br />

von bestimmten Rentenjahrgängen? Davon<br />

sind einige Steuerexperten überzeugt, unter ihnen<br />

auch der BFH-Richter Dr. EGMONT KULOSA. Er hatte<br />

330 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

schon im Jahr 2017 in einer Kommentierung<br />

dargelegt: „Es bedarf keiner komplizierten mathematischen<br />

Übungen, um bei Angehörigen der heute mittleren<br />

Generation, die um das Jahr 2040 in den<br />

Rentenbezug eintreten werden, eine Zweifachbesteuerung<br />

nachzuweisen, denn diese Personen werden ihre<br />

Rentenbezüge in vollem Umfang versteuern müssen,<br />

können ihre Beiträge aber nur 15 Jahre lang – von 2025<br />

bis 2039, und auch dann nur bis zum Höchstbetrag des<br />

Abs. 3 – ohne prozentuale Beschränkung abziehen.“<br />

(in Herrmann/Heuer/Raupach [Hrsg.], EStG/KStG,<br />

§ 10 EStG Rn 340 [283. Lieferung 12/2017]).<br />

Unter anderem diese Rechtsauffassung wurde<br />

kürzlich von Bundestagsabgeordneten zum Anlass<br />

genommen, bei der Bundesregierung anzufragen,<br />

wie deren Position zu dieser Steuerfrage<br />

ist. Insbesondere wollten die Abgeordneten<br />

wissen, ob die in letzter Zeit geäußerten Zweifel<br />

vieler Steuerexperten an der Verfassungsmäßigkeit<br />

der Steuerregelung die Regierung zu einer<br />

erneuten Berechnung bzw. einer neuen juristischen<br />

Prüfung hinsichtlich des Umfangs einer<br />

möglichen Zweifachbesteuerung der Rente veranlasst<br />

haben.<br />

Darauf antwortete die Bundesregierung kürzlich,<br />

dass sie die Diskussion um eine mögliche<br />

Zweifachbesteuerung aufmerksam beobachte<br />

(BT-Drucks 19/17088). Eine eventuelle doppelte<br />

Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen<br />

und Altersbezügen müsste ggf. korrigiert werden.<br />

Allerdings seien ihr derzeit keine Fälle<br />

doppelter Besteuerung bekannt. Sie gehe auch<br />

davon aus, dass die seinerzeitige Umstellung auf<br />

eine nachgelagerte Rentenbesteuerung keinen<br />

verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. Der<br />

Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung im<br />

Jahr 2005 mit nur 50 % Besteuerungsanteil habe<br />

einen schonenden Übergang gewährleisten sollen.<br />

Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass<br />

bei einem Arbeitnehmer, der erst im Jahr 2040<br />

in den Rentenbezug eintreten werde, der Arbeitgeberanteil<br />

zur Rentenversicherung bereits<br />

heute vollständig steuerbefreit sei.<br />

Eine „Zweifachbesteuerung“ wäre nur dann gegeben,<br />

wenn der aus versteuertem Einkommen<br />

geleistete Teil der Altersvorsorgeaufwendungen<br />

höher sei als die voraussichtlich steuerunbelastet<br />

zufließenden Rententeilbeträge. Es sei jedoch<br />

davon auszugehen, dass die dem Rentner steuerunbelastet<br />

zufließende Rentenzahlung größer sei<br />

als nur die Summe der jährlichen steuerfreien<br />

Teile seiner Rentenbezüge.<br />

Derzeit seien, so führte die Bundesregierung in ihrer<br />

Antwort weiter aus, zu dieser Fragestellung zwei<br />

Revisionsverfahren beim BFH anhängig. Sie beabsichtige,<br />

diesen beiden Verfahren beizutreten.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Rechtsexperten uneins<br />

über Legal Tech<br />

Um die Modernisierung des Rechtsdienstleistungsrechts<br />

und die Stärkung der Anwaltschaft<br />

ging es bei einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss<br />

für Recht und Verbraucherschutz des<br />

Bundestags Mitte März <strong>2020</strong>. Sachverständige<br />

aus der Anwaltschaft, der Wissenschaft und<br />

der Wirtschaft äußerten sich in der Sitzung zu<br />

Gesetzesinitiativen der FDP und der Grünen.<br />

Die Vorschläge beider Fraktionen wollen der<br />

Tatsache Rechnung tragen, dass sich in den<br />

letzten Jahren neue Unternehmensformen der<br />

Rechtsberatung etabliert haben. Um diesen<br />

neuen Sektor rechtsberatender Dienstleistungen,<br />

in erster Linie sog. Legal Tech-Anwendungen,<br />

nicht einem Feld von gerichtlichen Einzelfallentscheidungen<br />

zu überlassen, müsse der Gesetzgeber<br />

tätig werden. Insbesondere die Digitalisierung<br />

der Rechtslandschaft verlange zügig<br />

Regelungen, die die Automatisierung von Rechtsdienstleistungen<br />

zum Inhalt haben. Die Initiatoren<br />

setzen sich zudem dafür ein, die Anwaltschaft<br />

durch eine angemessene Erhöhung der Rechtsanwaltsgebühren<br />

zu stärken. Auch soll etwa die<br />

Vereinbarung von Erfolgshonoraren bis zu einem<br />

bestimmten Streitwert zugelassen sowie geprüft<br />

werden, inwiefern in Einzelfällen eine Lockerung<br />

des Verbots der Prozessfinanzierung sinnvoll und<br />

angemessen sein könne. Damit solle langfristig<br />

ein fairer Wettbewerb zwischen Anwaltschaft<br />

und nichtanwaltlichen Dienstleistern gewährleistet<br />

werden.<br />

Der Vizepräsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK), ANDRÉ HAUG, verwies auf eine<br />

Stellungnahme seiner Kammer, in der reine<br />

Kapitalbeteiligungen an anwaltlichen Berufsaus-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 331


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

übungsgesellschaften mit dem Ziel, alternative<br />

Finanzierungswege insb. zur Finanzierung von<br />

Legal Tech zu erlauben, nachdrücklich abgelehnt<br />

werden. Für solche Fremdkapitalgeber werde<br />

keine Notwendigkeit gesehen. In der Praxis bestünden<br />

ausreichende alternative Möglichkeiten,<br />

Finanzierungen einzuholen. Wirtschaftliche Interessen<br />

dürften unter keinen Umständen den<br />

Mandanteninteressen vorgehen. Die anwaltliche<br />

Unabhängigkeit müsse ganz und gar unangetastet<br />

bleiben. Eine gesetzgeberische Bevorzugung<br />

von Kanzleien, die sich mit Legal Tech-Anwendungen<br />

befassten, gegenüber Berufsträgern, die<br />

aus anderen Gründen Kapitalbedarf hätten, sei<br />

verfassungsrechtlich kaum haltbar.<br />

Eine Rechtsanwältin aus Hamburg sah ebenso<br />

wie ihre Berliner Kollegin EDITH KINDERMANN, Präsidentin<br />

des Deutschen Anwaltvereins, den Zugang<br />

zum Recht durch die vorgeschlagenen<br />

Neuerungen erheblich erschwert. Bei der derzeitigen<br />

Entwicklung in der Rechtsprechung drohten<br />

die bisherigen Grundprinzipien im Bereich Rechtsdienstleistungen<br />

in ihr Gegenteil verkehrt zu<br />

werden, so ihre Stellungnahme. Den Befürwortern<br />

einer Öffnung des Rechtsdienstleistungsgesetzes<br />

(RDG) für Legal Tech gehe es nicht um den<br />

Rechtsstaat, sondern um Geschäftsinteressen<br />

von diversen Unternehmen, die sich neue Geschäftsfelder<br />

zu erschließen hofften. Das BGH-<br />

Urteil zu wenigermiete.de habe aus der Rechtswissenschaft<br />

bereits erhebliche und sehr berechtigte<br />

Kritik erfahren, erklärte sie. Es dürfte damit<br />

auch in der Rechtsprechung hinsichtlich dieser<br />

Frage spannend bleiben. Eine Anpassung der<br />

Gebühren des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes<br />

sei allerdings überfällig und werde nachdrücklich<br />

befürwortet.<br />

Der Vertreter des Verbraucherzentrale Bundesverbands<br />

plädierte dafür, die Lösung für Defizite<br />

bei der Durchsetzung von Verbraucherrecht in<br />

verfahrensrechtlichen Regelungen zu suchen,<br />

die eine Vollkompensation ermöglichen und dem<br />

Verbraucher den gesamten ihm zustehenden Betrag<br />

zukommen lassen. Der Gesetzgeber solle<br />

deshalb vornehmlich die individuellen und kollektiven<br />

Regeln zur Rechtsdurchsetzung und Streitbeilegung<br />

anpassen, anstatt vorschnell dem Ruf<br />

nach einer Deregulierung der Rechtsberatung<br />

zu folgen. Eine solche Deregulierung sei für eine<br />

Nutzbarmachung der Möglichkeiten von Legal<br />

Tech auch nicht erforderlich. Die derzeitige Ausgestaltung<br />

von Legal Tech-Angeboten – Abtretungsmodelle<br />

unter Nutzung einer Inkassolizenz –<br />

sei für das eigentliche Tätigkeitsbild nicht ansatzweise<br />

ausreichend geregelt, bemängelte er.<br />

Ein Düsseldorfer Rechtsanwalt erklärte, die Gesetzentwürfe<br />

reflektierten digitalisierungsbedingte<br />

Umwälzungen auf den Rechtsdienstleistungsmärkten,<br />

mit denen die Entwicklung der regulatorischen<br />

Rahmenbedingungen bislang nicht mitgehalten<br />

habe. Das Ziel beider Vorschläge, das<br />

Rechtsdienstleistungs- und das anwaltliche Berufsrecht<br />

zumindest in einigen zentralen Teilen an die<br />

Wirklichkeit heranzuführen, sei zu begrüßen. Die<br />

Anwaltschaft könne unter unveränderten berufsrechtlichen<br />

Rahmenbedingungen für den rational<br />

desinteressierten Verbraucher in etlichen Beratungsbereichen<br />

keine effektiven Rechtsschutzangebote<br />

unterbreiten. In diese Lücke seien Legal<br />

Tech-Anbieter gestoßen.<br />

Nach Meinung eines Professors von der Leibniz<br />

Universität Hannover würde mit den Plänen<br />

dagegen schwerwiegend in den Schutzbereich<br />

des RDG eingegriffen. Die Regelung lade zur<br />

Umgehung des anwaltlichen Berufsrechts ein<br />

und stelle nicht sicher, dass die Rechtsberatung<br />

hinreichend qualifiziert erfolge. Das in den Vorlagen<br />

beider Fraktionen vorgesehene Erfolgshonorar,<br />

wonach der Rechtsanwalt die Verfahrenskosten<br />

trage, habe zur Konsequenz, dass der<br />

Anwalt auf dieser Basis nur Verfahren mit sehr<br />

hoher Erfolgswahrscheinlichkeit führen werde.<br />

Im Gegensatz hierzu lägen die Anforderungen,<br />

die der Staat an die Gewährung von Prozesskostenhilfe<br />

stelle, deutlich niedriger. Das Erfolgshonorar<br />

werde den Zugang zum Recht nicht<br />

erleichtern.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Überwiegende Zustimmung zur<br />

Neuverteilung der Maklerkosten<br />

Auf grundsätzliche Zustimmung der Sachverständigen<br />

traf der Gesetzentwurf der Bundesregierung<br />

über die Verteilung der Maklerkosten<br />

bei der Vermittlung von Kaufverträgen über<br />

Wohnungen und Einfamilienhäuser (vgl. dazu<br />

BT-Drucks 19/15827) in einer öffentlichen Anhörung,<br />

die Ende Januar im Bundestagsausschuss<br />

für Recht und Verbraucherschutz stattfand. Die<br />

acht Experten aus Praxis und Rechtswissen-<br />

332 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

schaft sahen übereinstimmend Regelungsbedarf,<br />

bewerteten einzelne Aspekte aber auch kritisch.<br />

Die Abgeordneten waren v.a. an der Meinung der<br />

Sachverständigen bzgl. Transparenz und Rechtssicherheit<br />

des Gesetzesvorhabens interessiert<br />

und fragten nach Details zum Bestellerprinzip,<br />

zur Doppeltätigkeit von Maklern sowie zu deren<br />

Bezahlung und Ausbildung.<br />

Wie es in dem Gesetzentwurf heißt, wird die<br />

Bildung von Wohneigentum auch durch hohe<br />

Erwerbsnebenkosten erschwert, die zumeist<br />

aus Eigenkapital geleistet werden müssen. Auf<br />

den Kostenfaktor der Maklerprovision hätten<br />

Kaufinteressenten dabei häufig keinerlei Einfluss.<br />

Daher zielen die Änderungen im Maklerrecht<br />

darauf ab, durch bundesweit einheitliche,<br />

verbindliche Regelungen die Transparenz<br />

und Rechtssicherheit bei der Vermittlung von<br />

Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser<br />

zu erhöhen und die Käufer vor der<br />

Ausnutzung einer faktischen Zwangslage zu<br />

schützen. Unter anderem soll verhindert werden,<br />

dass Maklerkosten, die vom Verkäufer<br />

verursacht wurden und v.a. in seinem Interesse<br />

angefallen sind, im Kaufvertrag vollständig oder<br />

zu einem überwiegenden Anteil dem Käufer<br />

aufgebürdet werden.<br />

Dem Entwurf zufolge soll die Weitergabe von<br />

Maklerkosten vor dem Hintergrund, dass i.d.R.<br />

auch der Käufer von der Tätigkeit eines Maklers<br />

profitiert, zwar nicht gänzlich ausgeschlossen<br />

werden. Jedoch soll diese nur noch bis zu einer<br />

maximalen Obergrenze von 50 % des insgesamt<br />

zu zahlenden Maklerlohns möglich sein. Außerdem<br />

soll der Käufer zur Zahlung erst verpflichtet<br />

sein, wenn der Verkäufer nachweist, dass er<br />

seinen Anteil an der Maklerprovision gezahlt hat.<br />

Vertreter der Immobilienverbände bemängelten<br />

zwar einen Eingriff in die Vertragsfreiheit, unterstützten<br />

aber das Ziel der Bundesregierung, die<br />

Erwerbsnebenkosten für privat genutzte Immobilien<br />

zu senken. CHRISTIAN J. OSTHUS vom Immobilienverband<br />

Deutschland IVD erklärte, im Ergebnis<br />

werde der Entwurf gebilligt, da er weiterhin<br />

eine Doppeltätigkeit des Immobilienmaklers zulasse.<br />

Der geplante Verteilungsmechanismus im<br />

Hinblick auf die Provision werde die Branche aber<br />

vor große Herausforderungen stellen. OSTHUS<br />

betonte, dass aus Sicht des IVD eine umfassende<br />

Entlastung der Käufer nur durch eine generelle<br />

Absenkung der Grunderwerbsteuer oder zumindest<br />

durch Freibeträge möglich ist.<br />

Dies forderte auch KAI ENDERS, Vorstandsmitglied<br />

eines großen privaten Immobilienmaklers in<br />

Deutschland. Den Gesetzentwurf bewerte sein<br />

Unternehmen im Hinblick auf das wohnungspolitische<br />

Ziel der Bundesregierung als weitestgehend<br />

gelungen, erklärte ENDERS in seiner Stellungnahme.<br />

Begrüßt werde, dass die Idee der<br />

Übertragung des sog. Bestellerprinzips aus dem<br />

Mietrecht in das Maklerrecht verworfen worden<br />

sei. Die hälftige Teilung der Courtage, wie sie der<br />

Gesetzentwurf künftig deutschlandweit vorsehe,<br />

sei angemessen und sachgerecht.<br />

Auch SUN JENSCH, Geschäftsführerin des Zentralen<br />

Immobilien Ausschusses (ZIA), der auch die<br />

Makler vertritt, befürwortete die mit dem Gesetzentwurf<br />

vorgesehene Teilung der Maklerprovision<br />

bei beidseitiger Beauftragung. Sie sei<br />

geeignet, Üblichkeiten in verschiedenen Bundesländern<br />

zu harmonisieren, und lasse dennoch<br />

Spielraum für verschiedene Marktsituationen.<br />

Auch eine Teilung bei einseitiger Beauftragung<br />

sehe der ZIA positiv, jedoch berge die vorgeschlagene<br />

Regelung auch die Gefahr von Unsicherheiten,<br />

erklärte JENSCH. Ganz abzulehnen sei die<br />

für die einseitige Beauftragung vorgeschlagene<br />

Regelung, wonach die Maklerprovision gegenüber<br />

dem Nicht-Beauftragenden erst dann fällig<br />

wird, wenn eine Zahlung durch den Beauftragenden<br />

nachgewiesen ist. Positiv sei anzumerken,<br />

dass der Gesetzentwurf keine Vorgaben zur<br />

Höhe der Maklerprovision vorsehe und somit den<br />

Parteien ihre Vertragsfreiheit belasse.<br />

Der Immobilienberater ANDRÉ RADICKE hielt den<br />

Entwurf für ungenügend, da er die Interessen der<br />

Verbraucher nicht ausreichend berücksichtige.<br />

Dies zeige sich an der Möglichkeit der Doppelbeauftragung.<br />

Aus Verbrauchersicht sei das Bestellerprinzip<br />

am besten geeignet, um die Kosten<br />

zu senken. RADICKE sagte, das Gesetz habe nichts<br />

mit Verbraucherschutz zu tun, sondern diene<br />

ausschließlich dem Maklerschutz.<br />

Weitergehende gesetzliche Regelungen forderte<br />

FRANZ MICHEL, Referent beim Verbraucherzentrale<br />

Bundesverband (vzbv). MICHEL erläuterte, dass für<br />

Immobilienkäufer die Maklerprovision neben der<br />

Grunderwerbsteuer den größten Kostenblock bei<br />

den fixen Erwerbsnebenkosten bilde. Diese Gebühr<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 333


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

könne für den Käufer je nach Bundesland zwischen<br />

3,57 % und 7,14 % des Kaufpreises betragen. Der<br />

vzbv begrüße eine gesetzlich verbindliche Regelung<br />

zur Teilung der Provision und die damit einhergehende<br />

gestiegene Rechtssicherheit sowie Transparenz<br />

für private Immobilienkäufer, sagte MICHEL.<br />

Der Verband fordere darüber hinaus spürbare<br />

Entlastungen für alle Verbraucher beim Immobilienkauf,<br />

die Einführung des Bestellerprinzips auch<br />

für den Erwerb von Immobilien zur Eigennutzung<br />

und eine Deckelung der Maklercourtage.<br />

MARKUS ARTZ von der Universität Bielefeld, Direktor<br />

der Forschungsstelle für Immobilienrecht, bezeichnete<br />

das Gesetz als einen positiven politischen<br />

Kompromiss. Er sprach sich für die Anwendung des<br />

Bestellerprinzips aus und sieht grundlegenden<br />

Änderungsbedarf bei der Bestimmung des sachlichen<br />

und persönlichen Anwendungsbereichs in<br />

mehreren Paragrafen des Entwurfs, die zu nicht<br />

begründbaren Wertungswidersprüchen führten<br />

und darüber hinaus erhebliche Fehlanreize erzeugten.<br />

…<br />

CAROLINE MELLER-HANNICH von der Martin-Luther-<br />

Universität Halle-Wittenberg bestätigte den vom<br />

Gesetzentwurf vorausgesetzten Regelungsbedarf.<br />

Das angestrebte Ziel einer Reduzierung<br />

der Gesamtkosten des Immobilienerwerbs sei<br />

grds. berechtigt. Ein Wettbewerb um die Provisionshöhe<br />

würde zur Senkung der Kaufnebenkosten<br />

führen und die Käufer entlasten. MELLER-<br />

HANNICH äußerte jedoch Zweifel daran, ob das<br />

Gesetz das Ziel auch erreichen könne. Die Begrenzung<br />

der Möglichkeit, die Maklerkosten auf<br />

die andere Vertragspartei abzuwälzen, sei ein<br />

Schritt in die richtige Richtung; sie biete allerdings<br />

Umgehungspotenzial. MELLER-HANNICH sprach sich<br />

dafür aus, eine Doppeltätigkeit des Maklers für<br />

Käufer und Verkäufer ganz auszuschließen.<br />

DETLEV FISCHER, Richter am BGH a.D., begrüßte<br />

den Entwurf. Damit werde die in Berlin, Brandenburg,<br />

Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein<br />

und Hessen praktizierte Verlagerung der Maklerkosten<br />

allein auf den Käufer beseitigt und zur<br />

hälftigen Aufteilung der Kosten zurückgefunden.<br />

Entgegen dem Entwurf sollte der Anwendungsbereich<br />

nicht auf Makler, die Unternehmer sind,<br />

beschränkt werden, sagte FISCHER. Im Immobilienbereich<br />

seien vielfach auch Gelegenheitsmakler<br />

tätig, die im Hinblick auf ihre nur eingeschränkte<br />

berufliche Sachkompetenz sowohl im<br />

Marktgeschehen wie auch bei maklerrechtlichen<br />

Streitigkeiten nicht selten negativ in Erscheinung<br />

träten.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

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334 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


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Allgemeines Zivilrecht<br />

Medizinischer Sachverständiger: Substanziierungslast im Regressprozess<br />

(BGH, Beschl. v. 30.1.<strong>2020</strong> – III ZR 91/19) • Die im Interesse des klageführenden Patienten anerkannte<br />

Herabsetzung der Substanziierungslast im Arzthaftungsprozess kann nicht auf den Regressprozess<br />

gegen den medizinischen Sachverständigen nach § 839a BGB übertragen werden. Der Regresskläger<br />

ist hier – ebenso wie bei der Klage gegen andere Sachverständige – gehalten, schlüssig darzulegen,<br />

dass der Beklagte mindestens grob fahrlässig ein unrichtiges gerichtliches Gutachten erstattet hat.<br />

Hinweis: Für derartige Erleichterungen besteht nach Ansicht des BGH weder Bedarf noch Raum. Der<br />

Regresskläger ist auf jedem Sachgebiet dem von ihm in Anspruch genommenen Sachverständigen<br />

typischerweise in fachlicher Hinsicht unterlegen. Insofern gibt es bei der Inanspruchnahme eines<br />

medizinischen Sachverständigen keine Besonderheit. Dies ist aus Sicht eines potenziellen Klägers<br />

wenig nachvollziehbar, auch wenn diese Rechtsprechung wohl der h.M. entspricht.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 152/<strong>2020</strong><br />

Straftatbestand der Geldwäsche: Schutzgesetz im Sinne des Deliktsrechts<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 5.2.<strong>2020</strong> – 4 U 418/19) • Der Straftatbestand der Geldwäsche ist nur dann ein<br />

Schutzgesetz i.S.d. zivilrechtlichen Deliktsrechts, wenn die erforderliche Vortat in einem gewerbsmäßigen<br />

Betrug besteht, der allerdings nicht vollendet sein muss; auch ein konkreter Täter muss nicht<br />

bekannt sein. Ein Rechtsanwalt, der auf seinem Geschäftskonto eingegangene Geldbeträge unbekannter<br />

Herkunft unter Abzug einer Provision ohne nähere Prüfung an einen Dritten auskehrt, obwohl<br />

ihm bekannt ist, dass dieser in der Vergangenheit in vergleichbare Vorfälle verwickelt war, handelt<br />

leichtfertig i.S.d. § 261 StGB. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 153/<strong>2020</strong><br />

