Kim Riddlebarger: Streitfall Millennium
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<strong>Kim</strong> <strong>Riddlebarger</strong><br />
<strong>Streitfall</strong><br />
<strong>Millennium</strong><br />
Wird es Gottes Reich auf Erden geben?
<strong>Kim</strong> <strong>Riddlebarger</strong><br />
<strong>Streitfall</strong><br />
<strong>Millennium</strong><br />
Wird es Gottes Reich auf Erden geben?
Bibelzitate folgen meistens der Übersetzung nach Franz Eugen Schlachter<br />
(Version 2000) oder der Elberfelder Bibel.<br />
<strong>Kim</strong> <strong>Riddlebarger</strong>, geboren 1954, ist Hauptpastor der Christ Reformed Church<br />
in Anaheim, Kalifornien und war Gastprofessor für Systematische Theologie<br />
am Westminster Theological Seminary in Kalifornien. Er ist u. a. beteiligt am Radiosender<br />
White Horse Inn und an der Zeitschrift Modern Reformation. Er hat<br />
ein weiteres Buch geschrieben: The Man of Sin, eine Untersuchung zum Thema<br />
Antichrist in der Bibel.<br />
Auf der Webseite des Autors finden sich viele weitere Ressourcen wie z. B. Diagramme<br />
zu diesem Buch, eine Antwort auf John MacArthurs Verteidigung<br />
des Prämillennialismus, zahlreiche Audiovorträge zum Download u.v.m. Die<br />
Webadresse ist http://kimriddlebarger.squarespace.com oder als QR-Code:<br />
1. Auflage 2015<br />
© 2003 <strong>Kim</strong> Ridddlebarger<br />
Erschienen bei Baker Books, Grand Rapids, Michigan<br />
Originaltitel: A Case for Amillennialism<br />
© der deutschen Übersetzung<br />
Betanien Verlag 2015<br />
Postfach 1457 · 33807 Oerlinghausen<br />
www.betanien.de · info@betanien.de<br />
Übersetzung: Ivo Carobbio, Dirk Noll, Hans-Werner Deppe<br />
Cover: Sara Pieper, Betanien Verlag<br />
Satz: Betanien Verlag<br />
Druck: Scandinavianbook, Arhus, DK<br />
ISBN 978-3-945716-10-6
Inhalt<br />
Einleitung 7<br />
Teil 1: Grundlegendes<br />
1 Definition der Begriffe 15<br />
2 Ein Überblick über die eschatologischen Positionen 25<br />
3 Wie legt man biblische Prophetie aus? 40<br />
Teil 2: Themen der biblischen Theologie<br />
4 Die Bedeutung von Bündnissen im Alten Testament 53<br />
5 Verheißung und Erfüllung 63<br />
6 Prinzipien alttestamentlicher Prophetie 72<br />
7 Christus und die Erfüllung der Prophetie 90<br />
8 Das Wesen neutestamentlicher Eschatologie 108<br />
9 Das Reich Gottes 137<br />
10 Die neue Schöpfung, das Israel Gottes und die<br />
leidende Gemeinde 157<br />
11 Die glückselige Hoffnung: Die Wiederkunft Jesu Christi 180<br />
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
12 Daniels Prophetie der 70 Jahrwochen 205<br />
13 Die Ölbergrede 216
14 Römer 11: Hat Israel eine Rolle in der Zukunft? 249<br />
15 Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10 273<br />
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
16 Die Auswertung 325<br />
Anhang: Grafiken zu den zwei Zeitaltern 347
Einleitung<br />
Von frühester Jugend an lernte ich, dass eine sogenannte »geheime<br />
Entrückung« zu den Hauptlehren des christlichen Glaubens gehöre.<br />
Ich erinnere mich noch an die Familientreffen vor dem Fernsehschirm,<br />
um die Sendung World Prophetic Ministry (»Weltprophetischer<br />
Dienst«) von Howard C. Estep zu sehen. Er erklärte, wie der<br />
arabisch-israelische Konflikt die Bühne für den Antichristen vorbereite.<br />
Der Antichrist würde laut Estep die Welt mit seiner Lösung<br />
des Nahostkonflikts blenden und Israel Frieden versprechen. Die<br />
Panik, die das plötzliche Verschwinden der Christen durch die Entrückung<br />
auslösen werde, würde dazu führen, dass die Menschen<br />
diesen dämonischen Führer mit offenen Armen annehmen. Er<br />
würde die Präsidentschaft über ein Zehn-Nationen-Bündnis erringen,<br />
quasi einem auferstandenen Römischen Reich. Kurz danach<br />
würde der Staat Israel eiskalt verraten werden und eine entsetzliche<br />
Zeit von sieben Jahren hereinbrechen. Erst danach würde Jesus<br />
Christus zur Erde zurückkommen, um dem Antichrist und dem<br />
Teufel ein Ende zu bereiten. Seit damals hat mich diese Thematik<br />
der biblischen Prophetie begeistert.<br />
Als Teenager las ich fasziniert Hal Lindseys Buch Alter Planet<br />
Erde, wohin? Lindsey bot biblische Antworten auf die Tumulte und<br />
Unsicherheiten der 1960er Jahre. Ich war nicht der einzige, der von<br />
diesem Buch begeistert war. Dieses Buch wurde zum Bestseller der<br />
1970er Jahre. Der Autor versicherte, dass der dispensationalistische<br />
Prämillennialismus 1 – so die Bezeichnung für Lindseys spezielle<br />
1 Prämillennialismus ist die Auffassung, Jesus komme wieder, um auf der Erde<br />
ein Tausendjähriges Reich aufzurichten. Der Dispensationalismus geht auf die<br />
Theologen Darby und Scofield zurück und gliedert die Welt- und Heilsgeschichte<br />
in sieben Zeitalter, wobei der Nation Israel eine herausragende Rolle besonders<br />
in der Endzeit zugesprochen wird. Diese Fachbegriffe werden in Kapitel 2 und 3<br />
noch ausführlicher erklärt.<br />
7
Einleitung<br />
Endzeitsicht – die Endzeitsicht der kommenden Generation Amerikas<br />
werden würde.<br />
Viele von uns dachten, die Jahrtausendwende und der Beginn<br />
eines neuen <strong>Millennium</strong>s würden die Christen dazu bringen, die<br />
landläufigen dispensationalistischen Glaubenssätze zu hinterfragen<br />
und sich kritisch mit dem Thema Endzeit zu beschäftigen. Der Erfolg<br />
der Buchserie Finale – die letzten Tage der Erde von Jerry B.<br />
Jenkins und Tim LaHaye zeigt jedoch, welch großen Einfluss und<br />
bleibende Wirkung die dispensationalistische Lehre hinterlassen<br />
hat. LaHaye und Jenkins haben nahtlos an Lindseys erstaunlichen<br />
Bucherfolg angeknüpft, wenn nicht sogar ihn übertroffen.<br />
Der Erfolg des Dispensationalismus hat dazu geführt, dass man<br />
sich kaum gefragt hat: Stimmen diese Bücher und die darin vermittelte<br />
dispensationalistische Theologie tatsächlich mit der Bibel<br />
überein und repräsentieren sie das, was die Schrift über Jesu Wiederkunft<br />
und das <strong>Millennium</strong> bzw. Tausendjährige Reich lehrt? Da<br />
ich mit dem Dispensationalismus aufgewachsen bin, kenne ich diese<br />
Autoren und ihre Leser als aufrichtige und hingegebene Christen.<br />
Doch nach einer schwierigen Reise vom Dispensationalismus<br />
zur Theologie der protestantischen Reformation glaube ich nun,<br />
dass der Dispensationalismus an vielen Stellen schwerwiegende<br />
Mängel hat. Mein Ziel mit diesem Buch ist es, einen bescheidenen<br />
Beitrag zum Aufdecken dieser Fehler zu liefern und einen meiner<br />
Ansicht nach biblischeren Weg zu zeigen, was die Bibel wirklich<br />
über Jesu Wiederkunft und das <strong>Millennium</strong> lehrt.<br />
Es ist schwierig, ein leicht verständliches Buch über ein so komplexes<br />
Thema zu schreiben. Eschatologie – die Lehre von den zukünftigen<br />
Dingen – ist in jeder Hinsicht komplex. Unter Christen<br />
gibt es sehr verschiedene Auffassungen darüber; Diskussionen über<br />
zukünftige Ereignisse tendieren naturgemäß zu Sensationsbegeisterung<br />
und Spekulation. Das habe ich bei vielen aktuellen Büchern<br />
leider feststellen müssen. Daher zunächst eine kurze Erklärung zu<br />
Art und Ziel dieses Buches.<br />
Meine Absicht ist es, das historische protestantische Verständnis<br />
des Tausendjährigen Reiches darzulegen. Diese Sichtweise wird gewöhnlich<br />
Amillennialismus genannt. Kernpunkt dieser Sicht ist die<br />
gegenwärtige Herrschaft Jesu Christi. Der Amillennialismus ba-<br />
8
Einleitung<br />
siert auf der Heilsgeschichte, also in dem geschichtlich fortlaufenden<br />
Handeln Gottes, wie es sich in der Bibel entfaltet und Gottes<br />
Plan der Errettung seines Volkes offenbart.<br />
Es wird manchmal eingewendet, der Amillennialismus leugne<br />
ein Tausendjähriges Reich in jeglichem Sinne, und auch der Ausdruck<br />
A-millennialismus kann in dieser Weise missverstanden werden.<br />
Doch das stimmt nicht. Amillennialisten glauben, dass das<br />
<strong>Millennium</strong> zwar nicht für die Zukunft zu erwarten ist (als eine<br />
Herrschaft Christi auf Erden), aber dass es in der Gegenwart real ist<br />
(als Christi Herrschaft im Himmel).<br />
Der Amillennialismus ist unter Endzeitfans zwar nicht besonders<br />
beliebt, aber ich glaube, dass diese Position der biblischen Prophetie<br />
am besten gerecht wird. Ich schreibe dieses Buch aus reformatorischer<br />
Sicht und gebe nicht vor, in der Frage nach dem<br />
Tausendjährigen Reich »neutral« zu sein. Dieses Buch wird aber das<br />
Thema Eschatologie nicht ausgiebig erschöpfen. Das ist schon an<br />
anderer Stelle getan worden. 2 Im vorliegenden Buch soll es lediglich<br />
darum gehen, die drei bekannten eschatologischen Sichtweisen<br />
über das Tausendjährige Reich zu beurteilen: Amillennialismus,<br />
Postmillennialismus und Prämillennialismus.<br />
Weil das Thema so kontrovers ist, müssen wir einige biblisch-theologische<br />
und historische Grundsatzfragen näher behandeln.<br />
Auf jüngere Debatten zum Thema Endzeit können wir aus<br />
Platzgründen nur kurz eingehen. 3 Der Übersicht halber gliedert<br />
sich dieses Buch in vier Teile, die jeweils einen speziellen Aspekt<br />
unseres Themas behandeln.<br />
Teil 1 erklärt die theologischen Fach- und Schlüsselbegriffe zur<br />
Zukunftslehre und <strong>Millennium</strong>sfrage und bietet eine Übersicht<br />
über die einzelnen Sichtweisen. Darüber hinaus gehe ich auf die<br />
2 Vgl.z. B. Anthony Hoekema, The Bible and the Future (Grand Rapids: Eerdmans,<br />
1982), Cornelis P. Venema, The Promise of the Future (Carlisle: Banner of Truth,<br />
2000).<br />
3 Wie z. B. in den Büchern, die mehrere Standpunkte nebeneinander präsentieren:<br />
Robert G. Clouse (Editor), The Meaning of the <strong>Millennium</strong>: Four Views (Downers<br />
Grove: InterVarsity, 1977; auf Deutsch erschienen unter dem Titel Das Tausendjährige<br />
Reich. Bedeutung und Wirklichkeit); Darrell L. Bock (Hrsg.), Three Views<br />
on the <strong>Millennium</strong> and Beyond (Grand Rapids: Zondervan, 1999)<br />
9
Einleitung<br />
Hermeneutik ein, auf die Lehre von der Schriftauslegung. Dabei<br />
geht es um die Frage: Wie wirken sich unsere theologischen<br />
Grund annahmen auf unser Verständnis des <strong>Millennium</strong>s aus?<br />
Teil 2 behandelt einige biblische und theologische Themen,<br />
deren Verständnis uns befähigt, die biblischen Aussagen über das<br />
<strong>Millennium</strong> richtig zu verstehen. Hier besprechen wir auch die alttestamentliche<br />
Endzeiterwartung und deren neutestamentliche Interpretation.<br />
In diesem Teil erkläre ich kurz den Gebrauch der Begriffe dieses<br />
Zeitalter, das kommende Zeitalter sowie die damit verbundenen<br />
Begriffe schon jetzt und noch nicht, und zeige auf, wie die einzelnen<br />
Schreiber des Neuen Testaments diese Begriffe gebrauchten.<br />
Dieses sogenannte »Zwei-Zeitalter-Modell« bildet das Grundmuster<br />
für die amillennialistische Auslegung biblischer Aussagen über<br />
die Zukunft. Dieses Modell hilft uns, die eschatologische Sprache<br />
des Neuen Testaments zu verstehen, insbesondere bei Schriftstellen<br />
über die Zukunft und das Tausendjährige Reich. Ich gehe auch<br />
auf das Reich Gottes ein, auf die Auferstehung Christi, die neue<br />
Schöpfung und die neutestamentliche Identifikation der Gemeinde<br />
als das »Israel Gottes«. Dieser Teil 2 schließt mit einem Diskurs<br />
über das Herzstück neutestamentlicher Eschatologie – die Wiederkunft<br />
unseres Herrn.<br />
Teil 3 behandelt biblische Schlüsselpassagen über das Tausendjährige<br />
Reich. Die Auslegung von Daniel 9,24-27 lenkt unsere Aufmerksamkeit<br />
auf den Kontext messianischer Prophetie und beantwortet<br />
die zentrale Frage: Lehrt Daniel eine zukünftige siebenjährige<br />
Trübsalszeit? Die Endzeitrede Jesu (Matthäus 24, Markus 13)<br />
beinhaltet Jesu Lehre über die Endzeit-Zeichen und den künftigen<br />
Verlauf der Heilsgeschichte. Das Kapitel über Römer 11 ringt mit der<br />
Frage: Hat das ethnische Israel in Gottes Zukunftsplan einen ganz<br />
speziellen Platz? Am Ende von Teil 3 wird der Schlüsseltext zum<br />
Tausendjährigen Reich – Offenbarung 20,1-10 – ausgelegt und damit<br />
zusammenhängende Themen besprochen: der Gebrauch von Symbolen<br />
in der Offenbarung, die Bindung Satans, die erste Auferstehung,<br />
der Aufstand der Nationen und die Wiederkunft Jesu Christi.<br />
Teil 4 bewertet die Hauptprobleme der verschiedenen Ansichten<br />
über das <strong>Millennium</strong>. Welchen biblischen und theologischen<br />
10
Einleitung<br />
Fragen müssen sich Prä-, Post- und Amillennialisten stellen? Was<br />
ist mit dem Bösen während des Tausendjährigen Reiches? Sagt die<br />
Bibel dem Volk Gottes ein »goldenes Zeitalter« voraus? Lehrt die<br />
Bibel, dass das Tausendjährige Reich wieder zu alttestamentlichen<br />
»Abbildern und Schatten« zurückkehrt, wie es der Dispensationalismus<br />
gewöhnlich behauptet? Lehrt die Bibel, dass Christus bereits<br />
im Jahr 70 n. Chr. zum Gericht über Israel, Jerusalem und den<br />
Tempel wiedergekehrt ist, wie es Präteristen behaupten? Was ist mit<br />
dem Vorwurf, dass der Amillennialismus die Bibel angeblich nicht<br />
wörtlich verstehe? Was ist mit der Zukunft des nationalen Israel?<br />
Unsere Endzeitansichten haben weitreichende lehrmäßige Folgen,<br />
die wir nicht außer Acht lassen dürfen.<br />
Eine letzte Bemerkung noch: Leider kommt es bei der Behandlung<br />
eschatologischer Fragen sehr oft zu sogenannten Argumenten<br />
ad hominem, also zu persönlichen Vorwürfen und Angriffen statt<br />
sachlichen Argumenten. Zum Beispiel werfen manche Dispensationalisten<br />
den Amillennialisten vor, antisemitisch zu sein oder<br />
behaupten, sie seien liberal oder vergeistlichten die Bibel, anstatt<br />
sie wörtlich zu nehmen. Amillennialisten dagegen machen dem<br />
Dispensationalismus oft den Vorwurf, buchstabengläubig und sensationslustig<br />
zu sein. Doch auch wenn wir unterschiedlicher Meinung<br />
sind, wollen wir solche Angriffe vermeiden und immer versuchen,<br />
diese Debatte mit Güte und Respekt zu führen.<br />
11
KAPITEL 15<br />
Die tausend Jahre<br />
in Offenbarung 20,1-10<br />
Die strittigen Fragen<br />
Offenbarung 20 ist der wichtigste Bibelabschnitt zum Tausendjährigen<br />
Reich und ist die einzige Stelle in der Bibel, wo der Ausdruck<br />
»tausend Jahre« in diesem Sinne vorkommt. Die Verfechter aller<br />
Ansichten (A-, Prä- und Postmillennialisten) haben ihre jeweils eigene<br />
Auslegung, ohne behaupten zu können, die uneingeschränkte<br />
Akzeptanz der christlichen Mehrheit zu haben. 1<br />
Entsprechend ihrer möglichst buchstäblichen Schriftauslegung<br />
besteht für Dispensationalisten der entscheidende Punkt darin,<br />
dass die Symbole und Zahlen von Offenbarung 20 »gemäß ihrer<br />
natürlichen Bedeutung verstanden werden müssen, solange der<br />
Kontext nicht klar auf ein anderes Verständnis hindeutet.« 2 Wenn<br />
der Apostel Johannes schreibt, dass Satan mit einer Kette gebunden<br />
wird, nehmen Dispensationalismus an, dass er eine echte Kette<br />
meint. Wenn Johannes sagt, dass der Teufel für tausend Jahre gebunden<br />
wird, dann glauben manche, Johannes meine buchstäbliche<br />
tausend Jahre und eine physische Bindung des Widersachers.<br />
Dispensationalisten befürchten, wenn diese Symbole nicht buchstäblich<br />
verstanden werden, dann könnten sie in jedem beliebigen<br />
Sinn gedeutet werden. Das wirft die Frage nach der literarischen<br />
Gattung auf: In welchem Stil ist das Buch verfasst und wie sollen<br />
wir die hochgradig symbolische Sprache apokalyptischer und prophetischer<br />
Literatur, wie sie beim Buch der Offenbarung vorliegt,<br />
1 Vgl. den hilfreichen Überblick in Beale, The Book of Revelation, S. 44ff.<br />
2 John F. Walvoord, The Revelation of Jesus Christ (Chicago: Moody Press, 1978),<br />
S. 30.<br />
273
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
verstehen? Wir müssen uns fragen: Beabsichtigte Johannes, dass<br />
diese Symbole buchstäblich verstanden werden?<br />
Für Prämillennialisten (also klassische und progressive<br />
Dispensationalisten sowie historische Prämillennialisten) besteht<br />
der wichtigste Punkt ihrer Auslegung darin, dass die in Offenbarung<br />
20 beschriebenen Ereignisse noch in der Zukunft liegen<br />
und erst nach der Wiederkunft Christi und der ersten Totenauferstehung<br />
eintreten werden. Für sie folgt Offenbarung 20 mit der<br />
tausendjährigen Herrschaft Christi sowohl logisch als auch chronologisch<br />
auf Offenbarung 19, wo die Wiederkunft Christi zum<br />
Gericht beschrieben wird. Da demnach Christi Wiederkunft der<br />
tausendjährigen Herrschaft vorausgeht, ist die prämillennialistische<br />
Auslegung von Offenbarung 20 die einzig biblische. Wenn<br />
das stimmt, dann ist das ein wichtiges Argument für den Prämillennialismus.<br />
3<br />
Postmillennialisten stimmen den Prämillennialisten darin zu,<br />
dass die Ereignisse in Offenbarung 19 denen von Kapitel 20 vorausgehen.<br />
Für manche Spielarten des Postmillennialismus, die<br />
einen Großteil der Offenbarung historisierend verstehen, ist die<br />
Apokalypse eine Art theologische Landkarte, die den zukünftigen<br />
Verlauf der ganzen Kirchengeschichte abbildet. Für viele Postmillennialisten<br />
symbolisiert Offenbarung 19,11-16, wo Jesus auf einem<br />
weißen Pferd zum Gericht geritten kommt, nicht die Wiederkunft<br />
Christi am Ende des Zeitalters, sondern den Siegeszug des Evangeliums<br />
während der gesamten Kirchengeschichte und das Mittel zur<br />
Christianisierung der ganzen Welt. 4 Sie begründen das mit Hebräer<br />
4,12, wo das Wort Gottes beschrieben wird als »lebendig und<br />
wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert«. Wenn es<br />
in Offenbarung 19,15 heißt, »aus seinem Mund geht ein scharfes<br />
Schwert hervor, damit er die Heidenvölker mit ihm schlage«, dann<br />
verstehen die Postmillennialisten dies im Licht von Hebräer 4,12.<br />
Demnach wäre Offenbarung 19,11-16 ein Bild für die Kirchengeschichte,<br />
das sich im Laufe der Zeit erfüllt, indem sich das Evan-<br />
3 Vgl. z. B. Ladd, Commentary on Revelation of John, S. 259-261.<br />
4 Grenz, The Millennial Maze, S. 65-89.<br />
274
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
gelium mit Macht ausbreitet. 5 Diese Auslegung unterscheidet sich<br />
zwar stark vom Prämillennialismus, stimmt mit ihm aber im chronologischen<br />
Verständnis von Offenbarung 19 und 20 überein. Diese<br />
Postmillennialisten sehen die Wiederkunft Christi erst in Offenbarung<br />
20,11ff. Amillennialisten widersprechen dieser Auslegung.<br />
Um diesen Auslegungsunterschied zu erklären, müssen wir die literarische<br />
Beziehung zwischen Offenbarung 19 und 20 untersuchen.<br />
Ein noch anderes Verständnis von Offenbarung 20 vertritt der<br />
Präterismus: Er sieht die Offenbarung als prophetische Beschreibung<br />
von Gottes Gericht über Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. Entscheidend<br />
für die Auffassung, dass sich der Großteil der Offenbarung<br />
bereits zu Lebzeiten der Apostel erfüllt hat, ist es, die Abfassung<br />
auf vor 70. n. Chr. zu datieren und »Babylon die Große«<br />
mit dem abgefallenen Israel zu identifizieren. 6 In scharfem Kontrast<br />
zum Dispensationalismus, der all das für die Zukunft erwartet,<br />
datiert der Präterismus die Erfüllung in der Zeit vor dem<br />
Fall Jerusalems. Das verheerende Gericht ist für Präteristen nicht<br />
das zukünftige zweite Kommen Christi, sondern der Tod und die<br />
Auferstehung seines ersten Kommens auf die Erde. Am Kreuz hat<br />
Christus Satan besiegt. Mit dem Kommen des Königreichs hat Jesus<br />
Christus daher Satan nach und nach gebunden, indem sich das<br />
Evangelium und die Gemeinde weltweit ausbreiten. Für postmillennialistische<br />
Präteristen wird sich dieser Prozess bis zur endgültigen<br />
Christianisierung der Welt fortsetzen. Offenbarung 20,7-10<br />
zufolge wird Satan dann unmittelbar vor dem Ende während einer<br />
kurzen Zeit des Abfalls freigelassen. 7<br />
Diese Sichtweise hat Parallelen zum Amillennialismus: Satan<br />
wird durch Jesu erstes Kommen gebunden, die »erste Auferstehung«<br />
ist nicht die allgemeine leibliche Auferstehung und Offenbarung<br />
20 beschreibt die Gegenwart. Amillennialisten verstehen jedoch<br />
im Allgemeinen »Babylon die Große« nicht als Israel und die<br />
Gerichtskatastrophen der Offenbarung nicht als die Geschehnisse<br />
5 Vgl. David Chilton, The Days of Vengeance (Ft. Worth: Dominion, 1987), S. 485;<br />
B. B. Warfield, »The <strong>Millennium</strong> and the Apocalypse«, in Biblical Doctrines<br />
(Grand Rapids: Baker, 1981), S. 647.<br />
6 Gentry, Before Jerusalem Fell.<br />
7 Chilton, Days of Vengeance, S. 493ff.<br />
275
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
von 70 n. Chr. Diese »über-realisierte« Eschatologie (im Gegensatz<br />
zur teil-realisierten Eschatologie des Amillennialismus) lässt weder<br />
Platz für die eschatologische Spannung des schon jetzt/noch nicht<br />
noch für das neutestamentliche Verständnis vom Reich Gottes, das<br />
sowohl gegenwärtig, als auch noch unvollendet ist. Der Präterismus<br />
löst diese Spannung auf, weil er alles auf die Jahre vor den Fall<br />