Schwarzgeldabrede: Auswertung von „WhatsApp“-Mitteilungen<br />

(OLG Düsseldorf. Urt. v. 21.1.<strong>2020</strong> – I-21 U 34/19) • Das Gericht kann, auch ohne dass sich eine<br />

Vertragspartei darauf beruft, feststellen, dass eine zur Nichtigkeit des Werkvertrags führende<br />

Schwarzgeldabrede getroffen worden ist. Die Überzeugung von einer solchen (stillschweigend) zustande<br />

gekommenen Schwarzgeldvereinbarung kann sich aus der Auswertung der schriftlichen<br />

Kommunikation zwischen den Parteien (hier: per WhatsApp) ergeben. Hinweis: Hier hatte der<br />

Geschäftsführer der Klägerin den Beklagten gebeten, einen zu überweisenden Betrag von 35.000 € in<br />

Beträge von 20.000 € aufzuteilen, damit „nicht so viel an die Augen von F … kommt“. Das Gericht hat diese<br />

Nachricht dahingehend verstanden hat, dass mit „F …“ das Finanzamt gemeint war.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 154/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 335


Fach 1, Seite 40 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Diesel-Skandal: Erwerb eines Gebrauchtwagens nach dem 16.12.2015<br />

(OLG Karlsruhe, Urt. v. 9.1.<strong>2020</strong> – 17 U 133/19) • Die Einschränkung eines bezifferten Leistungsantrags<br />

„Zug um Zug gegen Zahlung einer von der Beklagten Ziff. 1 noch darzulegenden Nutzungsentschädigung“ führt<br />

nicht zur Unbestimmtheit des Klageantrags, wenn dieser ersichtlich nicht auf eine Zug-um-Zug-<br />

Verurteilung gerichtet ist, sondern nur der Klarstellung dient, dass eine Vorteilsanrechnung akzeptiert<br />

werde. Die Strategieentscheidung des Vorstands der VW AG, die EG-Typengenehmigung für alle mit der<br />

Motorsteuerungssoftware ausgestatteten Kfz ihrer Konzerngesellschaften von den dafür zuständigen<br />

Erteilungsbehörden zu erschleichen, ohne dass die materiellen Voraussetzungen dafür vorliegen, ist<br />

nicht adäquat kausal für den Erwerb eines (gebrauchten) Fahrzeugs, wenn der Erwerber positive<br />

Kenntnis von dem Vorhandensein dieser Software im erworbenen Fahrzeug hatte. Der Zweitkäufer ist<br />

als lediglich mittelbar Geschädigter einer sittenwidrigen vorsätzlichen Handlung zwar grds. in den<br />

Schutzbereich des § 826 BGB einbezogen (dazu Senat, Urt. v. 19.11.2019 – 17 U 146/19, juris Rn 46). Jedoch<br />

stellt sich ein nach dem 16.12.2015 geschlossener Kaufvertrag nicht mehr als zurechenbarer Vermögensschaden<br />

dar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 155/<strong>2020</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Gewerberaummietvertrag: Kündigung<br />

(OLG Hamm, Urt. v. 25.11.2019 – 18 U 19/19) • Nimmt der Vermieter entgegen § 112 Nr. 1 InsO eine<br />

Kündigung vor, ist diese nichtig; eine vom Insolvenzverwalter auf diese Kündigung erklärte „Bestätigung“<br />

führt nicht ohne Weiteres zur Beendigung des Mietverhältnisses ex nunc oder gar rückwirkend auf<br />

den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung, sondern nur dann, wenn diese Bestätigung als<br />

Angebot an den Vermieter auf Abschluss einer Aufhebungsvereinbarung anzusehen und wenn diese<br />

durch den Vermieter angenommen worden ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 156/<strong>2020</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Ärztliche Behandlung: Wirtschaftliche Information des Patienten<br />

(BGH, Urt. v. 28.1.<strong>2020</strong> – VI ZR 92/19) • Die in § 630c Abs. 3 S. 1 BGB kodifizierte Pflicht des Behandlers<br />

zur wirtschaftlichen Information des Patienten soll den Patienten vor finanziellen Überraschungen<br />

schützen und ihn in die Lage versetzen, die wirtschaftliche Tragweite seiner Entscheidung zu überschauen.<br />

Sie zielt allerdings nicht auf eine umfassende Aufklärung des Patienten über die wirtschaftlichen<br />

Folgen einer Behandlung. Der Arzt, der eine neue, noch nicht allgemein anerkannte<br />

Behandlungsmethode anwendet, muss die Möglichkeit in den Blick nehmen, dass der private Krankenversicherer<br />

die dafür erforderlichen Kosten nicht in vollem Umfang erstattet. Die Beweislast<br />

dafür, dass sich der Patient bei ordnungsgemäßer Information über die voraussichtlichen Behandlungskosten<br />

gegen die in Rede stehende medizinische Behandlung entschieden hätte, trägt nach<br />

allgemeinen Grundsätzen der Patient. Eine Beweislastumkehr erfolgt nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 157/<strong>2020</strong><br />

Franchisevertrag: Anwaltsverschulden<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 3.2.<strong>2020</strong> – 4 W 918/19) • Ein Franchisevertrag ist ein Ratenlieferungsvertrag<br />

i.S.v. § 510 Abs. 1 Nr. 3 BGB. Ist die Belehrung über das Widerrufsrecht fehlerhaft, kann er innerhalb<br />

von zwölf Monaten und 14 Tagen widerrufen werden. An der haftungsausfüllenden Kausalität eines<br />

Anwaltsverschuldens fehlt es, wenn infolge dessen zwar das Prozessziel verfehlt wird, die Forderung<br />

aber wegen Vermögenslosigkeit des in Anspruch Genommenen ohnehin nicht hätte durchgesetzt<br />

werden können. Hinweis: Die beklagten Rechtsanwälte haben ihre Pflicht aus dem Anwaltsvertrag im<br />

Vorprozess verletzt, da sie die Klage nicht auf einen Widerruf des Franchisevertrags gem. §§ 355, 356c,<br />

510, 513 BGB gestützt haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 158/<strong>2020</strong><br />

336 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 41<br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Beschlussmängelverfahren: Vertretungsbefugnis des Verwalters<br />

(BGH, Urt. v. 18.10.2019 – V ZR 286/18) • Die gesetzliche Vertretungsbefugnis des Verwalters für die in<br />

einem Beschlussmängelverfahren beklagten Wohnungseigentümer erstreckt sich auf den Abschluss<br />

eines Prozessvergleichs. Hat der Verwalter mit der Prozessvertretung einen Rechtsanwalt beauftragt,<br />

kann er diesem eine verbindliche Weisung zum Abschluss eines Prozessvergleichs erteilen. Vertritt der<br />

Verwalter die Wohnungseigentümer in einem gegen sie gerichteten Beschlussmängelverfahren, können<br />

sie ihm im Rahmen einer Wohnungseigentümerversammlung durch Mehrheitsbeschluss Weisungen für<br />

die Prozessführung erteilen. Hierzu gehört auch der Abschluss eines Prozessvergleichs. Abweichende<br />

Weisungen einzelner Wohnungseigentümer an den Verwalter sind unbeachtlich. Von der Beschlusskompetenz<br />

der Wohnungseigentümer nicht umfasst ist hingegen ein Beschluss, der es den Wohnungseigentümern<br />

untersagt, in dem Prozess für sich selbst aufzutreten und von dem Mehrheitsbeschluss<br />

abweichende Prozesshandlungen vorzunehmen. Die Vertretungsmacht des Verwalters und die Vollmacht<br />

des Rechtsanwalts für einen Wohnungseigentümer enden erst, wenn dieser dem Gericht<br />

die Selbstvertretung und die Kündigung des Mandatsverhältnisses in einer § 87 Abs. 1 ZPO genügenden<br />

Form mitgeteilt hat. Hat der Verwalter einen Rechtsanwalt mit der Vertretung der in einem Beschlussmängelverfahren<br />

beklagten Wohnungseigentümer beauftragt, kann nur er dem Rechtsanwalt<br />

Weisungen für die Prozessführung erteilen und das Mandatsverhältnis beenden, solange er zur Vertretung<br />

der Wohnungseigentümer befugt ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 159/<strong>2020</strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Güteantrag: Verjährungshemmung<br />

(OLG Braunschweig, Beschl. v. 13.1.<strong>2020</strong> – 3 U 91/16) • Ein Güteantrag zu geltend gemachten<br />

Anlegeransprüchen muss bestimmten Anforderungen genügen, um im Einzelfall eine Verjährungshemmung<br />

bewirken zu können. In Bezug auf die Beschreibung des angestrebten Verfahrensziels ist<br />

erforderlich, dass die Größenordnung des geltend gemachten Anspruchs für Antragsgegner und<br />

Gütestelle aus dem Güteantrag erkennbar und wenigstens im Groben einschätzbar wird. Hierfür<br />

bedarf es bereits im Güteantrag u.a. einer klarstellenden Äußerung, ob der vollständige Zeichnungsschaden<br />

oder nur ein Differenzschaden (etwa nach zwischenzeitlicher Veräußerung der Beteiligung<br />

oder unter Geltendmachung einer günstigeren Alternativbeteiligung) begehrt wird, ob das eingebrachte<br />

Beteiligungskapital fremdfinanziert war, sowie Angaben, die etwaige weitere Schadenspositionen,<br />

wie z.B. einen beanspruchten entgangenen Gewinn, bestimmbar machen (Anschluss an<br />

BGH, Beschl. v. 28.1.2016 – III ZB 88/15, juris Rn 17 und III ZR 116/15, juris Rn 4; v. 4.2.2016 – 3 ZR 356/14,<br />

juris Rn 4; v. 25.2.2016 – III ZB 74/15, III ZB 76/15, III ZB 77/15, III ZB 78/15 und III ZB 79/15, jeweils juris<br />

Rn 17; BGH, Urt. v. 3.9.2015 – III ZR 347/14, juris Rn 18; Beschl. v. 24.9.2015 – III ZR 363/14, juris Rn 13;<br />

v. 24.3.2016 – III ZB 75/15, juris Rn 17 sowie v. 7.9.2017 – IV ZR 238/15, juris Rn 19; OLG Braunschweig,<br />

Beschl. v. 11.9.2017 – 10 U 82/17, juris Rn 74). Art. 229 § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 EGBGB verstößt nicht<br />

wegen unzulässiger Rückwirkung gegen Art. 20 Abs. 3 GG (Anschluss an OLG Braunschweig, Beschl.<br />

v. 21.11.2018 – 10 U 90/18, juris Rn 169). Kündigt eine Anwaltskanzlei an, eine große Vielzahl im<br />

Wesentlichen gleichgerichteter Klagen gegen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften bei einem Gericht<br />

einzureichen und richtet das Präsidium daraufhin eine Kammer mit einer Sonderzuständigkeit für das<br />

zugrunde liegende Rechtsgebiet ein (hier: Streitigkeiten aus der Berufstätigkeit der Wirtschaftsprüfer),<br />

führt dies nicht zu einem unzulässigen Ausnahmegericht i.S.d. § 16 GVG, Art. 101 Abs. 1 S. 1 GVG.<br />

Es gehört vielmehr zu den Aufgaben des Präsidiums, bei der Jahresgeschäftsverteilung und der sich in<br />

diesem Zusammenhang stellenden Frage der Einrichtung von Spezialkammern bereits absehbare<br />

Verfahrenseingänge zu berücksichtigen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 160/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 337


Fach 1, Seite 42 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Rückstau vor einer ampelgeregelten Baustelle: Langsames Überholen<br />

(OLG Koblenz, Urt. v. 10.2.<strong>2020</strong> – 12 U 1134/19) • Bildet sich auf einer Landstraße vor einer ampelgeregelten<br />

Baustelle ein kolonnenartiger Rückstau und überholt – in einer Phase, in welcher kein<br />

Gegenverkehr naht – ein Motorrad mit mäßiger Geschwindigkeit (ca. 15 km/h) diese Kolonne, trifft den<br />

Motorradfahrer auch unter Berücksichtigung der von seinem Motorrad ausgehenden Betriebsgefahr<br />

keine Mithaftung, wenn aus der Kolonne ohne jegliche Vorankündigung ein Pkw nach links ausschert,<br />

um in einen dort befindlichen Wirtschaftsweg einzubiegen, und es hierdurch zu einer Kollision mit dem<br />

bereits auf (nahezu) gleicher Höhe befindlichen Motorrad kommt. Die Voraussetzungen für eine<br />

Schadensabrechnung auf der Basis des gutachterlich ermittelten Reparaturaufwands (fiktive Abrechnung)<br />

sind nicht gegeben, wenn der Geschädigte eine die Weiternutzung ermöglichende Reparatur des<br />

Motorrads nicht vornimmt, sondern dieses im unreparierten Zustand weiterveräußert. Möchte der<br />

Geschädigte aus dem Regulierungsverhalten (der Versicherung) des Schädigers rechtliche Konsequenzen<br />

dergestalt herleiten, dass er wegen einer Einschränkung seines Wahlrechts hinsichtlich der Form der<br />

Schadensbehebung und einer damit einhergehenden Verletzung seines Integritätsinteresses einen<br />

(weiteren) Schaden in Höhe der Differenz zwischen dem Schadensbetrag bei fiktiver Schadensberechnung<br />

auf Reparaturkostenbasis und demjenigen auf Basis des Wiederbeschaffungsaufwands<br />

geltend machen möchte, so muss er vorab seiner Warnungspflicht nachkommen und den Schädiger<br />

bzw. dessen Versicherung auf diese drohenden Folgen hinweisen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 161/<strong>2020</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Private Krankenversicherung: Geheimhaltungsinteresse bei Prämienerhöhungen<br />

(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.2.<strong>2020</strong> – 12 W 24/19) • Im Rechtsstreit über Prämienerhöhungen in der<br />

privaten Krankenversicherung kann zum Schutz der Geschäftsgeheimnisse des Krankenversicherers die<br />

Öffentlichkeit ausgeschlossen und die Geheimhaltung von Unterlagen über die technischen Berechnungsgrundlagen<br />

angeordnet werden (Anschluss an BGH, Urt. v. 9.12.2015 – IV ZR 272/15). Eine<br />

Geheimhaltungsanordnung gem. § 174 Abs. 3 GVG erstreckt sich nicht auf die im Verhandlungstermin<br />

nicht anwesende Partei. Dem im Verhandlungstermin anwesenden Prozessbevollmächtigten ist es<br />

aufgrund der Geheimhaltungsanordnung in diesem Fall untersagt, seinen Mandanten über den Inhalt<br />

der geheimzuhaltenden Schriftstücke zu informieren. Dies steht der Zulässigkeit einer Geheimhaltungsanordnung<br />

nicht entgegen. Eine Geheimhaltungsanordnung muss die geheimzuhaltenden Tatsachen<br />

oder Schriftstücke hinreichend genau bezeichnen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 162/<strong>2020</strong><br />

Familienrecht<br />

Zugewinnausgleichsverfahren: Wesentlicher Verfahrensmangel<br />

(OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.2.<strong>2020</strong> – 13 UF 127/17) • Eine Überraschungsentscheidung durch<br />

Verletzung der richterlichen Hinweispflicht nach § 139 Abs. 2 ZPO begründet einen wesentlichen<br />

Verfahrensmangel nach § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Auf mangelnde Substantiierung darf sich ein Gericht nie<br />

stützen, bevor auf die Ergänzungsbedürftigkeit des Sachvortrages hingewiesen worden ist. Insoweit ist<br />

nach § 139 Abs. 2 ZPO eine Erörterung unerlässlich, wenn Tatsachenvortrag, Beweisangebote oder<br />

Anträge unvollständig, unklar oder neben der Sache sind, es sei denn, die Partei war bereits durch<br />

eingehenden und von ihr erfassten Vortrag des Verfahrensgegners zutreffend über die Sach- und<br />

Rechtslage unterrichtet. Zur schlüssigen Darstellung eines Zugewinnausgleichsanspruchs aus § 1378<br />

BGB genügt regelmäßig die Bezifferung der beiderseitigen Endvermögen; diese stellen bei regelmäßig<br />

fehlenden Verzeichnissen der Anfangsvermögen nach § 1377 Abs. 3 BGB den jeweiligen Zugewinn der<br />

Ehegatten dar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 163/<strong>2020</strong><br />

338 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 43<br />

Nachlass-/Erbrecht<br />

Nacherbentestamentsvollstrecker: Entlassung<br />

(OLG München, Beschl. v. 28.1.<strong>2020</strong> – 31 Wx 439/17) • Ist im Fall der Nacherbschaft ein Vermögensverzeichnis<br />

zu erstellen, so hat dies die im Nachlass befindlichen Vermögensgegenstände, nicht jedoch<br />

bloße Erinnerungsstücke ohne materiellen Wert oder Verbindlichkeiten zu umfassen. Ist den Nacherben<br />

der Umfang des Nachlasses bekannt und weiß der Nacherbentestamentsvollstrecker daher, dass im<br />

Nachlass keine Wertgegenstände vorhanden sind, die nicht im Nachlassverzeichnis aufgeführt sind,<br />

wäre es reiner Formalismus, würde vom Nacherbentestamentsvollstrecker dennoch verlangt, vom<br />

Vorerben eine über das Nachlassverzeichnis hinausgehende Auskunft anzufordern.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 164/<strong>2020</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Revisionszulassung: Entgegenwirken einer Gehörsverletzung<br />

(BGH, Beschl. v. 28.1.<strong>2020</strong> – VIII ZR 57/19) • Eine Zulassung der Revision wegen eines dem Berufungsgericht<br />

unterlaufenen Gehörsverstoßes kommt nicht in Betracht, wenn es der Beschwerdeführer<br />

versäumt hat, i.R.d. ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des<br />

Berufungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken (im Anschluss an BGH,<br />

Beschl. v. 17.3.2016 – IX ZR 211/14, NJW-RR 2016, 699). Hierbei ist eine anwaltlich vertretene Partei auch<br />

gehalten, das Berufungsgericht auf von ihm bislang nicht beachtete höchstrichterliche Rechtsprechungsgrundsätze<br />

hinzuweisen (hier: Voraussetzungen einer Behauptung „ins Blaue hinein“ und eines<br />

„Ausforschungsbeweises“). Hinweis: Das Berufungsgericht hatte das Vorbringen des Klägers zum<br />

Vorhandensein einer oder mehrerer unzulässiger Abschalteinrichtungen zu Unrecht als unbeachtliche<br />

Behauptungen „ins Blaue hinein“ gewertet und den hierfür angetretenen Sachverständigenbeweis nicht<br />

erhoben, obwohl ein solches Vorgehen im Prozessrecht keine Stütze findet. Schon als Referendar lernt<br />

man, dass der Anwalt den Sachverhalt vorträgt und das Gericht Recht findet. Offensichtlich brauchen<br />

manche Gerichte etwas Nachhilfe. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 165/<strong>2020</strong><br />

Richterablehnung: Grenzen einer Selbstentscheidung<br />

(VerfGH NRW, Beschl. v. 11.2.<strong>2020</strong> – VerfGH 32/19.VB-3) • Ein wegen Besorgnis der Befangenheit<br />

abgelehnter Richter in einem zivilgerichtlichen Verfahren kann über das Ablehnungsgesuch selbst<br />

entscheiden, wenn es wegen Rechtsmissbräuchlichkeit als offensichtlich unzulässig zu verwerfen ist. So<br />

verhält es sich, wenn das Ablehnungsgesuch offensichtlich lediglich dazu dient, das Verfahren zu<br />

verschleppen, oder verfahrensfremde Ziele verfolgt. Diese – gesetzlich nicht geregelte – Ausnahme von<br />

den Zuständigkeitsbestimmungen der Zivilprozessordnung gerät bei strenger Prüfung ihrer Voraussetzungen<br />

mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter nicht in Konflikt, soweit die Prüfung der<br />

Rechtsmissbräuchlichkeit keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt<br />

und deshalb keine echte Entscheidung in eigener Sache ist. Eine verfassungswidrige Entziehung<br />

des gesetzlichen Richters für das Ablehnungsverfahren kann nicht in jeder fehlerhaften Annahme eines<br />

abgelehnten Richters, über das Ablehnungsgesuch wegen offensichtlicher Unzulässigkeit selbst entscheiden<br />

zu dürfen, gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen<br />

Rechts zugleich als Verfassungsverstoß angesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind<br />

aber dann überschritten, wenn das Vorgehen des abgelehnten Richters im Einzelfall willkürlich oder<br />

offensichtlich unhaltbar ist oder die Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des gesetzlichen<br />

Richters grundlegend verkennt. Der Verfassungsgerichtshof hegt Bedenken gegen die Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), nach der bei einer verfassungswidrigen Überschreitung der<br />

Grenzen der Selbstentscheidung durch den abgelehnten Richter das im Beschwerdeverfahren nach § 46<br />

Abs. 2 ZPO entscheidende Gericht diesen Verfassungsverstoß nur durch die Aufhebung der erstinstanzlichen<br />

Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache beheben kann (so namentlich BVerfG,<br />

Beschl. v. 14.11.20<strong>07</strong> – 2 BvR 1849/<strong>07</strong>). Hinweis: Der Verfassungsgerichtshof hat letztgenannte Bedenken<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 339


Fach 1, Seite 44 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

dahinstehen lassen, weil ihre abschließende Klärung im vorliegenden Einzelfall nicht erforderlich war.<br />

Eine bemerkenswerte Entscheidung, die aus anwaltlicher Sicht (endlich) in die richtige Richtung weist.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 166/<strong>2020</strong><br />

Vermeidung einer Kostentragungspflicht: Nachrichteneingang bei „WhatsApp“<br />

(LG Bonn, Urt. v. 31.1.<strong>2020</strong> – 17 O 323/19) • Zur Vermeidung einer Kostentragungspflicht gem. § 93 ZPO<br />

ist der Kläger vor Einreichung einer Antrags- oder Klageschrift auch verpflichtet, einen etwaigen<br />

Nachrichteneingang bei „WhatsApp“ zur Kenntnis zu nehmen und daraufhin zu kontrollieren, ob der<br />

Beklagte bereits anerkannt oder sich der geforderten Verpflichtung unterworfen hat. Haben die<br />

Parteien bereits im Vorfeld Kommunikationen über „WhatsApp“ geführt, ist es zulässig, dass weitere<br />

rechtserhebliche Erklärungen ebenfalls über diesen Kommunikationskanal abgegeben werden, soweit<br />

das Textformerfordernis ausreicht. Bei einer derart weit verbreiteten Applikation wie „WhatsApp“<br />

kann aus einer Phase ohne Kommunikation nicht der Schluss gezogen werden, der andere Teil habe<br />

diesen eröffneten Kommunikationskanal wieder aufgegeben. Gemäß § 291 ZPO ist als allgemein<br />

bekannt anzunehmen, dass bei der Anzeige von zwei blauen Haken die Nachricht auf dem Endgerät<br />

des Empfängers eingegangen und auch von diesem geöffnet worden ist. Insoweit kann offen bleiben,<br />

ob von dieser „WhatsApp“-Nachricht tatsächlich erst später Kenntnis genommen wurde. Hinweis: Die<br />

Entscheidung ist zwar im Einzelfall ergangen, hat über diesen hinaus jedoch große praktische<br />

Bedeutung, da auch im Rechtsverkehr zunehmend Messenger-Dienste zum Einsatz kommen, was im<br />

Hinblick auf das Empfängerrisiko nicht unerheblich ist. Sobald zwei blaue Haken bei „WhatsApp“<br />

gesetzt werden, gilt die Nachricht als gelesen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 167/<strong>2020</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Restschuldbefreiung: Antragsbefugnis für einen Versagungsantrag<br />

(BGH, Beschl. v. 13.2.<strong>2020</strong> – IX ZB 55/18) • Den Antrag, die Restschuldbefreiung zu versagen, wenn sich<br />

nach dem Schlusstermin herausstellt, dass ein Versagungsgrund nach § 290 Abs. 1 InsO vorgelegen hat,<br />

können nur Insolvenzgläubiger stellen, die sich durch Anmeldung ihrer Forderung am Insolvenzverfahren<br />

beteiligt haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 168/<strong>2020</strong><br />

Insolvenzanfechtung: Beteiligter an einem Anlagebetrug<br />

(LG Tübingen, Urt. v. 4.2.<strong>2020</strong> – 5 O 238/19) • Ist der Inhaber eines Anlagekontos beim Anlagebetrug<br />

abredewidrig nicht der Vertragspartner, sondern ein Dritter, so stellt eine Zahlung des Kontoinhabers an den<br />

geschädigten Anleger – jedenfalls bis zur Höhe des eingesetzten Betrags – die Erfüllung einer Verbindlichkeit<br />

nach § 812 BGB dar. Ist beim Anlagebetrug der Inhaber des Kontos, auf dem die Kundengelder abgewickelt<br />

werden, Teil des Betrugssystems, so erfolgen Zahlungen bis zur Höhe des deliktischen Schadenersatzanspruchs,<br />

d.h. regelmäßig mindestens bis zur Höhe des Anlagebetrags nebst Agio, auch zur Erfüllung<br />

deliktischer Verbindlichkeiten. Eine Unterscheidung zwischen Gewinnauszahlungen und Kapitalrückzahlungen<br />

i.R.d. Insolvenzanfechtung ist beim Anlagebetrug, begangen oder unterstützt durch den Gemeinschuldner,<br />

nicht vorzunehmen, da es schon von der Natur der Sache her überhaupt keine Gewinne gibt,<br />

sondern nur Scheingewinne als Mittel zur Verschleppung der Taterkennung oder zur Gewinnung neuer<br />

Opfer. Ein Schneeballsystem setzt begrifflich und gesetzmäßig voraus, dass jeder gewonnene Kunde oder<br />

Mitspieler seinerseits neue nachgeordnete Mitspieler sucht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 169/<strong>2020</strong><br />

Handels-/Gesellschaftsrecht<br />

Wiedereintragung einer KG: Nachtragsliquidation zur vollständigen Beendigung<br />

(KG, Beschl. v. 9.9.2019 – 22 W 93/17) • Ist die Beendigung einer Kommanditgesellschaft nach den §§ 157<br />

Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB in das Handelsregister eingetragen, ist die Gesellschaft auf eine Anmeldung hin<br />

wieder einzutragen, wenn die Wiedereintragung i.R.d. Nachtragsliquidation zur vollständigen Beendigung<br />

notwendig ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 170/<strong>2020</strong><br />

340 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 45<br />

Frachtsendung: Zwischenlagerung<br />

(LG Hamburg, Urt. v. 24.10.2019 – 4<strong>07</strong> HKO 23/19) • Die Zwischenlagerung einer Frachtsendung im<br />

Umschlagslager am Flughafen nach einem vorangegangenen Lufttransport unterfällt in jedem Fall noch<br />

dem Schutzbereich des Montrealer Übereinkommens. Dies gilt auch dann, wenn die Sendung von<br />

diesem Lager aus per Lkw zum Empfänger befördert werden soll. Denn die Obhutshaftung des<br />

Luftfrachtführers endet bzw. der nachfolgende Straßentransport beginnt erst mit dem Abschluss der<br />

Beladung des Lkw. Praxishinweis: Dem Montrealer Übereinkommen (MÜ) ist eine Haftungsdurchbrechung<br />

fremd (vgl. Art. 22 Abs. 3 MÜ). Insofern ist gerade bei der Nutzung verschiedenartiger<br />

Beförderungsmittel wichtig zu wissen, wo der Anwendungsbereich des Montrealer Übereinkommens<br />

beginnt bzw. endet. Das LG Hamburg legt dabei einen spediteur-/frachtführerfreundlichen Maßstab an,<br />

indem es – dem Wortlaut des MÜ entsprechend – dieses auf alle Tätigkeiten auf dem Flughafengelände<br />

anwendet. Dabei ist es nach Auffassung des Gerichts vollkommen egal, aus welchem Grund sich die<br />

Sendung dort befunden hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 171/<strong>2020</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber- und Medien-/Marken- und Wettbewerbsrecht<br />

Unionsmarkenstreitsache: Zuständigkeit des Unionsmarkengerichts<br />

(OLG Hamm, Urt. v. 16.1.<strong>2020</strong> – 4 U 72/19) • Die Bestimmungen der Unionsmarkenverordnung über die<br />

Zuständigkeit der Unionsmarkengerichte sind dahin auszulegen, dass nur Unionsmarkengerichte<br />

Sachentscheidungen in Unionsmarkenstreitsachen treffen dürfen. Die Anwendung des § 513 Abs. 2<br />

ZPO darf nicht dazu führen, dass ein Berufungsgericht, das kein Unionsmarkengericht ist, eine<br />

Sachentscheidung in einer Unionsmarkenstreitsache trifft. § 513 Abs. 2 ZPO ist unionsrechtskonform in<br />

entsprechender Weise einschränkend auszulegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 172/<strong>2020</strong><br />

Sozialrecht<br />

Vertragsarztvergütung: Arztbezogene Plausibilitätsprüfung<br />

(SG Dresden, Beschl. v. 21.11.2019 – S 25 KA 147/19 ER) • Die Tages- und Quartalszeitprofile für<br />

Plausibilitätsprüfungen in Arztpraxen mit angestellten Ärzten sind arztbezogen, nicht praxisbezogen, zu<br />

bilden. Dies gilt auch für Prüfzeiträume vor dem Inkrafttreten der Richtlinien zum Inhalt und zur<br />

Durchführung der Prüfungen gem. § 106d Abs. 6 SGB V (Abrechnungsprüfungs-Richtlinien – AbrPrRL)<br />

v. 7.3.2018, soweit § 8 AbrPrRL nach § 22 Abs. 3 AbrPrRL rückwirkend auf Verfahren anzuwenden ist,<br />

die am 31.12.2014 noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren. § 8 Abs. 3 der Richtlinien nach § 106a<br />

Abs. 2 SGB V in der bis zum 31.3.2018 geltenden Fassung v. 1.7.2008 ist insoweit nicht anzuwenden. Die<br />

Ausschlussfrist von zwei Jahren für den Erlass von Richtigstellungsbescheiden gem. § 106d Abs. 5 S. 3<br />

SGB V in der Fassung TSVG gilt nicht für Honorarrückforderungen, bei denen der Ausgangsbescheid<br />

noch vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 11.5.2019 bekannt gegeben wurde und damit noch einer<br />

Ausschlussfrist von vier Jahren unterlag. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 173/<strong>2020</strong><br />

Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />

Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung: Unvereinbarkeit mit dem GG<br />

(BVerfG, Urt. v. 26.2.<strong>2020</strong> – 2 BvR 2347/15) • Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.<br />

Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.<br />

Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die<br />

Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und<br />

Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer<br />

Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen,<br />

umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in<br />

Anspruch zu nehmen. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung<br />

entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 341


Fach 1, Seite 46 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der<br />

Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig<br />

angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der<br />

Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen. Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist<br />

zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld<br />

unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden,<br />

auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener<br />

Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt<br />

in Kollision zu der Pflicht des Staats, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe<br />

Rechtsgut Leben zu schützen. Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben<br />

beimisst, ist grds. geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu<br />

rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der<br />

Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu<br />

freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung<br />

der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem<br />

solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich<br />

geschützten Freiheit verbleibt. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 174/<strong>2020</strong><br />

Rechtsreferendarinnen: Kopftuchverbot<br />

(BVerfG, Beschl. v. 14.1.<strong>2020</strong> – 2 BvR 1333/17) • Die Rechtsreferendarinnen und -referendaren auferlegte<br />

Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentanten des Staats wahrgenommen werden oder<br />

wahrgenommen werden könnten, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht<br />

durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in<br />

die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Als mit der Glaubensfreiheit<br />

in Widerstreit tretende Verfassungsgüter, die einen Eingriff in die Religionsfreiheit im vorliegenden<br />

Zusammenhang rechtfertigen können, kommen der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität<br />

des Staats, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und mögliche Kollisionen mit<br />

der grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit Dritter in Betracht. Keine rechtfertigende<br />

Kraft entfalten dagegen das Gebot richterlicher Unparteilichkeit und der Gedanke der Sicherung des<br />

weltanschaulich-religiösen Friedens. Die Verpflichtung des Staats auf Neutralität kann keine andere<br />

sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität, denn der Staat kann nur durch Personen<br />

handeln. Allerdings muss sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private<br />

Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen. Eine Zurechnung kommt aber<br />

insb. dann in Betracht, wenn der Staat – wie im Bereich der Justiz – auf das äußere Gepräge einer<br />

Amtshandlung besonderen Einfluss nimmt. Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zählt zu den<br />

Grundbedingungen des Rechtsstaats und ist im Wertesystem des Grundgesetzes fest verankert, da<br />

jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient. Funktionsfähigkeit setzt voraus,<br />

dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die<br />

Justiz insgesamt existiert. Ein „absolutes Vertrauen“ in der gesamten Bevölkerung wird zwar nicht zu<br />

erreichen sein. Dem Staat kommt aber die Aufgabe der Optimierung zu. Hinweis: Vgl. dazu RÖDEL, Das<br />

Kopftuch als religiöses Symbol im öffentlichen Raum. Überblick über die neuere Rechtsprechung und<br />

Literatur, <strong>ZAP</strong> F. 19 R, S.393–398, insb. zum Kopftuchverbot für Rechtsanwältinnen und (ehrenamtliche)<br />

Richterinnen. Zu begrüßen ist auf jeden Fall die eindeutige Begründung der BVerfG-Entscheidung,<br />

die sich auch auf andere Bereiche im öffentlichen Raum übertragen lassen wird.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 175/<strong>2020</strong><br />

Verfassungsbeschwerdeverfahren: Antrag auf Wertfestsetzung<br />

(BVerfG, Beschl. v. 21.1.<strong>2020</strong> – 1 BvR 1867/17) • Gemäß § 37 Abs. 2 S. 2 RVG beträgt der Mindestgegenstandswert<br />

im Verfahren der Verfassungsbeschwerde 5.000 €. Ein höherer Gegenstandswert<br />

kommt in Fällen, in denen eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen oder<br />

zurückgenommen worden ist, regelmäßig nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 79, 365, 369). Ist deshalb vom<br />

Mindestgegenstandswert auszugehen, so besteht für die gerichtliche Festsetzung des Gegenstands-<br />

342 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 47<br />

wertes kein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.5.1999 – 2 BvR 1790/94, NJW 2000, 1399).<br />

Hinweis: Diese wenig anwaltfreundliche Entscheidung ist abzulehnen, da sie an der Wirklichkeit<br />

vorbeigeht. Für Gebühren aus einem Gegenstandswert von 5.000 € lässt sich der Zeit- und Arbeitsaufwand<br />

für das Abfassen einer Verfassungsbeschwerde nicht ansatzweise rechtfertigen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 176/<strong>2020</strong><br />

Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheids: Reichweite der Rechtskraft<br />

(OVG Hamburg, Beschl. v. 3.2.<strong>2020</strong> – 5 Bf 228/18.Z) • Anders als bei einem Bescheidungsurteil erstreckt<br />

sich bei einem Urteil, mit dem die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts festgestellt wird, die<br />

Rechtskraft nicht auf die Entscheidungsgründe (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 18.7.2013 – 5 C 8/12,<br />

juris Rn 15). Gegenstand der materiellen Rechtskraft eines Urteils, das einem Begehren nach § 113 Abs. 1<br />

S. 4 VwGO stattgibt, ist die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Für einen späteren Prozess<br />

entfaltet ein solches Urteil präjudizielle Bindungswirkung, wenn die rechtskräftig entschiedene Frage<br />

vorgreiflich für die Beurteilung des zur Entscheidung stehenden Rechtsverhältnisses ist (im Anschluss<br />

an BVerwG, Urt. v. 31.1.2002 – 2 C 7/01, juris Rn 13 ff.). Die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines<br />

Bescheids, mit dem Fördermittel für ein bestimmtes Forschungsvorhaben für einen bestimmten<br />

Zeitraum versagt wurden, entfaltet keine Bindungswirkung bezüglich der Behandlung zukünftiger<br />

Anträge für andere, wenn auch vergleichbare Ausschreibungen von Fördermitteln. Die Zulassung der<br />

Berufung kommt nicht in Betracht, wenn das Verwaltungsgericht seine Feststellung, der Verwaltungsakt<br />

sei rechtswidrig gewesen, auf mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt und<br />

die Beklagte die Zulassungsgründe nicht wegen eines jeden die Entscheidung tragenden Grundes<br />

dargelegt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 177/<strong>2020</strong><br />

Steuerrecht<br />

Schenkungsteuer: Begünstigung von Betriebsvermögen<br />

(BFH, Urt. v. 6.11.2019 – II R 34/16) • Die Begünstigung von Betriebsvermögen nach § 13a ErbStG i.d.F.<br />

des Jahres 20<strong>07</strong> setzt voraus, dass der Gegenstand des Erwerbs bei dem bisherigen Rechtsträger<br />

Betriebsvermögen war und bei dem neuen Rechtsträger Betriebsvermögen wird. Ist Gegenstand des<br />

Erwerbs eine Beteiligung an einer Personengesellschaft, muss der Erwerber Mitunternehmer werden.<br />

Der Eigentümer eines nießbrauchbelasteten Kommanditanteils kann Mitunternehmer sein. Die Übertragung<br />

der Steuerberechnung auf das Finanzamt im Tenor der finanzgerichtlichen Entscheidung<br />

setzt voraus, dass dem Finanzamt nur noch die Berechnung der Steuer verbleibt. Wertungs-,<br />

Beurteilungs- oder Entscheidungsspielräume sind unzulässig. Ein Zuwarten auf eine gesonderte<br />

Feststellung geht über die Steuerberechnung hinaus. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 178/<strong>2020</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeitenrecht<br />

Einspruchsverwerfung: Abwesenheit des Verteidigers<br />

(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.1.<strong>2020</strong> – 3 Rb 32 Ss 983/19) • Der Umstand, dass auch der Verteidiger des<br />

von der Anwesenheitspflicht entbundenen Betroffenen der Hauptverhandlung ferngeblieben ist, rechtfertigt<br />

den Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 179/<strong>2020</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Übernachtungskosten: Erforderlichkeit<br />

(LG Memmingen, Beschl. v. 20.1.<strong>2020</strong> – 34 O 1272/16) • Übernachtungskosten nach Nr. 7006 VV RVG<br />

sind zu erstatten, wenn diese angemessen sind. Dies ist regelmäßig dann gegeben, wenn die Übernachtung<br />

zweckmäßig, oder aber, wenn Hin- und Rückreise am selben Tag nicht möglich oder nicht<br />

zumutbar sind. Dies ist in Anlehnung an § 758a Abs. 4 ZPO dann anzunehmen, wenn die Hin- und<br />

Rückreise nicht im Zeitfenster von 6 Uhr bis 21 Uhr erfolgen können. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 180/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 343


Fach 1, Seite 48 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Terminvertreter: Erstattungsfähigkeit einer Pauschalvergütung<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 15.10.2019 – 25 W 242/19) • Wenn ein Rechtsanwalt einen Terminvertreter<br />

beauftragt, sind die dadurch entstehenden (Mehr-)Kosten im Kostenfestsetzungsverfahren nicht zu<br />

berücksichtigen. Hinweis: Dies ist wieder eine wenig anwaltfreundliche und auch realitätsferne<br />

Entscheidung. Im Streitfall ging es um Kosten von 200 € brutto, die der Terminvertreter in Rechnung<br />

gestellt hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 181/<strong>2020</strong><br />

EU-Recht/IPR<br />

Zeichenanmeldung: „Fack Ju Göhte“<br />

(EuGH, Urt. v. 27.2.<strong>2020</strong> – C-240/18 P) • Das Amt der Europäischen Union für Geistiges Eigentum<br />

(EUIPO) muss erneut über das von der Constantin Film Produktion GmbH als Unionsmarke angemeldete<br />

Zeichen „Fack Ju Göhte“ entscheiden. Das EUIPO und das Gericht, die das Zeichen für<br />

sittenwidrig hielten, haben nicht hinreichend berücksichtigt, dass dieser Titel einer Filmkomödie von der<br />

deutschsprachigen breiten Öffentlichkeit offenbar nicht als moralisch verwerflich wahrgenommen<br />

wurde. Hinweis: Nach Auffassung des EUIPO erkennen die deutschsprachigen Verkehrskreise in den<br />

Wörtern „Fack Ju“ den (lautschriftlich ins Deutsche übertragenen) vulgären und anstößigen englischen<br />

Ausdruck „Fuck you“. Durch die Hinzufügung des Elements „Göhte“ (mit dem der Name des deutschen<br />

Dichters Goethe lautschriftlich übertragen werde) könne die Wahrnehmung der Beleidigung „Fack Ju“<br />

nicht wesentlich abgeändert werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 182/<strong>2020</strong><br />

Entzug einer Bankzulassung: Anglo Austrian AAB Bank<br />

(EuGH, Beschl. v. 7.2.<strong>2020</strong> – T-797/19 R) • Da die Anglo Austrian AAB Bank ihre Abwicklung bereits<br />

selbst beschlossen hatte, bevor die Europäische Zentralbank (EZB) ihr die Bankzulassung entzog, ist<br />

es ihr nicht gelungen, darzutun, dass ihr durch diesen Entzug ein schwerer und nicht wiedergutzumachender<br />

Schaden droht. Hinweis: Mit Beschluss vom 14.11.2019 entzog die EZB der österreichischen<br />

Privatbank Anglo Austrian AAB Bank ihre Bankzulassung. Dieser Beschluss ging auf einen<br />

Vorschlag der österreichischen Finanzmarktaufsichtsbehörde zurück, die zuvor schon zahlreiche<br />

aufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen die AAB Bank getroffen hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 183/<strong>2020</strong><br />

Inverkehrbringen von Arzneimitteln: Zugang zu Dokumenten<br />

(EuGH, Urt. v. 22.1.<strong>2020</strong> – C-175/18 P u. C-178/18 P) • Der Europäische Gerichtshof bestätigt das Recht<br />

auf Zugang zu Dokumenten, die in den Akten zu einem Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen<br />

von Arzneimitteln enthalten sind. Ein Widerspruch gegen einen solchen Zugang muss<br />

Erläuterungen zu Art, Gegenstand und Tragweite der Daten enthalten, deren Verbreitung geschäftliche<br />

Interessen beeinträchtigen würde. Hinweis: Streitgegenständlich waren Berichte über toxikologische<br />

Prüfungen und ein Bericht über eine klinische Prüfung, die von den Rechtsmittelführerinnen im<br />

Rahmen ihrer Anträge auf Genehmigung für das Inverkehrbringen zweier Arzneimittel – eines davon<br />

ein Humanarzneimittel (Az. C-175/18 P), das andere ein Tierarzneimittel (Az. C-178/18 P) – vorgelegt<br />

worden waren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 184/<strong>2020</strong><br />

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344 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1571<br />

Elternunterhalt: Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />

Familienrecht<br />

Unterhaltsrecht<br />

Die Bedeutung des Angehörigen-Entlastungsgesetzes für den Elternunterhalt<br />

Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Weitere Aufsicht führender Richter am RiAG a.D., Gelsenkirchen<br />

Mit dem zum 1.1.<strong>2020</strong> in Kraft getretenen „Gesetz zur Entlastung unterhaltsverpflichteter Angehöriger<br />

in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe vom 10.12.2019“ (Angehörigen-Entlastungsgesetz,<br />

BGBl. I 2019, S. 2135) – einem sozialpolitischen Reformgesetz – hat der Gesetzgeber eine Reihe von<br />

Problemen geregelt, die Bedeutung für den Elternunterhalt haben.<br />

Inhalt<br />

I. Bedeutung für den Elternunterhalt<br />

II. Keine Anwendung auf den Ehegattenunterhalt<br />

III. Keine Änderung des Unterhaltsrechts<br />

I. Bedeutung für den Elternunterhalt<br />

Viele Seniorinnen und Senioren leben in Alters- und Pflegeheimen. Da die eigene Rente in aller Regel<br />

nicht ausreicht, um die Kosten zu decken, müssen die Sozialämter einspringen, die aber versuchen, das<br />

Geld von den unterhaltspflichtigen Kindern zurückzuholen.<br />

Verwandte ersten Grades schulden einander gem. §§ 1601 ff. BGB Unterhalt. Dieser Unterhaltsanspruch<br />

ist ein wechselseitiger. Es können also nicht nur Kinder von ihren Eltern Unterhalt beanspruchen,<br />

sondern auch umgekehrt die Eltern von ihren Kindern, wenn sie ihren Bedarf aus ihren Einkünften nicht<br />

decken können („Elternunterhalt“; ausführlich DOERING-STRIENING, Elternunterhalt und der Rückgriff des<br />

Sozialhilfeträgers, 2018; HAUß, Elternunterhalt, 5. Aufl. 2015).<br />

In der familienrechtlichen Praxis spielte dieser Elternunterhalt in der Vergangenheit eine immer größere<br />

Rolle.<br />

Die Notwendigkeit der Unterbringung in einem Heim ist immer dann gegeben, wenn dem alten<br />

Menschen die Selbstversorgung in einer eigenen Wohnung nicht mehr möglich ist (OLG Oldenburg<br />

FamRZ 2010, 991). Dies wird durch Zuerkennung einer Pflegestufe bzw. eines Pflegegrads indiziert<br />

(HAUß, FamRZ 2013, 206, 2<strong>07</strong>).<br />

Dann bestimmt sich der Unterhaltsbedarf des Elternteils durch seine Unterbringung im Heim und deckt<br />

sich mit den dort anfallenden notwendigen Kosten (BGH, Beschl. v. 27.4.2016 – XII ZB 485/14, NJW 2016,<br />

2122; BGH, Beschl. v. 17.6.2015 – XII ZB 458/14, FamRZ 2015, 1594, BORTH, FamRZ 2015, 1599; s.a. OLG Celle,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 345


Fach 11, Seite 1572<br />

Elternunterhalt: Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />

Familienrecht<br />

Beschl. v. 20.10.2015 – 18 UF 5/15, FamRZ 2016, 825). Weiter steht dem Elternteil ein Anspruch auf ein<br />

Taschengeld in Form der sozialrechtlich gewährten Barbeträge zu, also des angemessenen Barbetrags<br />

nach § 35 Abs. 2 S. 1 SGB XII (BGH, Urt. v. 21.10.2012 – XII ZR 150/10, FamRZ 2013, 203; BGH, Beschl.<br />

v. 17.6.2015 – XII ZB 458/14, FamRZ 2015, 1594 mit Anm. BORTH; BGH, Beschl. v. 27.4.2016 – XII ZB 485/14,<br />