Jerusalems datiert.<br />
Wie sollen wir die Symbole der Offenbarung verstehen?<br />
Die Offenbarung ähnelt den Büchern Hesekiel, Daniel und<br />
Sacharja: Sie kombiniert verschiedene Literaturgattungen, um den<br />
Verlauf der Heilsgeschichte aus der Perspektive Gottes zu beschreiben.<br />
In gewissem Sinn ist die Offenbarung der neutestamentliche<br />
Kommentar zu jenen heilsgeschichtlichen Themen, die die alttestamentlichen<br />
Propheten offen gelassen haben und die jetzt im größeren<br />
Licht der nachmessianischen Offenbarung betrachtet werden.<br />
Johannes sagt uns an manchen Stellen, dass zum richtigen Verständnis<br />
»Weisheit nötig« ist (Offb 13,18; 17,9). Gott verheißt denen<br />
großen Segen, die »die Worte dieser Weissagung« lesen, »sie hören<br />
und bewahren, was darin geschrieben steht, denn die Zeit ist nahe«<br />
(1,3). Wenn schon der Autor selbst darauf aufmerksam macht, dass<br />
dieses Buch von Dingen handelt, die schon »bald« geschehen sollen,<br />
dann sollten wir extrem futuristischen Auslegungen gegenüber<br />
sehr skeptisch sein.<br />
Die Offenbarung enthält drei unterschiedliche literarische Elemente:<br />
apokalyptische und prophetische Elemente sowie die Sendschreiben<br />
(Briefe). 8 In gewissem Sinn ist die Offenbarung ein Brief<br />
des Apostels Johannes. Aber sie ist viel mehr als ein gewöhnlicher<br />
Brief. Die Definition der Gattung »apokalyptisch« ist schwierig,<br />
da es nicht nur ein spezielles Genre des alten Vorderen Orients ist,<br />
sondern von den biblischen Autoren oft im eschatologischen Sinne<br />
verwendet wird. Ein apokalyptischer Schreiber beschreibt mit<br />
Symbolen und Zahlen in bildlicher Sprache den Kampf zwischen<br />
8 Beale, Book of Revelation<br />
276
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
Gut und Böse, der dem Tumult der Völker und Weltreiche zugrunde<br />
liegt. Die apokalyptische Literatur stellt das gegenwärtige Zeitalter<br />
als böse und dem Untergang geweiht dar. Diese Welt steht im<br />
starken Kontrast zur zukünftigen Welt und der Erwartung, dass<br />
Gott in die menschliche Geschichte eingreifen wird, um sein Reich<br />
in Vollendung aufzurichten. 9<br />
Der Schlüssel zum Verständnis der Geschichtsdeutung eines<br />
Autors besteht darin, seine Symbolik zu verstehen. Johannes beabsichtigte<br />
nicht, dass man seine Symbole buchstäblich versteht. Zugegeben:<br />
Das mag für heutige westliche Menschen vergleichsweise<br />
schwierig sein, da die Symbole der Offenbarung von Judenchristen<br />
des 1. Jahrhunderts wahrscheinlich auf Anhieb verstanden wurden.<br />
Sie waren mit dem Alten Testament vertrauter als wir und wussten<br />
instinktiv, wo sie »die Weisheit« zu suchen hatten, die Johannes einforderte.<br />
Als moderne Menschen, denen die damalige Welt nicht<br />
vertraut ist, sollten wir uns davor hüten, apokalyptische Literatur<br />
ohne gebührende Beachtung des historischen Kontexts zu lesen.<br />
Wenn man die Heuschrecken aus Offenbarung 9,3 für eine vorneuzeitliche<br />
Beschreibung eines Hubschraubers vom Typ Bell UH-1B<br />
Huey hält, wie es ein populärer dispensationalistischer Autor tut, 10<br />
dann geht man mit dem Wort der Wahrheit sicherlich nicht richtig<br />
um. Wir sollten lieber einen Blick auf 2. Mose 10,1-20 und Joel 1,2-<br />
2,11 werfen, wenn wir Anhaltspunkte zur Auslegung der Heuschrecken<br />
in der Offenbarung suchen. In landwirtschaftlich geprägten<br />
Gesellschaften gab es nichts Zerstörerisches als Heuschrecken – sie<br />
vernichteten einfach alles. Der Leser des 1. Jahrhunderts wusste,<br />
dass Heuschrecken Gericht symbolisieren und verstand sie nicht als<br />
Bild für künftige technische Entwicklungen.<br />
Ein Prophet muss als Repräsentant Gottes verstanden werden.<br />
Wenn apokalyptische Autoren die Zukunft beschreiben, ist ihre<br />
Apokalyptik zugleich Prophetie. An dieser Stelle sollte es leicht erkennbar<br />
sein, wo die Linie zwischen Prophetie und Apokalyptik verschwimmt,<br />
besonders da diese beiden Literaturgattungen das ganze<br />
9 Carson, Moo, and Morris, Introduction to New Testament, S. 478.<br />
10 Hal Lindsey, There’s A New World Coming (Santa Ana: Vision House, 1973), S.<br />
138.<br />
277
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
Buch der Offenbarung durchziehen. 11 Da die Offenbarung apokalyptischer<br />
Natur, prophetischer Autorität und formell ein Brief ist,<br />
sind ihre Symbole nur vor dem Hintergrund des Alten Testaments<br />
verständlich. Manche Prämillennialisten meinen zwar, es sei besser,<br />
bei der <strong>Millennium</strong>sfrage gleich bei der Offenbarung anzufangen,<br />
doch da wir verstehen müssen, wie diese Symbole in ihrem historischen<br />
Kontext gemeint sind, dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass<br />
die Gedankenwelt des Verfassers dem Alten Testament entspringt. 12<br />
Obwohl beim Lesen der Offenbarung unser Verständnis im Alten<br />
Testament verankert sein sollte, hatte Johannes auch stets die<br />
militärische Macht, den kulturellen Einfluss und die politischen<br />
Machenschaften Roms vor Augen. Wir sollten die Offenbarung<br />
nicht so lesen, als wäre sie für Christen des 21. Jahrhunderts geschrieben,<br />
sondern müssen bedenken, was die Symbole und Zahlen<br />
für die ursprünglichen Leser bedeuteten. Deshalb schauen wir<br />
ins Alte Testament, um zu sehen, was diese Bilder dort bedeuten.<br />
Dann werden die Symbole eine konstante Bedeutung für Christen<br />
aller Zeiten haben. Sie weisen uns kontinuierlich auf Jesus Christus<br />
und sein Erlösungswerk hin.<br />
Wenn Dispensationalisten auf ein wörtliches Verständnis von<br />
Offenbarung 20 pochen, hat ihre Argumentation zweifellos einen<br />
gewissen Reiz, denn liberale Theologen haben oft die klare Lehre<br />
der Schrift durch eine eigenwillige, nichtwörtliche Hermeneutik verkannt.<br />
Alle bibeltreuen Christen nehmen den Text der Bibel ernst<br />
und sind zu Recht skeptisch gegenüber jenen, die das nicht tun. Es<br />
wird eingewendet, wenn wir die Symbole nicht wörtlich auslegen,<br />
dann könnten wir die Heilige Schrift wie eine Wachsfigur nach unserem<br />
Belieben verformen. Doch das wörtliche Verständnis eines Bibeltextes<br />
ist nicht so einfach, wie uns der Dispensationalismus glauben<br />
machen will, besonders in einem Buch wie der Offenbarung.<br />
Charles Ryrie fordert uns auf, jedem Wort die gleiche Bedeutung<br />
zu geben wie im normalen Sprachgebrauch, sei es mündlich,<br />
schriftlich oder gedanklich. 13 Vern Poythress hat aber darauf hin-<br />
11 Carson, Moo, and Morris, Introduction to New Testament, S. 478.<br />
12 R. Laird Harris, »Premillennialism« in David G. Hagopian (Hrsg.): Always Reformed<br />
(Phillipsburg, N.J.: Presbyterian and Reformed, in Vorbereitung).<br />
13 Ryrie, Dispensationalism Today, S. 86-87.<br />
278
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
gewiesen, dass nur »Wörter, nicht aber Sätze eine wörtliche oder<br />
normale Bedeutung haben. Außerdem ist für Wörter wie für Sätze<br />
gleichermaßen der Kontext höchst wichtig zur Bestimmung<br />
der Bedeutung einer beliebigen Stelle der Kommunikation.« 14 Der<br />
Kontext von Offenbarung 20 ist kein historischer, narrativer Bericht,<br />
sondern apokalyptische Prophetie. Sollen wir es etwa buchstäblich<br />
verstehen, wenn Johannes am Anfang des Kapitels sagt,<br />
dass er »einen Engel aus dem Himmel herabsteigen sah, der den<br />
Schlüssel des Abgrundes und eine große Kette in seiner Hand« hatte?<br />
Hält der Engel eine buchstäbliche Kette und einen buchstäblichen<br />
Schlüssel in der Hand? John Walvoord bleibt seinen dispensationalistischen<br />
Überzeugungen treu und sagt ja. 15 Wenn wir die<br />
Stelle jedoch genauer untersuchen, dann wecken zwei Dinge unsere<br />
Aufmerksamkeit: die literarische Gattung des Buches und der unmittelbare<br />
Kontext sprechen dafür, dass diese Vision voll solcher<br />
Symbole ist wie Kette, Abgrund, Drache und Schlange. Johannes<br />
mag diese Dinge in seiner Vision tatsächlich gesehen haben, doch<br />
sagt uns der Kontext, dass es Symbole für etwas anderes sind. 16<br />
Bei einem Buch wie der Offenbarung, das sich durch visionäre<br />
Symbolik auszeichnet, müssen wir vier Bedeutungsebenen beachten.<br />
Die erste Ebene ist die linguistische, d. h. was die Wörter und Sätze<br />
im hellenistischen Griechisch bedeuten. Die zweite Ebene ist die<br />
visionäre: die Vision, die Johannes mittels Sprache darstellt und beschreibt.<br />
Die dritte Ebene ist die Bezugsebene: die Personen, Mächte<br />
oder historischen Ereignisse, auf die sich die Bilder, die Johannes sah,<br />
beziehen oder auf die sie verweisen. Die vierte Ebene ist die symbolische:<br />
was die visionäre Bedeutungsebene, was die Bilder, die Johannes<br />
in seinen Visionen sah, über die Bezugsebene über die symbolisierten<br />
Personen, Mächte oder Ereignisse offenbaren. 17 Doch im Grunde ist<br />
14 Vern S. Poythress, Understanding Dispensationalists (Grand Rapids: Zondervan,<br />
1987), S. 79.<br />
15 Walvoord, Revelation of Jesus Christ, S. 291.<br />
16 Beale, Book of Revelation, S. 973-974.<br />
17 Vern S. Poythress, »Genre and Hermeneutics in Rev 20,1-6«, Journal of the Evangelical<br />
Theological Society 36 (März 1993), S. 46; hier zusammengefasst nach Dennis<br />
E. Johnson: Der Triumph des Lammes. Ein Kommentar zur Offenbarung (Oerlinghausen:<br />
Betanien Verlag 2014), S. 24.<br />
279
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
es der Kontext selbst, nicht die Laune moderner Ausleger, der uns zu<br />
der Überzeugung bringt: Was der Engel in der Vision offenbart, symbolisiert<br />
etwas, was über den historischen Bezug hinausgeht.<br />
Manche sagen, das Problem der Dispensationalisten sei, dass sie<br />
von der sprachlichen Ebene sofort zur Bezugsebene wechseln, ohne<br />
die visionäre oder die symbolische Ebene zu berücksichtigen. 18<br />
Das ist besonders bei Offenbarung 20 problematisch, wo Literaturgattung<br />
und unmittelbarer Kontext erfordern, dass neben sprachlicher<br />
Bedeutung und der Bezugsebene auch die visionäre und die<br />
symbolische Bedeutung beachtet wird. Wenn Johannes hier zwei<br />
Mal sagt, »ich sah« (eidon), womit er in der Offenbarung stets auf<br />
symbolische Visionen hinweist (Offb 4,1; 10,1-3; 13,1-3; 14,1; 17,1-3),<br />
dann müssen wir einsehen, dass diese Vision nicht auf die sprachliche<br />
Ebene und die Bezugsebene reduziert werden kann. 19 Das Bild<br />
eines Engels mit einer Kette und einem Schlüssel verweist auf etwas<br />
anderes über die Bezugsebene hinaus, auf andere biblisch-theologische<br />
Themen an anderer Stelle der Heiligen Schrift.<br />
Den Dispensationalisten ist es hoch anzuerkennen, dass sie die<br />
Inspiration und die Autorität der Bibel verteidigen. Ironischerweise<br />
wird ihnen das Verkennen einer symbolischen Kommunikationsebene<br />
in Offenbarung 20 zum Verhängnis, sodass sie den Abschnitt<br />
letztlich nicht so verstehen, wie der Autor ihn gemeint hast. Sie haben<br />
dem Bibeltext einen literalistischen Sinn aufgezwungen, d. h.<br />
allein die linguistische und Bezugsebene beachtet, obwohl diese<br />
Schriftstelle eine Vision mit hochgradig symbolischer Bedeutung<br />
ist. Dennoch sollten wir die Warnung vor willkürlicher »Wachsfigur-Auslegung«<br />
ernstnehmen. Wenn wir das beachten, gelangen<br />
wir zur einzig maßgeblichen und autoritativen Quelle, um diese<br />
Symbole zu deuten: zur übrigen Heiligen Schrift, insbesondere<br />
zum Alten Testament, das von der Offenbarung ausgelegt wird.<br />
Deshalb pochen reformatorische Christen nicht wie die Dispensationalisten<br />
auf eine buchstäbliche Auslegung, sondern auf das Prinzip<br />
der »Analogie des Glaubens«: Die Schrift legt die Schrift aus.<br />
18 Poythress, »Genre and Hermeneutics«, S. 46. Vgl. die dispensationalistische Antwort<br />
von Thomas D. Ice, »Dispensational Hermeneutics« in Willis and Master<br />
(Hrsg.): Issues in Dispensationalism, S. 29-49.<br />
19 Beale, Book of Revelation, S. 973-974.<br />
280
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
Rekapitulation –<br />
Das Verhältnis von Offenbarung 19 zu 20<br />
Es ist nicht nur problematisch, die Symbole in der apokalyptischen<br />
Literatur wörtlich zu verstehen, sondern auch, das Buch der Offenbarung<br />
strikt chronologisch aufzufassen. Eine historische Erzählung<br />
liest man vom Anfang bis zum Ende. Die darin beschriebenen<br />
Ereignisse sind mehr oder weniger chronologisch, also in zeitlicher<br />
Reihenfolge angeordnet. Doch in der apokalyptischen Literatur<br />
ist das anders. Die Offenbarung enthält eine Reihe von Visionen,<br />
die wie verschiedene Kameras mit unterschiedlichen Blickwinkeln<br />
fungieren. Deshalb entspricht die Reihenfolge, mit der Johannes<br />
von diesen Visionen berichtet, nicht unbedingt der Abfolge der<br />
historischen Ereignisse, die sie symbolisieren. 20 Stattdessen liefern<br />
manche Visionen eine Rekapitulation eines bereits in einer vorherigen<br />
Vision geschilderten Geschehens oder Musters, nur anders<br />
dargestellt oder ausgedrückt. 21 Einfacher gesagt: Die Visionen sind<br />
nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet. Auch wenn sich<br />
die Spirale des Gerichts mit dem Herannahen der Wiederkunft<br />
unseres Herrn immer enger zusammenzieht, kann sich Kapitel 20<br />
schon zur gleichen Zeit in der Geschichte erfüllt haben wie andere,<br />
vorhergehende Visionen. Daher muss Kapitel 20 nicht unbedingt<br />
Ereignisse beschreiben, die zeitlich nach den Ereignissen von Kapitel<br />
19 eintreten, sondern Kapitel 20 kann eine zeitliche Parallele<br />
bzw. Rekapitulation von Kapitel 19 sein. 22<br />
Dass die Offenbarung eine Reihe aufeinander folgender Visionen<br />
umfasst, die jeweils den Verlauf des gegenwärtigen Zeitalters<br />
aus einer anderen Perspektive darstellen (rekapitulieren), sollte uns<br />
20 Der Vergleich mit der unterschiedlichen Kameraperspektive wird immer wieder<br />
von Dennis E. Johnson in seinem herausragenden Kommentar zur Offenbarung<br />
Der Triumph des Lammes (Oerlinghausen, Betanien Verlag 2014) aufgezeigt und<br />
auf S. 62-65 grundsätzlich erklärt.<br />
21 R. Fowler White, »Reexamining the Evidence for Recapitulation in Rev 20:1-10«,<br />
Westminster Theological Journal 51 (Herbst 1989), S. 319.<br />
22 Für eine Untersuchung zur Struktur des Buches und der verschiedenen Arten,<br />
in welchen die Visionen aufeinander Bezug nehmen, vgl. William Hendriksen,<br />
M or e Than Conquerors (Grand Rapids: Baker, 1982), S. 16-23; Johnson, Der Triumph<br />
des Lammes, S. 41-68; und Beale, Book of Revelation, S. 108-151.<br />
281
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
eine Warnung sein. Wir dürfen die Offenbarung nicht mit der Annahme<br />
lesen, weil etwas in einem früheren Kapitel steht, müsse es<br />
sich auch in der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt ereignen<br />
als Ereignisse, die in späteren Kapiteln beschrieben werden.<br />
Doch das klingt alles so theoretisch. Gibt es überzeugende Hinweise<br />
für diese Ansicht? William Hendriksen schreibt: »Ein sorgfältiges<br />
Studium von Offenbarung 20 zeigt, dass dieses Kapitel eine<br />
Ära beschreibt, die synchron zu Kapitel 12 verläuft.« 23 Das kann<br />
leicht überprüft werden, wenn man Offenbarung 12,7-11 mit 20,1-6<br />
vergleicht. 24<br />
Die offensichtliche Parallele zwischen Kapitel 12 und 20 ist<br />
aus mehreren Gründen wichtig. Erstens bedeutet das, dass beide<br />
Kapitel von der gegenwärtigen Zeit sprechen. Sie sind zwar nicht<br />
identisch, aber »sie beschreiben die gleichen Ereignisse und interpretieren<br />
sich gegenseitig.« 25 Wenn das stimmt, dann ist das ein<br />
schwerer Schlag gegen den Prämillennialismus, der die in Kapitel<br />
20 beschriebenen Ereignisse zeitlich nach der Wiederkunft Jesu<br />
Christi (Kap. 19) einordnet. Wenn Johannes mit dieser Reihe von<br />
Visionen das gegenwärtige Zeitalter aus verschiedenen Blickwinkeln<br />
beschreibt und wenn Kapitel 12 und 20 die gleichen Ereignisse<br />
aus unterschiedlicher Perspektive skizzieren, dann sind die tausend<br />
Jahre aus Offenbarung 20 eine Beschreibung des gegenwärtigen<br />
Zeitalters und kein zukünftiges irdisches <strong>Millennium</strong>.<br />
Das Hauptargument der Prämillennialisten besagt, es gäbe<br />
keine solche Rekapitulation. Nach George Ladd »ist kein solcher<br />
Hinweis [auf Rekapitulation] zu finden. Im Gegenteil scheinen die<br />
Kapitel 18-20 eine Reihe zusammenhängender Visionen zu präsentieren.<br />
Kapitel 18 berichtet von der Zerstörung Babylons, Kapitel<br />
19 von der Vernichtung des Tieres und des falschen Propheten und<br />
Kapitel 20 fährt fort und berichtet von der Zerschlagung Satans<br />
selbst.« 26 Ich bitte den Leser einfach, Ladds Behauptung im Licht<br />
der in der Tabelle aufgezeigten Parallelen zwischen Offenbarung 12<br />
und 20 zu prüfen.<br />
23 Hendriksen, More Than Conquerors, S. 21.<br />
24 Beale, Book of Revelation, S. 992.<br />
25 Ebd.<br />
26 Ladd, Commentary on Revelation, S. 261.<br />
282
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
Offenbarung 12,7-11 Offenbarung 20,1-6<br />
1.) Perspektive: im Himmel (V. 7) 1.) Perspektive: aus dem Himmel<br />
(V. 1)<br />
2.) Schlacht der Engel gegen Satan<br />
und dessen Heer (V. 7-8)<br />
2.) Schlacht der Engel gegen<br />
Satan wird vorausgesetzt (V. 2)<br />
3.) Satan wird auf die Erde geworfen<br />
(V. 9)<br />
4.) Satans Bezeichnung: »der große<br />
Drache … die alte Schlage,<br />
genannt der Teufel und der<br />
Satan, der den ganzen Erdkreis<br />
verführt« (V. 9)<br />
5.) Satan »hat … großen Zorn, da er<br />
weiß, dass er nur wenig Zeit hat«<br />
(V. 12)<br />
6.) Satans Fall führt zur Herrschaft<br />
Christi und seiner Heiligen (V. 10)<br />
7.) Die Königsherrschaft der Heiligen<br />
beruht nicht nur auf dem Fall<br />
Satans und dem Sieg Christi,<br />
sondern auch auf der Treue<br />
der Heiligen, die »das Wort<br />
ihres Zeugnisses« bis zum Tod<br />
festgehalten haben (V. 11)<br />
3.) Satan wird in den Abgrund<br />
geworfen (V. 3)<br />
4.) Satans Bezeichnung:<br />
»Drachen, die alte Schlange,<br />
die der Teufel und der Satan<br />
ist«; er wird daran gehindert,<br />
weiterhin »die Völker zu<br />
verführen« (V. 2-3), aber später<br />
noch einmal freigelassen,<br />
um »die Heidenvölker zu<br />
verführen, die an den vier<br />
Enden der Erde leben« (V.<br />
3.7-8)<br />
5.) Satan wird nach seiner<br />
Gefangenschaft »für kurze<br />
Zeit losgelassen« (V. 3)<br />
6.) Satans Fall führt zur Herrschaft<br />
Christi und seiner Heiligen<br />
(V. 10)<br />
7.) Die Königsherrschaft der<br />
Heiligen beruht nicht nur auf<br />
dem Fall Satans, sondern auch<br />
auf ihrer Treue bis zum Tod<br />
»um des Zeugnisses Jesu und<br />
um des Wortes Gottes willen«<br />
(V. 4)<br />
Dieser Punkt ist für Prämillennialisten dermaßen wichtig, dass<br />
sie sich gegenüber den Herausforderungen der Amillennialisten geradezu<br />
verschanzen. Stanley Grenz stimmt der Einschätzung Ladds<br />
zwar zu, verlagert die Frontlinie allerdings zur Beziehung zwischen<br />
Kapitel 19 und 20: »Ungeachtet der Parallelen, die amillennialisti-<br />
283
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
sche Ausleger vorgeschlagen haben, ist der Bruch zwischen Kapitel<br />
19 und 20, den dieses eschatologische System verlangt, hochproblematisch.<br />
Ein solcher Bruch scheint durch den Text nicht gerechtfertigt.«<br />
27 Craig Blaising argumentiert ähnlich: »Die Visionen<br />
in 19,11 – 21,8 sind als zusammenhängende Abfolge strukturiert.<br />
Es gibt keinen strukturellen Hinweis auf einen Bruch innerhalb<br />
der Abfolge, der Zustände aus Zeiten vor der Parusie rekapitulieren<br />
würde.« 28 Wenn die Prämillennialisten Recht haben, dann schildert<br />
Offenbarung 19,11-21 eine große Schlacht bei der Wiederkunft<br />
Jesu Christi, auf die eine tausendjährige Friedenszeit folgt (Offb<br />
20,1-6), die ihrerseits wieder mit einer großen Schlacht endet, die<br />
im Jüngsten Gericht gipfelt. Doch das entlarvt eine der größten<br />
Schwächen des Prämillennialismus: die Existenz des Bösen unter<br />
den Erlösten während des <strong>Millennium</strong>s, was letztlich zur finalen<br />
eschatologischen Schlacht führt.<br />
Tatsächlich gibt es eine Reihe von Gründen, anzunehmen, dass<br />
die in Offenbarung 19,11-21 bzw. 20,7-10 beschriebenen Schlachten<br />
ein und dasselbe Ereignis beschreiben, nur aus verschiedenen<br />
heilsgeschichtlichen Perspektiven. Die Schlacht in Kapitel 20 ist<br />
eine Wiederholung der Schlacht von Kapitel 19, und keine andere<br />
Schlacht tausend Jahre später. Es sind zwei Bilder ein- und desselben<br />
Kampfes. Wenn das überzeugend gezeigt werden kann,<br />
kommt man damit dem Amillennialismus als biblisches Verständnis<br />
der »tausend Jahre« ein bedeutendes Stück näher.<br />
Zwei Hauptargumente sprechen für eine Rekapitulation bei Offenbarung<br />
19,11-21 und 20,7-10. 29 Das erste Argument betrifft ein<br />
27 Grenz, The Millennial Maze, S. 170.<br />
28 Blaising, »Premillennialism«, S. 215.<br />
29 White, »Reexamining Evidence for Recapitulation«, S. 319-344. Vgl. Beale, Book<br />
of Revelation, S. 974-983. White führt drei Argumentationslinien an, darunter<br />