NJW 2016, 2122) sowie des Zusatzbarbetrags nach § 133a SGB XII (BGH, Urt. v. 28.7.2010 – XII ZR 140/<strong>07</strong>,<br />

FamRZ 2010, 1535). Denn der in einem Heim lebende Elternteil muss auch für seine persönlichen, von<br />

den Leistungen der Einrichtung nicht umfassten Bedürfnisse Geld zur Verfügung haben, denn sonst<br />

könnte er nicht etwa Aufwendungen für Körper- und Kleiderpflege, Zeitschriften und Schreibmaterial<br />

und sonstige Kleinigkeiten des täglichen Lebens bezahlen (BGH BGHZ 186, 350 = FamRZ 2010, 1535<br />

Rn 16; BGH, Urt. v. 7.7.2004 – XII ZR 272/02, FamRZ 2004, 1370; Urt. v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ<br />

2004, 366, 369 m.w.N).<br />

Voraussetzung eines Anspruchs auf Elternunterhalt ist weiter, dass der im Heim lebende Elternteil<br />

seinen Bedarf nicht aus eigenen Mitteln decken kann. Folglich ist eigenes Einkommen des unterhaltsberechtigten<br />

Elternteils (Rente, Pension, Leistungen der Pflegeversicherung, ggf. Leistungen der<br />

Grundsicherung) zwar anzurechnen, genügt aber vielfach nicht, um diese regelmäßig anfallenden und<br />

recht hohen Kosten abzudecken.<br />

Auch vorhandenes Vermögen muss der Elternteil einsetzen, um die Kosten zu decken – bis das<br />

Vermögen verbraucht ist. In der Praxis kann auch die Schenkungsanfechtung eine Rolle spielen, wenn<br />

in der Vergangenheit Vermögen an Dritte verschenkt worden ist (hierzu BGH, Beschl. v. 20.2.2019 –<br />

XII ZB 364/18, NJW 2019, 1<strong>07</strong>4).<br />

Reichen Einkünfte und Vermögen des Elternteils nicht aus, die Heimkosten zu decken, muss der<br />

Sozialleistungsträger einspringen und den unterhaltsrechtlichen Bedarf decken. Dann aber geht<br />

regelmäßig der vorhandene Anspruch auf Elternunterhalt gegen ein oder mehrere gem. § 1606 Abs. 3<br />

S. 1 BGB als Teilschuldner nach Maßgabe ihrer Erwerbs- und Vermögensverhältnisse (vgl. BGH, Urt.<br />

v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186) haftende Kinder des pflegebedürftigen Elternteils auf den<br />

Sozialleistungsträger über. Sind mehrere Kinder vorhanden, haften diese ggf. anteilig.<br />

Hier setzt das Angehörigen-Entlastungsgesetz ein. Die bisherigen Regelungen haben die sozialpolitische<br />

Frage, ob der Staat (und damit die Allgemeinheit) oder die Kinder für die Kosten pflegebedürftiger<br />

Menschen aufkommen müssen, zulasten der Kinder geregelt. Jetzt wird zumindest für<br />

die meisten zukünftigen Fälle die Frage zulasten des Staates entschieden. Denn dieser Anspruchsübergang<br />

auf den Sozialleistungsträger wird eingeschränkt auf diejenigen Fälle, in denen das unterhaltspflichtige<br />

Kind ein jährliches Bruttoeinkommen von 100.000 € oder mehr erzielt (§ 94 Abs. 1a<br />

SGB XII). Mit dieser Einkommensgrenze wird das gesamte Jahresbruttoeinkommen erfasst, so<br />

dass auch sonstige Einnahmen z.B. aus Vermietung, Verpachtung oder Wertpapierhandel als Einkommen<br />

im Sinne dieser 100.000 Euro-Grenze einbezogen werden müssen (zu den Detailfragen<br />

des Gesetzes s. DOERING-STRIENING/HAUß/SCHÜRMANN, FamRZ <strong>2020</strong>, 137; SCHÜRMANN, FF <strong>2020</strong>, 48; HAUß,<br />

FamRB <strong>2020</strong>, 76).<br />

Dabei wird vermutet, dass das Einkommen der unterhaltsverpflichteten Personen die Jahreseinkommensgrenze<br />

nicht überschreitet (§ 94 Abs. 1a S. 3 SGB XII). Folglich entfällt der Unterhaltsrückgriff des<br />

Sozialhilfeträgers bis zu einem Jahreseinkommen von 100.000 € automatisch. Vorhandenes Vermögen<br />

bleibt unberücksichtigt.<br />

Das Angehörigen-Entlastungsgesetz gilt für Unterhaltsansprüche, die seit dem 1.1.<strong>2020</strong> entstanden sind.<br />

Eine rückwirkende Anwendung der Regelungen erfolgt nicht. Daher können vom Sozialhilfeträger<br />

Ansprüche auf Elternunterhalt aus dem Zeitraum bis zum 31.12.2019 weiterhin ohne diese Einschränkungen<br />

durchgesetzt werden.<br />

346 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1573<br />

Elternunterhalt: Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />

Verfügt der Sozialleistungsträger über einen Titel über aktuell laufenden und zukünftigen Unterhalt, so<br />

sind Aktivitäten des darin verpflichteten Kindes erforderlich, um eine weitere Vollstreckung von<br />

Ansprüchen über den 1.1.<strong>2020</strong> hinausgehend zu verhindern. Denn der Wegfall der Berechtigung infolge<br />

der für diesen Zeitraum nicht mehr greifenden Überleitung führt nicht zur automatischen Auflösung des<br />

Titels. Daher ist es zu empfehlen, dass der Unterhaltspflichtige den Leistungsträger umgehend zu<br />

einem Verzicht auf die Rechte aus diesem Titel und ggf. zur Herausgabe des Titels auffordert.<br />

Kommt der Sozialleistungsträger einer solchen Aufforderung nicht nach, ist ein gerichtliches Verfahren<br />

auf Abänderung des Unterhaltstitels der richtige Weg, die Aufhebung des Titels ab 1.1.<strong>2020</strong> zu<br />

erreichen. Bei einem gerichtlichen Titel handelt es sich um ein Abänderungsverfahren nach § 238<br />

FamFG, bei einer Unterhaltsvereinbarung oder bei einer einseitigen notariellen Unterhaltsverpflichtung<br />

um ein Verfahren nach § 239 FamFG. Der sachliche Grund für das Abänderungsbegehren ist die<br />

nachträgliche Änderung des Gesetzes. Der Abänderungsantrag des zu Unterhalt verpflichteten Kindes<br />

ist dann in den einschlägigen Fällen allein aufgrund dieser Gesetzesänderung begründet.<br />

Ein verfahrensrechtliches Risiko sollte nicht übersehen werden. Fehlt es an einem vorgerichtlichen<br />

Verzichtsverlangen, kann der Träger der Sozialleistungen im gerichtlichen Verfahren den Anspruch<br />

sofort anerkennen mit der Folge, dass die Verfahrenskosten dem Kind als Antragsteller des Abänderungsverfahrens<br />

auferlegt werden, da der Antragsgegner keine Veranlassung zur Einleitung eines<br />

gerichtlichen Verfahrens gegeben hat (§ 243 S. 2 Nr. 4 FamFG). Ein solches Risiko besteht auch, wenn<br />

zuvor dem auf Unterhalt in Anspruch genommenen Kind als Antragsteller des Abänderungsverfahrens<br />

Verfahrenskostenhilfe bewilligt worden ist, denn die Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe schützt<br />

nicht vor der Zahlungspflicht für die Kosten der Gegenseite.<br />

II. Keine Anwendung auf den Ehegattenunterhalt<br />

Auf Fälle des Ehegattenunterhalts findet das Gesetz keine Anwendung.<br />

Lebt also ein pflegebedürftiger Ehegatte im Pflegeheim (dazu BGH, Beschl. v. 27.4.2016 – XII ZB 485/14,<br />

NJW 2016, 2122; s.a. OLG Celle, Beschl. v. 20.10.2015 – 18 UF 5/15, FamRZ 2016, 825) oder in einer<br />

Einrichtung des betreuten Wohnens (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 30.6. 2017 – 6 WF 105/17, FuR 2018, 98),<br />

so steht ihm ein Unterhaltsanspruch gegen seinen Ehegatten zu. Es handelt sich dabei um einen Fall des<br />

konkreten Bedarfs, bei dem sich der Bedarf des Ehegatten nicht nach einer Quote des Familieneinkommens<br />

bemisst, sondern konkret nach den anfallenden Heimkosten. Wird also in diesen Fällen der<br />

Bedarf des Heimbewohners vom Sozialamt gedeckt, geht der Unterhaltsanspruch weiterhin über und<br />

kann gegen den Ehegatten geltend gemacht werden, der sich seinerseits nur auf seinen Selbstbehalt<br />

nach der Düsseldorfer Tabelle berufen kann. Dieser beträgt seit dem 1.1.<strong>2020</strong> bei einem erwerbstätigen<br />

Ehegatten 1.280 € und bei einem nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen (Rentner) 1.180 €.<br />

III. Keine Änderung des Unterhaltsrechts<br />

Das Angehörigen-Entlastungsgesetz greift auch nicht in das Unterhaltsrecht selbst ein, sondern betrifft<br />

allein den sozialrechtlichen Anspruchsübergang auf den Träger der Sozialleistungen. Erfolgt also kein<br />

Übergang des Elternunterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger, kann der pflegebedürftige Elternteil<br />

weiterhin sein Kind auch dann selbst in Anspruch auf Unterhalt nehmen, wenn es weniger als 100.000 €<br />

im Jahr verdient.<br />

Bei der Bemessung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit des auf Zahlung in Anspruch genommenen<br />

Kindes sind dann dessen eigener Selbstbehalt von 2.000 € und ggf. derjenige seines Ehegatten<br />

von weiteren 1.600 € einzubeziehen, die in der Düsseldorfer Tabelle festgelegt sind. Allerdings konnte<br />

die Neuregelungen des Angehörigen-Entlastungsgesetzes noch nicht in die Selbstbehaltsätze der zum<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 347


Fach 11, Seite 1574<br />

Elternunterhalt: Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />

Familienrecht<br />

1.1.<strong>2020</strong> geltenden Düsseldorfer Tabelle eingearbeitet werden. Hier ist noch eine Korrektur erforderlich,<br />

um nicht mehr sachlich zu begründende Verwerfungen zu vermeiden (SCHÜRMANN, FF <strong>2020</strong>, 48).<br />

Hierzu zwei Berechnungsbeispiele:<br />

Aus der Jahres-Einkommensgrenze des Angehörigen-Entlastungsgesetzes von 100.000 € brutto ergibt<br />

sich ein monatliches Bruttoeinkommen von 8.333 €. Dies entspricht überschlägig einem Nettoeinkommen<br />

von 5.000 € monatlich.<br />

Übersteigt das monatliche Nettoeinkommen des unterhaltspflichtigen Kindes diesen Grenzbetrag von<br />

5.000 € nicht, besteht kein übergeleiteter Unterhaltsanspruch des Sozialleistungsträgers gegen das<br />

unterhaltspflichtige Kind. Ist dessen Einkommen aber nur geringfügig höher, ist der Unterhaltsanspruch<br />

auf den Sozialleistungsträger übergegangen und berechnet sich wie folgt:<br />

Fall 1:<br />

Einkommen des ledigen unterhaltspflichtigen Kindes 5.010,00 €<br />

abzgl. des eigenen Selbstbehalts des Kindes - 2.000,00 €<br />

verbleibende unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des Kindes 3.010,00 €<br />

i.H.d. Hälfte dieses Betrags besteht der Unterhaltsanspruch (BGH, Urt. v. 28.7.2010 – XII ZR 140/<strong>07</strong>, 1.505,00 €<br />

NJW 2010, 3161 = FamRZ 2010, 1535), also i.H.v.:<br />

Fall 2:<br />

Einkommen des verheirateten unterhaltspflichtigen Kindes 5.010,00 €<br />

abzgl. des eigenen Selbstbehalts des Kindes - 2.000,00 €<br />

abzgl. des Selbstbehalts des Ehegatten des Kindes - 1.600,00 €<br />

verbleibende unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des Kindes 1.410,00 €<br />

i.H.d. Hälfte dieses Betrags besteht der Unterhaltsanspruch, also i.H.v.: 705,00 €<br />

Die in den Fallbeispielen aufgezeigte Diskrepanz ist sachlich nicht zu begründen. Folglich müssen die<br />

Selbstbehaltsätze des Elternunterhalts in entsprechender Höhe ebenfalls angepasst werden. Denn nur<br />

so kann vermieden werden, dass es bei geringfügiger Überschreitung der Einkommensgrenze von<br />

100.000 € brutto jährlich zu unangemessenen Ergebnissen kommt. Denn der Zweck des Gesetzes,<br />

Familien wirksam zu entlasten und den Familienfrieden zu wahren, darf nicht dadurch in sein<br />

Gegenteil verkehrt werden, dass bei einem nur geringfügig höheren Einkommen des in Anspruch<br />

genommenen Kindes von diesem ein deutlich höherer Unterhaltsbetrag verlangt wird und damit nur<br />

ein geringerer Betrag für die eigene Lebensführung verbleibt als einem Pflichtigen mit geringerem<br />

Einkommen.<br />

348 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 385<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

Erbrecht<br />

Stiftung und Nachlassrecht in der anwaltlichen Praxis<br />

Von Rechtsanwalt Dr. LUTZ FÖRSTER, Brühl, unter Mitwirkung von Rechtsreferendar DENNIS FAST, Brühl<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Stiftungsformen<br />

1. Rechtsfähige (selbstständige) Stiftung<br />

2. Nichtrechtsfähige (unselbstständige)<br />

Stiftung<br />

III. Stiftungserrichtung mit anwaltlicher Hilfe<br />

1. Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung<br />

2. Errichtung einer nichtrechtsfähigen<br />

Stiftung<br />

IV. Erbrechtliche Gestaltungsmittel<br />

1. Rechtsfähige Stiftung<br />

2. Nichtrechtsfähige Stiftung<br />

3. Vermögenszuwendung durch<br />

letztwillige Verfügung<br />

V. Steuerliche Aspekte<br />

1. Steuervorteile für die Stiftung<br />

2. Steuervorteile des Stifters und<br />

Zuwendungsgebers<br />

VI. Fazit<br />

I. Einleitung<br />

Die Errichtung einer eigenen Stiftung hat in den letzten Jahren an Beliebtheit stark zugenommen. Mit der<br />

Errichtung einer Stiftung kann der Stifter einen von ihm bestimmten Zweck fördern und über sein eigenes<br />

Ableben hinaus Gutes tun. Gemäß einer aktuellen Erhebung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen<br />

beträgt die Anzahl an rechtfähigen Stiftungen in Deutschland heute 22.743 Stiftungen, wovon im Jahre<br />

2018 allein 554 Stiftungen neu errichtet worden sind. Hierbei beträgt das in den Stiftungen gebundene<br />

Kapital ca. 68 Milliarden Euro. 95 % der rechtsfähigen Stiftungen verfolgen gemeinnützige Zwecke<br />

(Erhebungen des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, abrufbar unter: https://www.stiftungen.org/de/<br />

stiftungen/zahlen-und-daten/statistiken.html).<br />

Die Stiftungsberatung hat als Rechtsgebiet in der anwaltlichen Beratung im Stiftungsrecht und Erbrecht<br />

an Bedeutung gewonnen. Ein Rechtsanwalt oder Notar kann den potenziellen Stifter beratend unterstützen<br />

und den Stifterwillen praktisch für die Ewigkeit umsetzen. Vor dessen Umsetzung muss der<br />

Rechtsanwalt oder Notar dem Stifter die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen und<br />

bei der Errichtung die gesetzlichen Mindestvoraussetzungen einhalten. Hierzu soll der Beitrag einen<br />

ersten Überblick über die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten, die einzuhaltenden Mindestvoraussetzungen<br />

sowie die erbrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten geben.<br />

II. Stiftungsformen<br />

Am Anfang steht die Überlegung, in welcher Stiftungsform die Stiftung errichtet werden soll. Der potenzielle<br />

Stifter hat eine Wahlmöglichkeit zwischen einer rechtsfähigen oder einer nichtrechtsfähigen Stiftung, die<br />

er zu Lebzeiten oder durch Verfügung von Todes wegen errichten kann. Der Rechtsanwalt hat dem Mandanten<br />

zunächst diese Wahlmöglichkeit aufzuzeigen, wobei er die finanziellen Mittel und Bedürfnisse<br />

des Mandanten zu berücksichtigen hat sowie die Vor- und Nachteile der jeweiligen Stiftungsform benennt.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 349


Fach 12, Seite 386<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

Nachlass/Erbrecht<br />

1. Rechtsfähige (selbstständige) Stiftung<br />

Die Stiftung ist in ihrer Grundform eine wertneutrale, steuerpflichtige selbstständige juristische Person<br />

des Privatrechts, die auch gemeinnützig i.S.d. §§ 53 ff. Abgabenordnung (AO) sein kann. Die rechtsfähige<br />

Stiftung ist auf die Ewigkeit angelegt und muss von der zuständigen Stiftungsbehörde anerkannt<br />

werden. Hierfür muss die Stiftung bestimmte Mindestvoraussetzungen erfüllen, §§ 80 ff. Bürgerliches<br />

Gesetzbuch (BGB). Die rechtsfähige Stiftung untersteht einer staatlichen Aufsicht, die die Einhaltung<br />

und Umsetzung der vom Stifter festgelegten Stiftungszwecke kontrolliert.<br />

Mit der Errichtung einer gemeinnützigen rechtsfähigen Stiftung kann sich der Stifter sozial engagieren<br />

und Gutes tun. Eine Stiftung verfolgt gem. § 52 Abs. 1 AO gemeinnützige Zwecke, wenn ihre Tätigkeit<br />

darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu<br />

fördern. Ein Katalog mit gemeinnützigen Zwecken, die der Stifter verfolgen kann, enthält § 52 Abs. 2 AO.<br />

Hierzu gehören beispielweise:<br />

• die Förderung von Wissenschaft und Forschung,<br />

• die Förderung der Religion,<br />

• die Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens und der öffentlichen Gesundheitspflege, insb. die<br />

Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten,<br />

• die Förderung der Jugend- und Altenhilfe,<br />

• die Förderung von Kunst und Kultur.<br />

Neben dem sozialen Engagement bietet eine gemeinnützige Stiftung unter Einhaltung der Vorgaben der<br />

§§ 52 ff. AOsteuerliche Begünstigungen für die Stiftung und den Stifter. Die gemeinnützige Stiftung<br />

unterliegt nicht der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Die Einkommensteuer beim Stifter kann<br />

gemindert werden (s. hierzu V).<br />

Die gemeinnützige rechtsfähige Stiftung ist von der privatnützigen Stiftung zu unterscheiden. Eine<br />

privatnützige Stiftung dient nicht einem gemeinnützigen Zweck. Gemäß § 52 Abs. 1 S. 2 AO liegt eine<br />

Gemeinnützigkeit nicht vor, wenn der Kreis der Personen, dem die Förderung zugutekommt, fest<br />

abgeschlossen ist, z.B. Zugehörigkeit zu einer Familie oder zur Belegschaft eines Unternehmens. Die<br />

sog. Familienstiftung – ein Unterfall der rechtsfähigen Stiftung – ist beispielweise eine privatnützige<br />

Stiftung. Die Familienstiftung dient dem langfristigen Erhalt des Familienvermögens und der Versorgung<br />

von Familienmitgliedern. Eine Zersplitterung des Familienvermögens durch einen Erbfall kann durch sie<br />

verhindert werden. Die Familienstiftung bildet eine Option bei der Nachfolgeplanung eines Unternehmens.<br />

Die rechtsfähige Stiftung kann zu Lebzeiten vom Stifter oder nach seinem Ableben durch eine<br />

Verfügung von Todes wegen errichtet werden.<br />

Bei einer Errichtung zu Lebzeiten kann er selbst eine Funktion in der Stiftung ausüben und damit Sorge<br />

dafür tragen, dass der Stiftungszweck nach seinem Willen umgesetzt wird. Er muss sich jedoch darüber im<br />

Klaren sein, dass auch er für eine spätere Änderung der Stiftungssatzung oder des Stiftungszwecks die<br />

Genehmigung der Aufsichtsbehörde benötigt. Bei der Errichtung einer Stiftung von Todes wegen wird<br />

diese erst nach dem Tod des Stifters ins Leben gerufen. Die Bestimmung der Satzung zu Lebzeiten ist auch<br />

hier von wesentlicher Bedeutung, da der Stifter nachträglich nicht mehr korrigierend eingreifen kann<br />

(s. hierzu II 1 b). Bei der Errichtung der Stiftung durch Verfügung von Todes wegen stehen dem Stifter –<br />

wie unten noch zu sehen sein wird – eine Vielzahl von erbrechtlichen Gestaltungsmitteln zur Verfügung.<br />

Schließlich muss bei der Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung – wie bereits angesprochen – ein<br />

Hauptaugenmerk auf die Vermögensausstattung der Stiftung gelegt werden. Die rechtsfähige Stiftung<br />

muss den vom Stifter vorgegebenen Stiftungszweck selbstständig erfüllen und die Kosten des<br />

Verwaltungsaufwands decken. Zwar verlangt das Gesetz keine Mindestausstattung bei der Errichtung<br />

einer rechtsfähigen Stiftung. Eine Mindestausstattung zwischen 50.000 und 100.000 € ist aber notwendig,<br />

damit die Stiftung von der Stiftungsbehörde als handlungsfähig angesehen und anerkannt<br />

350 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 387<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

wird. Für diejenigen, die das vorgenannte Kapital nicht aufbringen können, bietet die Errichtung einer<br />

unselbstständigen Stiftung eine Alternative. Eine Mindestausstattung wird hier grds. nicht verlangt.<br />

2. Nichtrechtsfähige (unselbstständige) Stiftung<br />

Im Gegensatz zur rechtsfähigen Stiftung untersteht die nichtrechtsfähige Stiftung keiner staatlichen<br />

Aufsicht und bedarf nicht der Anerkennung durch die zuständige Aufsichtsbehörde zu ihrer Entstehung.<br />

Damit ist die unselbstständige, treuhänderische oder fiduziarische Stiftung keine juristische<br />

Person und keine Trägerin von Rechten und Pflichten im Rechtsverkehr. Aus diesem Grund benötigt die<br />

unselbstständige Stiftung einen Rechtsträger (Stiftungsträger), der die mit ihr verbundenen Rechte und<br />

Pflichten wahrnimmt. Die nichtrechtsfähige Stiftung hat keine positive gesetzliche Grundlage erhalten.<br />

Die §§ 80 ff. BGB sind nicht anwendbar. Vielmehr wird die unselbstständige Stiftung entweder<br />

vertraglich durch ein Rechtsgeschäft unter Lebenden oder erbrechtlich durch eine Verfügung von<br />

Todes wegen errichtet. Die unselbstständige Stiftung kann durch einen Vertrag zwischen dem Stifter<br />

und dem Rechtsträger (Stiftungsträger) errichtet werden. Rechtsträger kann jede natürliche oder<br />

juristische Person sein. Das Stiftungsvermögen wird in sein Eigentum übertragen, bleibt aber als wirtschaftliches<br />

Sondervermögen vom übrigen Vermögen getrennt. Der BGH hat die nichtrechtsfähige<br />