das Motiv des herabsteigenden Engels, was für ihn ein Beleg, wenn nicht sogar<br />
Beweis ist (S. 336). Prämillennialistische Antworten auf Whites Essay finden<br />
sich bei Harold W. Hoehner: »Evidence from Revelation 20«, in Campbell and<br />
Townsend (Hrsg.), Case for Premillennialism, S. 235-262; Blaising, »Premillennialism«,<br />
S. 212-221. Whites Antwort darauf findet sich wiederum in R. Fowler<br />
White, »Making Sense of Revelation 20,1-10? Harold Hoehner Versus Recapitulation«,<br />
Journal of the Evangelical Theological Society 37, Nr. 4 (Dezember 1994), S.<br />
539-551.<br />
284
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
Auslegungsproblem mit dem Gericht über die Nationen, das Johannes<br />
in 19,15 und 20,3 erwähnt. Das zweite Argument betrifft die<br />
Ähnlichkeit der beiden großen Schlachten.<br />
Schauen wir uns zunächst das erste Argument an. In Offenbarung<br />
19,14-15 lesen wir: »Und die Heere im Himmel folgten ihm<br />
nach auf weißen Pferden, und sie waren bekleidet mit weißer und<br />
reiner Leinwand. Und aus seinem Mund geht ein scharfes Schwert<br />
hervor, damit er die Nationen mit ihm schlage, und er wird sie<br />
mit eisernem Stab weiden.« Das bezieht sich klar auf das Gericht<br />
über die Nationen bei der Wiederkunft unseres Herrn. Aber in Offenbarung<br />
20,1-3 heißt es, dass Satan ausdrücklich zu dem Zweck<br />
gebunden wird, die Völker nicht weiter verführen zu können. Von<br />
welchen Völkern ist hier die Rede? Nach prämillennialistischer<br />
Auslegung sind diese Völker gerade bei der Wiederkunft Christi<br />
gerichtet worden. Was bleibt von diesen Völkern übrig, um vor der<br />
Verführung Satans beschützt werden zu müssen?<br />
Wie weitreichend dieses Problem für die Verfechter einer zeitlichen<br />
Abfolge von Offenbarung 19 und 20 ist, wird deutlich, wenn<br />
wir die Rolle der Völker in der Offenbarung untersuchen. In Kapitel<br />
13 lesen wir, dass der Drache dem Tier seine Macht verleiht (V. 2),<br />
um jeden Stamm, jedes Volk, jede Sprache und jede Nation zu beherrschen<br />
(V. 7). Das Resultat dieser satanischen Vormachtstellung<br />
des Tieres ist, dass »alle, die auf der Erde wohnen, es anbeten werden«<br />
(V. 8), weil sie von den falschen Zeichen und Wundern verführt<br />
werden, die der falsche Prophet ihnen vorführen wird. In Kapitel<br />
16,13-16 heißt es, dass die Könige der ganzen Erde »versammelt<br />
werden zur der Schlacht« von Harmagedon »an jenem großen Tag<br />
Gottes, des Allmächtigen« (V. 14). An diesem Tag, so berichtet Johannes,<br />
kommt Jesus wie ein Dieb zurück – zum Gericht (V. 15). 30<br />
30 Meredith Kline hat argumentiert, Harmagedon sollte nicht mit der Ebene von<br />
Meggido verwechselt werden, sondern beziehe sich auf den Berg der Versammlung.<br />
Die Schlacht von Offenbarung 16,16 findet am Ende des gegenwärtigen<br />
Zeitalters statt und ist identisch mit der Schlacht von Offenbarung 20,7-10. Kline<br />
zufolge ist Offenbarung 16,16 ein Bild des Gog-und-Magog-Antichrists aus Hesekiel<br />
38-39, der die Heiligen kurz vor dem Ende vernichten will. Vgl. Meredith<br />
G. Kline. »Har Magedon: The End of the <strong>Millennium</strong>«, Journal of the Evangelical<br />
Theological Society 39, Nr. 2 (Juni 1996), S. 207-222.<br />
285
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
Die Identität dieser Völker wird in Offenbarung 19,19 klar: »Und<br />
ich sah das Tier und die Könige der Erde und ihre Heere versammelt,<br />
um Krieg zu führen mit dem, der auf dem Pferd sitzt, und mit seinem<br />
Heer.« Sie sind jene, »die das Malzeichen des Tieres annahmen<br />
und sein Bild anbeteten« (Offb 19,20) – eben die Nationen. Zu dieser<br />
Zeit werden das Tier und der falsche Prophet gefangen und »lebendig<br />
in den Feuersee geworfen, der mit Schwefel brennt« (V. 20). Dann<br />
»werden die übrigen getötet mit dem Schwert dessen, der auf dem<br />
Pferd sitzt, das aus seinem Mund hervorgeht, und alle Vögel sättigten<br />
sich von ihrem Fleisch« (V. 21). Offenbarung 13, 16 und 19 reden klar<br />
von ein und demselben Gericht. Das ist ein weiterer starker Hinweis<br />
auf das Prinzip der Rekapitulation in der Offenbarung. In Kapitel 16<br />
und 19 wird das Gericht beschrieben, und das findet statt, wenn Jesus<br />
Christus zum Zorn wiederkommt, um die Nationen zu richten, die<br />
Toten aufzuerwecken und alle Dinge neu zu machen.<br />
Das Problem, das sich daraus für den Prämillennialismus ergibt,<br />
ist zwar schwerwiegend, wird aber von prämillennialistischen<br />
Auslegern gern übersehen. 31 Wenn Christus bei seiner Wiederkunft<br />
(Offb 19,11-21) die Nationen richten wird, wie ist dann die Erwähnung<br />
der Nationen in Kapitel 20,1-3 zu verstehen? R. Fowler White<br />
sieht das Problem des Prämillennialismus darin, dass es einfach<br />
»keinen Sinn ergibt, in Offenbarung 20,1-3 von einem Schutz vor<br />
der satanischen Verführung der Nationen zu sprechen, nachdem sie<br />
zuvor von Satan verführt (16,13-16) und dann von Christus ins Verderben<br />
geschickt worden sind (19,11-21).« 32 Im Licht der breiteren<br />
Eschatologie des Neuen Testamens ist die wahrscheinlichste Erklärung<br />
die, dass Offenbarung 19,11-21 vom selben Ereignis spricht wie<br />
20,7-10. Der prämillennialistische Versuch, die Nationen in Kapitel<br />
20,7-10 als Überlebende der großen Schlacht von Kapitel 19,11-21 zu<br />
sehen, wirkt bestenfalls konstruiert. 33<br />
31 George Ladd z. B. erwähnt diese Schwierigkeit gar nicht; Ladd, Commentary on<br />
Revelation, S. 255-256. Johnson schreibt: »Hier wird die eschatologische Wiederkunft<br />
Christi zum Gericht über die Nationen beschrieben und nicht das gesamte<br />
Zeitalter.« Alan Johnson, Revelation, The Expositor’s Bible Commentary Bd. 12;<br />
Hrsg.: Frank Gaebelein (Grand Rapids: Zondervan, 1981), S. 575.<br />
32 White, »Reexamining Evidence for Recapitulation«, S. 321.<br />
33 R. H. Mounce, The Book of Revelation (Grand Rapids: Eerdmans, 1977), S. 353.<br />
286
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
Gottes Verhinderung satanischer Verführung der Nationen<br />
(Offb 20,1-3) ermöglicht im gegenwärtigen Zeitalter die Verbreitung<br />
des Evangeliums und ist kein Hinweis auf ein zukünftiges<br />
<strong>Millennium</strong>. Es ist die Zeit des Evangeliums; Satan ist gebunden<br />
und das Evangelium wird bis an die Enden der Erde getragen, bis<br />
die »tausend Jahre« vorüber sind (Apg 17,30-31; Eph 3,4-6). Erst<br />
dann wird Satan freigelassen, so dass er die Nationen verführen<br />
kann und sie gegen die Gemeinde Christi aufbringen wird. Das ist<br />
der Gipfel aller Rebellion und führt zum Jüngsten Gericht.<br />
Das zweite Hauptargument für eine Rekapitulation von Kapitel<br />
19,11-21 in 20,7-10 betrifft die Ähnlichkeiten zwischen den beiden<br />
Schlachten, die Johannes beschreibt. Ein Grund für diese Ähnlichkeit<br />
hat zweifellos damit zu tun, dass Johannes an beiden Stellen<br />
große Anleihen bei Hesekiel 38 und 39 macht, wo die eschatologische<br />
Niederlage des mysteriösen »Gog von Magog« beschrieben<br />
wird. 34 In Hesekiel 39,17-20 schildert der Prophet ein grauenvolles<br />
Ereignis: Wilde Tiere und Vögel werden versammelt, um sich an<br />
Gottes vernichtetem Feind zu laben, an Gog, dem Fürsten von Mesech<br />
und Tubal. Die Vögel und Tiere werden »Fleisch von Helden<br />
essen und das Blut der Fürsten der Erde trinken … Sättigt euch<br />
an meinem Tisch von Pferden und Reitern, von Helden und allen<br />
Kriegsleuten! spricht Gott, der Herr« (Hes 39,18-20).<br />
In Offenbarung 19,17-18 beschreibt Johannes folgende Szene:<br />
»Und ich sah einen Engel in der Sonne stehen; und er rief mit lauter<br />
Stimme und sprach zu allen Vögeln, die inmitten des Himmels<br />
fliegen: Kommt und versammelt euch zu dem Mahl des großen<br />
Gottes, um das Fleisch der Könige zu verzehren und das Fleisch<br />
der Heerführer und das Fleisch der Starken und das Fleisch der<br />
Pferde und derer, die darauf sitzen, und das Fleisch aller, der Freien<br />
und der Knechte, sowohl der Kleinen als auch der Großen.« Die<br />
Parallelen zu Hesekiel sind offenkundig. Vögel und Tiere werden<br />
zu einem Festmahl an Gottes Feinden versammelt – der göttliche<br />
34 Populäre dispensationalistische Autoren sehen in dieser Prophezeiung oft die<br />
Vorhersage einer russisch-arabischen Invasion, die Israel während der Trübsalszeit<br />
treffen soll. Zur Entwicklungsgeschichte der dispensationalistischen Sicht<br />
der Rolle Russlands im Endzeitgeschehen vgl. Paul Boyer, When Time Shall Be<br />
No More (Cambridge, England: Belknap, 1992), S. 152-180.<br />
287
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
Krieger hat sie zerschlagen. Die Vision von Johannes endet in Vers<br />
21 mit der einfachen Erklärung: Nachdem Gottes Gericht über<br />
das Tier und den falschen Propheten hereingebrochen ist und »die<br />
Übrigen« (der Nationen) getötet worden sind, »sättigten sich alle<br />
Vögel an ihrem Fleisch«. Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Es<br />
kann kaum Zweifel daran geben, dass die Prophezeiung von Hesekiel<br />
38-39 mit der Wiederkunft des Herrn in Offenbarung 19,11-21<br />
erfüllt wird. 35<br />
Doch in Offenbarung 20,7-10 werden am Ende der tausend Jahre<br />
bei der Rebellion der Nationen gegen Gottes Stadt und Volk<br />
die Rebellen ebenfalls als »Gog und Magog« bezeichnet. Zudem<br />
werden sie in so großer Zahl versammelt, dass Johannes sagt, ihre<br />
Zahl sei »wie der Sand des Meeres«. 36 Dies ist ein Hinweis darauf,<br />
dass die beiden Visionen in 19,11-21 und 20,7-10 ein und dieselbe<br />
Schlacht meinen. Damit ist das Problem des erneuten Sündenfalls<br />
der Menschheit während des Tausendjährigen Reiches, den der<br />
Prämillennialismus annehmen muss, gelöst. Dieses Mal erfahren<br />
wir, dass bei Gottes Feuergericht über die rebellischen Nationen<br />
auch der Teufel selbst in den Feuersee geworfen wird, so wie das<br />
Tier und der falsche Prophet. Johannes trennt aber nicht das Gericht<br />
über das Tier und den falschen Propheten vom Gericht über<br />
den Teufel durch eine tausendjährige Herrschaft nach der Wiederkunft<br />
Christi. Vielmehr liefert er uns zwei verschiedene Perspektiven<br />
ein und desselben Geschehens. Sowohl in Kapitel 19,20 wie<br />
auch in 20,9-10 verzehrt das Feuer des Gerichtes Gottes Feinde. Die<br />
eine Vision beschreibt das Gericht über die Nationen, das Tier und<br />
den falschen Propheten. Die andere beschreibt das Gericht über die<br />
Nationen und den Satan. An beiden Stellen heißt es, dass die Feinde<br />
Gottes durch brennenden Schwefel im Feuersee den endgültigen<br />
und ewigen Zorn Gottes zu spüren bekommen. White kommt zu<br />
dem Schluss: »Hätte Johannes gewollt, dass wir die Revolten in Kapitel<br />
19 und 20 als verschiedene Episoden der Geschichte verstehen,<br />
dann können wir wohl kaum von ihm erwarten, dass er beide mit<br />
35 White, »Reexamining Evidence for Recapitulation«, S. 326-327.<br />
36 Kline meint, es handele sich um die Stadt Har Magedon und verbindet die Prophezeiungen<br />
in Offenbarung 16,14-16; 19,11-21 und 20,7-10 mit dem Gog und Magog<br />
aus Hesekiel 38-39. Vgl. Kline, »Har Magedon«, S. 220.<br />
288
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
denselben Begriffen und Bildern einer einzigen Episode aus Hesekiel<br />
beschreibt.« 37<br />
Diese beiden schlagkräftigen Argumente verdeutlichen, dass die<br />
Schlacht von Kapitel 19,11-21 dieselbe ist wie in 20,7-10.<br />
Doch es gibt noch ein weiteres Argument für die Rekapitulation<br />
in der Offenbarung. In Kapitel 15,1.8 lesen wir von sieben Plagen,<br />
die den Zorn Gottes auf der Erde »vollenden« (etelesthe) werden. 38<br />
Bei der sechsten Zornschale versammeln der Drache, das Tier und<br />
der falsche Prophet die Könige der Erde zur finalen Schlacht (Offb<br />
16,12-14). Das ist natürlich genau das, was in Kapitel 19,19 beschrieben<br />
wird, wo das Tier die »Könige der Erde versammelt, um Krieg<br />
zu führen«. Bei der siebten Zornschale (Offb 16,17-21) hören wir einen<br />
Engel rufen: »Es ist geschehen!« Gottes Zorn ist vollendet. Ein<br />
starkes Erdbeben, das die große Stadt in drei Teile spaltet und die<br />
Städte der Völker zerstört, ist das Resultat. »Und jede Insel entfloh,<br />
und es waren keine Berge mehr zu finden« (16,19-20). Das geschieht<br />
zur gleichen Zeit wie die Niederlage der Völker in Kapitel 19,15. Was<br />
also in Kapitel 16 aus kosmischer Perspektive beschrieben wird, ist<br />
das Mittel, wodurch dieses Gericht vollzogen wird: Das große Erdbeben<br />
wirbelt die natürliche Ordnung der Welt durcheinander. Der<br />
Punkt ist einfach der: Wenn Kapitel 19,19-21 und 20,7-10 zwei weitere,<br />
verschiedene Schlachten beschreiben, die tausend Jahre auseinander<br />
liegen, warum hat dann die siebte Zornschale Gottes Zorn<br />
gegen seine Feinde nicht vollendet? Das ist ein weiteres Problem für<br />
den Prämillennialismus, der behauptet, dass Gottes Zorn am Ende<br />
eines zukünftigen <strong>Millennium</strong>s sich erneut gegen seine Feinde<br />
ergießen werde. Hinzu kommt, dass dem Prämillennialismus zufolge<br />
der Aufstand von Offenbarung 20,7-10 auch Erlöste auf einer<br />
teilweise erlösten Erde umfasst. Das vergrößert das Problem noch<br />
weiter. Es ergibt viel mehr Sinn, wenn man diese Visionen allesamt<br />
als Beschreibung des gegenwärtigen Zeitalters versteht, das damit<br />
enden wird, dass sich Gottes Zorn über seine Feinde ergießt.<br />
37 White, »Reexamining Evidence for Recapitulation«, S. 327.<br />
38 Die Zornschalengerichte »vervollständigen die Schilderung des göttlichen Zorns<br />
der Siegel- und Posaunengerichte. Aufgrund dieser umfassenderen Präsentation<br />
des Zorngerichts durch die Schalen kann gesagt werden, dass Gottes Zorn vollkommen<br />
zum Ausdruck gekommen ist.« Beale, Book of Revelation, S. 788.<br />
289
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
Die Auslegung von Offenbarung 20,1-10<br />
Wegen der einzigartigen literarischen Gattung der Offenbarung<br />
und ihrer vielfältigen apokalyptischen Symbolik muss Kapitel 20<br />
stets im Licht der breiteren Eschatologie des Neuen Testaments ausgelegt<br />
werden. Einige Faktoren, die wir bereits untersucht haben,<br />
dienen als Hintergrund für die richtige Auslegung dieser Schriftstelle.<br />
Aufgrund unserer Untersuchung der zwei eschatologischen<br />
Zeitalter in Teil 2 (das Zwei-Zeitalter-Modell) ist klar, dass nach<br />
der Wiederkunft Christi nur verherrlichte Gläubige auf der neuen<br />
Erde sein können. Bevor wir ins Detail gehen, gibt es noch einige<br />
ernste Fragen zur traditionellen prämillennialistischen Interpretation<br />
dieser Stelle.<br />
Außerdem sollte klar sein, dass wir gemäß dem reformatorischen<br />
Prinzip der analogia fidei (Analogie des Glaubens) unklare<br />
Stellen immer im Licht der klareren Stellen auslegen müssen. Das<br />
gilt insbesondere für apokalyptische Literatur. Ich habe zeigen können,<br />
dass sich die leibliche Auferstehung und das Jüngste Gericht<br />
(dem Zwei-Zeitalter-Modell gemäß) bei der Wiederkunft Christi<br />
ereignen werden. Das schließt die Möglichkeit aus, dass nach<br />
der Wiederkunft Christi Menschen mit unverherrlichten, sterblichen<br />
Körpern in einem Tausendjährigen Reich leben werden (vgl.<br />
1Kor 15,42). Das Sterbliche muss erst Unsterblichkeit anziehen, sagt<br />
Paulus (1Kor 15,53). Das bedeutet auch, dass es keine Auferstehung<br />
zu einem späteren Zeitpunkt gibt, wie der Prämillennialismus behauptet.<br />
Das dispensationalistische Verständnis der Offenbarung schafft<br />
eine Reihe von Problemen. Allein schon der Gedanke an ein tausendjähriges<br />
Zeitalter, das durch die Rückkehr zur alttestamentlichen<br />
Heilsökonomie bestimmt wird, ist problematisch. 39 Während<br />
39 Nach John Walvoord ist »das <strong>Millennium</strong> als Aspekt von Gottes theokratischem<br />
Programm … die Erfüllung der davidischen Verheißung, dass das Königtum<br />
und der Thron Israels für immer bestehen werden … Verfechter dieser Ansicht<br />
glauben: Im <strong>Millennium</strong> herrscht Christus als oberster politischer Führer und<br />
viele der alttestamentlichen Verheißungen eines Königreichs auf Erden mit einem<br />
führenden Israel und gesegneten Nationen werden sich ganz buchstäblich<br />
erfüllen.« Walvoord, Revelation of Jesus Christ, S. 283-284.<br />
290
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
Prämillennialisten das <strong>Millennium</strong> für ein goldenes Zeitalter auf<br />
einer teilweise erlösten Welt nach der Wiederkunft Christi halten,<br />
sieht der Postmillennialismus darin eine goldene Ära der Gemeinde<br />
noch während dieses gegenwärtigen bösen Zeitalters, wobei die<br />
Nationen christianisiert sind und der Großteil der Weltbevölkerung<br />
zum Glauben an Jesus Christus kommen wird. Beide Formen<br />
des Millennialismus eines goldenen Zeitalters gründen ihre<br />
Ansicht auf der Annahme, dass die tausend Jahre aus Offenbarung<br />
20 identisch sind mit der Prophezeiung aus Jesaja 2, wo es<br />
heißt, dass die Nationen »ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden<br />
werden und ihre Speere zu Rebmessern; kein Volk wird gegen<br />
das andere das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht<br />
mehr erlernen« (Jes 2,4). Der Amillennialismus hingegen sieht in<br />
den »tausend Jahren« alles andere als ein goldenes Zeitalter, in dem<br />
der Löwe friedlich beim Lamm liegt. Diese Ära ist vielmehr von<br />
Konflikten, Verfolgung und Rebellion gegen Gott gekennzeichnet.<br />
Offenbarung 20 beschreibt nicht die triumphierende, sondern die<br />
kämpfende Gemeinde. Jesaja 2,4 beschreibt aber die neue Erde und<br />
kein Tausendjähriges Reich. Was dagegen in Offenbarung 20 geschildert<br />
wird, entspricht mehr diesem gegenwärtigen bösen Zeitalter<br />
als einem zukünftigen <strong>Millennium</strong>. Trotz der unglücklichen<br />
Bezeichnung »A-millennialismus« gibt es aber tatsächlich ein <strong>Millennium</strong>.<br />
Das <strong>Millennium</strong>, in dem Christus regiert, ist keine Zukunftshoffnung,<br />
sondern eine gegenwärtige Realität.<br />
Die amillennialistischen Ausleger sehen in Offenbarung 20 das<br />
schwächste Glied in der Kette der prämillennialistischen Argumentation.<br />
Wenn die prämillennialistische Position korrekt ist, dann<br />
endet das goldene Zeitalter der Herrschaft Christi nach tausend<br />
Jahren damit, dass sich verherrlichte Menschen gegen Christi sichtbare<br />
Herrschaft auflehnen, nachdem Satan aus dem Abgrund freigelassen<br />
worden ist. Wenn man diese Vorstellung eines künftigen<br />
tausendjährigen Zeitalters auf Grundlage des Prinzips »Analogie<br />
des Glaubens« betrachtet, dann erscheint ein »zweiter Sündenfall«<br />
am Ende dieses Zeitalters dermaßen problematisch, dass der Amillennialismus<br />
alle Formen des Prämillennialismus von vornherein<br />
ausschließt. Ein Sündenfall einer verherrlichten Menschheit nach<br />
der Wiederkunft Christi bedeutet, dass die Ewigkeit nicht sicher<br />
291
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
wäre und es auch dann immer noch zu Abfall und Aufkeimen einer<br />
sündigen Natur kommen könnte. Deshalb baut die amillennialistische<br />
Auslegung von Offenbarung 20 auch auf klare Stellen in den<br />
Evangelien und den Paulusbriefen, wie z. B. auf solche, die von nur<br />
zwei Zeitaltern sprechen – diesem Zeitalter und dem zukünftigen.<br />
Der Amillennialismus interpretiert die symbolische und apokalyptische<br />
Sprache der Offenbarung im Licht dessen, wie diese Symbole<br />
an anderen Stellen der Offenbarung und in der gesamten Bibel<br />
verwendet werden.<br />
Offenbarung 20 kann in drei Abschnitte unterteilt werden. 40<br />
Die Verse 1-3 handeln von der Bindung Satans, in den Versen 4-6<br />
geht es um den Gegensatz zwischen der ersten Auferstehung und<br />
dem zweiten Tod, und die Verse 7-10 beschreiben die Rebellion am<br />
Ende der tausend Jahre nach der Freilassung Satans.<br />
292<br />
Offenbarung 20,1-3<br />
Die Sprache von Offenbarung 20 ist hochgradig symbolisch.<br />
Hendriksen schreibt: »Johannes sieht einen Engel aus dem Himmel<br />
herabkommen. Er hat einen Schlüssel, mit dem er den Abgrund<br />
verschließen wird (vgl. 9,1.11). Dieser Abgrund ist ein tiefes Loch<br />
mit einem Schlund (9,1) und einem Verschluss. Dieser Verschluss<br />
kann geöffnet (9,2) und geschlossen (20,3), ja, sogar versiegelt werden<br />
(20,3). Man muss bedenken, dass es sich hier um Symbolik<br />
handelt.« 41 Um die Symbole richtig zu verstehen, muss man die<br />
Vision in Offenbarung 20, besonders die Erwähnung von Engel<br />
und Abgrund, vor dem Hintergrund der vorhergehenden Visionen<br />
sehen, wo die gleichen Symbole auftauchen.<br />
Die erste Auslegungsfrage betrifft also die Identität der beiden<br />
zentralen Figuren: Wer ist die Schlange und wer der Engel? Die<br />
Identität der Schlange ist klar: Der Text selbst identifiziert sie als<br />
»Drache«, »Teufel« und »Satan«. Drache (drakon) stammt von ei-<br />
40 Offenbarung 20,1-3 und 4-6 beginnen beide mit der Einleitung »Ich sah« (eidon).<br />
Mit diesem Ausdruck wird in der Offenbarung stets eine symbolische Vision angekündigt.<br />
Vgl. Beale, Book of Revelation, S. 973.<br />
41 Hendrikson, More Than Conquerors, S. 185.
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
nem alttestamentlichen Ausdruck für ein böses Seeungeheuer, das<br />
die Nationen symbolisiert, die Israel terrorisieren. »Oft wird das<br />
böse Königreich Ägypten durch dieses Bild beschrieben. Gott bezwingt<br />
den Pharao, dieses Meeresungeheuer, mit dem Exodus und<br />
auch im weiteren Verlauf der Heilsgeschichte.« 42 Der Drache wohnt<br />
im Meer, das man in der Antike für den Ort der Ungeheuer, des<br />
Sturmes und aller Unwetter hielt (Offb 12,15; 13,1). Daher gibt es im<br />
neuen Jerusalem auch kein Meer mehr (Offb 21,1). Der finale Verbleib<br />
des Drachens ist der Feuersee fernab vom Volk Gottes.<br />
Die Identifizierung des Engels ist schon schwieriger. Man hat<br />
oft an Christus selbst gedacht 43 oder auch an den Erzengel Michael<br />
(vgl. 2Petr 2,10-12; Jud 9). Wie wir gesehen haben, liefert Offenbarung<br />
9 den Auslegungsschlüssel. Die Identität des Engels ist<br />
eng verknüpft mit der Bedeutung der anderen Symbole in dieser<br />
Vision, besonders mit dem Abgrund und dem Schlüssel.<br />
Offenbarung 8,6 und 9,1-2 zufolge dienen die Engel als »Mittler<br />
Jesu, die seine Gewalt über dämonische Mächte ausüben.« 44 Da<br />
Offenbarung 20 auf nichts anderes hinweist, dürfte es hier nicht<br />
anders sein. Doch dieser besondere Engel hat einen Schlüssel –<br />
wahrscheinlich denselben, den Christus in Kapitel 1 in seinen Händen<br />
hält: »Ich war tot, und siehe, ich lebe von Ewigkeit zu Ewigkeit,<br />
Amen! Und ich habe die Schlüssel des Totenreiches und des<br />
Todes« (V. 18). Der auferstandene Christus hält diesen Schlüssel in<br />
seinen Händen, weil allein er siegreich über Tod und Grab ist. Als<br />
dieser Engel erscheint, hat er den Schlüssel zum Abgrund. Das ist<br />
ein symbolischer Hinweis darauf, dass Christi Autorität sich auch<br />
über das Reich Satans und des Todes erstreckt. 45 Der Engel dürfte<br />
allerdings nicht Christus selbst sein, sondern ein Mittler, der diese<br />
Autorität nur ausübt. Das passt auch zur Aussage von Paulus, dass<br />
ein geheimnisvoller »Zurückhalter« das Auftreten des »Gesetzlosen«<br />
noch unterbindet, bevor er kurz vor dem Jüngsten Gericht<br />
losgelassen wird (2Thes 2,6-10).<br />
42 Beale, Book of Revelation, S. 632. Dieser Gedanke stützt sich auf Stellen wie Psalm<br />
89,10; Jes 30,7; 51,9; Hes 29,3; 32,2-3; Hab 3,8-15.<br />
43 Chilton, Days of Vengeance, S. 499; Kik, Eschatology of Victory, 194.<br />
44 Beale, Book of Revelation, S. 984.<br />
45 Ebd.<br />
293
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
Die eigentliche Streitfrage in der Auslegung betrifft aber das,<br />
was der Engel in Vers 2-3 tut: »Und er ergriff den Drachen, die alte<br />
Schlange, die der Teufel und der Satan ist, und band ihn für tausend<br />
Jahre und warf ihn in den Abgrund und schloss ihn ein und<br />
versiegelte über ihm, damit er die Nationen nicht mehr verführen<br />
kann, bis die tausend Jahre vollendet sind. Und nach diesem muss<br />
er für kurze Zeit losgelassen werden.« Was das bedeutet, hat zu<br />
endlosen Debatten geführt.<br />
Als erstes müssen wir die tausend Jahre klären. Dispensationalisten<br />
wie John Walvoord verstehen darunter buchstäbliche eintausend<br />
Jahre. 46 Der historische Prämillennialist George Ladd behauptet<br />
hingegen, dass »es schwierig ist, die tausendjährige Gefangenschaft<br />
Satans strikt buchstäblich zu verstehen, da Zahlen in der<br />
Offenbarung offensichtlich symbolisch gebraucht werden. Tausend<br />
ist zehn hoch drei und damit eine vollkommene Zeit.« 47 Obwohl<br />
der Postmillennialismus im Gegensatz zum Prämillennialismus<br />
das <strong>Millennium</strong> vor der Wiederkunft Christi erwartet, stimmt er<br />
Ladd hierin zu. Nach J. Marcellus Kik ist »der Begriff ›tausend<br />
Jahre‹ in Offenbarung 20 ein bildhafter Ausdruck, der die Zeit des<br />
messianischen Königreichs auf Erden beschreibt. Damit ist die Zeit<br />
zwischen erstem und zweitem Kommen Christi gemeint.« 48 Amillennialisten<br />
stimmen mit dieser allgemein überein und verstehen<br />
die tausend Jahre als Symbol für das ganze Gemeindezeitalter.<br />
Es gibt gute Gründe dafür, die tausend Jahre nicht buchstäblich<br />
zu verstehen. Erstens werden in der Offenbarung Zahlen immer<br />
symbolisch verwendet. 49 Wahrscheinlich hat Ladd Recht mit seinem<br />
Hinweis, dass zehn hoch drei, also tausend, eine vollkommene,<br />
in sich vollständige Zeitspanne symbolisiert. Außerdem sollte<br />
uns der unmittelbare Kontext und die Bildhaftigkeit vieler Begriffe<br />
wie Kette, Abgrund, Schlange, Tier usw. darauf schließen lassen,<br />
dass auch Zahlen etwas symbolisieren. Dafür gibt es gute theologische<br />
Gründe. In Offenbarung 2,10 heißt es, dass einige Christen<br />
eine Drangsal von »zehn Tagen« erdulden müssen. Dafür werden<br />
46 Walvoord, Revelation of Jesus Christ, S. 282-295.<br />
47 Ladd, Commentary on Revelation, S. 262.<br />
48 Kik, Eschatology of Victory, S. 205. Vgl. Chilton, Days of Vengeance, S. 499 ff.<br />
49 Beale, Book of Revelation, S. 58-64, S. 1017-1021.<br />
294
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
sie »den Lohn einer tausendjährigen Herrschaft empfangen. Diese<br />
Potenzierung von zehn zu tausend sowie die Verlängerung von ›Tagen‹<br />
zu ›Jahren‹ legt nahe, dass die gegenwärtige Bedrängnis eine<br />
ungleich größere Herrlichkeit nach sich zieht – und das sogar schon<br />
im Zwischenzustand [d. h. zwischen Tod und leiblicher Auferstehung]<br />
vor der ewigen Herrlichkeit.« 50<br />
Die tausend Jahre beginnen also mit der Bindung Satans. Aber<br />
welche Auswirkungen hat diese Bindung? Heißt das, Satan könne<br />
überhaupt nichts Böses mehr tun? Und wenn das <strong>Millennium</strong>, wie<br />
Amillennialisten behaupten, keine zukünftige, sondern gegenwärtige<br />
Wirklichkeit ist, wie kann da Satan »gebunden« sein, wo es<br />
doch so viel Böses in der Welt gibt? Auf den ersten Blick klingt<br />
das wie ein überwältigender Einwand gegen den Amillennialismus.<br />
Wenn wir uns aber genauer anschauen, was Johannes über die Bindung<br />
Satans lehrt, wird die Vorstellung vom gegenwärtig gebundenen<br />
Satan sogar noch zu einem Argument zugunsten des Amillennialismus.<br />
Die amillennialistische Deutung der Bindung Satans ist ganz<br />
einfach: Beim ersten Kommen Jesu Christi und seines Königreichs<br />
wurde der Satan in gewissem Sinne schon gebunden. Vers 3 zufolge<br />
wurde der Satan zu einem ganz bestimmten Zweck in den<br />
Abgrund geworfen, nämlich »damit 51 er die Nationen nicht mehr<br />
verführen kann, bis die tausend Jahre vollendet sind. Und danach<br />
muss er für kurze Zeit losgelassen werden.« Diese Bindung Satans<br />
bedeutet, dass der Teufel nach dem Kommen des langerwarteten<br />
Messias eine gewisse Macht einbüßte, die er vor dem Leben, Tod,<br />
Auferstehung und Himmelfahrt Jesus noch besaß. Das heißt nicht,<br />
dass der Satan während des <strong>Millennium</strong>s gar nichts mehr tut, wie<br />
es viele Gegner des Amillennialismus fälschlicherweise unterstellen.<br />
52 Satans Gefangenschaft im Abgrund bedeutet nur, dass er bis<br />
50 Ebd., S. 995.<br />
51 Im Griechischen steht hier hina, was eindeutig »damit« bedeutet: damit er die<br />
Nationen nicht verführen kann.<br />
52 Walvoord, Millennial Kingdom, S. 51,291-295. Vgl. ders., »Is Satan Bound?« in<br />
Zuck (Hrsg.), Vital Prophetic Issues, S. 83-95. Da Walvoord diesen Abschnitt<br />
buchstäblich auslegt, muss für ihn jegliche Gegenwart von Bösem im jetzigen<br />
Zeitalter bedeuten, dass die Bindung Satans erst in der Zukunft erfolgt, eben<br />
295
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
kurz vor dem Ende des Zeitalters keine Macht besitzt, die Nationen<br />
zu verführen.<br />
Wenn wir verstehen wollen, was diese Gefangenschaft Satans<br />
bedeutet, werfen wir zuerst einen Blick auf frühere Passagen der<br />
Offenbarung. In Offenbarung 9 sehen wir, dass der Abgrund symbolisch<br />
für den Tod und das Totenreich (Hades) seht. Gregory<br />
Beale erklärt, »der Abgrund ist eine von mehreren Metaphern für<br />
jenen Bereich ist, in dem der Teufel und seine Engel operieren. Kapitel<br />
9,1-11 beschreibt ein solches Wesen (vielleicht sogar den Teufel<br />
selbst): Es öffnet mit dem Schlüssel den Schlund des Abgrunds und<br />
befreit die Dämonen, so dass sie die Ungläubigen auf Erden quälen<br />
können.« 53 Wenn Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung<br />
die Macht über diesen Bereich an sich nimmt, wie Offenbarung<br />
1,18 besagt, dann ist die Bindung Satans »das direkte Ergebnis<br />
der Auferstehung Christi.« 54 Als Jesus von den Toten auferstand,<br />
wurde der Teufel in den Abgrund verbannt, so dass er aufgrund des<br />
Triumphes Christi die Nationen nicht mehr verführen kann, bis er<br />
einst freigelassen wird.<br />
Das Bild von der Bindung Satans bedeutet, dass er das (äußere)<br />
Bundesvolk Gottes weder als Ganzes verführen noch es ungestraft<br />
angreifen kann, wie es vor dem Kommen des Messias der Fall war.<br />
Das wird bei einer allgemeinen Betrachtung der Heilsgeschichte<br />
deutlich: Satan verführte Adam im Garten Eden, was zum Sündenfall<br />
führte und den Tod über die ganze Menschheit brachte.<br />
Satan agierte mittels der heidnischen Nachbarvölker Israels, um Israel<br />
davon abzuhalten, seine vorgesehene Rolle als Licht für die Nationen<br />
im Gelobten Land auszuüben. Adam wollte sein wie Gott.<br />
Israel wollte sein wie seine heidnischen Nachbarvölker. Als Jesus<br />
sein Wirken in Galiläa antrat, heißt es: »Und Jesus durchzog ganz<br />
Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und verkündigte das Evangeliwährend<br />
des zukünftigen <strong>Millennium</strong>s. Das beruht auf Walvoords Missachtung<br />
von Johannes’ Beschreibung der Bindung Satans, die eben nicht alles Böse unterbindet,<br />
sondern ihn davon abhält, die Nationen zu verführen.<br />
53 Beale, Book of Revelation, S. 987-988.<br />
54 Ebd., S. 985. Beale schreibt, dass man sich unter dem Abgrund keinen räumlichen<br />
Ort vorstellen dürfe, sondern dass er eine »geistliche Dimension nicht in<br />
oder unter der Erde darstellt, sondern bei ihr« (S. 987).<br />
296
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
um von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen<br />
im Volk« (Mt 4,23). Wie die Evangelien berichten, führte seine Verkündigung<br />
immer wieder zur Konfrontation mit Satan und seinen<br />
dämonischen Helfershelfern. Als Jesus aber für Sünder starb und<br />
das Totenreich besiegte, änderte sich die Situation. Von jetzt an<br />
sollten »die Pforten der Hölle die Gemeinde nicht überwältigen«<br />
(Mt 16,18). Obwohl der Satan ein grimmig wütender Feind bleibt<br />
und das Volk Gottes in abgesteckten Grenzen verfolgt, kann er<br />
nicht triumphieren, weil er im Abgrund gebunden ist – bis er am<br />
Ende des <strong>Millennium</strong>s freigelassen wird.<br />
Diese Auslegung harmoniert mit den vielen Textstellen im Neuen<br />
Testament, die Kreuz und leeres Grab Christi als Zeichen des<br />
Sieges über Satan beschreiben. In Kolosser 2,15 beschreibt Paulus<br />
diesen Triumph: »Als er so die Herrschaften und Gewalten entwaffnet<br />
hatte, stellte er sie öffentlich an den Pranger und triumphierte<br />
dort über sie am Kreuz.« Arthur Lee weist darauf hin, dass<br />
diese Bindung Satans im gesamten Wirkens des Messias gesehen<br />
werden kann:<br />
Als Jesus die Dämonen austrieb, proklamierte er damit seine<br />
Macht über Satan und das Kommen seines Reiches. Er sagte:<br />
»Wie kann jemand in das Haus des Starken hineingehen und<br />
seinen Hausrat rauben, wenn er nicht zuerst den Starken bindet?«<br />
(Mt 12,29). Als auch die Jünger erfolgreich Dämonen austrieben,<br />
rief Jesus aus: »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom<br />
Himmel fallen« (Lk 10,18). Das war eine bildliche Beschreibung<br />
dafür, dass die Macht des Teufels durch die Gesandten des Königs<br />
gebrochen worden war. Wir wissen ja, dass Satan aus der<br />
Welt »hinausgeworfen« wurde, als Christus am Kreuz erhöht<br />
wurde (Joh 12,31). Auf Golgatha wurde der eiserne Griff Satans<br />
über Menschen und Nationen zerschlagen. Die Evangelien<br />
lehren klar: Seit dem ersten Kommen Christi sind Macht und<br />
Herrschaft des Teufels über die Völker dieser Welt entscheidend<br />
geschwächt worden (vgl. Hebr 2,14). 55<br />
55 Arthur Lewis, The Dark Side of the Millenium (Grand Rapids: Baker, 1980), S. 52.<br />
297
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
Auch wenn Satan während dieses gegenwärtigen Zeitalters gebunden<br />
ist, heißt das nicht, dass er nicht mehr der »Gott dieser Welt« ist,<br />
der den »Sinn der Ungläubigen verblendet« (2Kor 4,4), dass er nicht<br />
mehr »der Fürst ist, der in der Luft herrscht« (Eph 2,2). Immer noch<br />
»geht er umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen<br />
kann« (1Petr 5,8). All das tut Satan immer noch. Die amillennialistische<br />
Auslegung von Offenbarung 20 leugnet das keineswegs!<br />
Johannes sagt uns aber, dass diese Bindung den Satan daran<br />
hindert, die Nationen zu verführen, bis er freigelassen wird (vgl.<br />
das »Zurückhalten« in 2Thes 2,1-12). Johannes’ Vision soll zeigen,<br />
dass der Engel die Aktivität Satans stark einschränkt, aber nicht<br />
gänzlich unterbindet. Auch wenn er derzeit gebunden ist und am<br />
Verführen der Völker gehindert wird, bleibt er ein gefährlicher<br />
Feind – so wie ein verwundetes Raubtier oft gefährlicher ist als ein<br />
unverletztes. Wie immer wir die Bindung Satans auch verstehen,<br />
müssen wir sorgfältig zwei verschiedene und sich ergänzende Aspekte<br />
berücksichtigen, die sich beide in der Bibel finden.<br />
Der erste Aspekt ist, dass die Bibel die entscheidende Niederlage<br />
Satans betont, die Jesus Christus errungen hat. Dadurch ist er<br />
nicht länger im Stande, die Nationen zu verführen. Diese Niederlage<br />
durch das Kreuz und Auferstehung Jesu Christi garantiert die<br />
endgültige Niederlage Satans am Ende der Zeit. Satans Bindung ist<br />
sogar ein kontinuierlicher Prozess, der durch die weltweite Verkündigung<br />
des Evangeliums weitergeht, indem in allen Nationen Jünger<br />
gemacht werden (Mt 28,19). Das Licht des Evangeliums besiegt<br />
die Finsternis der satanischen Verführung. Die Verkündigung des<br />
gekreuzigten Christus befreit die Menschen von den Machtprinzipien<br />
dieser Welt (Gal 4,9).<br />
Der zweite biblische Aspekt ist: Satan tobt auch in diesem Zeitalter<br />
gegen Christus und sein Reich. Diesem Wüten sind zwar Grenzen<br />
gesetzt, es ist aber nichtsdestoweniger furchtbar. Seine Macht ist<br />
zwar durch die Wahrheit des Evangeliums gebunden, aber seine Wut<br />
ist dennoch da. William Hendriksen vergleicht das mit einem Raubtier,<br />
das mit einer Kette angebunden ist, dass aber dennoch jedem,<br />
der in seine Reichweite kommt, großen Schaden zufügen kann. 56<br />
56 Hendriksen, More than Conquerors, S. 190.<br />
298
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
Und was meint Johannes mit der Freilassung Satans am Ende<br />
der tausend Jahre? Wie muss man sich diese »Freilassung« Satans<br />
für eine »kurze Zeit« vorstellen? Im amillennialistischen Modell<br />
fügt sich diese Freilassung harmonisch ein, während sie für alle<br />
Arten des Prämillennialismus ein großes Problem darstellt. Arthur<br />
Lewis schreibt:<br />
Johannes lässt in seinem letzten Buch keinen Zweifel daran, dass<br />
Satans Machtbereich eng bewacht ist und völlig unter Gottes<br />
Kontrolle steht. Die Dämonen können erst heraus, wenn der<br />
Engel mit dem Schlüssel den »Abgrund« öffnet (Offb 9,2-6).<br />
Das Tier steigt auf Gottes Anordnung aus diesem Abgrund empor<br />
(Kap. 11,7; 17,8). Dann wird ihm erlaubt, gegen die Heiligen<br />
Krieg zu führen (Kap. 13,7). All das unterstützt diesen zweiten<br />
neutestamentlichen Gedanken, dass der Satan in einem sehr realen<br />
Sinn »gebunden« ist und nicht mehr die Freiheit hat, die<br />
Nationen zu verführen, wie er es tat, bevor Christus kam. 57<br />
Mit der Freilassung Satans beginnt der Aufstand der Nationen<br />
(Offb 20,7-10) und das Tier verführt die Nationen (Offb 13). Wenn<br />
Gott das »Zurückhalten« aufhebt, tritt der »Gesetzlose« auf den<br />
Plan, begleitet von trügerischen Zeichen und Wundern (2Thes<br />
2,1‐12). Die Bindung Satans für tausend Jahre und seine anschließende<br />
Freilassung gehören sicher in das gegenwärtige Zeitalter und<br />
nicht in eine Zeit, nachdem Christus zum Gericht über alle Menschen<br />
gekommen ist, die Toten auferweckt sind und er alle Dinge<br />
neu gemacht hat.<br />
Offenbarung 20,4-6<br />
Wenn wir nun zum zweiten Abschnitt kommen, steht nicht mehr<br />
der im Abgrund gebundene Drache im Blickpunkt, sondern die<br />
Herrschaft der Heiligen im Himmel. Die Verse 4-6 beschreiben<br />
das Resultat der Bindung Satans von Vers 1-3 und rekapitulieren<br />
57 Lewis, Dark Side of <strong>Millennium</strong>, S. 52-53.<br />
299
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
die Ereignisse von 12,7-11. Während Satan gebunden und seine Verführungsmacht<br />
begrenzt ist, triumphieren Christi Nachfolger. Der<br />
Sieg Christi über Tod und Grab gehört ihnen, denn er allein besitzt<br />
den Schlüssel des Totenreichs und des Abgrunds. Mit seiner Auferstehung<br />
ist Jesus Christus die Erstlingsfrucht jener Auferstehungsernte,<br />
bei der alle Gläubigen auferstehen. Paulus sagte: »Wenn wir<br />
mitgestorben sind, so werden wir auch mitleben; wenn wir standhaft<br />
ausharren, so werden wir auch mitherrschen« (2Tim 2,11-12).<br />
In der Szene von Offenbarung 20,4-6 ist Satan schon gerichtet<br />
und damit ist für Gottes Heilige die Herrschaft ermöglicht. 58<br />
Richard Bauckham drückt es so aus: »Wer vom Tier getötet wird,<br />
der wird wirklich leben – nämlich eschatologisch, und wer sich<br />
seiner Herrschaft widersetzt und deswegen leidet, wird am Ende<br />
genauso unumschränkt herrschen wie das Tier – nur viel länger,<br />
nämlich tausend Jahre!« 59<br />
Die himmlische Szene von der Herrschaft der Heiligen ist besonders<br />
vor dem historischen Hintergrund der Offenbarung wichtig.<br />
Als Johannes das Buch schrieb, erlitten die Christen furchtbare<br />
Verfolgung durch das heidnische Römische Reich. 60 Johannes<br />
schrieb vor allem deshalb, um ihnen inmitten dieser Trübsal und<br />
der vielen Märtyrertode Hoffnung zu geben. Stephanus, Jakobus,<br />
Paulus und Petrus waren bereits den Märtyrertod gestorben.<br />
Die sieben Sendschreiben in Offenbarung 2-3 an die Gemeinden<br />
in Kleinasien beschreiben eine Situation, in der Irrlehre und Verfolgung<br />
unter den zerstreuten Christen immer bedrohlicher wurden.<br />
Die Beschreibung der Bindung Satans und der gegenwärtigen<br />
Herrschaft der Heiligen war ein großer Trost für das Volk Gottes,<br />
das schwere Angriffe von innen und von außen zu erleiden hatte.<br />
Die Verse 4-7 werfen eine Reihe von Fragen auf, die zu klären<br />
sind. Die erste betrifft den Ort, den Johannes hier schildert.<br />
Die Verse 1-3 sprechen vom Abgrund, also dem Bereich des Todes<br />
58 Beale, Book of Revelation, S. 991-993.<br />
59 Richard Bauckham, The Theology of the Book of Revelation (New York: Cambridge<br />
University Press, 1994), S. 107.<br />
60 Ich bleibe trotz aller Versuche einer Datierung vor 70 n. Chr. von der Spätdatierung<br />
der Offenbarung überzeugt. Vgl. Beale, Book of Revelation, S. 4-27; Gentry,<br />
Before Jerusalem Fell.<br />
300
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
und des Totenreiches, doch wo findet die Szene von Vers 4-6 statt?<br />
Klar ist, dass die tausendjährige Herrschaft dort stattfindet, wo die<br />
Throne sind, denn wir lesen: »Und ich sah Throne, und sie setzten<br />
sich darauf, und das Gericht wurde ihnen übergeben« (V. 4). Die<br />
Antwort ist einfach: die Throne befinden sich im Himmel.<br />
Es wird den Leser nicht überraschen, dass Dispensationalisten<br />
diese Stelle wörtlich nehmen. Walvoord sieht in den mit Christus<br />
Herrschenden<br />
die vierundzwanzig Ältesten, von denen es heißt, dass sie auf Erden<br />
herrschen werden (Offb 5,10). Das passt auch zur Prophezeiung<br />
Christi in Lukas 22,29-30 … Das Gericht hier ist allgemein<br />
zu verstehen und umfasst verschiedene Phasen des göttlichen<br />
Gerichts während dieser Phase der Weltgeschichte … Der letzte<br />
Teil von Vers 4 besagt implizit, dass auch die auferstandenen<br />