Stiftung zuletzt wie folgt definiert: „Unter einer unselbstständigen Stiftung versteht man die Übertragung von<br />

Vermögenswerten auf eine natürliche oder juristische Person mit der Maßgabe, dass diese als ein vom übrigen<br />

Vermögen des Empfängers getrenntes wirtschaftliches Sondervermögen zu verwalten und zur Verfolgung der vom<br />

Stifter gesetzten Zwecke zu verwenden sind“ (BGH ZIP 2015, 923 ff.).<br />

Wird die unselbstständige Stiftung als Stiftung von Todes wegen errichtet, wird das Vermögen der<br />

Stiftung dem Stiftungsträger durch Erbeinsetzung oder durch eine Vermächtnisanordnung zugewandt.<br />

Die Einhaltung des Stiftungszwecks kann durch die Anordnung einer Auflage oder eines Vermächtnisses<br />

gesichert werden.<br />

III. Stiftungserrichtung mit anwaltlicher Hilfe<br />

Hat sich der potenzielle Stifter zwischen der Errichtung einer rechtsfähigen oder nichtrechtsfähigen<br />

Stiftung entschieden, muss der Stifterwille bei einer rechtsfähigen Stiftung gem. §§ 80 ff. BGB oder bei<br />

einer nicht rechtsfähigen Stiftung durch einen Vertragsabschluss mit einem Treuhänder praktisch<br />

umgesetzt werden. Bei der Errichtung durch Verfügung von Todes wegen bedarf es zusätzlich der<br />

Errichtung einer letztwilligen Verfügung.<br />

1. Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung<br />

Die Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung erfolgt durch das Stiftungsgeschäft des Stifters, die Errichtung<br />

einer Stiftungssatzung und die staatliche Anerkennung durch die zuständige Behörde, §§ 80 ff. BGB.<br />

a) Stiftungsgeschäft<br />

Das Stiftungsgeschäft ist in § 81 BGB geregelt. Es ist eine verbindliche Erklärung des Stifters, eine<br />

Stiftung errichten zu wollen und ein bestimmtes Vermögen dauerhaft zur Erfüllung eines bestimmten<br />

Zwecks zu widmen, § 81 Abs. 1 S. 2 BGB.<br />

Die Erklärung ist an die Stiftungsbehörde zurichten, da die zuständige Behörde erst durch das<br />

Vorliegen eines Stiftungsgeschäfts veranlasst wird, die Anerkennung zur Errichtung einer rechtsfähigen<br />

Stiftung zu prüfen und später zu erteilen. Daher unterliegt die Erklärung bei einem Stiftungsgeschäft zu<br />

Lebzeiten der Schriftform gem. § 81 Abs. 1 S. 1 BGB, die von dem Stifter eigenhändig zu unterzeichnen<br />

ist. Einer notariellen Beurkundung bedarf es nicht.<br />

Bei einer Errichtung durch Verfügung von Todes wegen enthält die Verfügung die entsprechende<br />

Erklärung, § 83 S. 1 BGB. Das zuständige Nachlassgericht hat das Stiftungsgeschäft in einer Verfügung<br />

von Todes wegen, der zuständigen Behörde zur Anerkennung mitzuteilen, sofern sie nicht von dem<br />

Erben oder dem Testamentsvollstrecker beantragt wird, § 83 S. 1 BGB.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 351


Fach 12, Seite 388<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Bei einer Mehrzahl von Stiftern besteht die Möglichkeit, dass das Stiftungsgeschäft für den einen Stifter<br />

ein Rechtsgeschäft unter Lebenden und für den anderen Stifter eine Verfügung von Todes wegen<br />

darstellt (Palandt/ELLENBERGER, § 80 BGB Rn 1). So können Ehegatten gemeinsam durch einen Erbvertrag<br />

eine Stiftung, die mit dem Tod des Erstversterbenden entstehen soll, errichten. Hier nimmt jeder<br />

Ehegatte ein Stiftungsgeschäft sowohl unter Lebenden wie von Todes wegen vor, ersteres unter der<br />

Bedingung, dass der andere Ehegatte, letzteres unter der Bedingung, dass er selbst als Erster verstirbt<br />

(BGH NJW 1978, 943 ff.).<br />

b) Stiftungssatzung<br />

Die Satzung ist die „Verfassung“ der Stiftung. In ihr legen die Stifter dauerhaft die Stiftungszwecke<br />

und die Stiftungsorganisation fest, wodurch sich ihr Wille in der Stiftungssatzung für die Ewigkeit<br />

manifestiert. Dies hat bereits das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1977 wie folgt zum Ausdruck<br />

gebracht: „Jede Stiftung ist in das historisch-gesellschaftliche Milieu eingebunden, innerhalb dessen sie entstanden<br />

ist. … Das eigentümliche einer Stiftung ist, dass der Stifterwille für die Stiftung dauernd konstitutiv bleibt.<br />

Charakter und Zweck der Stiftung liegen mit diesem Anfang in die Zukunft hinein und für die Dauer der Existenz der<br />

Stiftung fest. Deshalb sind auch die Erklärungen der Stifter aus dem zu ihrer Zeit herrschenden örtlichen Zeitgeist<br />

heraus auszulegen. …“ (BVerfGE 46, 73 ff.).<br />

Eine Stiftungssatzung muss von Gesetzes wegen zwingend Regelungen über<br />

• den Namen der Stiftung,<br />

• den Sitz der Stiftung,<br />

• den Zweck der Stiftung,<br />

• das Vermögen der Stiftung sowie<br />

• die Bildung des Vorstands der Stiftung<br />

enthalten, § 81 Abs. 1 S. 3 BGB. Daneben kann die Satzung auch Handlungsanweisungen des Stifters<br />

enthalten, wie der Stiftungszweck effektiv umgesetzt oder Stiftungsvermögen angelegt und verwaltet<br />

werden soll.<br />

Die Gestaltung der Stiftung ist die zentrale Aufgabe der anwaltlichen Beratung. Neben den<br />

Mindestvoraussetzungen aus § 81 Abs. 1 S. 3 BGB muss die Stiftungssatzung flexibel gestaltet sein.<br />

Eine zukünftige Änderung der Stiftungssatzung ist nach der staatlichen Anerkennung nur bedingt<br />

möglich. Eine Änderung bedarf je nach Bundesland und den unterschiedlichen Landesstiftungsgesetzen<br />

der Anerkennung durch die Stiftungsbehörde.<br />

Hierzu heißt es z.B. in § 8 Abs. 1, 3 Landesstiftungsgesetz Rheinland-Pfalz:<br />

„(1) Soweit nicht in der Satzung etwas anderes bestimmt ist, kann der Vorstand der Stiftung eine Änderung der<br />

Satzung beschließen, wenn hierdurch der Stiftungszweck oder die Organisation der Stiftung nicht wesentlich<br />

verändert wird. … (3) Beschlüsse nach den Abs. 1 und 2 bedürfen der Anerkennung durch die Stiftungsbehörde.“<br />

Hingegen ist im Landesstiftungsgesetz von Nordrhein-Westfalen beispielweise eine Änderung auch<br />

ohne Anerkennung, aber mit Unterrichtung der Stiftungsbehörde möglich, sofern der Stiftungszweck<br />

nicht wesentlich verändert wird. Hierzu heißt es in § 5 Abs. 1 Landesstiftungsgesetz Nordrhein-<br />

Westfalen:<br />

„(1) Soweit nicht in der Satzung etwas anderes bestimmt ist, können die zuständigen Stiftungsorgane eine<br />

Änderung der Satzung beschließen, wenn hierdurch der Stiftungszweck oder die Organisation der Stiftung nicht<br />

wesentlich verändert wird. Die Stiftungsbehörde ist hierüber innerhalb eines Monats nach Beschlussfassung zu<br />

unterrichten.“<br />

352 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 389<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

Die Unterscheidung zwischen „wesentlich“ und „unwesentlich“ ist hierbei nicht trennscharf, wodurch es<br />

im Einzelfall zu Umsetzungs- und Anerkennungsschwierigkeiten mit der Stiftungsbehörde kommen<br />

kann und ggf. die Satzungsänderung doch einer Genehmigung der Stiftungsbehörde bedarf, § 5 Abs. 1<br />

S. 3 Landesstiftungsgesetz Nordrhein-Westfalen.<br />

Praxistipp:<br />

Entsprechend sollte bei der Gestaltung einer Stiftungssatzung ein Grundsatz immer berücksichtigt werden:<br />

Eine Stiftung ist auf Dauer angelegt; Umstände, Bedürfnisse und Notwendigkeiten können sich ändern. Es<br />

gilt daher, in der Satzung möglichst viele Optionen offen zu halten und nur wenige auszuschließen. Hierfür<br />

ist eine sorgfältige individuelle Prüfung und Absprache mit dem Stifter notwendig. Abrufbare Mustersatzungen<br />

können dem Stifter grds. als Vorlage und Ideengeber dienen, sollten aber nicht ungeprüft auf das eigene<br />

Vorhaben angewandt werden.<br />

c) Anerkennung durch die Stiftungsbehörde<br />

Die zuständige Stiftungsbehörde erkennt die Stiftung durch Verwaltungsakt an, wodurch diese ihre<br />

Rechtsfähigkeit erlangt. Welche Behörde für die Stiftungsanerkennung zuständig ist, ergibt sich aus dem<br />

jeweiligen Stiftungsgesetz des Bundeslandes.<br />

Der Stifter hat grds. gem. § 80 Abs. 2 S. 1 BGB einen Anspruch auf Anerkennung der Stiftung, wenn<br />

• das Stiftungsgeschäft den vorgenannten Anforderungen des § 81 Abs. 1 BGB genügt,<br />

• die dauernde und nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert erscheint und<br />

• der Stiftungszweck das Gemeinwohl nicht gefährdet.<br />

§ 80 Abs. 2 BGB entfaltet unter den vorgenannten Normativbedingungen eine Sperrwirkung gegenüber<br />

landesrechtlichen Regelungen, wodurch der Anspruch auf Anerkennung bundeseinheitlich geregelt ist<br />

(vgl. Staudinger/HÜTTEMANN/RAWERT, § 80 BGB Rn 15).<br />

Die Bedingung der dauernden und nachhaltigen Erfüllung bedarf bei der Stiftungserrichtung besonderer<br />

Beachtung. Die dauernde und nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks bezieht sich i.d.R. auf das<br />

Verhältnis zwischen der Vermögensausstattung und der effektiven Verfolgung des Stiftungszwecks.<br />

Dies hat das Verwaltungsgericht Gießen in einer Entscheidung (Urt. v. 25.11.2009 – 8 K 341/09.GI) wie<br />

folgt zusammengefasst: „Das gesetzliche Tatbestandsmerkmal der dauernden und nachhaltigen Erfüllung des<br />

Stiftungszwecks dient dem Schutz des Rechtsverkehrs und ist daher unverzichtbar. Stiftungen sollen nur anerkannt<br />

werden, wenn sie nach ihrer Ausstattung die Gewähr bieten, dass der Stiftungszweck erfüllt werden kann, wobei<br />

davon auszugehen ist, dass Stiftungen grds. auf unbegrenzte Dauer angelegt sind (vgl. Palandt, § 80 BGB Rn 5). Die<br />

Dauerhaftigkeit der Zweckerfüllung soll die Beständigkeit des Stiftungszwecks gegenüber dem Wandel der<br />

Verhältnisse sicherstellen (jurisPK, BGB, § 80 BGB Rn 35 m.w.N.) und verlangt daher i.R.d. zu treffenden<br />

Prognoseentscheidung, dass die Stiftung mit einem ausreichend großen Vermögen ausgestattet ist (jurisPK, a.a.O.,<br />

Rn 36). Dieses Vermögen muss vor einer Aufzehrung gesichert sein (jurisPK, a.a.O.).“<br />

Die hinreichende Vermögenausstattung der rechtsfähigen Stiftung ist für ihre Handlungsfähigkeit<br />

daher unerlässlich. Dies gilt in der heutigen Niedrigzinsphase umso mehr. Die rechtsfähige<br />

Stiftung unterliegt dem Grundsatz der Vermögenserhaltung bezüglich ihrem Grundstockvermögen.<br />

Das Grundstockvermögen einer bestehenden rechtsfähigen Stiftung besteht aus ihrem Anfangsvermögen<br />

(Ausstattungsvermögen), Zustiftungen und aufgelösten Rücklagen. Dieses Grundstockvermögen<br />

darf nicht verschenkt, verbraucht, beträchtlich unter Wert veräußert oder in anderer Weise<br />

verringert werden, es sei denn, die Stiftungssatzung sieht dies ausdrücklich vor (HOF in v. Campenhausen/Richter,<br />

Stiftungsrechts-Handbuch, § 9 Rn 70). Eine Ausnahme hiervon bietet beispielweise die<br />

Verbrauchsstiftung. Die Verbrauchsstiftung ist eine Stiftung, die für eine bestimmte Zeit errichtet und<br />

deren Vermögen für die konkrete Zweckverfolgung des jeweiligen Stiftungszwecks verbraucht werden<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 353


Fach 12, Seite 390<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

Nachlass/Erbrecht<br />

soll. Die Verbrauchsstiftung ist ausdrücklich mit dem Gesetz zur Stärkung des Ehrenamtes aus dem<br />

Jahre 2013 anerkannt worden. Das Gesetz enthält hierzu in § 80 Abs. 2 S. 2 BGB eine Legaldefinition:<br />

„Bei einer Stiftung, die für eine bestimmte Zeit errichtet und deren Vermögen für die Zweckverfolgung verbraucht<br />

werden soll (Verbrauchsstiftung), erscheint die dauernde Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert, wenn die<br />

Stiftung für einen im Stiftungsgeschäft festgelegten Zeitraum bestehen soll, der mindestens zehn Jahre umfasst.“<br />

Die vom Stifter festgelegten Stiftungszwecke werden durch die Erträge aus der Anlage des Grundstockvermögens<br />

bedient. Wegen der Niedrigzinsphasen bedarf es daher für die langfristige und<br />

nachhaltige Zweckerfüllung einer qualifizierten Anlageberatung. Der Stifter muss im Rahmen einer<br />

Prognoseentscheidung bereits heute die rechtsfähige Stiftung mit genügendem Vermögen ausstatten.<br />

Die Vermögensbewirtschaftung und die Verwendung der Erträge werden von dem Vorstand<br />

i.R.d. Satzung in eigener Verantwortung wahrgenommen (HOF in v. Campenhausen/Richter,<br />

Stiftungsrechts-Handbuch, § 9 Rn 60).<br />

2. Errichtung einer nichtrechtsfähigen Stiftung<br />

Die Errichtung einer nichtrechtsfähigen Stiftung erfolgt zu Lebzeiten durch einen Vertragsabschluss<br />

zwischen dem Stifter und dem Treuhänder. Der Vertrag über die Errichtung einer unselbstständigen<br />

Stiftung kann als Schenkung unter Auflage oder in Gestalt eines fiduziarischen Rechtsgeschäfts als<br />

Auftrag beziehungsweise bei Entgeltlichkeit als Geschäftsbesorgungsvertrag geschlossen werden (BGH<br />

ZIP 2015, 923 ff.). Die Parteien können die Rechtsform frei wählen. Entscheidend ist, welche Rechtsform<br />

die Parteien gewählt haben (BGH ZIP 2015, 923 ff.).<br />

Ziel der treuhänderischen Verwaltung des Stiftungsvermögens ist es, eine möglichst hohe Rendite zu<br />

erzielen, dabei jedoch die Sicherheit und Substanz zu erhalten. Die besonderen Voraussetzungen zur<br />

Erhaltung und Anlage des Stiftungsvermögens müssen dabei berücksichtigt werden.<br />

Als Treuhänder, die das Vermögen des Stifters als wirtschaftliches Sondervermögen verwalten und die<br />

Stiftungszwecke realisieren, kommen natürliche oder juristische Personen in Betracht. Als Treuhänder<br />

kann beispielweise ein Rechtsanwalt oder Notar in Betracht kommen, der aber aufgrund seiner eigenen<br />

Endlichkeit eine Regelung für das Treuhandverhältnis über seinen eigenen Tod hinaus zu treffen hat.<br />

Daneben kann aber auch eine andere rechtsfähige Stiftung Treuhänder sein. Zu diesem Zweck hat der<br />

Autor im Jahre 2019 die Deutsche-Vermögen-Stiftung errichtet.<br />

Die individuelle Ausgestaltung des Treuhandvertrags bleibt den Vertragsparteien vorbehalten, wodurch<br />

eine individuelle Beratung erforderlich ist. Der Treuhandvertrag unterliegt je nach rechtlicher<br />

Ausgestaltung dem jederzeitigen Widerruf oder der Kündigung. Die Auflösung des Treuhandvertrags<br />

widerspricht dem Gedanken der Ewigkeit einer Stiftung und ihrer langfristigen Zweckerfüllung, wodurch<br />

eine jederzeitige Auflösungsmöglichkeit im Vertrag beschränkt werden sollte.<br />

Praxistipp:<br />

Der Stifter sollte bei einem Treuhandvertrag von einer Widerrufs- oder Kündigungsmöglichkeit<br />

zurückhaltend Gebrauch machen.<br />

Die nichtrechtsfähige Stiftung kann auch unter dem Eintritt bestimmter Bedingungen errichtet werden,<br />

dass diese später in eine selbstständige Stiftung umgewandelt wird (BGH ZIP 2015, 923 ff.).<br />

IV. Erbrechtliche Gestaltungsmittel<br />

Für die Errichtung oder Berücksichtigung einer Stiftung durch Verfügung von Todes wegen muss der<br />

Stifter ein Testament oder einen Erbvertrag errichten, welcher die gesetzliche Erbfolge ausschließt.<br />

Bei der Errichtung der Verfügung von Todes wegen hat der Stifter eine Fülle von erbrechtlichen Gestaltungsmitteln,<br />

mit welchen er eine Stiftung errichten oder eine bestehende Stiftung bedenken kann.<br />

354 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 391<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

1. Rechtsfähige Stiftung<br />

Die rechtsfähige Stiftung kann als Erbin, Nacherbin, Vermächtnisnehmerin oder Auflagenbegünstigte<br />

berücksichtigt werden, wobei die Errichtung durch die Anordnung einer Testamentsvollstreckung<br />

abgesichert werden kann.<br />

a) Rechtsfähige Stiftung als Allein-/oder Miterbin<br />

Die zu errichtende Stiftung kann in einer letztwilligen Verfügung zunächst als Alleinerbin eingesetzt<br />

werden. In diesem Fall hat der Stifter in der Verfügung seinen Stifterwillen, die Errichtung der Stiftung<br />

sowie die Höhe der Vermögenszuwendung ausdrücklich niederzulegen. Die Stiftungssatzung sollte der<br />

Erblasser bereits vorbezeichnet und in der endgültigen Fassung dem Testament beigefügen.<br />

Hierbei ist eine genaue Bezeichnung des Stiftungszwecks sowie der Stiftung zugewendeter Mittel<br />

Pflicht. Der Stifter kann nach seinem Ableben nicht mehr gefragt werden, welchen Willen er mit der<br />

Errichtung der Stiftung verfolgen wollte. Ungenauigkeiten können hier zur fehlenden Anerkennung der<br />

Stiftung durch die Stiftungsbehörden führen. Andernfalls kann die Behörde den vermeintlichen<br />

Stifterwillen auch falsch auslegen.<br />

Praxistipp:<br />

Häufige Fehler bei der Errichtung einer Stiftung von Todes wegen sind nicht ausreichende Angaben<br />

zur Vermögenszuwendung, zum Sitz, zu den Organen und ihrer Bestellung, zur Rechtsform und zur<br />

Entstehung der Stiftung.<br />

Wird die Stiftung zur Alleinerbin eingesetzt, erwirbt sie das Vermögen des Stifters gem. §§ 1922, 84 BGB<br />

als Gesamtrechtsnachfolger. Wird die Stiftung neben anderen bloße Miterbin, kann ihr Erbanteil vor der<br />

Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft, was sich häufig wegen Erbstreitigkeiten hinziehen kann,<br />

nicht festgestellt werden. Die Anerkennung der Stiftung ist in diesen Fällen in Gefahr oder kann sich<br />

ebenfalls über Jahre hinziehen. Der Erblasser sollte daher auch hier den Erbanteil, den er der Stiftung zu<br />

Verfügung stellen will, genau bezeichnen.<br />

Damit die Stiftung bei einer Verfügung von Todes wegen erfolgreich errichtet wird, sollte zwingend<br />

ein Testamentsvollstrecker eingesetzt werden. Der Testamentsvollstrecker wird eingesetzt, um den<br />

Nachlass abzuwickeln oder zu verwalten und den Willen des Erblassers umzusetzen. Bei der Errichtung<br />

einer Stiftung von Todes wegen kann dem Wunsch des Stifters nach der Perpetuierung des eigenen<br />

Vermögens und des eigenen Willens durch die Bestellung eines Testamentsvollstreckers am besten<br />

Rechnung getragen werden.<br />

Praxistipp:<br />

In einer Verfügung von Todes wegen, in der eine Stiftung errichtet wird, sollte ein Testamentsvollstrecker<br />

bestellt werden, damit er den Stifterwillen in jedem Fall auch gegen den Widerstand etwaiger weiterer<br />

Erben erfüllen und durchsetzen kann.<br />

b) Rechtsfähige Stiftung als Nacherbin<br />

Mit der Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft nach §§ 2100–2146 BGB kann der Erblasser die<br />

Verteilung seines Nachlasses über mehrere Generationen gezielt steuern. Der Erblasser kann festlegen,<br />

wer den Nachlass nach dem Vorerben erhalten soll, wodurch der Erblasser sein Vermögen in seiner<br />

Familie binden und eine Weitergabe an familienfremde Dritte verhindern kann. Mit dieser Steuerungsfunktion<br />

hat der Erblasser die Möglichkeit, dass sein Nachlass auf den Nacherben erst nach dem Eintritt<br />

eines bestimmten Ereignisses oder eines bestimmten Alters übergehen soll.<br />

Die Stiftung als juristische Person kann in einem Testament als Nacherbin bedacht werden. Bei der<br />

Bestimmung als Nacherbin muss aber die Frist von 30 Jahren beachtet werden, nach der die Nach-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 355


Fach 12, Seite 392<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

Nachlass/Erbrecht<br />

erbeneinsetzung unwirksam wird, § 2109 BGB. Der Ablauf der Frist kann z.B. dadurch verhindert werden,<br />

dass der Erblasser den Eintritt der Nacherbschaft von einem bestimmten Ereignis in der Person des<br />

Vorerben abhängig macht – vgl. § 2109 Abs. 1 Nr. 1 BGB –, welches beispielweise weiter in der Zukunft liegt.<br />

Vielfach tritt bei der Errichtung einer Stiftung von Todes wegen als Nacherbin das Problem auf, dass die<br />

spätere Vermögensausstattung der Stiftung vom wohlwollenden Vorverhalten des Vorerben abhängig ist.<br />

Kann der Vorerbe i.S.d. § 2136 BGB als befreiter Vorerbe über das Vermögen weitestgehend frei verfügen,<br />

besteht die Gefahr, dass die notwendige Vermögensausstattung im Nacherbfall nicht mehr besteht. Es<br />

besteht die Gefahr, dass die Stiftungsbehörde die Stiftung nicht anerkennt.<br />