Heiligen der Trübsalszeit gerichtet und belohnt werden. Wenn<br />
zu dieser Zeit die alttestamentlichen Heiligen auferstehen, dann<br />
könnten auch sie Empfänger des göttlichen Gerichts und Lohnes<br />
sein. 61<br />
Das ist ein weiteres Beispiel für die dispensationalistische Neigung,<br />
das Neue Testament im (schwächeren) Licht des Alten auszulegen.<br />
Erstens meint Offenbarung 5,10 die neue Schöpfung und kein irdisches<br />
Tausendjähriges Reich. 62 Und anstelle der einen Auferstehung<br />
redet Walvoord von mehreren Auferstehungen. 63 Walvoords Ausle-<br />
61 Walvoord, Revelation of Jesus Christ, S. 296.<br />
62 Nichts in dem Text deutet darauf hin, dass es sich bei den mit Christus Herrschenden<br />
um die 24 Ältesten handelt, die in Offenbarung 5,10 mit der neuen Schöpfung<br />
in Verbindung gebracht werden (vgl. Beale, Book of Revelation, S. 360-364).<br />
63 Es ist bemerkenswert, dass jemand, der stolz ist auf sein »wörtliches Verständnis«<br />
der Offenbarung, zu solchen Spekulationen gezwungen ist. Diejenigen, die<br />
mit Christus tausend Jahre herrschen, sind viel wahrscheinlicher die gestorbenen<br />
Christen, die jetzt im Himmel bei ihm sind. Vielleicht sind es die Märtyrer.<br />
Wenn die Entrückung tatsächlich sieben Jahre vor Christi Wiederkunft geschehen<br />
sollte, dann müsste es eine zweite, hier nicht erwähnte Auferstehung derer<br />
geben, die während der Trübsalszeit sterben. Die erste Auferstehung fände dann<br />
bei der Entrückung statt, eine zweite nach der Trübsalszeit – sie beträfe dann<br />
möglicherweise auch die alttestamentlichen Heiligen. Dadurch entstünde ein<br />
Rangunterschied zwischen den Verstorbenen des neuen Bundes und denen des<br />
301
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
gung beruht auf der vorausgesetzten dispensationalistischen Auslegung<br />
von Daniel 9,24-27, die eine siebenjährige Trübsalszeit vor der<br />
Wiederkunft Jesu und dem <strong>Millennium</strong> erwartet. Doch wie bereits<br />
gezeigt, sind Walvoords Vorannahmen nicht haltbar.<br />
Die Offenbarung besagt ausnahmslos, dass der Thron Christi<br />
und seines Volkes im Himmel ist (Offb 1,4; 3,21; 4,2ff; usw.).<br />
Dies ist ein schwerwiegender Einwand gegen die dispensationalistische<br />
Auslegung. Da die Szene im Himmel handelt, »kann man<br />
die Throne wohl kaum dahingehend verstehen, dass Menschen auf<br />
wörtlichen Möbelstücken sitzen und von dort aus regieren. Vielmehr<br />
besagt dieses Bild, dass sie über ein Reich herrschen.« 64 Das<br />
wirft weitere Fragen auf: Wer sind diese Menschen? Und welches<br />
Gericht üben sie aus?<br />
Johannes erklärt uns, dass diese Menschen, die während der<br />
Bindung Satans herrschen, jene sind, die das Tier und sein Bild<br />
nicht angebetet haben (V. 4). Dazu gehören sehr wahrscheinlich<br />
auch jene, die »geschlachtet worden waren um des Wortes Gottes<br />
willen und um ihres Zeugnisses willen« (Offb 6,9), aber auch solche,<br />
die eines natürlichen Todes »im Herrn« gestorben sind (Offb<br />
14,13). 65 Johannes sagte, dass ihnen richterliche Autorität verliehen<br />
wurde, was den Gedanken vermittelt, dass Gottes Volk am himmlischen<br />
Hofstaat teilhat, wo Abertausende dem »Alten an Tagen«<br />
dienen und erwarten, dass Bücher geöffnet werden (Dan 7,9-10).<br />
Daniel berichtet, das Tier »führte Krieg gegen die Heiligen und<br />
überwand sie, bis der Hochbetagte kam und den Heiligen des Allerhöchsten<br />
das Gericht übergab und die Zeit eintrat, dass die Heiligen<br />
das Reich in Besitz nahmen« (Dan 7,21-22). Daraus wird klar:<br />
Wenn Satan gebunden ist, besitzen die Heiligen nicht nur das Königreich<br />
Christi, sondern ihretwegen kommt auch das Gericht über<br />
alten Bundes (ein rein dispensationalistisches Problem) und schließlich denen,<br />
die am Ende des <strong>Millennium</strong>s auferstehen. All das passt aber weder zum Zwei-<br />
Zeitalter-Modell noch zum biblischen Gebrauch der Ausdrücke »letzter Tag«<br />
(Joh 6,39.40.44.54; 11,24 sowie Joh 12,48, wo eindeutig die Auferstehung und das<br />
Gericht gleichzeitig geschehen), »letzte Posaune« (1Kor 15,52, vgl. Mt 24,31) und<br />
dem »Tag des Herrn« (2Petr 3,10).<br />
64 Beale, Book of Revelation, S. 995-996.<br />
65 Ebd., S. 999.<br />
302
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
den Feind. 66 Die Herrschaft der Heiligen in Offenbarung 20,4-6<br />
erfüllt somit Daniel 7 und währt »tausend Jahre«.<br />
Es ist auch wichtig zu beachten, dass die tausendjährige Herrschaft<br />
dort stattfindet, wo die Seelen der Märtyrer sind (im Himmel),<br />
was im Gegensatz zum Abgrund steht. Diese leiblosen Seelen<br />
herrschen während der gesamten Gefangenschaft Satans, von<br />
der Auferstehung Christi bis zum Ende der tausend Jahre, wenn<br />
Christus zum Gericht wiederkommt und die Toten auferwecken<br />
wird (Offb 20,7-10). Nach der Wiederkunft Christi ist diese Zeit<br />
der leiblosen, rein »seelischen« Herrschaft vorüber, denn dann sind<br />
Seele und Leib wiedervereint und das Verwesliche ist unverweslich<br />
geworden. Dann werden die Gläubigen nicht nur für tausend Jahre<br />
herrschen, sondern »sie herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit« (Offb<br />
22,5). Das meint der Herr auch mit seiner Verheißung an Philadelphia:<br />
»Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem<br />
Thron zu sitzen, so wie auch ich überwunden habe und mich mit<br />
meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe« (Offb 3,12).<br />
Außerdem ist zu beachten: »Die tausendjährige Herrschaft findet<br />
dort statt, wo Jesus lebt, denn es heißt: ›sie lebten und herrschten<br />
mit ihm‹ … Wo lebt Jesus? Eindeutig im Himmel … Daher<br />
können wir sicher sagen, dass diese tausendjährige Herrschaft im<br />
Himmel stattfindet.« 67 Das sind starke Argumente für den Amillennialismus,<br />
die zeigen: Was in Offenbarung 20,4-6 geschildert<br />
wird, ist nicht Zukunft, sondern Gegenwart.<br />
Die nächste Auslegungsfrage gehört sicherlich zu den heiß umstrittensten<br />
Fragestellungen der Bibel überhaupt und betrifft die<br />
»erste Auferstehung« in 20,4-6 und den Ausdruck ezesan (»sie wurden<br />
lebendig«) in Vers 4. George Ladd schreibt, »das ist … der<br />
wichtigste Begriff des gesamten Abschnitts. Der Ausleger muss entscheiden,<br />
welche Auferstehung hier gemeint ist; die Auslegung des<br />
ganzen Abschnitte hängt von dieser Entscheidung ab.« 68 Als Prämillennialist<br />
versteht Ladd unter dieser Auferstehung die leibliche<br />
Auferstehung bei der Wiederkunft Christi, die in Offenbarung 19<br />
66 Ebd., S. 997.<br />
67 Hendriksen, More Than Conquerors, 191-192.<br />
68 Ladd, Commentary on Revelation, S. 265. Blaising nennt dies die »crux interpretum«<br />
(»Premillennialism« S. 221-227).<br />
303
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
geschildert wird, und nicht die »geistliche Auferstehung« bei der<br />
Bekehrung oder dem Tod eines Christen. Ladd bringt es wie gewohnt<br />
gleich auf den Punkt:<br />
Im Kontext von Offenbarung 20,4-6 finden sich keine Hinweise<br />
auf andere Auslegungsvarianten. Die Sprache an dieser Stelle ist<br />
eindeutig und unmissverständlich. Hier muss man kein Wort<br />
geistlich deuten, um dem Abschnitt einen Sinn zu geben. Zu<br />
Beginn des Tausendjährigen Reiches wird ein Teil der Toten lebendig<br />
[die Märtyrer]; an dessen Ende werden die übrigen Toten<br />
lebendig. Hier gibt es kein Wortspiel. Die Stelle ist absolut sinnig,<br />
wenn man sie wörtlich versteht. 69<br />
Ladd zitiert Henry Alfords berühmte Verteidigung des Prämillennialismus:<br />
Wenn an einer Stelle, in der zwei Auferstehungen erwähnt werden,<br />
wo zuerst bestimmte »Seelen lebendig werden« [psychai<br />
ezesan] und die übrigen der »Toten nicht lebendig werden« [nek-<br />
69 Ladd, Commentary on Revelation, S. 265-266. Folgendes Argument hat mich jahrelang<br />
am Prämillennialismus festhalten lassen – Ladd schreibt: »Der Ausdruck<br />
›sie wurden wieder lebendig‹ ist eine Übersetzung des griech. Wortes ezesan. Die<br />
Crux des gesamten Auslegungsproblems steckt in der Bedeutung dieses Wortes.<br />
Zwar stimmt es, dass dieses Wort den Eintritt in geistliches Leben meinen<br />
kann (Joh 5,25), doch wird es nie für eine geistliche Auferstehung der Seelen<br />
von Gerechten nach ihrem Tod gebraucht. Sehr wohl gebraucht wird es dagegen<br />
für die leibliche Auferstehung in Joh 11,25; Röm 14,9; Offb 1,18; 2,8; 13,14 und<br />
die meisten Ausleger geben zu, dass es auch hier in Vers 5 so verwendet wird.«<br />
Wenn Ladd jedoch mit der Ansicht Recht hat, dass diese zwei Auferstehungen<br />
beide eine wörtliche und leibliche Auferstehung meinen, dann muss stattdessen<br />
die Lehre von den zwei Zeitaltern vergeistlicht werden, die ja in den Evangelien<br />
klar die Wiederkunft Christi mit dem Gericht verbindet. Ladd berücksichtigt<br />
außerdem nicht die Einwände von Carson und Morris, auf die wir später noch<br />
eingehen werden. Sie zeigen, dass sich aus Johannes 5,24-25 sehr wohl schließen<br />
lässt, dass dort zwischen der leiblichen und geistlichen Auferstehung jedes Gläubigen<br />
unterschieden wird. Was soll ein Ausleger also tun? Entweder muss er die<br />
Evangelienberichte vergeistlichen, oder er muss eine der Auferstehungen in der<br />
Offenbarung (einem hochgradig symbolischen Buch) auf ein Ereignis deuten, das<br />
bereits stattgefunden hat. Amillennialisten wählen die zweite Option, Prämillennialisten<br />
hingegen erstere.<br />
304
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
roi ezesan] bis ans Ende einer festen Zeitspanne nach der ersten<br />
Auferstehung – wenn in einer solchen Stelle die erste Auferstehung<br />
eine geistliche Auferstehung mit Christus sein soll, während<br />
mit der zweiten eine wörtliche Auferstehung aus dem Grab<br />
gemeint ist, dann ist das das Ende jeder Bedeutung von Sprache<br />
und das Ende der Bibel als feststehendes Zeugnis für überhaupt<br />
irgendetwas. 70<br />
Ladd meint, da an dieser Stelle zwei Auferstehungen erwähnt werden<br />
und die zweite davon ganz sicher im leiblichen Sinn gemeint<br />
ist, dann muss die erste auch leiblich sein. Die erste Auferstehung<br />
betrifft die Gläubigen bei der Wiederkunft Christi. Die zweite<br />
Auferstehung betrifft die Ungläubigen am Ende der tausend Jahre.<br />
Dieses Verständnis ergibt sich natürlich, wenn man Offenbarung<br />
20 als zeitlich auf Offenbarung 19 folgend versteht. Diese Voraussetzung<br />
ist eine absolute Notwendigkeit für alle Formen des Prämillennialismus,<br />
und damit steht oder fällt der gesamte Prämillennialismus.<br />
71<br />
Was versteht nun der Amillennialismus unter der »ersten Auferstehung«?<br />
Da für Amillennialisten klar ist, dass die Heiligen während<br />
des gegenwärtigen Zeitalters im Himmel herrschen, muss die<br />
»erste Auferstehung« bei Johannes ein Ereignis sein, das vor der<br />
Wiederkunft Christi und der leiblichen Auferstehung am Ende<br />
des Zeitalters stattfindet (vgl. 1Kor 15,35-57; 1Thes 4,13-18). Der um-<br />
70 Ebd., S. 267.<br />
71 Grenz, The Millennial Maze, S. 128. Arthur Lewis zeigt ein bemerkenswertes Dilemma<br />
des Prämillennialismus auf. Lewis zeigt, dass der Kontext die himmlische<br />
Herrschaft der Heiligen ist und schlussfolgert dann: »Mit ihrer Identifikation<br />
der herrschenden Heiligen gehen die Prämillennialisten weit über ein wörtliches<br />
Verständnis hinaus. Die Prämillennialisten sehen sowohl jene Gläubigen<br />
im Himmel als auch jene auf der Erde als ›neues‹ Israel unter einem davidischen<br />
König vereint, was all die nationalen Verheißungen des Alten Testaments erfüllt.<br />
Sie glauben, auferstandene Gläubige werden sich im zukünftigen Königreich<br />
mit nicht-auferstandenen vermischen. Diese Ansicht gibt diese Schriftstelle aber<br />
nicht her. Wie auch immer man die ›erste Auferstehung‹ in Offenbarung 20,6<br />
versteht, umfasst sie in jedem Fall alle, die mit Christus herrschen. Wenn sie die<br />
leibliche Auferstehung der Gläubigen sein soll, dann können aber jene Gläubigen,<br />
die die Trübsalszeit überleben, nicht mit inbegriffen sein.« Lewis, Dark Side of the<br />
<strong>Millennium</strong>, S. 57-58.<br />
305
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
strittene Ausdruck »sie wurden lebendig und herrschten mit Christus«<br />
ist von Amillennialisten verschiedentlich interpretiert worden:<br />
Manche verstehen sie als Bekehrung des Christen und der damit<br />
verbundenen geistlichen Herrschaft mit Christus (die Ansicht von<br />
Augustinus 72 und Calvin 73 ), andere sehen darin den Tod des Gläubigen<br />
und seinen Eingang in den Himmel, worauf die Herrschaft<br />
mit Christus folgt. Diese Ansicht vertreten u. a. Hendriksen, 74<br />
Beale, 75 B. B. Warfield 76 und Meredith Kline, dessen Ausführungen<br />
über die beiden Auferstehungen wir uns im Folgenden eingehender<br />
widmen wollen. Beide Sichtweisen sehen in der Auferstehung<br />
von Offenbarung 20,4 eine geistliche Auferstehung, die nicht<br />
nach, sondern vor der Wiederkunft Christi stattfindet.<br />
Prämillennialisten wie Ladd und Alford gehen davon aus, dass<br />
die Bedeutung des Ausdrucks »sie wurden lebendig« (ezesan) einen<br />
felsenfesten Beweis für ihre Ansicht liefere. Das (Nicht-)Lebendigwerden<br />
der übrigen Toten in Vers 5 ist angeblich leiblich gemeint,<br />
doch das ist nicht der Fall. Wenn auch das Wort für Auferstehung<br />
(anastasis) 41 Mal im Neuen Testament im Sinne einer leiblichen<br />
Auferstehung gebraucht wird, so kommt es doch in der Offenbarung<br />
nur ein einziges Mal vor, nämlich hier in 20,5.6 als Aufzählung<br />
»die erste Auferstehung«, und eine solche »erste Auferstehung«<br />
wird nur hier erwähnt. Das Verb »leben« (zao) hat aber ein breites<br />
Bedeutungsfeld. In der Offenbarung kann damit die leibliche Auf-<br />
72 Vgl. Oswald T. Allis, Prophecy and the Church (Phillipsburg, N.J.: Presbyterian<br />
and Reformed, 1947), S. 2-5; Beale, Book of Revelation, S. 1011-1012.<br />
73 Calvin schreibt darüber: »Die Worte unseres Herrn Jesus Christus (in Joh<br />
5,24‐25) bedeuten daher, dass wir bis zu unserer Erneuerung durch das Evangelium<br />
und durch den Glauben, der daraus folgt, wie Tote sind. Da ist kein Tropfen<br />
in uns, der den Namen Leben verdiente. Und, kurz gesagt, wir sind wie begraben<br />
im Grab und müssen notwendigerweise erst wieder dort herausgezogen werden,<br />
wodurch uns Verständnis gegeben wird, dass wir vom Reich Gottes ganz abgeschnitten<br />
sind und folglich nichts als Dreck in uns ist. Und trotz alledem gewährt<br />
Gott uns, mit ihm verbunden und vereint zu sein, indem wir auf ihn und seine<br />
Güte vertrauen. Das ist, so sage ich, unsere Wiederauferstehung.« Johannes Calvin,<br />
Sermons on Ephesians (Carlisle: Banner of Truth, 1979), S. 129.<br />
74 »Die erste Auferstehung ist der Übergang der Seele von der sündigen Erde in<br />
den Himmel. Darauf folgt bei der Wiederkunft Christi die zweite Auferstehung,<br />
wenn auch der Leib verherrlicht wird.« Hendriksen, More than Conquerors, S. 192.<br />
75 Beale, Book of Revelation, S. 1002-1007.<br />
76 B. B. Warfield, »<strong>Millennium</strong> and the Apocalypse«, S. 653.<br />
306
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
erstehung gemeint sein (z. B. Offb 1,18), es kann sich aber auch bloß<br />
auf irgendeine Form physischer Existenz beziehen (vgl. Offb 16,3).<br />
Viel öfter aber bedeutet der Ausdruck das »geistliche Leben«, so<br />
zum Beispiel eindeutig in Offenbarung 3,1 (»du hast den Namen,<br />
dass du lebst«). 77 Wenn Johannes sagt, er sah die, die »wieder lebendig<br />
wurden«, dann kann sich das sehr wohl auf das geistliche Leben<br />
beziehen, das der Bekehrung oder auch dem Tod des Gläubigen<br />
folgt.<br />
Beale schreibt dazu: »Am erstaunlichsten ist die Beobachtung,<br />
dass an anderen Stellen im Neuen Testament die Ausdrücke anastasis<br />
und zao (oder das damit verwandte Nomen zoe, ›das Leben‹)<br />
und deren Synonyme innerhalb desselben Kontexts austauschbar<br />
sowohl für eine geistliche als auch eine leibliche Auferstehung verwendet<br />
werden.« 78 In Römer 6,4-13 sagt Paulus, dass Christus »aus<br />
den Toten auferweckt« (anastasis) worden ist, so dass »auch wir neues<br />
Leben haben« (zoe). Der Apostel sagt, wir sind mit Christi Auferstehung<br />
vereint, so dass wir mit ihm leben werden. Daher können<br />
beide Ausdrücke Leben und Auferstehung zusammen verwendet<br />
werden, um geistliches mit physischem Leben zu vergleichen.<br />
Es gibt noch einen weiteren wichtigen exegetischen Grund zur<br />
Annahme, dass Johannes hier zwei verschiedene Arten der Auferstehung<br />
im Sinn hat, eine geistliche und eine leibliche. Johannes<br />
stellt die »erste Auferstehung« in Kontrast zum »zweiten Tod«<br />
(V. 6). Meredith Kline hat sich eingehend mit diesen Begriffen bei<br />
Johannes befasst und seine Auslegung dieses Textes ist sehr hilfreich,<br />
um das prämillennialistische Argument zu beantworten, die<br />
zwei Auferstehungen von Offenbarung 20 seien beide gleicher Art,<br />
nämlich leiblich.<br />
Kline zufolge lässt der Befund auf das Gegenteil schließen. Johannes<br />
unterschied zwischen zwei Arten der Auferstehung, der<br />
geistlichen (der ersten Auferstehung) und der leiblichen: »Die übrigen<br />
der Toten aber wurden nicht wieder lebendig, bis die tausend<br />
Jahre vollendet waren« (V. 5). Mit der »ersten Auferstehung« meint<br />
Johannes keine erste in einer Serie von Auferstehungen derselben<br />
77 Beale, Book of Revelation, S. 1004.<br />
78 Ebd.<br />
307
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
Art, sondern er betont den qualitativen Unterschied zur späteren<br />
zweiten Auferstehung. Kline schreibt:<br />
Einer der umstrittenen Punkte in der Auslegung von Offenbarung<br />
20 ist die Interpretation des Wortes protos [»erste«] im Ausdruck<br />
»die erste Auferstehung« (V. 5). Prämillennialisten verstehen<br />
»erste« im Sinne einer Serie von gleichen Auferstehungen.<br />
Sie interpretieren sowohl die »erste Auferstehung« als auch die<br />
Auferstehung von Vers 12-13 als leibliche Auferstehungen. Die<br />
Verwendung des Begriffs protos im Kontext unterstützt jedoch<br />
eine solche Auslegung nicht, sondern weist vielmehr unbestreitbar<br />
in die Richtung der amillennialistischen Interpretation. 79<br />
Wenn es stimmt, dass protos nicht unbedingt eine numerische Reihenfolge<br />
signalisiert, dann nimmt das der prämillennialistische Behauptung,<br />
beide Auferstehungen müssten leibliche Auferstehungen<br />
sein, den Boden. Der Ausdruck protos könnte tatsächlich auf einen<br />
Unterschied in der Art hinweisen, anstatt einfach eine Reihenfolge<br />
aufzuzählen. So liefert der Nachweis, dass die erste Auferstehung<br />
von anderer Art ist als die zweite, ein überzeugendes Argument für<br />
den Amillennialismus, statt – wie Prämillennialisten behaupten –<br />
den Amillennialismus zu widerlegen.<br />
Um diesen Punkt weiter zu untermauern, sehen wir uns die Verwendung<br />
des Adjektivs protos in der Offenbarung an. Es kommt<br />
gleich wieder in Kapitel 21,1 vor und veranschaulicht dort, wie Johannes<br />
den Ausdruck in Kapitel 20 verwendet. Kline schreibt:<br />
Protos bezeichnet [in 21,1] nicht einfach die gegenwärtige Welt<br />
als erste einer Serie von Welten und schon gar nicht als erste in<br />
einer Serie von Welten gleicher Art. Im Gegenteil charakterisiert<br />
protos diese Welt als anders als die »neue« Welt. Es verdeutlicht<br />
den Unterschied zwischen der gegenwärtigen und der künftigen<br />
Welt der Vollendung, die ewig bleibt. 80<br />
79 Meredith G. Kline, »The First Resurrection«, Westminster Theological Journal 37<br />
(1975): 366. Vgl. Beale, Book of Revelation, S. 1002-1015.<br />
80 Ebd., S. 366-367.<br />
308
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
Das Wort protos bedeutet in 21,1 also gerade nicht die Nummer eins<br />
in einer Serie von gleichartigen Dingen. Vielmehr verdeutlicht es<br />
einen Unterschied – hier die erste Schöpfung, die vergeht und ersetzt<br />
wird im Gegensatz zur neuen Schöpfung. Hier werden nicht<br />
eine erste und eine zweite Welt derselben Art aufgezählt, sondern<br />
zwischen einer gefallenen Schöpfung und einer erlösten Welt unterschieden.<br />
Dieser Punkt wird noch klarer, wenn wir beachten, wie Johannes<br />
den Begriff »zweite« in Offenbarung 21 verwendet. Er fungiert<br />
dort im Sinne eines Alternativausdrucks für »neu« im selben Kapitel.<br />
Der »zweite Tod« von 21,8 wird mit dem Feuersee identifiziert,<br />
der mit Schwefel brennt; er ist das Gegenteil des Todes, der<br />
zur Ordnung des »Ersten« von 21,4 gehört und der zur ersten Auferstehung<br />
führt. Daher fungieren die Ausdrücke zweite und neue<br />
als Antithese zum »ersten« (protos). »Warum auch immer bei der<br />
Beschreibung der gegenwärtigen Welt das Wort ›erste‹ verwendet<br />
wird anstatt ›alt‹, gilt jedenfalls: Diese Verwendung von ›erste‹<br />
führt ganz natürlicherweise dazu, dass neben dem Wort ›neu‹ nun<br />
auch der Begriff ›zweite‹ verwendet wird, um die zukünftige Welt<br />
zu beschreiben, besonders im Hinblick auf die Realität des ewigen<br />
›zweiten‹ Todes, für den der Ausdruck ›neu‹ mit seinem positiven<br />
Beiklang des Heils unpassend erscheinen würde.« 81 Der »erste«<br />
Himmel und die »erste« Erde vergehen, um von einem »zweiten«<br />
bzw. neuen Himmel und einer neuen Erde ersetzt zu werden. Die<br />
Begriffe drücken hier eindeutig keine Reihenfolge, sondern einen<br />
Unterschied aus.<br />
Welche Schwierigkeiten sich daraus für den Prämillennialismus<br />
in Bezug auf Offenbarung 20 ergeben, dürfte jetzt klar sein. Kline<br />
sagt dazu:<br />
Mit dieser antithetischen Gegenüberstellung von erstem Tod<br />
(dieser Ausdruck ist implizit in 21,4 enthalten) und »zweitem<br />
Tod« (21,8) konfrontiert uns Kapitel 21 mit demselben Ausdruck<br />
wie Kapitel 20, wo von der »ersten Auferstehung« (20,5-6) und<br />
der zweiten Auferstehung (implizit in diesem Kapitel vorhanden)<br />
81 Ebd.<br />
309
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
die Rede ist. Dass das übliche Pochen der Prämillennialisten darauf,<br />
dass die »erste Auferstehung« leiblich gemeint sein muss,<br />
wenn die zweite leiblich ist, wird als willkürlich entlarvt, da die<br />
Prämillennialisten in ihrer Exegese inkonsequent einen Punkt<br />
übersehen: Der erste Tod ist der Verlust des biologischen Lebens,<br />
aber der »zweite Tod« ist ein Tod anderer Art, nämlich ein Tod in<br />
eher geistlichem als buchstäblich-biologischem Sinne. 82<br />
Prämillennialisten pochen zwar darauf, die beiden Auferstehungen<br />
als leibliche Auferstehungen zu verstehen, aber beim zweiten Tod<br />
sind sie gezwungen, ihn zu »vergeistlichen«. Der zweite Tod ist kein<br />
leiblicher Tod, sondern etwas viel Schlimmeres.<br />
An dieser Stelle kann es hilfreich sein, einige andere Abschnitte<br />
des Neuen Testaments heranzuziehen, in denen die gleichen Ausdrücke<br />
verwendet werden. Wie werden sie dort gebraucht? Im Hebräerbrief<br />
bezeichnen die Ausdrücke erste und neue den Unterschied<br />
zwischen dem mosaischen Bund und dem neuen Bund, der durch<br />
den Messias eingeweiht wurde (vgl. Hebr 8,7-8.13; 9,1.15.18; 10,9).<br />
Interessanterweise wird der neue Bund auch »das zweite« genannt<br />
(10,9). Wenn die zwei größten Heilsbündnisse – der mosaische und<br />
der neue Bund – mit den Ausdrücken protos und neu voneinander<br />
unterschieden werden, dann spricht das sicher stark dafür, dass<br />
auch Johannes diese Begriffe in Kapitel 20 und 21 in diesem Sinn<br />
verwendet, um zwei Arten der Auferstehung zu unterscheiden. In<br />
Offenbarung 20 und 21 »kommt zwar der Ausdruck ›zweite‹ neben<br />
dem Ausdruck ›neu‹ vor, doch wird der Ausdruck ›neu‹ bevorzugt,<br />
um den Gegensatz zum ›ersten‹ anzuzeigen. Dementsprechend bedeutet<br />
›erste‹ in diesem Kontext nicht so sehr eine Position in einer<br />
Reihenfolge, sondern drückt den Gegensatz zum ›Neuen‹ aus.« 83<br />
Somit ist protos ein Synonym für alt, dem traditionellen Begriff für<br />
den mosaischen Bund, dem »alten Bund«.<br />
Es gibt noch weitere Beispiele, wo protos in diesem Sinne im<br />
Neuen Testament verwendet wird und wo nicht die erste Position<br />
in einer Reihenfolge gleicher Dinge gemeint ist, sondern der Unter-<br />
82 Ebd.<br />
83 Ebd., S. 367-368.<br />
310
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
schied zwischen dem einen und dem anderen. Paulus spricht vom<br />
ersten Menschen, Adam (1Kor 15,45) und vom zweiten Adam (oder<br />
Menschen) vom Himmel. Paulus denkt beim ersten und beim zweiten<br />
Adam auch nicht an eine Reihenfolge. Mit dem »ersten« Adam<br />
ist kein Adam in einer Serie von »Adams« gemeint, genauso wenig<br />
wie mit Christus kein zweiter Christus in einer Serie von Christussen<br />
gemeint ist. Paulus wollte vielmehr den Kontrast zwischen<br />
Adam (und allen, die er repräsentiert) und Christus (und allen, die<br />
er repräsentiert) herausstellen. 84 Adam war von der Erde, Christus<br />
ist vom Himmel. Adam ist das Haupt der natürlichen Menschheit,<br />
Christus ist das Haupt der erlösten Menschheit. Tod, Sünde und<br />
Schwachheit waren die Kennzeichen Adams und seiner Nachkommen,<br />
während Christus der Vorläufer derer ist, die von den Toten<br />
auferstehen. 85<br />
Nun sollte klar geworden sein: Die Begriffe erster und zweiter<br />
drücken oft den Unterschied zweier Dinge aus, speziell in Bezug<br />
auf die alte Ordnung dieser Weltzeit und die neue Ordnung des<br />
zukünftigen Zeitalters; das Erste (im Sinne von vergänglich) wird<br />
dem Zweiten oder Neuen gegenübergestellt, dem kommenden Zeitalter<br />
mit dem ewigen Auferstehungsleben. 86 Richtig verstanden<br />
bedeutet das: Johannes wollte uns in Offenbarung 20 und 21 nicht<br />
zwei leibliche Auferstehungen zeigen, sondern zwei verschiedene<br />
Ordnungen oder Arten von Auferstehungen. Das führt Kline zu<br />
dem Schluss:<br />
Die »erste Auferstehung« ist daher nicht die erste in einer Reihe<br />
gleichartiger Auferstehungen und nicht die erste von zwei<br />
(oder mehreren) leiblichen Auferstehungen. Der antithetische<br />
Gebrauch des Ausdrucks protos erfordert in diesem Kontext ei-<br />
84 Ebd., S. 368-369.<br />
85 Ebd.<br />
86 Ergänzung des dt. Hrsg.: Das Argument der Prämillennialisten, in Offb 20<br />
müsste es sich bei beiden Auferstehungen um leibliche Auferstehungen handeln,<br />
da die zweite eindeutig leiblich ist, wird auch durch einen Vergleich mit der Geburt<br />
entkräftet: Die Schrift kennt zwei Geburten, die natürliche und die Wiedergeburt,<br />
und beide werden zusammen in ein und demselben Kontext erwähnt und<br />
gegenübergestellt (z. B. in Joh 3).<br />
311
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
ne Interpretation, die diametral entgegengesetzt ist zur üblichen<br />
prämillennialistischen Annahme. Wenn die zweite Auferstehung<br />
leiblich ist, dann muss die erste Auferstehung nicht-leiblich<br />
sein … Die richtige Deutung der »ersten Auferstehung« im<br />
ineinandergreifenden Schema von erster/zweiter Auferstehung<br />
und erstem/zweitem Tod liegt nun auf der Hand. So wie die<br />
Auferstehung der Gottlosen paradoxerweise »zweiter Tod« genannt<br />
wird, so wird der Tod des Christen paradoxerweise als<br />
»die erste Auferstehung« bezeichnet (V. 4). Johannes sieht in<br />
Vers 4 die verstorbenen Christen. Die wahre Bedeutung ihres<br />
Übergangs vom irdischen Leben liegt in dem Zustand, in den<br />
sie hinübergehen. Und Johannes sieht die verstorbenen Christen<br />
mit Christus leben und herrschen (20,4.6). Dem Seher enthüllt<br />
sich das priesterlich-königliche Leben auf der himmlischen Seite<br />
des irdischen Todes des Christen. Deshalb wird die paradoxe<br />
Metapher von der »ersten Auferstehung« (V. 5ff.) für den Tod<br />
eines Gläubigen verwendet. Was für andere der erste Tod ist, ist<br />
für den Christen eine wahre Auferstehung! 87<br />
Das ist ein starkes Argument dafür, dass die erste Auferstehung<br />
von Offenbarung 20,4-6 geistlich gemeint ist, oder genauer gesagt,<br />
ist sie der Tod des Christen und sein Eintritt in den Himmel, um<br />
mit Christus zu herrschen, bis die »tausend Jahre« vollendet sind.<br />
Danach kommt Christus wieder, um die Toten aufzuwecken, die<br />
Welt zu richten und alle Dinge neu zu machen. Wenn bekehrte<br />
Gläubige den Tod schmecken, haben sie teil an der ersten Auferstehung<br />
(einer geistlichen Auferstehung), so dass am Ende des Zeitalters<br />
auch sein Leib auferweckt wird, wie Johannes sagt: Ȇber<br />
diese hat der zweite Tod keine Macht« (V. 6). Wenn sie sterben, regieren<br />
sie mit Christus, während sie die leibliche Auferstehung am<br />
Ende des Zeitalters erwarten. Doch wenn Ungläubige sterben (der<br />
erste Tod), werden sie auch noch den zweiten Tod erleben, wenn<br />
sie zu ewiger Strafe auferweckt werden. Der Unterschied zwischen<br />
den beiden Arten von Auferstehung ist nun klar geworden. Für<br />
den Christen bedeutet der Tod in Wirklichkeit eine Auferstehung<br />
87 Kline, »First Resurrection«, S. 370-371.<br />
312
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
ins Leben. Für den Nichtchristen bedeutet der Tod eine Auferstehung<br />
zum zweiten Tod.<br />
Was machen wir aber mit den Stellen, die die erste Auferstehung<br />
offenbar mit der Bekehrung gleichsetzen? Johannes 5,24-25 ist in diesem<br />
Zusammenhang wichtig. Hier heißt es: »Wahrlich, wahrlich, ich<br />
sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt<br />
hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er<br />
ist vom Tod zum Leben hinübergegangen. Wahrlich, wahrlich, ich<br />
sage euch: Die Stunde kommt und ist schon da, wo die Toten die<br />
Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die sie hören, werden<br />
leben.« Johannes sagt, dass die Gläubigen schon jetzt ewiges Leben<br />
haben. 88 Gläubige sind bereits vom Tod zum Leben gewechselt, daher<br />
haben sie schon zu Lebzeiten eine gewisse Auferstehung erfahren.<br />
Paulus sagt etwas ganz Ähnliches: Gläubige sind mit Christus<br />
lebendig gemacht worden, mit ihm auferweckt und gegenwärtig mit<br />
Christus in den Himmel versetzt (Eph 2,4-6; Kol 2,12).<br />
Das unterstützt die Auffassung, dass die erste Auferstehung<br />
zum Zeitpunkt der Bekehrung eines Gläubigen stattfindet. Leon<br />
Morris hat darauf hingewiesen, dass dieses Muster typisch für Johannes<br />
ist:<br />
Was es bedeutet, schon gegenwärtig ewiges Leben zu besitzen,<br />
wird an der Zusicherung deutlich, dass man dadurch »nicht ins<br />
Gericht kommt«. Das ist der übliche Gedanke bei Johannes,<br />
dass das Gericht etwas ist, was hier und jetzt stattfindet. Wer<br />
den Weg der Finsternis und des Bösen wählt, ist schon gerichtet.<br />
Sein Gericht besteht gerade in dieser Tatsache. Genauso ist<br />
es mit dem, der ewiges Leben hat: Seine Rechtfertigung ist hier<br />
und jetzt gegenwärtig. Er ist bereits aus dem Zustand des Todes<br />
entkommen und hat ewiges Leben erlangt. 89<br />
Ein zweiter Punkt bei Johannes ist: Wenn die Toten die Stimme<br />
des Sohnes Gottes hören, werden sie leben (5,25). Auch hier haben<br />
88 Das Verb metabaino steht im Perfekt.<br />
89 Leon Morris, The Gospel According to John, The New International Commentary on<br />
the New Testament (Grand Rapids: Eerdmans, 1984), S. 316.<br />
313
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
wir das Bild von Menschen, die geistlich tot sind und mittels des lebensspendenden<br />
Wortes Gottes zum Leben kommen. D. A. Carson<br />
weist darauf hin, dass Johannes hier das Bild von der Auferstehung<br />
in einem zweifachen Sinn gebraucht: Im ersten Sinne bezieht es sich<br />
auf das schon jetzt und ist damit strikt geistlich; im zweiten Sinne<br />
ist eine leibliche Auferstehung in der Zukunft (noch nicht) gemeint.<br />
Die innere Spannung der christlichen Eschatologie zwischen<br />
dem, was zum schon jetzt gehört und dem, was ins noch nicht<br />
fällt, wird in diesem und den folgenden Versen herausgestellt.<br />
Zum Ausdruck »die Stunde kommt und ist schon da« vgl. [Johannes]<br />
4,23. In 5,28, wo die Eschatologie ausschließlich die Zukunft<br />
meint, »kommt« die »Stunde« bzw. die Zeit erst noch; Johannes<br />
sagt nicht, sie sei schon da. Hier [in 5,25] ist die Stunde<br />
aber schon da: Das Auferstehungsleben für die leiblich Verstorbenen<br />
der Endzeit manifestiert sich bereits jetzt als Leben für<br />
geistlich Tote. Es ist die Stimme des Sohnes Gottes (d. h. sein<br />
Wort, vgl. 5,24; 6,63.68; 11,43), die die Toten herausruft, und<br />
wer diese Stimme hört, wird leben. Eine solche Stimme – ein<br />
solch lebenspendendes Wort – ist nichts anderes als die Stimme<br />
Gottes (vgl. Jes 55,3), dessen belebende Macht den lebenspendenden<br />
Geist vermittelt (vgl. 3,3.5.7; 7,37-39) und der sogar trockene<br />
Knochen zum Leben erwecken kann (Hes 37). 90<br />
Das liefert eine weitere Unterstützung für Klines Argument, dass es<br />
sich bei den Auferstehungen in Offenbarung 20 um zwei verschiedene<br />
Arten handelt, von denen eine zur alten Ordnung gehört (die<br />
geistliche Auferstehung im schon jetzt) und im Gegensatz zur Auferstehung<br />
der neuen Ordnung steht (die leibliche Auferstehung im<br />
noch nicht). Johannes 5 liefert zudem den Befund, dass dies ein für<br />
Johannes typisches Schema ist, das nicht nur in der Offenbarung,<br />
sondern auch in seinem Evangelium mehrmals vorkommt.<br />
Ich schließe daraus, dass es sich bei der ersten Auferstehung um<br />
die Wiedergeburt des Gläubigen handelt. Doch wie Beale zeigt, widerspricht<br />
diese Auffassung nicht der Ansicht Klines, insbesondere<br />
90 D. A. Carson, The Gospel According to John (Grand Rapids: Eerdmans, 1991), S. 256.<br />
314
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
wenn man die Wiedergeburt als Vorerfüllung der endgültigen Erfüllung<br />
bei der leiblichen Auferstehung versteht. 91 Christen werden<br />
in zweierlei Weise geistlich vom Tod zum Leben auferweckt: bei<br />
der Wiedergeburt (dem Übergang vom geistlichen Tod zum geistlichen<br />
Leben) und beim Tod (dem Übergang von der Erde zum<br />
Himmel). Das eine gehört notwendigerweise zum anderen.<br />
Offenbarung 20,7-10<br />
Wie wir schon gesehen haben, rekapitulieren die Verse 7-10 die<br />
Wiederkunft Christi zum Gericht, die bereits in Kapitel 19,11-21<br />
beschrieben wurde. Johannes beschreibt die Zeit nach den tausend<br />
Jahren, wenn Gott den Satan wieder freilässt. In Kapitel 19 erfahren<br />
das Schicksal des Tieres und des falschen Propheten; in Kapitel<br />
20 sehen wir das Schicksal Satans selbst. All das gehört zeitlich zum<br />
großen Abfall kurz vor Ende des Zeitalters (2Thes 2,1-12), und wenn<br />
dabei das Tier einen grausamen »Krieg gegen die Heiligen« führt<br />
(Offb 13,7), wird Christus zum Gericht wiederkommen. Die amillennialistische<br />
Auslegung dieser Stelle besagt, dass Johannes hier<br />
die Ankunft des Reich Gottes in Herrlichkeit beschreibt, wobei alle<br />
Mächte des Unglaubens ein für alle Mal niedergeworfen werden. 92<br />
Dies ist nichts Geringeres als der glorreiche Sieg der Vollendung.<br />
An diesem Tag wird es heißen: »Das Reich der Welt ist unseres<br />
Herrn und seines Christus geworden« (Offb 11,15). Das ist das Ende<br />
des Zeitalters, wenn das Vergängliche dem Ewigen weichen muss.<br />
Offenbarung 20,7-10 stellt den Prä- wie auch den Postmillennialisten<br />
vor erhebliche Probleme. Besonders problematisch ist diese<br />
Stelle jedoch für Prämillennialisten, da sie glauben, dass die satanisch<br />
inspirierte Revolte der Nationen nach der allgemeinen Auferstehung<br />
stattfindet, wo es ja auf der Erde gar keine natürlichen,<br />
nicht-auferstandenen Menschen mehr geben kann und auch keine,<br />
die nicht vor dem Jüngsten Gericht gestanden haben. Wer sind<br />
diese Menschen, die sich gegen Christus auflehnen? Wer sind die,<br />
91 Beale, Book of Revelation, S. 1012.<br />
92 Kline, »Har Magedon«, S. 222.<br />
315
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
die vom Feuer verzehrt werden? Sind das Menschen mit nichtauferweckten<br />
Leibern? Wenn ja, wo kommen sie her? Wie können sie<br />
oder ihre Vorfahren das Gericht zu Beginn des <strong>Millennium</strong>s überlebt<br />
haben? Sind es die Erlösten? Das ist undenkbar. Die Gegenwart<br />
des Bösen im <strong>Millennium</strong> ist ein Problem, um das der Prämillennialismus<br />
nicht herumkommt.<br />
Für den Postmillennialismus ist Offenbarung 20 ebenso problematisch.<br />
Meredith Kline zeigt auf: »Offenbarung 20,7-10 selbst<br />
widerlegt die postmillennialistischen Hoffnungen, denn hier wird<br />
sehr deutlich, dass die Nationen der Welt während des <strong>Millennium</strong>s<br />
keineswegs christianisierte Institutionen geworden sind.« 93<br />
Wie kann das sein, wenn das Königreich Christi die Politik, Kultur<br />
und Wirtschaft aller Länder so tiefgreifend transformiert haben<br />
soll? Diese globale Revolte entlarvt die postmillennialistische<br />
Behauptung, die Nationen der Erde würden christianisiert werden,<br />
als Irrtum. Das Ausmaß des Bösen, das hier beschrieben wird, bedeutet:<br />
Welche »christliche Transformation« der Nationen auch<br />
immer stattgefunden haben mag, sie kann nur oberflächlich und<br />
nicht tiefgreifend gewesen sein.<br />
In Vers 7 lesen wir, dass nach den »tausend Jahren« Satan aus<br />
dem Abgrund entlassen wird, aus dem Reich des Todes und des<br />
Hades, wo er während der Ära des Evangeliums gefangen gehalten<br />
wurde. 94 Jetzt erfüllt sich, was Johannes in 20,1-3 prophezeit hat.<br />
Jetzt wird die göttliche Fessel, die bisher Satans Fähigkeit unterband,<br />
die Nationen zu verführen, gelöst und Satan geht aus bis an<br />
die Enden der Erde, um die Nationen aufzuwiegeln und sie zur<br />
Schlacht zu versammeln (V. 8). Die Truppenstärke ist groß, zahlreich<br />
wie der Sand am Meer. Das ist die Erfüllung der Prophezeiung<br />
von Gog und Magog in Hesekiel 38-39. In Hesekiel ist »Gog<br />
und Magog« Israels größter Feind aus dem Norden, doch in Offenbarung<br />
20,7-10 repräsentieren sie die Völker von allen »vier Enden<br />
der Erde«. Das ist ein semitischer Ausdruck für die ganze Welt. Sa-<br />
93 Ebd., S. 221.<br />
94 Der erste Satzteil von 20,7a (»wenn die tausend Jahre vollendet sind«) ist ein unbestimmter<br />
Temporalsatz im Futur, was eine symbolische und nicht buchstäbliche<br />
Auslegung der »tausend Jahre« unterstützt. Vgl. Beale, Book of Revelation, S.<br />
1021.<br />
316
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
tan hat sie verführt und jetzt versammeln sie sich zum Krieg gegen<br />
Gottes Volk. 95<br />
Johannes erwähnt hier zum dritten Mal in der Offenbarung<br />
Hesekiels Prophezeiung von Gog und Magog (16,14-16; 19,17-<br />
21), diesmal mit einem Fokus auf die Niederlage Satans selbst. In<br />
Vers 9 werden die Anspielungen auf Hesekiel fortgesetzt. Hesekiel<br />
beschrieb, wie Gottes Feinde ins Land einfallen und dort durch<br />
Gottes Gericht eine verheerende Niederlage erleiden (Hes 39,11-20).<br />
Johannes erweitert die Prophezeiung Hesekiels auf eine weltweite<br />
Bedeutung und beschreibt, wie die Horden der Ungläubigen gegen<br />
»das Heerlager der Heiligen« heraufziehen. Das ist eine klare Anspielung<br />
auf das Lager der Israeliten in der Wüste Sinai während<br />
des Exodus. Das Lager der Heiligen ist der gleiche Ort wie die von<br />
Gott geliebte Stadt. Es ist die Gemeinde, das wahre Israel. 96<br />
Bevor aber die Rebellen Gottes Volk schlagen können, wird<br />
Gott eingreifen und die Rebellen verheeren. Johannes sagt: »Und<br />
es fiel Feuer von Gott aus dem Himmel herab und verzehrte sie«<br />
(V. 9). So wie Gott einst Elia mit Feuer vom Himmel vor dem<br />
bösen König Ahasja beschützte (2Kö 1,10-14), so wird Gott auch<br />
sein Volk vor Gog und Magog retten, indem er Gog und Magog<br />
mit Feuer vom Himmel verzehrt. Das ist das Schicksal, das den<br />
Drachen – die alte Schlange, den Teufel und Erzfeind Christi –<br />
und dessen Volk erwartet. Johannes sagt: »Und der Teufel, der sie<br />
verführt hatte, wurde in den Feuer- und Schwefelsee geworfen, wo<br />
das Tier ist und der falsche Prophet« (20,10). Im Gegensatz zu den<br />
tausend Jahren – jener begrenzten Zeitspanne zwischen dem ersten<br />
und zweiten Kommen Christi – nimmt die Qual des Teufels kein<br />
Ende und geht bis in alle Ewigkeit weiter.<br />
Jetzt sollte klar sein: Johannes spricht hier von der Vollendung,<br />
und dieses Ereignis geschieht bei der Wiederkunft Christi (Röm<br />
16,20; 2Thes 2,8), wenn das Tier und der falsche Prophet gerichtet<br />
werden (Offb 19,20). Hier gibt es zwischen dem Gericht des Tieres<br />
und des falschen Propheten und dem Gericht über Satan keine<br />
Lücke von eintausend Jahren, wie es der Prämillennialismus lehrt.<br />
95 Beale, Book of Revelation, S. 1022-1023; Kline, »Har Magedon«, S. 218-222.<br />
96 Beale, Book of Revelation, S. 1027.<br />
317
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
Johannes beschrieb dasselbe Ereignis quasi aus verschiedenen Kameraperspektiven.<br />