Praxistipp:<br />

Bei der Errichtung einer Stiftung von Todes wegen als Nacherbin sollte der Vorerbe nicht nach § 2136 BGB<br />

vom Erblasser durch eine testamentarische Verfügung befreit werden, damit die Vermögensausstattung<br />

der Stiftung im Zeitpunkt des Nacherbfalls nicht gefährdet wird.<br />

Die Errichtung einer Stiftung durch Verfügung von Todes wegen als Nacherbin oder die Einsetzung einer<br />

bestehenden Stiftung als Nacherbin kann sich bei dem sog. Behindertentestament anbieten. Das<br />

Behindertentestament bietet Eltern behinderter Kinder die Möglichkeit, testamentarisch dafür zu<br />

sorgen, dass nach ihrem Ableben dem Kind mehr Geld zur Verfügung steht als der reine Sozialhilfesatz.<br />

Das behinderte Kind kann zunächst als Vorerbe eingesetzt werden. Eine Stiftung kann hier geeignete<br />

Nacherbin sein, mit dem verbliebenen Nachlass können ähnlich Betroffene unterstützt werden.<br />

Praxistipp:<br />

Wenn zu Lebzeiten eine Stiftung errichtet werden soll, kann der Stifter selbst dazu beitragen, dass die<br />

Stiftung ihren Zweck erfüllt und weitere Zustifter gewinnt. Der Stifter kann mit seiner Begeisterungsfähigkeit<br />

für die eigene Idee maßgeblich dazu beitragen, weitere Personen „anzustiften“.<br />

Die Einsetzung der Stiftung als Vorerbin bietet i.d.R. keine Alternative. Einerseits sind der Fortbestand<br />

der Stiftung sowie die gesicherte Vermögensausstattung eine wesentliche Voraussetzung für die<br />

Anerkennung der Stiftung. Andererseits soll durch die Stiftung der gewählte Stiftungszweck dauerhaft<br />

verwirklicht werden.<br />

c) Rechtsfähige Stiftung und Auflage<br />

Die Auflage ist den §§ 1940, 2192–2196 BGB geregelt. Durch die Auflage als Gestaltungsmittel in<br />

Verfügungen von Todes wegen kann der Rechtsanwalt unterschiedliche Wünsche des Mandanten<br />

berücksichtigen, die nicht notwendig in der Zuwendung eines Vermögensvorteils bestehen. Auf<br />

Wunsch des Erblassers kann durch eine Auflage ein bestimmtes Verhalten des Begünstigten<br />

angeordnet werden, welches in der Praxis häufig darin besteht, dass der Erbe zu:<br />

• der Grabpflege,<br />

• der Pflege und/oder Unterbringung von Haustieren,<br />

• karitativen Spenden oder zur<br />

• Errichtung einer Stiftung<br />

verpflichtet wird. Sofern einem Dritten – z.B. einer wohltätigen Einrichtung – eine Spende zukommen<br />

soll, hat der Dritte als Begünstigter im Gegensatz zu einem Vermächtnis kein eigenes einklagbares<br />

Forderungsrecht aus §§ 2147, 2174 BGB gegen den Erben, der mit der Auflage beschwert ist. Die<br />

Errichtung einer Stiftung durch eine Auflage birgt gegenüber der Erbeinsetzung oder Vermächtnisanordnung<br />

das Risiko, dass die Errichtung mangels einklagbaren Anspruchs unterbleibt. Die Errichtung<br />

einer Stiftung von Todes wegen ist durch eine Auflage aber möglich. Der Erblasser muss jedoch auch in<br />

diesen Fällen beachten, dass er den Stiftungszweck sowie die Vermögensausstattung zu Lebzeiten<br />

hinreichend bestimmt.<br />

356 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 393<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

2. Nichtrechtsfähige Stiftung<br />

Der nichtrechtsfähigen Stiftung wird das Vermögen durch Erbeinsetzung des Treuhänders oder einer<br />

Vermächtnisanordnung zu seinen Gunsten zugewandt. Bei der Bestimmung als Alleinerbe geht das<br />

Vermögen mit dem Ableben des Erblassers im Wege der Universalsukzession auf den Erben über. Bei<br />

einem Vermächtnis erhält der Stiftungsträger/Treuhänder einen einklagbaren schuldrechtlichen<br />

Anspruch, § 2174 BGB. Die Umsetzung des Stiftungszwecks kann durch die Anordnung einer Auflage<br />

oder eines Vermächtnisses gesichert werden. Zudem ist auch bei einer nichtrechtsfähigen Stiftung<br />

die Anordnung eines Testamentsvollstreckers in der Verfügung von Todes wegen ratsam. Der Testamentsvollstrecker<br />

kann dafür Sorge tragen, dass der Stiftungsträger das ihm zugewandte Vermögen<br />

tatsächlich erhält.<br />

3. Vermögenszuwendung durch letztwillige Verfügung<br />

Der Stifter kann auch einer bestehenden Stiftung durch Verfügung von Todes wegen eine Zuwendung<br />

machen. Die rechtsfähige Stiftung als juristische Person wird wie eine natürliche Person entweder als<br />

Alleinerbin oder als Miterbin eingesetzt. Sie tritt die Gesamtrechtsnachfolge nach dem Erblasser an und<br />

haftet für bestehende Nachlassverbindlichkeiten nach § 1967 BGB. Durch die Einsetzung der Stiftung als<br />

Erbin kann der Stifter seiner Verbundenheit mit dem Stiftungszweck Ausdruck verleihen, aber auch<br />

sein Ansehen über das eigene Ableben hinaus steigern. Ungeachtet der persönlichen Motive, die den<br />

Stifter dazu bewogen haben, die Stiftung in seinem Nachlass zu berücksichtigen, führt dies zu einem<br />

Kapitalausbau der Stiftung, mit dem ggf. Projekte realisiert werden können, die aus finanziellen Gründen<br />

bislang zurückgestellt werden mussten. Die Zuwendung in einer Verfügung von Todes wegen ist für<br />

eine bereits bestehende Stiftung als Zustiftung zu betrachten. Die Stiftung kann die Zuwendung<br />

annehmen und ihrem Vermögen zuführen, wenn der Erblasser nichts anderes vorgesehen hat, § 62<br />

Abs. 3 Nr. 1 AO. Der Erblasser sollte die Stiftung in seiner Verfügung von Todes wegen ausdrücklich<br />

nennen. Dies ist nach der Rechtsprechung aber nicht zwingend notwendig (vgl. OLG München, Beschl.<br />

v. 4.7.2017 – 31 Wx 211/15). Bei einem Vermächtnis erhält die begünstigte Stiftung einen eigenständigen<br />

einklagbaren schuldrechtlichen Anspruch gegen den Erben als Beschwerten des Anspruchs, § 2174 BGB.<br />

V. Steuerliche Aspekte<br />

Die Stiftungserrichtung in der Form einer gemeinnützigen Stiftung kann sowohl für die Stiftung als auch<br />

für den Stifter steuerliche Vorteile begründen.<br />

1. Steuervorteile für die Stiftung<br />

Damit die Steuervorteile der Stiftung Anwendung finden, ist vorab zu prüfen, ob der Stiftungszweck auf<br />

die Verfolgung gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke i.S.d. Abgabenordnung gerichtet<br />

ist, §§ 52 ff. AO. Wird dies bejaht, ist darüber hinaus zu prüfen, ob die Mittel der Stiftung nur für<br />

satzungsmäßige Zwecke, insb. zeitnah, verwendet werden dürfen, § 55 AO. Außerdem hat die<br />

Steuerbegünstigung zur Voraussetzung eine Sicherung durch die Satzung, dass die Stiftung ihre<br />

gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecke ausschließlich nach § 56 AO und unmittelbar nach<br />

§ 57 AO erfüllt. Hierfür kann der Stifter eine Zweckänderung in der Stiftungsatzung ausschließen,<br />

wodurch die steuerliche Begünstigung abgesichert wird. § 58 AO enthält steuerlich unschädliche<br />

Betätigungen der Stiftungen. Hervorgehoben werden soll die Möglichkeit der Stiftung, ohne Auswirkung<br />

auf ihre Gemeinnützigkeit bis zu einem Drittel ihres Einkommens für den angemessenen<br />

Unterhalt, die Grabpflege und das ehrende Andenken des Stifters sowie seiner nächsten Angehörigen zu<br />

verwenden, § 58 Nr. 6 AO. In der Praxis kommt dies jedoch überaus selten vor. In jedem Fall setzt<br />

die Anerkennung einer Stiftung als gemeinnützig die strikte Einhaltung der vorgenannten Voraussetzungen<br />

hinsichtlich der Mittelverwendung als auch der Mittelerzielung voraus, ohne diese liegt eine<br />

steuerliche Privilegierung nicht vor. Infolge der Gemeinnützigkeit ist eine Stiftung von der Erbschaftund<br />

Schenkungsteuer befreit, soweit der Bereich der Gemeinnützigkeit reicht und sie sich im Inland<br />

befindet. Bei einem ausländischen gemeinnützigen Rechtsträger, der seine Geschäftsleitung und seinen<br />

Sitz nicht im Inland hat, gelten die weiteren Voraussetzungen von § 13 Abs. 1 Nr. 16 Buchst. c ErbStG.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 357


Fach 12, Seite 394<br />

Stiftung und Nachlassrecht<br />

Nachlass/Erbrecht<br />

2. Steuervorteile des Stifters und Zuwendungsgebers<br />

Beim Stifter kann das zu versteuernde Einkommen bzw. der Gewerbeertrag gemindert werden. Gemäß<br />

§ 10b Abs. 1 S. 1 EStG können Zuwendungen im vorgenannten Sinne zur Förderung steuerbegünstigter<br />

Zwecke i.S.d. §§ 52–54 AO insgesamt bis zu 20 % des Gesamtbetrags der Einkünfte des Zuwendungsgebers<br />

oder als Betriebsspende bis zu 0,4 % der Summe aller Umsätze, Löhne und Gehälter des Betriebs<br />

im Kalenderjahr der Spende als Sonderausgaben abgezogen werden. Sofern Zuwendungen anlässlich<br />

der Neugründung einer Stiftung in den Vermögensstock geleistet werden, ist § 10b Abs. 1a S. 1 EStG<br />

zu beachten. Danach kann die Zuwendung zur Neugründung einer Stiftung bis zu einer Höhe von<br />

einer Mio. Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren, zusätzlich zu den Spendenhöchstbeträgen nach<br />

§ 10b Abs. 1 EStG geltend gemacht werden.<br />

Der steuerliche Abzug kann wahlweise im Jahr der Zuwendung oder auf das Jahr der Zuwendung und die<br />

folgenden neun Jahre verteilt werden, wobei jährlich beispielsweise 100.000 € steuerlich geltend gemacht<br />

werden können. Sofern sich der Zuwendungsgeber hierfür entscheidet, muss auf Antrag des Steuerpflichtigen<br />

bereits jetzt auf den Schluss des Veranlagungszeitraums des Zuwendungsjahrs eine gesonderte<br />

Feststellung des verbleibenden Spendenvortrags nach § 10b Abs. 1a S. 4 EStG i.V.m. § 10d Abs. 4 EStG<br />

durchgeführt werden (BFH, Urt. v. 6.12.2018 – X R 10/17). In diesem Verfahren ist verbindlich zu klären, ob<br />

die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Vermögensstockspende vorliegen. Ist dies der Fall, hat die<br />

Feststellung Bindungswirkung. Diese gesonderte Feststellung ist innerhalb des zehn-jährigen Verteilungszeitraums<br />

fortzuführen, solange und soweit der Spendenvortrag von 1 Mio. Euro nicht verbraucht wurde.<br />

Hervorzuheben ist, dass Ehepaare den Betrag aus § 13b Abs. 1a S. 1 EStG doppelt geltend machen können.<br />

Insoweit können sie bis zu 2 Mio. Euro zuwenden, sofern sie die Zuwendung zusammen veranlagt haben.<br />

Der Vorteil nach § 13b Abs. 1a S. 1 EStG gilt nicht nur für eine Zuwendung in eine Stiftung zum Zeitpunkt der<br />

Stiftungsgründung. Vielmehr gilt dies auch für Zustiftungen zugunsten einer bereits bestehenden Stiftung.<br />

Voraussetzung hierfür ist, dass die Zuwendung nach Ablauf des Gründungsjahrs erfolgt. Die Vergünstigung<br />

für den Zuwendungsgeber gilt nicht, sofern der Erblasser einer gemeinnützigen Stiftung einen<br />

Geldbetrag durch ein Vermächtnis zuwendet (BFH NJW 1997, 887 ff.).<br />

VI. Fazit<br />

Dem Stifter stehen bei der Errichtung einer Stiftung eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten zur<br />

Verfügung. Die nachfolgendeTabelle gibt einen Überblick über mögliche Vor- und Nachteile der<br />

Errichtung einer rechtsfähigen bzw. nichtrechtsfähigen Stiftung:<br />

Rechtsfähige Stiftung<br />

Nichtrechtsfähige Stiftung<br />

Vorteile Nachteile Vorteile Nachteile<br />

eigenständige<br />

Rechtsperson<br />

Mindestausstattung zwischen<br />

50.000–100.000 €<br />

Abschluss eines Treuhandvertrags,<br />

freie Wahl der<br />

Suche nach einem zuverlässigen<br />

Treuhänder<br />

ratsam<br />

Rechtsform<br />

nachhaltige Erfüllung<br />

der Stiftungszwecke<br />

Anerkennung durch die<br />

Stiftungsbehörde erforderlich<br />

geringere Mindestausstattung<br />

Treuhänder muss Regelungen<br />

für sein eigenes<br />

Ableben treffen<br />

grds. auf die Ewigkeit<br />

angelegt<br />

untersteht der Stiftungsaufsicht<br />

keine Anerkennung<br />

erforderlich<br />

Wahrnehmung der operativen<br />

Tätigkeit durch den<br />

Stiftungsvorstand<br />

keine Stiftungsaufsicht,<br />

dadurch geringere<br />

Verwaltungskosten<br />

bei Gemeinnützigkeit<br />

steuerliche Anreize für<br />

den Stifter und die Stiftung<br />

flexiblere Gestaltung bei<br />

Änderung der Stiftungssatzung<br />

oder des Stiftungszwecks<br />

358 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1721<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Sozialrecht<br />

Rehabilitation/Schwerbehindertenrecht<br />

Bundesteilhabegesetz – Neuerungen im Recht der Eingliederungshilfe<br />

Von Richterin am BSG JUTTA SIEFERT, Kassel<br />

Inhalt<br />

I. Allgemeines<br />

II. Änderungen im Einzelnen<br />

1. Eingliederungshilfe ist antragsabhängig<br />

2. Anspruchsberechtigter Personenkreis<br />

3. Existenzsichernde Leistungen<br />

4. Berücksichtigung von Einkommen<br />

und Vermögen<br />

5. Die einzelnen Leistungsgruppen<br />

der Eingliederungshilfe<br />

6. Wunsch- und Wahlrecht<br />

I. Allgemeines<br />

Mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen<br />

(Bundesteilhabegesetz [BTHG] vom 23.12.2016) haben in insgesamt 26 Artikeln zahlreiche Regelungsbereiche<br />

des SGB und anderer Gesetze Veränderungen erfahren. In der <strong>ZAP</strong> wurde von der Verfasserin<br />

bereits über die Neuerungen im Schwerbehindertenrecht (<strong>ZAP</strong> 2017, F. 18, S. 1549) und im Recht der<br />

Rehabilitation und Teilhabe (<strong>ZAP</strong> 2018, F. 18, S. 1571) berichtet. Dieser Beitrag soll die Serie mit den<br />

„Neuerungen im Recht der Eingliederungshilfe“ vervollständigen.<br />

Der Veröffentlichung dieses Beitrags Anfang des Jahres <strong>2020</strong> liegt zugrunde, dass eine zentrale<br />

strukturelle Änderung im Recht der Eingliederungshilfe zum 1.1.<strong>2020</strong> in Kraft getreten ist, nämlich<br />

die „Herauslösung“ der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII (Recht der Sozialhilfe) und ihr Transfer in<br />

Teil 2 des SGB IX (Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen). Dieses ist nunmehr<br />

ein echtes Leistungsgesetz. Ziel dieser Änderung war zum einen (und vorrangig), der Eingliederungshilfe<br />

den Stempel einer Fürsorgeleistung, nämlich einer Leistung der Sozialhilfe, zu nehmen. Zum<br />

anderen verfolgte der Gesetzgeber das Ziel einer verstärkten Personenzentriertheit der Leistung. Dies<br />

brachte er dadurch zum Ausdruck, dass – anders als bislang – bei der Erbringung existenzsichernder<br />

Leistungen für den Lebensunterhalt und das Wohnen (nach Maßgabe des SGB XII) nicht mehr danach<br />

unterschieden wird, ob ein behinderter Mensch in der eigenen Wohnung, einer Wohngemeinschaft<br />

oder einer stationären Einrichtung wohnt, und die Fachleistung Eingliederungshilfe (nach Maßgabe<br />

des SGB IX) deshalb von der Lebensunterhaltssicherung getrennt bewilligt wird (dazu unter 3). Diese<br />

vollständige strukturelle Neuordnung hat im Nachgang zur Verabschiedung des BTHG weiteren<br />

Korrektur- und Anpassungsbedarf nach sich gezogen, dem zuletzt durch das Gesetz zur Änderung<br />

des SGB IX und des SGB XII und anderer Rechtsvorschriften vom 30.11.2019 (BGBl I 2019, S. 1948 und<br />

BT-Drucks 19/11006) Rechnung getragen worden ist.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 359


Fach 18, Seite 1722<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Sozialrecht<br />

II.<br />

Änderungen im Einzelnen<br />

1. Eingliederungshilfe ist antragsabhängig<br />

Seit 1.1.<strong>2020</strong> werden Leistungen der Eingliederungshilfe nur noch auf Antrag gewährt (§ 108 SGB IX);<br />

bislang genügte das Bekanntwerden eines Bedarfs (sog. Kenntnisgrundsatz, § 18 SGB XII). Der<br />

Gesetzgeber hat diese Änderung damit begründet, dass vor der Bewilligung einzelner Leistungen<br />

zunächst ein Gesamtplanverfahren (§§ 19, 21 SGB IX i.V.m. §§ 117 ff. SGB IX) durchzuführen sei, also ein<br />

strukturiertes Verfahren unter Beteiligung des behinderten Menschen und der verschiedenen<br />

Leistungsträger. Er geht davon aus, dass in diesem Verfahren auch auf eine Antragstellung hingewirkt<br />

wird (BT-Drucks 18/9522, S. 282 zu § 108). Auch wenn sicherlich dem behinderten Menschen keine<br />

Leistung gegen seinen Willen „aufgedrückt“ werden darf, ist doch das durch das BTHG erfolgte<br />

Abwenden vom Kenntnisgrundsatz als dem in der Sozialhilfe maßgeblichen Zugangskriterium für<br />

Leistungen ein Rückschritt und das Gegenteil des gesetzgeberischen Ziels, Leistungen – weiterhin –<br />

niedrigschwellig zugänglich zu machen. Der in der Gesetzesbegründung geschilderten „Problematik“,<br />

dass im Anwendungsbereich des Kenntnisgrundsatzes Leistungen erst ab Kenntnis, bei Antragstellung<br />

aber rückwirkend auf den Ersten des Antragsmonats zu erbringen seien, hätte bei einer vergleichbaren<br />

Rückwirkungsfiktion auch für den Monatsersten der Kenntniserlangung Rechnung getragen<br />

werden können.<br />

Probleme wird es sicherlich in der Übergangszeit geben: Wer schon laufende Leistungen der Eingliederungshilfe<br />

erhält, musste bei fortbestehendem Bedarf bislang nicht gesondert die Weitergewährung<br />

beantragen. Es genügte, dass der Sozialhilfeträger vom fortbestehenden Bedarf wusste.<br />

Da Leistungen der Eingliederungshilfe regelmäßig zeitabschnittsweise bewilligt werden, muss ein<br />

Fortzahlungsantrag gestellt werden, um Zahlungslücken zu vermeiden.<br />

Rechtlich noch nicht geklärt ist auch die Frage, wie zu verfahren ist, wenn in einem gerichtlichen<br />

Verfahren, das 2019 noch nicht abgeschlossen war, um den Anspruch auf eine Leistung selbst<br />

gestritten wird, also eine Leistung, die sich der behinderte Mensch noch nicht selbst beschafft hat, und<br />

bislang der Sozialhilfeträger den Anspruch abgelehnt hat (und deshalb Beklagter des Verfahrens<br />

ist). Da – einen Erfolg der Klage unterstellt – in diesem Moment der Sozialhilfeträger nicht mehr<br />

Rehabilitationsträger ist (vgl. §§ 6, 241 Abs. 8 SGB IX), sondern die Leistungen vom Träger der<br />

Eingliederungshilfe zu erbringen wären, sind verschiedene Lösungen denkbar. Denn eine gesetzgeberische<br />

Überlegung zu dieser Frage kann den Materialien nicht entnommen werden und Übergangsregelungen<br />

fehlen.<br />

Man könnte vertreten, der Eingliederungshilfeträger sei bloßer Funktionsnachfolger des Sozialhilfeträgers<br />

und würde daher auch in das noch laufende Verfahren eintreten – dann würde allenfalls<br />

das Rubrum eines Urteils entsprechend anzupassen sein (eine Klageänderung nach § 99 SGG liegt<br />

nicht vor; vgl. dazu nur BSG, Urt. v. 18.1.2011 – B 4 AS 108/10 R, BSGE 1<strong>07</strong>, 217) und verurteilt werden<br />

könnte der Träger der Eingliederungshilfe. Dies würde voraussetzen, dass man von einem unveränderten<br />

Inhalt der nun im 2. Teil des SGB IX geregelten Leistungen im Vergleich zu den §§ 53 ff.<br />

SGB XII ausginge (was in Bezug auf die Leistungserbringung in „stationären Einrichtungen“ –dazu<br />

unter 3 – fast ausgeschlossen scheint).<br />

Anders wäre es ggf. dann, wenn man den gesetzgeberischen Willen verfahrensrechtlich nachvollzieht:<br />

Er schaffte einen neuen Träger für neue Leistungen, die keine Fürsorgeleistungen mehr sind und die<br />

nur noch antragsabhängig erbracht werden – er macht also einen harten Schnitt. Dann hätten sich<br />

mit dem Entfallen der Zuständigkeit für Aufgaben der Eingliederungshilfe ab 1.1.<strong>2020</strong> die Bescheide des<br />

Sozialhilfeträgers ggf. erledigt (§ 39 SGB X) und – da es an einer Entscheidung des Trägers der<br />

Eingliederungshilfe über die dann neu zu beantragende Leistung fehlte – wäre die Klage abzuweisen.<br />

Entsprechende Fragen stellen sich auch im Zusammenhang mit § 14 SGB IX: Liegt mit dem Zu-<br />

360 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1723<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

ständigkeitswechsel ein neuer Rehabilitationsfall mit der Konsequenz vor, dass der Eingliederungshilfeträger<br />

mit der Erstantragstellung bei ihm berechtigt ist, seine Zuständigkeit zu prüfen und den<br />

Antrag ggf. weiterzuleiten? Dies wäre wohl nur zu bejahen, wenn man eine Funktionsnachfolge<br />

ablehnt.<br />

Praxistipp:<br />

Leistungen der Eingliederungshilfe, auch wenn es um die Fortzahlung von Leistungen nach Ende des<br />