In Kapitel 19,20 fokussiert seine »Kamera« das<br />
Gericht über das Tier und den falschen Propheten, während sie sich<br />
in 20,7-10 auf Gottes Gericht über Satan ausrichtet. Es ist ein und<br />
dasselbe Ereignis; beides findet zur selben Zeit statt.<br />
Der Prämillennialismus geht einen ganz anderen Weg. Er sieht<br />
den Aufstand von 20,7-10 als Indiz für eine latente menschliche<br />
Neigung zur Sünde, die auch noch nach der Wiederkunft Christi<br />
und unter bestmöglichen Bedingungen im Menschen schlummert.<br />
George Ladd sagt, die Verse 7-8<br />
liefern einen Grund für die zeitlich begrenzte Herrschaft Christi<br />
im <strong>Millennium</strong>. Die Gerechtigkeit Gottes im Gericht und<br />
in der Verdammnis ist eine brennende theologische Frage …<br />
In [Offenbarung 20,7-8] stößt der nunmehr freigelassene Verführer<br />
– selbst nach der tausendjährigen Herrschaft Christi –<br />
immer noch auf Herzen, die empfänglich sind für seine Verführungen.<br />
Daraus wird klar, dass die tiefste Wurzel der Sünde<br />
nicht in Armut oder unzumutbaren sozialen oder umweltmäßigen<br />
Bedingungen oder ungünstigen Umständen liegt, sondern<br />
in der Rebellionsliebe des menschlichen Herzens. Das <strong>Millennium</strong><br />
und die darauffolgende Rebellion des Menschen beweisen,<br />
dass der Mensch die Schuld für seine Sündigkeit nicht auf ungünstige<br />
Umstände schieben kann. Im Endgericht werden sich<br />
die Ratschlüsse Gottes als gerecht und angemessen erweisen. 97<br />
Ladd gibt offen zu, dass die prämillennialistische Sichtweise eine<br />
satanisch inspirierte Rebellion gegen Christus nach seiner tausendjährigen<br />
Herrschaft erfordert. Doch scheint er nicht zu merken,<br />
was für ein schwerwiegendes Problem das mit sich bringt: Wer sind<br />
dann diese aufständischen Menschen? Wie kann es nach dem Gericht<br />
auf der Erde Menschen in natürlichen Leibern geben? 98 Was<br />
97 Ladd ist sich des Problems des Bösen im <strong>Millennium</strong> bewusst, behauptet aber<br />
dennoch weiter, dass Menschen in verherrlichten Leibern immer noch in der Lage<br />
sind, Satan zu folgen, obwohl Christus in ihrer Mitte regiert. Ladd, Commentary<br />
on Revelation, S. 269.<br />
98 Jeffrey Townsend versucht in seiner Antwort auf das Buch von Arthur Lewis The<br />
318
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
ist mit der prämillennialistischen Behauptung, eine teilweise erneuerte<br />
Erde sei gleichzeitig Heimat Erlöster und Nichterlöster? 99 Um<br />
darauf eine Antwort zu bieten, muss man wie Ladd eine tausendjährige<br />
Lücke zwischen der Wiederkunft Christi und dem Gericht<br />
einfügen – und das obwohl derselbe Prämillennialismus lehrt, der<br />
Schlüssel zur Auslegung von Offenbarung 20,1-10 sei ein buchstäbliches<br />
Verständnis der ersten Auferstehung. Doch wenn Gerichtstag<br />
und Wiederkunft Christi zeitlich zusammen gehören, stürzen<br />
sämtliche Formen des Prämillennialismus in sich zusammen.<br />
Die dispensationalistische Interpretation fügt der traditionellen<br />
prämillennialistischen Sicht noch einige Punkte hinzu und modifiziert<br />
sie dadurch grundlegend. So sagt Walvoord:<br />
Ein kurzer Überblick über die Bibel zum hier beschriebenen<br />
Tausendjährigen Reich … genügt, um die buchstäbliche Auslegung<br />
der tausend Jahre zu rechtfertigen. Johannes hält sich bei<br />
seiner Vision über dieses Reich nicht mit Details auf, sondern<br />
erklärt nur dessen Existenz und Dauer. Wie diese Herrschaft<br />
Christi auf Erden sein wird und aussieht, wird an zahlreichen<br />
Stellen des Alten Testaments beschrieben, z. B. Jes 2,2-4; 11,4‐9;<br />
Psalm 72 und vielen anderen. Aus diesen Stellen geht auch klar<br />
hervor, dass Jerusalem die Hauptstadt des Tausendjährigen<br />
Reichs sein wird (Jes 2,3) und dass es keinen Krieg mehr geben<br />
Dark Side of the <strong>Millennium</strong>, dem Problem des Bösen im <strong>Millennium</strong> auszuweichen<br />
und schreibt: »Zu Beginn des <strong>Millennium</strong>s werden alle gottlosen Überlebenden<br />
der Trübsal getötet, sodass nur Erlöste ins Tausendjährige Reich eingehen.<br />
Während des <strong>Millennium</strong>s werden deren Nachkommen gerettet oder gehen<br />
verloren, je nach ihrer Reaktion auf Jesus.« Das beantwortet Lewis’ Einwand aber<br />
nur unter dispensationalistischen Vorannahmen. Das Problem ist, dass die allgemeine<br />
Eschatologie des Neuen Testaments ausdrücklich lehrt, dass das »zukünftige<br />
Zeitalter« bei der Wiederkunft Jesu Christi beginnt und dass sie dann »weder<br />
heiraten noch sich heiraten lassen, denn sie können nicht mehr sterben; denn sie<br />
sind den Engeln gleich und Söhne Gottes, da sie Söhne der Auferstehung sind«<br />
(Lk 20,35-36). Vgl. Jeffrey Townsend, »Is the Present Age the <strong>Millennium</strong>?« Zuck<br />
(Hrsg.), Vital Prophetic Issues, S. 70.<br />
99 Robert Saucy zufolge »ist das <strong>Millennium</strong> nur die letzte Übergangsphase zur<br />
Ewigkeit«. Wie kann es nach der Vollendung noch eine Übergangsphase geben?<br />
Noch fraglicher wird das, wenn es dabei Erlöste und Unerlöste geben soll sowie<br />
eine Wiederzuwendung zum Bösen. (Vgl. Saucy, The Case for Progressive Dispensationalism,<br />
S. 288).<br />
319
Teil 3: Die Auslegung der entscheidenden Bibeltexte<br />
wird (Jes 2,4) … Das Alte Testament weist an vielen Stellen auf<br />
die Vorrangstellung Israels im <strong>Millennium</strong> hin … Israel wird<br />
wieder mit seinem Gott vereint, ausgedrückt durch das Bild des<br />
Heiratens, und transformiert werden von einer untreuen Frau<br />
zu einer Gattin, die die Liebe Jahwes erwidert. Heiden, die an<br />
den Segnungen des Königreichs teilhaben, werden beispiellose<br />
geistliche und wirtschaftliche Vorzüge erleben, und die tausendjährige<br />
Herrschaft Christi wird für die ganze Erde eine Zeit der<br />
Freude, des Friedens und des Segens sein. 100<br />
Walvoord fährt dann mit einer Beschreibung der Schlacht von<br />
»Gog und Magog« fort, wobei er abstreitet, dass diese Bezeichnungen<br />
irgendetwas mit Hesekiel 38-39 zu tun hätten, weil dann<br />
die sogenannte russische Invasion (die dispensationalistische Interpretation<br />
von Hes 38-39) in Israel ins Tausendjährige Reich fallen<br />
müsste. Daran wird erneut deutlich, wie sehr die dispensationalistischen<br />
Auffassungen ein bestimmtes Ergebnis erfordern, das schon<br />
vor der Auswertung des biblischen Befundes vorausgesetzt wird.<br />
»Hesekiels Schlacht findet wahrscheinlich schon vor dem <strong>Millennium</strong><br />
statt; wohingegen diese Schlacht erst nach den tausend Jahren<br />
ausgetragen wird. Die Zahl der Rebellen … wird als unzählbar<br />
›wie der Sand am Meer‹ beschrieben. So kommt es zum letzten gigantischen<br />
Aufstand des Menschen gegen Gottes souveräne Herrschaft,<br />
wobei die Bösen ihr Waterloo erleben.« 101 Wie Ladd ordnet<br />
100 Walvoord, Revelation of Jesus Christ, S. 301-302. Walvoords Kommentare machen<br />
deutlich: 1.) Johannes sagt wenig über die Bedingungen auf der Erde während<br />
dieser Zeit. Warum? Weil die Herrschaft Christi zu dieser Zeit im Himmel stattfindet<br />
und nicht auf der Erde. Die alttestamentlichen Stellen, die Walvoord anführt,<br />
passen besser zum endgültigen Zustand in Offenbarung 21-22 als zu einer<br />
Zeit, während der Christus im Himmel herrscht und während der Gläubige als<br />
Märtyrer sterben 2.) Walvoord gibt sich damit zufrieden, Israel als »Braut Christi«<br />
zu sehen. Was aber ist mit der Gemeinde? Das Bild der Braut ergibt nur dann<br />
Sinn, wenn die Gemeinde das wahre Israel des Neuen Testaments ist 3.) Wenn<br />
Christus im Himmel herrscht und die Trübsalszeit immer wieder ihre Märtyrer<br />
fordert, dann kann das keine Zeit des Friedens auf Erden sein. Das ganze Buch<br />
der Offenbarung ist zum Trost für jene geschrieben, die unter der Verfolgung<br />
durch das Römische Reich zu leiden hatten. Die bedrängten Christen sollten wissen:<br />
Wenn sie sterben, werden sie leben und mit Christus im Himmel herrschen.<br />
101 Walvoord, Revelation of Jesus Christ, S. 303-304. Walvoords Verständnis des Mil-<br />
320
Kapitel 15: Die tausend Jahre in Offenbarung 20,1-10<br />
auch Walvoord das Verderben Satans am Ende des <strong>Millennium</strong>s<br />
ein, tausend Jahre nach dem Verderben des Tieres und des falschen<br />
Propheten (Offb 19,20). Für Walvoord beschreibt der Rest von Kapitel<br />
20 das »große weiße Throngericht«, die zweite Auferstehung<br />
der verstorbenen Ungläubigen, den zweiten Tod und anschließend<br />
die Schaffung von neuen Himmeln und einer neuen Erde.<br />
Ich frage schlicht: Ist es das, was Johannes sagt? Und wenn<br />
nicht, was sagt er dann? Ich gebe mich damit zufrieden, dass nur<br />
die amillennialistische Auslegung von Offenbarung 20,1-10 Johannes<br />
ganz im Licht seiner eigenen Gedankenwelt sprechen lässt, und<br />
die entspringt dem Alten Testament, das sich in Jesus Christus erfüllt<br />
hat. Johannes beschreibt zunächst absolut nichts, was auf der<br />
Erde stattfindet, sondern den Abgrund (V. 1-3) und den Himmel<br />
(V. 4-6). Erst dann, »wenn tausend Jahre vollendet sind«, kommt<br />
er auf die Erde zu sprechen (V. 7-10). Johannes schildert keine Zeit<br />
des weltweiten Friedens und der Brüderlichkeit, sondern eine Zeit,<br />
während der Satan davon abgehalten wird, die Nationen zu verführen.<br />
Und Johannes beschreibt die gegenwärtige Herrschaft der<br />
Erlösten Jesu Christi und anschließend die endgültige Vollendung<br />
aller Dinge, wenn Satan – der größte Feind Christi und seines Volkes<br />
– all das empfangen wird, was er verdient hat.<br />
lenniums hat nicht das enorme Problem der Existenz des Bösen im <strong>Millennium</strong>,<br />
wie es beim historischen Prämillennialismus der Fall ist. Weil nach dispensationalistischer<br />
Ansicht nicht-auferstandene Menschen ins <strong>Millennium</strong> eingehen,<br />
überrascht eine satanische Verführung nicht. Hier sind es die Überlebenden der<br />
Trübsalszeit, die in nichtauferstandenen Leibern ins Tausendjährige Reich gehen<br />
und an dessen Ende Satan folgen. Das Problem hier besteht allerdings darin, dass<br />
das biblische Modell der zwei Zeitalter die Möglichkeit ausschließt, dass es nach<br />
der Wiederkunft Christi zum Gericht noch unverherrlichte Menschen gibt.<br />
321
TEIL 4<br />
DIE BEWERTUNG DER<br />
MILLENNIUMSMODELLE
KAPITEL 16<br />
Die Auswertung<br />
In Teil 1 haben wir einen Überblick über die verschiedenen Positionen<br />
zum Tausendjährigen Reich bekommen und uns die hermeneutischen<br />
Grundlagen der unterschiedlichen Sichtweisen angeschaut.<br />
In Teil 2 haben wir einen umfassenden biblisch-theologischen Hintergrund<br />
entwickelt, um die biblische Lehre vom <strong>Millennium</strong> besser<br />
verstehen zu können. In Teil 3 haben wir die entscheidenden<br />
Schriftabschnitte für unser Thema betrachtet. Jetzt sind wir in der<br />
Lage, kurz die wichtigsten Auslegungsprobleme aller drei Modelle<br />
zusammenzufassen. Vor welchen Herausforderungen stehen Prä-,<br />
Post- und Amillennialimus?<br />
In diesem Buch habe ich stets die amillennialistische Sichtweise<br />
des <strong>Millennium</strong>s und der damit verwandten Themen verteidigt.<br />
Der aufmerksame Leser wird sich nun sicher fragen: Wenn die Sache<br />
so klar für den Amillennialismus spricht, warum sind dann<br />
nicht alle Christen überzeugte Amillennialisten? Dafür gibt es<br />
eine ganze Reihe von Gründen. Ein Grund für die nicht umfassende<br />
Akzeptanz dieser Sichtweise liegt ganz einfach darin, dass<br />
der Amillennialismus aktuelles Zeitgeschehen nicht auf bestimmte<br />
Bibelstellen bezieht. Die amillennialistische Sichtweise entspringt<br />
vielmehr einer klaren und umfassenden reformierten Theologie.<br />
Deshalb wird der Amillennialismus nie mit einem so verlockenden<br />
System aufwarten wie der Dispensationalismus. Sprachgewandte<br />
Autoren wie Tim LaHaye und Jerry Jenkins, John Hagee, Jack<br />
Van Impe, Dave Hunt und Hal Lindsey haben es daher leicht, ihr<br />
dispensationalistisches Verständnis biblischer Texte auf alle möglichen<br />
geopolitischen Krisen anzuwenden, die gerade in den Abendnachrichten<br />
auftauchen. Wenn diese Autoren Recht haben, kann<br />
die geheime Entrückung jederzeit passieren. Schon bald könnte<br />
der Antichrist offenbar werden und die Weltbühne betreten. Das<br />
erzeugt eine faszinierende Endzeitstimmung, die theologisch fun-<br />
325
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
diertere Lehrsysteme wie den Amillennialismus uninteressant erscheinen<br />
lässt.<br />
Die Lösung für dieses Dilemma besteht darin, dass Amillennialisten<br />
besser kommunizieren müssen, dass die nah bevorstehende<br />
Wiederkunft Jesu Christi mit Weltgericht, Auferstehung der Toten<br />
und Neuschöpfung aller Dinge das Herzstück ihrer Eschatologie<br />
ist. Jesus mahnte uns: »Darum wacht! Denn ihr wisst weder den<br />
Tag noch die Stunde, in welcher der Sohn des Menschen kommen<br />
wird« (Mt 25,13). Wir gehorchen dieser Ermahnung, indem<br />
wir u. a. die Unmittelbarkeit der glückseligen Hoffnung betonen:<br />
die Wiederkunft unseres Herrn für die Seinen. Das ist ein zentraler<br />
Grundsatz des Amillennialismus und der christlichen Eschatologie<br />
überhaupt. Amillennialisten erwarten die Wiederkunft des Herrn<br />
genauso sehr wie Dispensationalisten!<br />
Ein weiterer Grund, warum der Amillennialismus im Westen<br />
nicht so weit akzeptiert ist, liegt ganz einfach in der Tatsache, dass<br />
viele den Amillennialismus einfach ungeprüft verwerfen. Das liegt<br />
zum Teil daran, dass viele beliebte Autoren, Redner und Prophetie-Experten<br />
behaupten, der Amillennialismus nehme es mit der<br />
biblischen Prophetie nicht so genau. Der Amillennialismus hat<br />
sich sogar den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen müssen,<br />
weil er angeblich Israel durch die Gemeinde ersetzt. So hat er viel<br />
»schlechte Presse« einstecken müssen, und das zum großen Teil ungerechtfertigt.<br />
Mit diesem schlechten Ruf unter Endzeit-interessierten Christen<br />
ist es schließlich kein Wunder, wenn der Amillennialismus als<br />
ernstzunehmende Alternative von vornherein ausgeschlossen wird.<br />
Das ist eine beklagenswerte Situation. Nach langjähriger Lehr- und<br />
Vortragstätigkeit in christlichen Kreisen weiß ich davon ein Lied zu<br />
singen. Doch sollte uns das nicht überraschen, denn die Beschäftigung<br />
mit einer unbekannten und kontroversen eschatologischen<br />
Sichtweise birgt immer ein gewisses Risiko. Sehr oft geben sich die<br />
Leute mit ihrer liebgewordenen Endzeit-Ansicht zufrieden – üblicherweise<br />
die Positionen, die sie bereits mit ihrer geistlichen Muttermilch<br />
aufgesogen haben –, und wenn diese Sichtweise einmal herausgefordert<br />
wird, dann beharren sie einfach auf ihrem Standpunkt.<br />
Diese Neigung gehört zur gefallenen Natur des Menschen. Wir tun<br />
326
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
uns einfach schwer, vorurteilslos, nüchtern und objektiv Themen zu<br />
überdenken, von denen wir eine feste Vorstellung haben.<br />
Ob ich Sie nun überzeugen konnte oder nicht, hoffe ich jedenfalls,<br />
dass Sie den Amillennialismus unvoreingenommen und aufgeschlossen<br />
im Licht des dargelegten biblischen Befundes prüfen.<br />
Außerdem wünsche ich mir, dass Sie die Probleme beachten, die<br />
ich bei den anderen Sichtweisen aufgezeigt habe und die wir nun<br />
kurz zusammenfassen.<br />
Gibt es Böses im <strong>Millennium</strong>?<br />
Das Problem des Prämillennialismus<br />
Zweifellos liegt die große Stärke des Prämillennialismus darin, dass<br />
er Offenbarung 20 zeitlich auf Kapitel 19 folgen lässt. Wenn Johannes<br />
die Wiederkunft Christi in Kapitel 19 schildert und dann in<br />
Kapitel 20 die tausendjährige Herrschaft Christi beschreibt, dann<br />
begründet das bereits eine Form von Prämillennialismus. Dem ersten<br />
Anschein nach ist dies ein starkes Argument für den Prämillennialismus.<br />
Sobald aber der Amillennialismus diesen Punkt herausfordert<br />
und darauf hinweist, dass Kapitel 20 zu einer anderen<br />
Vision gehört und die Ereignisse von Kapitel 19 rekapituliert, holen<br />
wir uns schnurstracks den Vorwurf ab: Der Amillennialismus vergeistlicht<br />
die Bibel! Man wirft uns vor, wir nähmen Offenbarung<br />
20 nicht ernst, denn Johannes spreche in Verbindung mit der Wiederkunft<br />
Christi von wörtlichen tausend Jahren und von einer leiblichen<br />
Auferstehung (der ersten Auferstehung). Ein wörtliches Verständnis<br />
des Bibeltextes ergibt für Christen viel mehr Sinn, und sie<br />
sind zu Recht argwöhnisch gegenüber denen, die Bibeltexte nach<br />
Belieben verdrehen. Das komplizierte Argument, apokalyptische<br />
Literatur sei vom Wesen her symbolisch zu verstehen, hat schon<br />
von vornherein einen schweren Stand gegen diese Sichtweise. Das<br />
macht es Prämillennialisten allzu leicht, den Amillennialismus als<br />
mögliche Alternative zu verwerfen, da er offensichtlich dem klaren<br />
Sinn der Schriftstelle über das Tausendjährige Reich widerspricht.<br />
Die prämillennialistische Auslegung wirft aber mehr und<br />
schwerwiegendere theologische Probleme auf, als sie löst. Diese Pro-<br />
327
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
bleme werden oft einfach übersehen. Rein theoretisch angenommen,<br />
wir würden die prämillennialistische Sichtweise vom <strong>Millennium</strong><br />
als biblisch richtig anerkennen. Welche Konsequenzen hätte<br />
diese prämillennialistische Auslegung von Offenbarung 20,1-10?<br />
Wenn der Prämillennialismus richtig ist, dann kommt Jesus<br />
Christus in Offenbarung 19 zum Weltgericht wieder und richtet<br />
dann in Offenbarung 20 seine tausendjährige Herrschaft auf. Was<br />
geschieht aber am Ende von Christi Herrschaft über die Erde? Laut<br />
Offenbarung 20,7-10 wird der Satan aus dem Abgrund befreit und<br />
zieht sofort aus, um die Nationen an den vier Enden der Erde zu<br />
verführen (das sind dieselben Nationen, die in Kapitel 19,15 gerichtet<br />
wurden). Satan versammelt sie zur Schlacht gegen das Heerlager<br />
des Gottesvolkes und gegen die geliebte Stadt Jerusalem. Am Ende<br />
fällt aber Feuer vom Himmel und verzehrt die Rebellen zusammen<br />
mit dem Satan. Doch es bleibt die Frage: Wer sind diese Menschen,<br />
die Satan verführt, sich gegen Gott aufzulehnen, um durch Feuer<br />
vom Himmel verzehrt zu werden?<br />
Dem Prämillennialismus zufolge konstituieren die Erlösten einen<br />
Teil der Menschheit im <strong>Millennium</strong>. Niemand glaubt jedoch,<br />
dass es solchen verherrlichten und auferstandenen Erlösten möglich<br />
ist, an einem derartigen Aufstand teilzunehmen, wie er in Kapitel<br />
20 beschrieben wird. Deshalb müssen die Rebellen des <strong>Millennium</strong>s<br />
Menschen sein, die entweder nicht von den Toten auferstanden<br />
sind oder die nicht in das Gericht gekommen sind, das bei<br />
Christi Wiederkunft zu Beginn des <strong>Millennium</strong>s stattgefunden<br />
hat. Dispensationalisten glauben, dass es Menschen sind, die sich<br />
nach der Entrückung bekehrt haben und die die Trübsalszeit und<br />
den Zorn des Antichristen überlebt haben. Der historische Prämillennialismus<br />
hingegen glaubt, es handele sich um Menschen, die<br />
schon zur Zeit der Wiederkunft des Herrn gelebt haben und weder<br />
auferstanden sind noch gerichtet wurden und die Erde während des<br />
<strong>Millennium</strong>s neu bevölkern.<br />
Diese Ansicht ist allerdings hoch problematisch, auch wenn<br />
hierbei Offenbarung 20 wörtlich verstanden werden soll. Im Prämillennialismus<br />
koexistieren während des <strong>Millennium</strong>s auferstandene<br />
Menschen mit ihren Auferstehungsleibern auf der Erde<br />
mit nichtauferstandenen Menschen in natürlichen Leibern. Wie<br />
328
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
kann das sein? Wo lehrt die Schrift eine solche Vermischung Auferstandener<br />
und Nichtauferstandener? Wie wir gesehen haben,<br />
erwarten alle neutestamentlichen Autoren die Vollendung bei der<br />
Wiederkunft Christi. Von einem Zwischenschritt auf dem Weg<br />
zur Vollendung in Form eines irdischen <strong>Millennium</strong>s wissen sie<br />
nichts.<br />
In diesem Zusammenhang scheint ein anderes Problem noch<br />
schwerwiegender zu sein: Unter welchen Umständen können Menschen,<br />
die bei der Wiederkunft Christi auf Erden leben, dem Gericht<br />