Bewilligungszeitraums geht, müssen seit 1.1.<strong>2020</strong> ausdrücklich beantragt werden. Der Antrag wirkt auf<br />

den Monatsersten zurück.<br />

In der <strong>ZAP</strong> 2018, F. 18, S. 1571 ff. wurde bereits das Teilhabeplanverfahren (§ 19 SGB IX) dargestellt; geht es<br />

um Leistungen der Eingliederungshilfe, dann ist ein Gesamtplanverfahren nach Maßgabe der §§ 117 ff.<br />

SGB IX durchzuführen, das Gegenstand des Teilhabeplanverfahrens ist. Das bedeutet, dass neben den<br />

Anforderungen des § 19 SGB IX die weiteren Anforderungen an das Verfahren nach den §§ 117 ff. SGB IX<br />

zu beachten sind.<br />

2. Anspruchsberechtigter Personenkreis<br />

Im Gesetzgebungsverfahren höchst umstritten war die ursprünglich im Gesetzentwurf vorgesehene<br />

Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises: Nach § 99 SGB IX des Entwurfs sollte nur<br />

diejenige Person eine leistungsbegründende „Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft“<br />

haben, die u.a. in mindestens fünf Lebensbereichen – diese waren in § 99 Abs. 2 SGB IX d.E. aufgeführt –<br />

personelle oder technische Unterstützung benötigte. Die massive Kritik an dieser Idee, weil das<br />

Herausfallen bestimmter Gruppen von Leistungsberechtigten aus der Eingliederungshilfe befürchtet<br />

wurde, hat der Gesetzgeber aufgenommen; er hat den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe<br />

nicht geändert, sondern in § 99 SGB IX für die Definition des leistungsberechtigten Personenkreises auf<br />

§ 53 Abs. 1 und 2 SGB XII und die §§ 1 bis 3 Eingliederungshilfe-Verordnung in der am 31.12.2019 gültigen<br />

Fassung verwiesen.<br />

Hinweis:<br />

Es bleibt also auch nach dem 1.1.<strong>2020</strong> dabei, dass Eingliederungshilfe Personen zu leisten ist, die durch<br />

eine Behinderung i.S.v. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben,<br />

eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der<br />

Besonderheit des Einzelfalls, insb. nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die<br />

Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.<br />

Erst zum Jahr 2023 (vgl. Art. 25a BTHG) soll ein an den ICF-Kriterien orientierter Ansatz den berechtigten<br />

Personenkreis genauer beschreiben, wobei Voraussetzung dafür ist, dass bis dahin ein Bundesgesetz<br />

geschaffen worden ist, das die Einzelheiten für den Zugang zu den Leistungen der Eingliederungshilfe<br />

regelt.<br />

Mittlerweile liegt der Forschungsbericht „Rechtliche Wirkungen im Fall der Umsetzung von Artikel 25a<br />

§ 99 BTHG (ab 2023) auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe“ vor (abrufbar<br />

unter https://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/Forschungsberichte/Forschungsberichte-Teilhabe/<br />

fb-517-rechtliche-wirkungen-auf-leistungsberechtigten-personenkreis-der-eingliederungshilfe.html). Dieser kommt<br />

– zusammengefasst – zum Ergebnis, dass eine quantifizierende Neudefinition des leistungsberechtigten<br />

Personenkreises („ 5 / 3 aus 9“ oder „ 4 / 2 aus 9“) einerseits dazu führte, dass ein Teil der derzeit<br />

leistungsberechtigten Personen keine Leistung mehr erhielte, umgekehrt aber auch ein erheblicher Teil<br />

zum Kreis der leistungsberechtigten Personen hinzukäme. Das Kriterium, dass der leistungsberechtigte<br />

Personenkreis durch das Verfahren unverändert bleiben soll, würde daher nicht erfüllt (s. Forschungsbericht<br />

a.a.O., S. 115 ff.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 361


Fach 18, Seite 1724<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Sozialrecht<br />

3. Existenzsichernde Leistungen<br />

a) Allgemeines<br />

Mit der Überführung der Eingliederungshilfe in das SGB IX zum 1.1.<strong>2020</strong> wurde dieses nicht nur ein<br />

echtes Leistungsgesetz; vielmehr vollzog der Gesetzgeber auf diesem Weg auch formal die Trennung<br />

zwischen der Eingliederungshilfe als Fachleistung (so die künftige Terminologie anstelle der Bezeichnung<br />

„besondere Sozialhilfeleistung“) und der Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. der Grundsicherung<br />

im Alter und bei Erwerbsminderung nach, die weiterhin nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII<br />

gewährt werden.<br />

Hinweis:<br />

Die Gewährung existenzsichernder Leistungen erfolgt ab 1.1.<strong>2020</strong> grds. unabhängig von der Wohnform.<br />

Diese Neustrukturierung führt insb. dort, wo Bezieher von Eingliederungshilfe in stationären Einrichtungen<br />

leben (besondere Wohnformen nach § 42a Abs. 2 Nr. 2 SGB XII), zu erheblichen Veränderungen.<br />

b) Regelbedarf<br />

Nach alter Rechtslage umfasste bei Leistungen in stationären Einrichtungen der notwendige Lebensunterhalt<br />

den „in der Einrichtung erbrachten Lebensunterhalt“ und den „weiteren notwendigen Lebensunterhalt“,<br />

z.B. das sog. Taschengeld (§ 27b Abs. 2 S. 1 SGB XII). Normativ war dieses nicht Bestandteil der<br />

besonderen Sozialhilfeleistung „Eingliederungshilfe“, sondern als eigenständige Leistung der Hilfe zum<br />

Lebensunterhalt ausgestaltet (§ 27b Abs. 1 SGB XII) mit der Konsequenz unterschiedlicher Regelungen<br />

zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen bei der jeweiligen Leistungsart. Praktisch führte<br />

die rechtliche Konstruktion des „Lebensunterhalts in Einrichtungen“ dazu, dass den Berechtigten<br />

die Leistungen für den notwendigen Lebensunterhalt (also alle Leistungen, die für das Leben und<br />

die fachliche Betreuung in der Einrichtung erforderlich waren), nicht ausgezahlt wurden, sondern –<br />

rechtlich unterfüttert durch das von der Rechtsprechung entwickelte „sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis“<br />

unmittelbar der Einrichtung zuflossen (vgl. dazu BSG, Urt. v. 28.10.2008 – B 8 SO 22/<strong>07</strong> R).<br />

Nur das sog. Taschengeld erhielten die Berechtigten selbst zu ihrer freien Verfügung (zur Funktion des<br />

sog. Taschengelds vgl. nur BSG, Urt. v. 23.8.2013 – B 8 SO 17/12 R). Lebten Leistungsberechtigte nicht in<br />

stationären Einrichtungen, erfolgte schon immer eine getrennte Leistungsbewilligung (Eingliederungshilfe<br />

plus Regelbedarf, ggf. Mehrbedarf, plus Kosten der Unterkunft und Heizung).<br />

Um die Trennung von Fachleistung und Hilfe zum Lebensunterhalt auch im stationären Bereich deutlich<br />

zu machen, gibt es seit 1.1.<strong>2020</strong> die Besonderheit des „Lebensunterhalts in Einrichtungen“ bei der<br />

Eingliederungshilfe nicht mehr. Auch die Leistungsberechtigten, die in dieser Wohnform leben, erhalten,<br />

wie jede andere hilfebedürftige Person auch, Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten oder<br />

Vierten Kapitel des SGB XII an sich ausgezahlt. Leistungen für stationäre Einrichtungen nach § 27b<br />

SGB XII kommen deshalb nur noch bei Leistungen nach dem 7. bis 9. Kapitel SGB XII in Betracht, also<br />

insb. bei der Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. SGB XII.<br />

Praxistipp:<br />

Alle Empfänger von Eingliederungshilfe erhalten künftig die Leistungen zum Lebensunterhalt sowie<br />

die Kosten für Unterkunft und Heizung auf ihr Konto gezahlt. Leben sie in einer „besonderen Wohnform“<br />

(stationäre Einrichtung), müssen sie von diesem Geld an die Träger der Einrichtung die Kosten für ihre<br />

Unterbringung und Verpflegung entsprechend ihrer vertraglichen Verpflichtungen zahlen.<br />

Dies setzt natürlich voraus, dass die Leistungsbezieher über ein eigenes Konto verfügen, was bislang<br />

vielfach nicht der Fall war.<br />

362 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1725<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Die Trennung von Fachleistung Eingliederungshilfe und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts<br />

kann zudem dazu führen, dass künftig verschiedene Träger für die Leistungsgewährung örtlich und<br />

sachlich zuständig sind.<br />

Ein Auseinanderfallen der sachlichen Zuständigkeit war bislang durch die Regelung in § 97 Abs. 4 SGB XII,<br />

die entsprechend auch für die örtliche galt (BSG, Urt. v. 6.12.2018 – B 8 SO 9/18 R) vermieden worden.<br />

Eine vergleichbare „Verklammerungsnorm“ für die sachliche Zuständigkeit existiert logischerweise<br />

schon deshalb nicht, weil für die Sozialhilfe und die Eingliederungshilfe verschiedene Behörden zuständig<br />

sind und die Zuständigkeit durch die Länder festgelegt wird (§ 94 SGB IX i.V.m. dem Landesrecht).<br />

Die örtliche Zuständigkeit für die Fachleistung Eingliederungshilfe beurteilt sich nach § 98 SGB IX,<br />

die für die Sozialhilfeleistungen grds. nach § 98 Abs. 1 bis 5 SGB XII. Allerdings verklammert § 98<br />

Abs. 6 SGB XII beide Regelungsbereiche: Werden sowohl Leistungen der Eingliederungshilfe als auch<br />

existenzsichernde Sozialhilfeleistungen bezogen, beurteilt sich die örtliche Zuständigkeit dafür nach<br />

den für die örtliche Zuständigkeit für die Eingliederungshilfeleistungen geltenden Regelungen in § 98<br />

SGB IX.<br />

Hinweis:<br />

Nach § 98 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist für die Eingliederungshilfe örtlich zuständig der Träger, in dessen Bereich<br />

die leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 98 Abs. 4 SGB IX) im Zeitpunkt der<br />

ersten Antragstellung nach § 108 Abs. 1 SGB IX hat oder in den letzten zwei Monaten vor den Leistungen<br />

einer Betreuung über Tag und Nacht zuletzt gehabt hat. Dieser Träger ist auch örtlich zuständig für<br />

die existenzsichernden Sozialhilfeleistungen (§ 98 Abs. 6 SGB XII). Die sachliche Zuständigkeit, also die<br />

Frage, ob ein örtlicher oder überörtlicher Träger zuständig ist, kann jedoch differieren. Künftig können<br />

also zwei Träger für die Leistungen zuständig sein.<br />

Die geänderte Struktur kann auch in der Sache nicht ohne Ausnahmen bleiben. Folgendes sieht das<br />

Gesetz vor:<br />

• Die neue Struktur wurde für den in § 134 SGB IX bezeichneten Personenkreis (minderjährige<br />

Leistungsberechtigte, die sich in einer stationären Einrichtung befinden [„Betreuung über Tag und<br />

Nacht“] bzw. volljährige Leistungsberechtigte, die Leistungen zur schulischen Ausbildung nach § 134<br />

Abs. 4 SGB IX erhalten) nicht übernommen, sondern es wurde am bisherigen System der Pauschalen<br />

festgehalten. Daher bedurfte es der Regelung in § 27c SGB XII, um den Leistungsberechtigten Beträge<br />

zur individuellen Verfügung zukommen zu lassen.<br />

• Die formale Gleichstellung der Bedarfe behinderter und nichtbehinderter Menschen für den Lebensunterhalt<br />

macht weitere Ausnahmeregelungen im Zusammenhang mit der gemeinschaftlichen<br />

Mittagsverpflegung in Werkstätten für behinderte Menschen, bei anderen Leistungsanbietern (§ 60<br />

SGB IX) und vergleichbaren anderen tagesstrukturierenden Maßnahmen notwendig. Durch § 113<br />

Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 42b Abs. 2 SGB XII wird der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)<br />

Rechnung getragen, wonach die Leistung für das Mittagessen in einer Werkstatt für behinderte<br />

Menschen Teil der Eingliederungshilfe und damit nicht der Hilfe zum Lebensunterhalt zuzuordnen<br />

ist (vgl. BSG, Urt. v. 9.12.2008 – B 8/9b SO 10/<strong>07</strong> R). § 42b Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGB XII führt insoweit<br />

einen pauschalierten Mehrbedarf ein, orientiert am Warenwert für den Einkauf der erforderlichen<br />

Lebensmittel. Ausgehend von den Werten der Sozialversicherungsentgeltverordnung für <strong>2020</strong><br />

beläuft sich der Wert für das Mittagessen monatlich auf 102 €; dieser Betrag ist als Mehrbedarf zu<br />

leisten (vgl. § 42b Abs. 2 S. 3 SGB XII). Da es sich aber bei der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung<br />

um einen Teil der sog. Fachleistung handelt, ordnet § 113 Abs. 4 SGB IX konsequenterweise an, dass<br />

die sachlichen, personellen und betriebsnotwendigen Aufwendungen zur Erbringung dieser Leistung<br />

als Leistung der sozialen Teilhabe zu übernehmen sind.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 363


Fach 18, Seite 1726<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Sozialrecht<br />

• Nach dem derzeitigen gesetzlichen Konzept führt dieser Mehrbedarf allerdings dazu, dass sich die<br />

Menschen, die in der Werkstatt o.Ä. ihr Mittagessen einnehmen, finanziell deutlich besser stellen<br />

dürften als nach der alten Rechtslage. Denn bislang wurde, weil Kosten für das Mittagessen auch im<br />

Regelbedarf eingerechnet wurden, ein entsprechender Abzug beim Regelbedarf vorgenommen, d.h.<br />

die behinderten Menschen hatten unter dem Strich nicht mehr Geld zur Verfügung. Selbst wenn ein<br />

Abzug vom Regelbedarf weiter praktiziert würde (dagegen könnte allerdings schon sprechen, dass<br />

nach § 42b Abs. 1 SGB XII in Abs. 2 nur Bedarfe aufgeführt sind, die gerade nicht vom Regelbedarf<br />

abgedeckt seien), bliebe allerdings im Umfang des Mehrbedarfs ein Plus beim behinderten Menschen.<br />

• Weitere Folgeprobleme dieser strukturellen Änderung kristallisierten sich bereits vor Inkrafttreten<br />

der Änderungen zum 1.1.<strong>2020</strong> heraus. Denn bis 31.12.2019 haben die Träger der Sozialhilfe<br />

für die Bezieher von Eingliederungshilfeleistungen in stationären Einrichtungen regelmäßig deren<br />

Renten auf sich übergeleitet, weil sie als Einkommen des Hilfebeziehers leistungsmindernd zu berücksichtigen<br />

waren; die Rentenüberleitung vereinfachte insoweit das Verfahren und diente der<br />

Realisierung des Erstattungsanspruchs des nachrangig verpflichteten Sozialhilfeträgers gegenüber<br />

dem Träger der Rentenversicherung (§ 104 Abs. 1 SGB X). An dieser Rentenüberleitung konnten<br />

die Träger der Eingliederungshilfe ab 1.1.<strong>2020</strong> nicht festhalten, weil jede leistungsberechtigte Person<br />

an die Einrichtung die Kosten für den Lebensunterhalt und das Wohnen zu zahlen hat und<br />

keine vollständige „Übernahme“ aller Aufwendungen mehr durch den Sozialleistungsträger erfolgt.<br />

Da seit April 2004 Rentenzahlungen für den laufenden Monat nicht mehr zum Monatsanfang,<br />

sondern am Monatsende erfolgen, wäre mit dem Monat der Umstellung eine einmalige Finanzierungslücke<br />

entstanden, weil für den laufenden Monat zwar ein Bedarf besteht, dieser aber erst<br />

zum Monatsende (mit der Rentenzahlung) gedeckt werden könnte.<br />

• Der Gesetzgeber hat erkannt, dass diese „Rentenlücke“ eine Vielzahl von Leistungsberechtigten<br />

betrifft und zu unbilligen Härten führen würde. Um verwaltungsaufwändige Lösungen, wie z.B.<br />

die flächendeckende Vergabe von Überbrückungsdarlehen, zu vermeiden, ist mit dem Gesetz zur<br />

Änderung des SGB IX und des SGB XII vom 30.11.2019 (BGBl I, S. 1948 ff.) in § 140 SGB XII eine<br />

Übergangsregelung geschaffen worden.<br />

Hinweis:<br />

§ 140 SGB XII führt dazu, dass die Bezieher von Eingliederungshilfeleistungen und Renten für den<br />

Umstellungsmonat ihre Rente nicht zur Deckung ihres existenziellen Bedarfs nach dem 3./4. Kapitel<br />

des SGB XII einzusetzen haben, d.h. es findet in diesem Monat keine Berücksichtigung der Rente als<br />

Einkommen nach § 82 SGB XII statt.<br />

c) Unterkunft und Heizung<br />

§ 42a SGB XII regelt die Bedarfe für Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung im Alter und bei<br />

Erwerbsminderung als Teil des notwendigen Lebensunterhalts zur Sicherung des Existenzminimums<br />

gem. § 27a Abs. 1 S. 1 SGB XII. Für Bezieher von Eingliederungshilfe, die in stationären Einrichtungen<br />

(sog. besonderen Wohnformen) leben, enthalten § 42a Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 5 und 6 SGB XII<br />

Sonderregelungen, die auch für Bezieher von Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB XII gelten, die in<br />

einer besonderen Wohnform leben (§ 35 Abs. 5 S. 1 SGB XII).<br />

§ 42a Abs. 5 S. 1 SGB XII berücksichtigt als Bedarfe für die Unterkunft die tatsächlichen Aufwendungen,<br />

soweit sie angemessen sind. Sie gelten als angemessen, wenn sie die Höhe der<br />

durchschnittlichen angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für die Warmmiete von Einpersonenhaushalten<br />

am Ort der Einrichtung nicht überschreiten (§ 42a Abs. 5 S. 3 SGB XII). Das Gesetz<br />

differenziert insoweit zwischen Aufwendungen für den persönlichen Wohnraum (Nr. 1), Zuschlägen<br />

für Voll- oder Teilmöblierung (Nr. 2) sowie den Aufwendungen für die Gemeinschaftsräume nach<br />

364 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1727<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

einem Anteil, der sich aus der für die Nutzung der Gemeinschaftsräume vorgesehenen Anzahl an<br />

Personen ergibt (Nr. 3). Zwischen der leistungsberechtigten Person und dem die Unterkunft überlassenden<br />

Leistungserbringer ist ein Vertrag über die Überlassung von Wohnraum zu schließen.<br />

Soweit sich der Leistungserbringer zugleich auch zur Erbringung von Pflege- oder Betreuungsleistungen<br />

verpflichtet, ist das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) weiterhin anwendbar<br />

(vgl. § 1 WBVG). Ansonsten gelten die §§ 549 ff. BGB. Vertraglich zu vereinbaren sind auch die in § 42a<br />

Abs. 5 S. 4 SGB XII benannten Zusatzkosten.<br />

Eine Durchbrechung der Trennung zwischen existenzsichernden Lebensunterhalts- und den Fachleistungen<br />

findet sich jedoch in § 42a Abs. 6 SGB XII: Denn übersteigen die tatsächlichen Aufwendungen<br />

die Angemessenheitsgrenze um mehr als 25 %, umfassen die Fachleistungen (also die Eingliederungshilfe)<br />

diesen Aufwand (§ 42a Abs. 6 S. 2 SGB XII). Diese Leistungen sind vom Eingliederungshilfeträger zu<br />

übernehmen (§ 113 Abs. 5 SGB IX).<br />

Praxistipp:<br />

Im Fall der die Angemessenheitsgrenze um mehr als 25 % übersteigenden Aufwendungen für die Kosten<br />

der Unterkunft ist ein Antrag auf Übernahme dieser Kosten beim Träger der Eingliederungshilfe zu<br />

stellen. Da die Regelungen über die Zuständigkeit für die Fachleistung Eingliederungshilfe und die<br />

existenzsichernden Leistungen nicht identisch sind, können unterschiedliche Träger zuständig sein.<br />

Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass die übersteigenden Kosten „automatisch“<br />

vom Eingliederungshilfeträger übernommen werden.<br />

4. Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen<br />

Nach § 19 Abs. 3 SGB XII in der bis 31.12.2019 geltenden Fassung (a.F.) wurden Leistungen der<br />

Eingliederungshilfe nur gewährt, soweit der leistungsberechtigten Person und ihren nicht getrennt<br />

lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern die Aufbringung der Mittel aus ihrem Einkommen und<br />

Vermögen nach Maßgabe der §§ 85 ff., 90 SGB XII nicht zumutbar war. Nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII<br />

in der bis 31.12.2016 geltenden Fassung waren lediglich „kleinere Barbeträge“ oder sonstige Geldwerte als<br />

Vermögen geschützt; diese beliefen sich nach § 1 der VO zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9<br />

SGB IX a.F. auf 2.600 € für den Leistungsberechtigten selbst und 256 € für jede Person, die vom<br />

Leistungsberechtigten überwiegend unterhalten worden ist bzw. 614 € zusätzlich für den Ehegatten<br />

oder Lebenspartner. Weiteres Vermögen war nur dann nicht zu berücksichtigen, wenn dessen Einsatz<br />

eine Härte bedeuten würde (§ 90 Abs. 3 S. 1 SGB XII), was für Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel<br />

(also z.B. Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege) insb. dann der Fall war, soweit eine angemessene<br />

Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert<br />

wurde (§ 90 Abs. 3 S. 2 SGB XII). Diese Regelungen führten dazu, dass behinderte Menschen,<br />

die Leistungen der Eingliederungshilfe benötigten, faktisch kein relevantes Vermögen ansparen<br />

konnten und auch mit dem behinderten Menschen zusammenlebende Ehe- oder Lebenspartner mit<br />

ihrem Einkommen und Vermögen für die Deckung behinderungsbedingter Aufwendungen aufzukommen<br />

hatten. Das dauerhafte Angewiesensein auf existenzsichernde Leistungen auch im Alter<br />

war damit vorprogrammiert.<br />

Seit 1.1.<strong>2020</strong> nimmt das Gesetz für den Begriff des Einkommens auf die Regelungen des Steuerrechts<br />

Bezug (§ 135 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 2 Abs. 2 EStG) und sieht vor, dass von der leistungsberechtigten Person<br />

ein Beitrag zu den Aufwendungen (des Eingliederungshilfeträgers für die Fachleistungen) zu erbringen<br />

ist, wenn das Einkommen einen bestimmten Wert (abhängig von der Art des Einkommens eine<br />

Prozentzahl x der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV) übersteigt (§ 136 Abs. 2 SGB IX). Die<br />

Bezugsgröße für die alten Bundesländer beträgt seit 1.1.<strong>2020</strong> 38.220 €, für die neuen Bundesländer<br />

36.120 €.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 365


Fach 18, Seite 1728<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Sozialrecht<br />

Daraus ergeben sich folgende Abstufungen:<br />

Ein Beitrag zu den Aufwendungen ist aufzubringen,<br />

• wenn Einkommen überwiegend aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder selbstständigen<br />

Tätigkeit erzielt wird und 32.487 €/ 30.702 € übersteigt,<br />

• wenn Einkommen aus einer nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erzielt wird und<br />

28.665 €/27.090 € übersteigt,<br />

• wenn Renteneinkünfte erzielt werden und diese 22.932 €/21.672 € übersteigen oder<br />

• bei anderen Einkunftsarten, wenn diese 28.665 €/27.090 € übersteigen.<br />

Anders als man annehmen könnte, ist auch für die leistungsberechtigte Person nicht der den Freibetrag<br />

übersteigende Betrag vollständig einzusetzen, sondern nur 2 % als monatlicher Beitrag<br />

aufzubringen. Der aufzubringende Betrag ist von der Leistung abzuziehen (§ 137 Abs. 3 SGB IX),<br />

d.h. es gilt das sog. Nettoprinzip, das bis 31.12.2019 für die Leistungserbringung in stationären<br />

Einrichtungen nicht gegolten hat (vgl. § 92 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F.). Dadurch, dass seit 1.1.<strong>2020</strong> bei der<br />

Leistungserbringung nicht mehr danach unterschieden wird, ob Leistungen in ambulanter, teil- oder<br />

vollstationärer Form erbracht werden (dazu unter 2), ist diese Anpassung an die sonstige Form der<br />

Leistungserbringung konsequent.<br />

Für die Lebens- und Ehepartner sowie Partner einer nichtehelichen Gemeinschaft, die über Einkommen<br />

unterhalb des so für die leistungsberechtigte Person ermittelten Betrags verfügen, erhöht sich der<br />

Freibetrag um weitere 10 %; bei Einkommen oberhalb dieses Betrags entfällt dieser – weitere –<br />

Freibetrag (es findet also auch dann keine Berücksichtigung des Einkommens statt) und es erhöht sich<br />

nur für jedes unterhaltsberechtigte Kind der Freibetrag der leistungsberechtigten Person um weitere<br />

5 %. Dies führt im Ergebnis zu einer weitreichenden Freistellung des Partnereinkommens!<br />

Unverändert sind ohne Einkommenseinsatz allerdings zu erbringen (§ 138 Abs. 1 Nr. 1 bis 7 SGB IX):<br />

heilpädagogische Leistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX (entspricht § 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB XII a.F.),<br />

Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 113 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XII<br />

a.F.), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 und 7 SGB XII a.F.), Leistungen bei<br />

der Hilfe zu einer Schulbildung nach § 112 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB XII a.F.),<br />

Leistungen zur schulischen Ausbildung für einen Beruf nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX, in besonderen<br />

Ausbildungsstätten für behinderte Menschen über Tag und Nacht erbrachte Leistungen (§ 92 Abs. 2<br />

S. 1 Nr. 4 SGB XII a.F.), Leistungen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten nach § 113 Abs. 1<br />

Nr. 5 SGB IX zur Vorbereitung auf die Teilhabe am Arbeitsleben (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 8 SGB XII),<br />

Teilhabeleistungen für Bildung für noch nicht eingeschulte Kinder, welche die für sie erreichbare<br />

Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen sollen (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB XII a.F.; zu den<br />

Leistungsgruppen im Einzelnen unter 4). Neu eingefügt wurde § 138 Abs. 1 Nr. 8 SGB IX: Danach ist ein<br />

Beitrag zu den Aufwendungen grds. nicht aufzubringen, wenn gleichzeitig Leistungen für den<br />

Lebensunterhalt nach dem SGB II oder SGB XII bzw. § 27a BVG erbracht werden. In diesen Fällen kann<br />

davon ausgegangen werden, dass Bedürftigkeit vorliegt und daher Einkommen allenfalls unterhalb der<br />

genannten Einkommensgrenzen erzielt wird.<br />

Mit der Überführung der Eingliederungshilfe in das SGB IX wurde zudem das System der Vermögensberücksichtigung<br />

gänzlich neu geordnet. Seit dem 1.1.<strong>2020</strong> ist Vermögen für die Fachleistung<br />

Eingliederungshilfe bis zu einem Betrag von 150 % der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV<br />

(s.o.), das entspricht derzeit 57.330 €, von der Verwertung geschützt. Damit hat der Gesetzgeber –<br />

zusammen mit der dargestellten verbesserten Situation bei der Berücksichtigung von Einkommen –<br />

zumindest teilweise den berechtigten Belangen behinderter Menschen Rechnung getragen, sich trotz<br />

366 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1729<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

der „Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem des SGB XII“ aber für die Beibehaltung der<br />

Einkommens- und Vermögensabhängigkeit der Teilhabeleistungen entschieden. Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />

vom 30.11.2019 (vgl. oben zu I) wurde die Regelung um eine Härteklausel<br />

ergänzt.<br />

5. Die einzelnen Leistungsgruppen der Eingliederungshilfe<br />

a) Allgemeines<br />

Die Leistungen der Eingliederungshilfe sind ab 1.1.<strong>2020</strong> in § 102 Abs. 1 SGB IX aufgeführt. Die in Teil 1 des<br />

SGB IX (§§ 42 ff. SGB IX) benannten und damit für alle Rehabilitationsträger maßgeblichen Inhalte der<br />

jeweiligen Leistungen werden für die Eingliederungshilfe z.T. speziell ausgeformt (§§ 109, 110 i.V.m. § 42<br />

ff. SGB IX – Leistungen zur medizinischen Rehabilitation; §§ 111 i.V.m. 49 ff SGB IX – Leistungen zur<br />

Teilhabe am Arbeitsleben; §§ 112 i.V.m. 75 SGB IX – Leistungen zur Teilhabe an Bildung; §§ 113 ff.<br />

i.V.m. 76 ff SGB IX – Leistungen zur Sozialen Teilhabe). Die bereits zum 1.1.2018 erfolgte Ersetzung der<br />

„Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ durch „Leistungen zur Teilhabe an Bildung“ und<br />

„Leistungen zur sozialen Teilhabe“ (vgl. § 5 Nr. 4 und 5 SGB IX) soll nach dem Willen des Gesetzgebers nur<br />

der Klarstellung dienen und keinesfalls zu einer Leistungsausweitung führen (BT-Drucks 18/9522 S. 196,<br />

228, 285).<br />

b) Teilhabe an Bildung<br />

§ 112 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe an Bildung) erfasst im Wesentlichen den Regelungsgehalt des § 54<br />

Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII in der bis 31.12.2019 geltenden Fassung sowie der §§ 12 und 9 Eingliederungshilfe-<br />

VO (Schulbildung bzw. Hilfsmittel); seit 1.1.2018 gibt auch § 29 Abs. 1 Nr. 2a SGB I Aufschluss über<br />

mögliche Leistungen zur Teilhabe an Bildung. In der Rechtspraxis wie auch im Gesetzgebungsverfahren<br />

war insb. seitens der Sozialhilfeträger in Frage gestellt worden, ob die Einführung dieser Leistung das<br />

Ziel, die – vorrangige – Verantwortung für inklusive Bildung beim (zuständigen) Schulträger zu verorten,<br />

nicht konterkariere (vgl. z.B. Ausschuss-Drucks 18[11]799 v. 4.11.2016, S. 265; 18[11]801 v. 4.11.2016, S. 55). Da<br />

die Leistung zur Teilhabe an Bildung weder von anderen Rehabilitationsträgern vorrangig zu erbringen<br />

ist, noch das System einer „inklusiven Bildung“ überall funktioniert, ist die Befürchtung, die Träger der<br />

Eingliederungshilfe werden in diesem Bereich zu „Ausfallbürgen“, nicht unberechtigt (vgl. dazu nur die<br />

umfangreiche Rechtsprechung der Sozialgerichte zu den Kosten für die Schulbegleitung). Vorschläge im<br />

Gesetzgebungsverfahren, z.B. den Träger der Rentenversicherung oder die Bundesagentur für Arbeit als<br />

– vorrangige – Reha-Träger vorzusehen (vgl. nur BR-Drucks 428-16[B], S. 8 f; Ausschuss-Drucks 18[11]<br />

712), scheiterten jedoch.<br />

In der Sache ist auf zwei – i.S.d. behinderten Menschen – erfreuliche Punkte hinzuweisen: § 112 Abs. 1<br />

S. 2 SGB IX n.F. macht klar, dass Leistungen zur Teilhabe an Bildung auch solche zur Unterstützung<br />

schulischer Ganztagsangebote in offener Form einschließen, die unter Aufsicht und Verantwortung<br />

der Schule ausgeführt werden. Die Frage, ob auch für die Nachmittagsbetreuung in der Schule ein<br />

Schulbegleiter als eine vom Einkommens- und Vermögenseinsatz unabhängige Leistung zur Teilhabe<br />

an Bildung oder (nur) als nicht privilegierte Leistung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in<br />

Anspruch genommen werden kann (vgl. dazu nur BSG, Urt. v. 6.12.2018 – B 8 SO 7/17 R u. B 8 SO 4/17<br />

R), dürfte damit seit <strong>2020</strong> weniger streitanfällig sein und für die betroffenen Eltern und Kinder<br />

Rechtssicherheit bringen.<br />

Erfreulich ist zudem, dass auch die Förderung eines Masterstudiums im Anschluss an ein Bachelorstudium<br />

ermöglicht wird. Den Begriff der „hochschulischen Weiterbildung“ will der Gesetzgeber sehr<br />

allgemein verstanden wissen. Jedenfalls nach der Gesetzesbegründung soll gleichermaßen die Finanzierung<br />

einer Promotion mit Mitteln der Eingliederungshilfe als Leistung zur Teilhabe an Bildung<br />

möglich sein, falls dies „in begründeten Einzelfällen“ zur Erreichung des Berufsziels erforderlich ist<br />

(BT-Drucks 18/9522, S. 284). Dies war bislang in der Praxis nicht unumstritten (vgl. BSG, Urt. v. 24.2.2016<br />

– B 8 SO 18/14 R).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 367


Fach 18, Seite 1730<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Sozialrecht<br />

c) Leistungen zur sozialen Teilhabe<br />

Dem gesetzgeberischen Ziel der Präzisierung der „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“<br />

folgend, führt § 113 Abs. 2 SGB IX regelbeispielhaft („insbesondere“) die Leistungen zur sozialen Teilhabe<br />

auf. Dies bedeutet im Grundsatz, dass auch andere Leistungen unter diese Leistungskategorie fallen<br />

können.<br />

Aufgeführt sind:<br />

• Leistungen für Wohnraum,<br />

• Assistenzleistungen,<br />

• Heilpädagogische Leistungen,<br />

• Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie,<br />

• Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten,<br />

• Leistungen zur Förderung der Verständigung,<br />

• Leistungen zur Mobilität,<br />

• Hilfsmittel,<br />

• Besuchsbeihilfen.<br />

Die in Nr. 1 bis 8 aufgeführten Leistungen sind mit den in § 76 Abs. 2 SGB IX für alle Reha-Träger<br />

geltenden Leistungstatbeständen identisch und bestimmen sich nach den §§ 77 bis 84 SGB IX (§ 113<br />

Abs. 2 SGB IX); ergänzt wird der Leistungskatalog durch die Besuchsbeihilfen nach Nr. 9. Eine für die<br />

Bezieher von Mobilitätsleistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX nachteilige Regelung speziell für die<br />

Eingliederungshilfe findet sich in § 114 Nr. 1 SGB IX: Als Leistung zur Teilhabe am Leben in der<br />

Gemeinschaft besteht ein Anspruch nur dann, wenn der behinderte Mensch ständig auf die Nutzung<br />

des Fahrzeugs angewiesen ist. Dies hatte das BSG zur insoweit auslegungsbedürftigen Rechtslage bis<br />

31.12.2019 gerade anders entschieden (BSG, Urt. v. 8.3.2017 – B 8 SO 2/16 R). Noch offen ist allerdings,<br />

was unter einer „ständigen“ Nutzung zu verstehen sein kann.<br />

d) Teilhabe an Arbeit/Leistungen zur Beschäftigung<br />

Nicht zuletzt aufgrund der Kritik des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen<br />

bei den Vereinten Nationen in dessen „Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht<br />

Deutschlands“ vom 13.5.2015 (abrufbar unter www.institut-fuer-menschenrechte.de) hinsichtlich<br />

der „Segregation auf dem Arbeitsmarkt“ und des Umstandes, dass „segregierte Werkstätten für behinderte<br />

Menschen weder auf den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten noch diesen Übergang fördern“<br />

(Art. 27 Nr. 49) stand auch die Arbeitsmarktsituation für behinderte Menschen, sei es in oder<br />

außerhalb von Werkstätten, im Fokus des Gesetzgebers. Neben der Förderung von Modellprojekten<br />

(§ 11 SGB IX), die den Vorrang von Leistungen zur Teilhabe und die Sicherung der Erwerbsfähigkeit<br />

(§§ 9, 10 SGB IX) vor der Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen stärken sollen,<br />

war insb. gefordert worden, den Übergang von der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu<br />

erleichtern, aber auch eine bislang nicht gegebene Rückkehrmöglichkeit vom ersten Arbeitsmarkt in<br />

die Werkstatt einzuräumen, um mehr Flexibilität bei der Gestaltung der Erwerbstätigkeit behinderter<br />

Menschen zu schaffen (vgl. nur Ausschuss-Drucks 18[11]803, S. 236). Letzteres ist mit § 220 Abs. 3<br />

SGB IX bereits zum 1.1.2018 Gesetz geworden.<br />

Der Katalog der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben als Leistung der Eingliederungshilfe umfasst in<br />

§ 111 Abs. 1 SGB IX die ganze Spannbreite der Einsatzmöglichkeiten behinderter Menschen zur Erbringung<br />

einer Tätigkeit: Leistungen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten für behinderte Menschen,<br />

Leistungen bei anderen Leistungsanbietern (§ 60 SGB IX) und das Budget für Arbeit bei privaten und<br />

öffentlichen Arbeitgebern (§ 61 SGB IX). All diese Leistungen sind im Übrigen ohne einen Kostenbeitrag<br />

des behinderten Menschen zu erbringen (§ 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX).<br />

368 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1731<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Das im Beteiligungsverfahren zum BTHG geforderte „Budget für Ausbildung“ hat der Gesetzgeber des<br />

BTHG nicht realisiert; es ist erst durch das Gesetz zur Entlastung unterhaltspflichtiger Angehöriger in<br />

der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe vom 10.12.2019 mit Wirkung vom 1.1.<strong>2020</strong> eingeführt<br />

worden (BGBl I 2019, S. 3135). Danach erhalten Menschen mit Behinderungen, die Anspruch auf<br />

Leistungen nach § 57 SGB IX (also im Eingangs- und Berufsbildungsbereich) haben und denen von<br />

einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber ein sozialversicherungspflichtiges Ausbildungsverhältnis<br />

in einem anerkannten Ausbildungsberuf oder in einem Ausbildungsgang nach § 66 BBiG oder § 42m<br />

HwO angeboten wird, mit Abschluss des Vertrags über dieses Ausbildungsverhältnis als Leistungen<br />

zur Teilhabe am Arbeitsleben ein Budget für Ausbildung. Leistungsträger sind allerdings nicht die<br />

Träger der Eingliederungshilfe, sondern ist vorrangig die Bundesagentur für Arbeit (§ 61a Abs. 1 S. 2<br />

i.V.m. § 63 Abs. 1, 3 SGB IX).<br />

e) Leistungen zur medizinischen Rehabilitation<br />

Die Leistungen der medizinischen Rehabilitation entsprechen im Umfang und der Art ihrer Erbringung<br />

nach wie vor im Wesentlichen den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (§§ 109, 110<br />

SGB IX).<br />

6. Wunsch- und Wahlrecht<br />

Der Träger der Eingliederungshilfe hat bei der Beurteilung, wie der individuelle Bedarf gedeckt wird,<br />

keine Alleinentscheidungskompetenz. Vielmehr normierte bereits § 9 Abs. 2 und 3 SGB XII auch für den<br />

Bereich der Eingliederungshilfe ein Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten, das sich im<br />

Wesentlichen auf die Gestaltung der Hilfegewährung (Art und Maß der Leistungserbringung sowie<br />

Auswahl der Leistungsart) richtete.<br />

Was die Form der Leistungserbringung anbelangt, gibt es weiterhin die Möglichkeit, Leistungen der<br />

Eingliederungshilfe in der Form eines Persönlichen Budgets zu erbringen (§ 105 Abs. 4 i.V.m. § 29<br />

SGB IX). Anders als bislang kann das persönliche Budget aber nicht mehr nur als „trägerübergreifende<br />

Komplexleistung“ (§ 29 Abs. 1 S. 3 SGB IX), sondern nach § 29 Abs. 1 S. 4 SGB IX auch nicht<br />

trägerübergreifend von einem einzelnen Leistungsträger erbracht werden.<br />

Nach § 105 Abs. 3 SGB IX können die Träger mit Zustimmung des Leistungsberechtigten Leistungen<br />

zur sozialen Teilhabe allerdings auch in Form einer pauschalen Geldleistung erbringen. Möglich wird<br />

dies sein (vgl. § 116 Abs. 1 SGB IX) für Leistungen zur Assistenz, zur Förderung der Verständigung und<br />

zur Beförderung. Nicht ganz einfach erscheint allerdings die Abgrenzung zur Leistungserbringung in<br />

Form eines persönlichen Budgets. Denn Abgrenzungskriterien hierzu enthält weder das Gesetz noch<br />

die Gesetzesbegründung. Darin ist zwar ausgeführt (vgl. BT-Drucks 18/9522, S. 280), dass die mit der<br />

pauschalen Geldleistung eingekaufte Leistung nicht von einem Leistungsanbieter ausgewählt werden<br />

muss, mit dem Vereinbarungen bestehen. Allerdings kann aus § 125 Abs. 3 SGB IX unproblematisch<br />

der Rückschluss gezogen werden, dass es eine Auswahlpflicht bezogen auf vertragsgebundene<br />

Anbieter auch beim Budget nicht gibt. Die Regelung dient erkennbar lediglich der Verwaltungsvereinfachung<br />

und soll – vermutlich – den aufwändigen Abschluss von Zielvereinbarungen, Kontrollen<br />

der Mittelverwendung und Buchführung durch den behinderten Menschen zu vermeiden helfen.<br />

Dieser erhält z.B. für die Mobilität einen Geldbetrag x und kann ihn dann zweckentsprechend<br />

verwenden, ohne im Einzelnen darüber Rechnung legen zu müssen. Der pauschale Geldbetrag wird<br />

sich damit aller Wahrscheinlichkeit nach nur für kleinere „Budgets“ eignen.<br />

Das Wunsch- und Wahlrecht der behinderten Menschen bei der Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen<br />

ist trotz der Personen- und nicht Einrichtungsorientierung von Leistungen auch<br />

künftig beschränkt. Es findet seine Grenzen in § 104 SGB IX, der in seinem Abs. 1 zunächst den<br />

Grundsatz wiederholt, dass sich die Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Besonderheiten des<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 369


Fach 18, Seite 1732<br />

Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />

Sozialrecht<br />

Einzelfalls bestimmen (Gesichtspunkte wie z.B. das persönliche Umfeld der leistungsberechtigten<br />

Person werden besonders erwähnt) und nach Abs. 2 S. 1 den Wünschen des Leistungsberechtigten zu<br />

entsprechen ist, soweit die Wünsche „angemessen“ sind. Unabhängig von der Frage, ob Wünsche<br />

überhaupt mit dem Verdikt der Unangemessenheit versehen werden können – jeder darf sich grds.<br />

alles wünschen – steckt dahinter, wie sich aus der Vermutungsregelung in Abs. 2 S. 2 Nr. 1 und 2<br />

deutlich ergibt, eine wirtschaftliche Sichtweise. Als unangemessen gilt ein Wunsch (gesetzliche<br />

Fiktion ohne Möglichkeit, diese zu widerlegen), wenn und soweit die Höhe der Kosten die einer<br />

vergleichbaren Leistung vertragsgebundener Leistungserbringer unverhältnismäßig übersteigt, wenn<br />

der Bedarf auch dadurch gedeckt werden kann. Anders als bisher setzt der Mehrkostenvorbehalt also<br />

nicht mehr an der Form der Leistungserbringung an (ambulant, stationär, teilstationär); entscheidend<br />

ist allein, welche Kosten für vertragsgebundene Leistungserbringer, sei es für stationäre, teilstationäre,<br />

ambulante oder sonstige Leistungsformen, zur Deckung der Bedarfe entstünden. Eine Ausnahme<br />

sieht das Gesetz allerdings vor: Ist eine von den Wünschen des Leistungsberechtigten abweichende<br />

Leistungsgestaltung nicht zumutbar, ist ein Kostenvergleich nicht durchzuführen.<br />

Speziell für die mit der Wahl der Wohnform verbundenen Kosten sieht § 104 Abs. 3 SGB IX –<br />

abweichend vom ursprünglichen Gesetzentwurf und eingeführt nach Beschlussempfehlungen des<br />

Ausschusses für Arbeit und Soziales (vgl. BT-Drucks 18/10523, S. 4, 61 ff.) – eine eigene Regelung vor:<br />

Bestehen nach den persönlichen, familiären und örtlichen Verhältnissen der vom Hilfebedürftigen<br />

gewählten Wohnform keine Bedenken, dass der bestehende Bedarf nicht gedeckt werden kann, dann<br />

ist der gewünschten Wohnform – außerhalb von „besonderen Wohnformen“ (gemeint ist die bisher<br />

als stationäre Unterbringung bezeichnete Wohnform) –„der Vorzug zu geben“, wenn dies von der<br />

leistungsberechtigten Person gewünscht wird. Die dafür erforderlichen Assistenzleistungen (§ 113<br />

Abs. 2 Nr. 2 SGB IX) sind, wenn dies die leistungsberechtigte Person wünscht, in Bezug auf die<br />

Gestaltung persönlicher Beziehungen und die persönliche Lebensplanung nicht gemeinsam zu<br />

erbringen (§ 116 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX).<br />

Mit dieser Sonderregelung zum Kostenvergleich bei unterschiedlichen Wohnformen wird auch auf<br />

dieser Ebene für die Eingliederungshilfe die Abkehr von der einrichtungsbezogenen Leistungserbringung<br />

vollzogen. Für die Betroffenen positiv ist zudem die Berücksichtigung ihres Wunsch- und<br />

Wahlrechts auch in Bezug auf die Form der Leistungserbringung, d.h. wahlweise gemeinsam mit<br />

anderen (§ 116 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX, sog. Pool-Lösung) oder individuell. Dies bedeutet in der Praxis, dass<br />

sich der Träger der Eingliederungshilfe z.B. nicht auf den Standpunkt stellen kann, mehrere behinderte<br />

Menschen müssten ihre Ausflüge oder Einkäufe abstimmen, damit sie gemeinsam durch nur eine<br />

Assistenzperson begleitet werden müssen. Es steht den behinderten Menschen vielmehr frei, über die<br />

Art der Gestaltung ihrer persönlichen Lebensplanung autonom und frei von Kostenerwägungen zu<br />

entscheiden. Was es allerdings bedeutet, dass der Wohnform „der Vorzug“ zu geben ist, bleibt offen. Ist<br />

eine bindende Entscheidung gemeint, wenn die Voraussetzungen vorliegen, oder hat der Träger nach<br />

pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden? Auch die Ausführungen in der Ausschussbegründung<br />

(S. 62) helfen nicht weiter, wenn auch vieles dafür sprechen dürfte, dass beim Vorliegen der übrigen<br />

Voraussetzungen eine bindende Entscheidung für eine Leistung in der vom behinderten Menschen<br />

gewählten Form zu erfolgen hat.<br />

370 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>

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