entkommen? Die Schrift sagt klar, dass Christus wiederkehrt,<br />
um die Welt zu richten, die Toten aufzuerwecken und alle Dinge<br />
neu zu machen. Die dann noch lebenden Gläubigen werden entrückt,<br />
um ihrem Herrn in der Luft zu begegnen. Auch die verstorbenen<br />
Gläubigen werden auferstehen und dabei sein (1Thes 4,15-17).<br />
Die aber, die nicht zu Christus gehören, werden seinen Zorn zu<br />
spüren bekommen und vor das Jüngste Gericht gestellt werden (Mt<br />
24,37-41). Das gilt für alle Ungläubigen, die bei der Wiederkunft<br />
unseres Herrn noch am Leben sind.<br />
Deshalb müssen Prämillennialisten erklären, wer diese Menschen<br />
sind, die in natürlichen Leibern während des <strong>Millennium</strong>s<br />
die Erde bevölkern. Wie sind solche Menschen zu erklären, die bei<br />
der Wiederkunft des Herrn nicht gerichtet oder auferweckt werden?<br />
Das ist besonders problematisch, weil Jesus selbst sagt, dass alle,<br />
die der zukünftigen Welt angehören, »Söhne der Auferstehung«<br />
sind (Lk 20,34-38). Außerdem sagt Paulus, dass »Fleisch und Blut<br />
das Reich Gottes nicht ererben können« (1Kor 15,50). Wenn das<br />
Zeitliche vergangen ist, können Menschen in natürlichen Leibern<br />
nicht die Erde nach der Wiederkunft Christi bevölkern.<br />
Um das Problem des Bösen und der letzten Abtrünnigkeit im<br />
<strong>Millennium</strong> zu umgehen, behaupten Prämillennialisten, das Jüngste<br />
Gericht würde erst nach dem Tausendjährigen Reich stattfinden.<br />
Bei solchen Stellen wie Matthäus 25,31-46, die ausdrücklich lehren,<br />
dass das Jüngste Gericht bei der Wiederkunft unseres Herrn stattfindet,<br />
postulieren Prämillennialisten stattdessen eine Lücke von<br />
tausend Jahren zwischen der Wiederkunft und dem Jüngsten Gericht.<br />
Dennoch pochen Prämillennialisten darauf, dass ihre Auslegung<br />
auf einer buchstäblichen Hermeneutik beruht sowie auf<br />
329
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
dem Widerstreben, prophetische Bibelstellen zu vergeistlichen. Wir<br />
müssen unseren prämillennialistischen Freunden also die unausweichliche<br />
Frage stellen: Wo in der Bibel wird diese tausendjährige<br />
Lücke zwischen Wiederkunft Christi und Jüngstem Gericht<br />
gelehrt? Die Antwort ist: nirgends. Diese Lücke muss in den Text<br />
hineingelesen werden, auch wenn das sowohl dem klaren Sinn des<br />
Bibeltextes als auch der buchstäblichen Hermeneutik des Prämillennialismus<br />
widerspricht.<br />
So wird die scheinbar größte Stärke des Prämillennialismus zu<br />
seiner größten Schwäche. Wenn Prämillennialisten Offenbarung<br />
20 richtig verstehen, dann hätten wir während des Tausendjährigen<br />
Reiches eine Mischbevölkerung aus Erlösten und Nichterlösten<br />
unter der Regentschaft Jesu. Die Herrschaft unseres Herrn würde<br />
nach Ablauf der tausend Jahre mit einer massiven satanischen<br />
Verführung der Nationen und ihrer Auflehnung gegen Christus<br />
und seine Gemeinde enden, nachdem sie tausend Jahre auf Erden<br />
geherrscht haben. Wenn das zutrifft, dann ist ein solcher Aufstand<br />
nichts Geringeres als ein zweiter Sündenfall. Nicht einmal auferstandene<br />
und verherrlichte Heilige wären sicher vor der künftigen<br />
Wut Satans und den Horden der Ungläubigen. Wenn es auch auf<br />
dem ersten Blick so scheint, als haben die Prämillennialisten den<br />
klaren Sinn von Offenbarung 20 erfasst, können die problematischen<br />
Konsequenzen einer solchen Auslegung nicht von der Hand<br />
gewiesen werden.<br />
Wir sind schon in Teil 3 genauer darauf eingegangen, dass die<br />
prämillennialistische Lesart von Offenbarung 20 nicht den besten<br />
Sinn ergibt. Man muss diese Schriftstelle genauer betrachten und<br />
dabei besonders die apokalyptische Literaturgattung berücksichtigen.<br />
Tatsächlich liefert Kapitel 20 eine Rekapitulation von Kapitel<br />
19 und ist als solche eine neue und eigenständige Vision. Die Sprache<br />
von Kapitel 20 ist hochgradig symbolisch und beschreibt keinen<br />
zukünftigen Zustand, sondern den gegenwärtigen Sieg Christi,<br />
der seinem Volk zusichert, dass es trotz Verfolgung und Märtyrertum<br />
mit ihm leben und herrschen wird. Das Neue Testament<br />
spricht an anderen Stellen von einem Abfall am Ende des Zeitalters<br />
(2Thes 2,1-12). Johannes beschreibt in Offenbarung 20,7-10 wahrscheinlich<br />
dasselbe Geschehen aus anderer Perspektive.<br />
330
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
Es ist klar, vor welchen Optionen der Ausleger steht. Entweder<br />
ist das <strong>Millennium</strong> von Offenbarung 20 die gegenwärtige Herrschaft<br />
Christi und der Triumph der Gläubigen über ihre Verfolger<br />
und Feinde (Amillennialismus), oder Kapitel 20 beschreibt eine<br />
Zeit von tausend Jahren nach Christi Wiederkunft, wobei Auferstandene<br />
und Nichtauferstandene koexistieren und es am Ende zu<br />
einem satanischen Abfall und Aufstand kommt. Dieses Szenario<br />
endet dann mit Feuer vom Himmel, das jene Aufständischen verzehrt,<br />
die zuvor unter der Herrschaft Christi gelebt haben, aber<br />
letztlich der Verführung Satans zum Opfer gefallen sind (Prämillennialismus).<br />
Die Existenz des Bösen und die Vermischung von<br />
Erlösten mit Unerlösten im irdischen <strong>Millennium</strong> machen die prämillennialistische<br />
Auslegung völlig unhaltbar.<br />
Gibt es im <strong>Millennium</strong> eine Rückkehr zu<br />
alttestamentlichen Abbildern und Schatten?<br />
Das Problem der dispensationalistischen<br />
Auslegung des <strong>Millennium</strong>s<br />
Dispensationalisten stehen nicht nur vor dem Problem des Bösen<br />
und des Abfalls im <strong>Millennium</strong>, sondern haben noch weitere<br />
Schwierigkeiten, die durch ihre Modifikation des historischen Prämillennialismus<br />
entstehen.<br />
Das Problem der dispensationalistischen Interpretation des<br />
<strong>Millennium</strong>s hat mit dem dispensationalistischen Verständnis der<br />
Heilsgeschichte zu tun. Im ganzen Alten Testament sagten die<br />
Propheten Israels das Kommen des messianischen Zeitalters voraus,<br />
und zwar in Begriffen ihrer jeweiligen Zeit und Situation in<br />
der Heilsgeschichte, besonders in Form von Bildern (Typen) und<br />
Schatten, die die messianische Erwartung ausdrückten. Doch diese<br />
alttestamentlichen Typen und Schatten werden im Neuen Testament<br />
dann im helleren Licht des ersten Kommens Jesu Christi neu<br />
interpretiert. Was im Alten Testament verheißen war, erfüllte sich<br />
in Jesus Christus. Deshalb erwarten die neutestamentlichen Autoren<br />
die letzte Vollendung bei der Wiederkunft Jesu Christi – und<br />
keine irdische Herrschaft Jesu unter den alttestamentlichen Um-<br />
331
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
ständen von Abbildern und Schatten, die nun der Vergangenheit<br />
angehörten.<br />
Sprachen die Propheten des Alten Testaments zum Beispiel von<br />
der Wiederherstellung Israels, dann sieht das Neue Testament diese<br />
Verheißung als erfüllt an: im wahren Israel, nämlich Jesus Christus.<br />
Sprachen die Propheten vom Land Kanaan, der Stadt Jerusalem<br />
und dem Berg des Herrn, dann zeigen die neutestamentlichen<br />
Schreiber, dass all dies in Jesus Christus und seiner Gemeinde erfüllt<br />
ist. Dabei schreiben sie dies oft zur Widerlegung von Juden,<br />
die Jesus nicht als Israels Messias akzeptierten. Das Neue Testament<br />
selbst liefert die sinngemäße (also literale bzw. wörtliche) Interpretation<br />
solcher alttestamentlichen Schriftstellen. Die alttestamentliche<br />
eschatologische Erwartung darf daher niemals als Verständnisbasis<br />
der neutestamentlichen Eschatologie dienen! Wenn<br />
wir die biblische Lehre über das <strong>Millennium</strong> richtig verstehen wollen,<br />
müssen wir untersuchen, wie das Neue Testament die messianische<br />
Typologie auf Jesus Christus anwendet und wie er die alttestamentlichen<br />
Erwartungen erfüllt hat und so seine Wiederkunft<br />
und die Vollendung garantiert.<br />
Besonders problematisch am dispensationalistischen Verständnis<br />
des <strong>Millennium</strong>s ist die Rückkehr zu den alttestamentlichen<br />
Abbildern und Schatten. Wenn die prophetischen Erwartungen in<br />
Jesus Christus erfüllt sind, wie können Dispensationalisten dann eine<br />
solche Rückkehr zur alttestamentlichen Heilsökonomie während<br />
des Tausendjährigen Reiches rechtfertigen? Diese vormessianische<br />
alttestamentliche Erwartung eines irdischen Reiches mit wiederhergestelltem<br />
Tempeldienst samt Tieropfern wäre eine 180°-Wendung<br />
in der Heilsgeschichte. Dispensationalisten sagen, die Typen und<br />
Schatten haben sich in Jesus Christus erfüllt, doch im <strong>Millennium</strong><br />
würde er angeblich dieselben nunmehr überholten Typen und<br />
Schatten wieder neu einsetzen. Das ist äußerst problematisch und<br />
tut dem großen Bogen und dem Ziel der Heilsgeschichte Gewalt<br />
an. Diese Eigenart des Dispensationalismus hat zum Aufkommen<br />
des progressiven Dispensationalismus geführt, der versucht, diesen<br />
Aspekt des klassischen Dispensationalismus zu umgehen.<br />
Die angebliche Rückkehr zu den Abbildern und Schatten während<br />
des Tausendjährigen Reiches wird deutlich, wenn man das<br />
332
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
dispensationalistische Verständnis des abrahamitischen und des<br />
davidischen Bundes betrachtet. Wenn Dispensationalisten behaupten,<br />
die Landverheißung des Abrahamsbundes habe sich erst mit<br />
der Staatsgründung Israels 1948 in Palästina erfüllt (und vorher<br />
nicht), dann widersprechen sie damit Paulus, der lehrt, dass der<br />
Abrahamsbund in Jesus Christus erfüllt ist. Auch Heiden, die an<br />
den Messias glauben, sind Teilhaber dieses Bundes (Röm 4,1-25;<br />
Gal 3,15-29). Paulus selbst hat die palästinische Landverheißung<br />
vergeistlicht, die ursprünglich das Land vom Nil in Ägypten bis an<br />
den Euphrat betraf (1Mo 15,18), unter Josua erfüllt wurde (Jos 21,43)<br />
und die nun die ganze Welt umfasst (Röm 4,13).<br />
Dass Dispensationalisten gern übersehen, wie das Neue Testament<br />
alttestamentliche Messiaserwartungen auf Christus anwendet,<br />
wird auch darin deutlich, dass sie abstreiten, dass Christus den<br />
Davidbund von 2. Samuel 7 erfüllt hat. Das werde sich erst dann erfüllen,<br />
wenn Jesus Christus im irdischen Tausendjährigen Reich auf<br />
dem Thron Davids in Jerusalem sitzt, um von dort die Erde zu regieren.<br />
Doch das Neue Testament lehrt klar, dass sich diese Prophezeiung<br />
mit der Himmelfahrt Jesu erfüllt hat, denn Gott hat ihn von<br />
den Toten auferweckt und ihn zu seiner Rechten auf seinen Thron<br />
erhöht. Damit ist, so sagt Petrus, die messianische Verheißung an<br />
David erfüllt, dass einer seiner Nachkommen auf seinem Thron sitzt<br />
(Apg 2,30-35). Und eben weil sich diese Verheißung in Jesus erfüllt<br />
hat, drängte Petrus seine Volksgenossen an jenem Pfingsttag dazu,<br />
Buße zu tun und sich taufen zu lassen (V. 38).<br />
Und schließlich hängt das dispensationalistische Verständnis<br />
der Heilsgeschichte von einer speziellen Auslegung der großartigen<br />
messianischen Prophezeiung in Daniel 9,24-27 ab, bei der die<br />
70. Jahrwoche Daniels erst noch in der Zukunft erwartet wird.<br />
Wie wir aber in Kapitel 12 gesehen haben, hat sich diese Prophezeiung<br />
Daniels auf herrliche Weise in Jesus Christus erfüllt, der mit<br />
seinem aktiven und passiven Leidensgehorsam der Ȇbertretung<br />
ein Ende gemacht, die Sünden abgetan, die Missetat gesühnt, eine<br />
ewige Gerechtigkeit gebracht, Gesicht und Weissagung vollendet<br />
und einen allerheiligsten Ort gesalbt hat« (Dan 9,24). Da der Messias<br />
in der Mitte der siebzigsten Jahrwoche ermordet wurde und<br />
mit seinem Volk aber einen Bund gemacht hat (9,26-27), hat er<br />
333
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
die Prophezeiung der siebzig Jahrwochen bei seinem ersten Kommen<br />
erfüllt. Daher gibt es weder eine solche siebenjährige Trübsalszeit,<br />
wie sie der Dispensationalismus lehrt, noch erwartet die<br />
Bibel einen Friedensvertrag bzw. -bund zwischen dem Antichristen<br />
und der Nation Israel. Beide Punkte sind wesentliche Inhalte der<br />
dispensationalistischen Zukunftserwartung.<br />
Aus diesen Gründen glauben Amillennialisten, dass das dispensationalistische<br />
Verständnis der Heilsgeschichte im Allgemeinen<br />
und des <strong>Millennium</strong>s im Besonderen falsch ist. Die Bibel beschreibt<br />
das <strong>Millennium</strong> nicht als Rückkehr zu den alttestamentlichen<br />
Abbildern und Schatten mit Tempeldienst und den Tieropfern,<br />
während Jesus von Davids Thron in Jerusalem aus über die<br />
Welt regiert. Vielmehr deutet der biblische Befund darauf hin, dass<br />
das <strong>Millennium</strong> das gegenwärtige Zeitalter ist, wo Jesus Christus<br />
die Erde vom Himmel aus regiert und seine Erlösten, die weder das<br />
Tier noch dessen Bild angebetet haben, auch im Tod noch triumphieren<br />
und lebendig werden, um mit Christus tausend Jahre zu<br />
herrschen. Diese tausendjährige Herrschaft Christi ist gegenwärtige<br />
Wirklichkeit!<br />
334<br />
Erwartet das Neue Testament ein<br />
Goldenes Zeitalter der Gemeinde?<br />
Das Problem des Postmillennialismus<br />
Da Postmillennialisten glauben, dass Jesus Christus nach dem <strong>Millennium</strong><br />
wiederkommt, sind sie nicht von den ersten Problemen des<br />
Prämillennialismus betroffen – die Existenz des Bösen während des<br />
<strong>Millennium</strong>s und die Koexistenz Auferstandener mit Sterblichen<br />
nach der Wiederkunft Christi. In dieser Hinsicht hat der Postmillennialismus<br />
mit dem Amillennialismus einiges gemeinsam. Doch<br />
es bleiben einige wichtige Unterschiede bestehen.<br />
Das schwerwiegendste Auslegungsproblem des Postmillennialismus<br />
betrifft die Art der neutestamentlichen Zukunftserwartung.<br />
Erwartet das Neue Testament ein goldenes Zeitalter des Reiches<br />
Christi, bei dem die Nationen praktisch christianisiert sind, was zu<br />
einem noch nie dagewesenen Aufblühen von Wirtschaft, Kultur
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
und Religion führt? Oder dreht sich die allgemeine eschatologische<br />
Erwartung des Neuen Testaments eher um ein Wiederkommen und<br />
direktes Eingreifen Christi in eine gottlose und ungläubige Welt wie<br />
zu Zeiten Noahs (Mt 24,37-38)? Die Postmillennialisten erwarten<br />
Ersteres, während Amillennialisten vom Letzteren ausgehen.<br />
Diese Debatte wird oft mit zwei Polen skizziert: dem postmillennialistischen<br />
Optimismus im Gegensatz zum amillennialistischen<br />
Pessimismus. Dabei schneiden Postmillennialisten mit ihrer<br />
Kritik und starken Rhetorik meist besser ab, besonders unter den<br />
optimistischen Amerikanern. Aber in ihrer Kritik übersehen sie<br />
leicht, dass auch die Amillennialisten optimistisch in Bezug auf<br />
das Reich Gottes sind. Es ist das Reich dieser Welt, das Amillennialisten<br />
nachdenklich stimmt. Wenn man diese Debatte allerdings<br />
auf die Richtigkeit von Optimismus oder Pessimismus beschränkt,<br />
dann verkennt man die Komplexität der Auslegungsfragen wie<br />
auch das Wesen der neutestamentlichen Eschatologie.<br />
Wie wir schon gesehen haben, erwarten die Autoren des Neuen<br />
Testaments kein <strong>Millennium</strong>, das auf der Erde anbricht, sondern<br />
ein zukünftiges eschatologisches Zeitalter, bei dem das Zeitliche<br />
dem Ewigen weichen muss, wie das sündige Fleisch dem Auferstehungsleben<br />
Platz machen muss. Obwohl das Reich Gottes durch<br />
die Herrschaft Christi und die Ausgießung des Heiligen Geistes<br />
schon jetzt Realität ist, ist die volle Verwirklichung der Segnungen<br />
des zukünftigen Zeitalters kein schrittweiser Weg oder allmählich<br />
fortschreitender Prozess. Die volle Verwirklichung dieser Segnungen<br />
wird durch Jesus Christus bei seiner Wiederkunft kommen –<br />
und nicht durch einen allmählichen Abbau und Untergang des Bösen<br />
und des Unglaubens.<br />
Ja, Satan ist während des gegenwärtigen Zeitalters durch die Verkündigung<br />
des Evangeliums »gebunden«. Und ja, das Reich Christi<br />
breitet sich aus, wenn Männer und Frauen in das Bild Christi verwandelt<br />
und zu Salz und Licht werden, da sie dadurch ihr Umfeld<br />
im Sinne Christi beeinflussen. Aber für eine Christianisierung der<br />
ganzen Welt gibt es keinen Hinweis in der Bibel. Sie lehrt sogar das<br />
Gegenteil! Bedenken wir die Klage unseres Herrn: »Doch wenn der<br />
Sohn des Menschen kommt, wird er auch den Glauben finden auf<br />
Erden?« (Lk 18,8). Die Bibel lehrt, wenn Christus zum Gericht über<br />
335
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
die Nationen wiederkommt, wird er sie für ihren Unglauben und<br />
ihre Feindschaft richten (Mt 25,31-32; Offb 19,15; 20,11-12). Dieser bedauernswerte<br />
Zustand lässt sich nur schwerlich auf eine kurze Zeit<br />
des Abfalls reduzieren, der eintritt, nachdem Christus und seine Erlösten<br />
mit ihm tausend Jahre über diese Nationen geherrscht haben<br />
und diese Nationen nach postmillennialistischer Erwartung christianisiert<br />
worden sind. Deshalb harmonieren die postmillennialistischen<br />
Erwartungen nicht mit der neutestamentlichen Betonung der<br />
Wiederkunft unseres Herrn zum Gericht über eine ungläubige Welt.<br />
Doch der Postmillennialismus muss sich noch anderen Problemen<br />
stellen. Erstens, wann soll denn das <strong>Millennium</strong> beginnen,<br />
wenn der Postmillennialismus recht hat? Denkt man sich den Beginn<br />
des <strong>Millennium</strong>s bei der Bekehrung Israels mit anschließender<br />
Christianisierung der Nationen durch die Bindung Satans,<br />
dann ist klar: Bisher hat sich weder Israel bekehrt, noch ist etwas<br />
von einer Christianisierung der Nationen zu sehen – da kann das<br />
<strong>Millennium</strong> zumindest bis jetzt noch nicht angebrochen sein. Vielmehr<br />
bleibt die drängende Frage: Wenn Postmillennialisten mit<br />
ihrer Erwartung Recht haben, was sagt das dann über den bisherigen<br />
Fortschritt des Königreichs Christi aus? Müssen wir etwa die<br />
Kirchengeschichte als klägliches Versagen einstufen, obwohl ein<br />
goldenes Zeitalter noch kommen wird? Natürlich nicht. Aber in<br />
genau diese Richtung weist uns der Postmillennialismus.<br />
Eine zweite wichtige Sache im ganzen Neuen Testament ist die<br />
Erwartung – ja, die Warnung –, dass die Gemeinde Jesu stets eine<br />
leidende Gemeinde ist, denn von innen wird sie von Abfall und<br />
Irrlehre bedroht und von außen durch die Feinde Christi, die sie<br />
verfolgen. Das Neue Testament ist voller Warnungen vor falschen<br />
Evangelien (Gal 1,6-9) und falschen Aposteln (2Kor 11,13-15). Wir<br />
werden vor gefährlichen Zeiten gewarnt, denn die »letzten Tage«<br />
sind davon geprägt, dass die Menschen Geld, Macht und Vergnügen<br />
mehr lieben als den Erlöser (2Tim 3,1ff.). Lehrt das Neue Testament,<br />
dass diese Dinge mit Beginn des <strong>Millennium</strong>s aufhören?<br />
Oder lehrt es, dass Christen während dieses ganzen Zeitalters bis<br />
zu Christi Wiederkunft mit solchen Dingen zu kämpfen haben?<br />
Auch hier glauben die Postmillennialisten Erstes, die Amillennialisten<br />
Letzteres.<br />
336
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
Und drittens: Was ist mit dem großen theologischen Paradox,<br />
dass nach dem Neuen Testament gerade in unserem Leiden und<br />
unserer Schwachheit die Gnade und Kraft Jesu Christi verherrlicht<br />
wird? Gerade in unserer fraglichen Bibelstelle Offenbarung<br />
20 spricht Johannes genau das an. Während das Tier Krieg gegen<br />
die Heiligen führt und sie scheinbar besiegt (Offb 13,7), werden<br />
die treuen Gläubigen, die die Anbetung des Tieres ablehnen und<br />
deshalb sterben müssen, wegen ihres Zeugnisses für Jesus »lebendig<br />
und regieren 1000 Jahre mit Christus« (Offb 20,4). Satan kann<br />
nicht gewinnen. Wenn er Krieg gegen die Erlösten führt und sie zu<br />
besiegen scheint, ist er in Wirklichkeit selbst schon besiegt. Johannes<br />
verdeutlicht uns: Wer von teuflischer Macht getötet wird, der<br />
wird mit Jesus leben und herrschen.<br />
Deshalb hat der Postmillennialismus zwar Recht mit seinem<br />
Optimismus in Bezug auf den Triumph des Reiches Gottes und<br />
einem Einfluss des Evangeliums auf die Welt, doch er irrt, wenn er<br />
diesen Triumph als soziokulturellen, wirtschaftlichen und religiösen<br />
Fortschritt versteht, der sich in einem irdischen Tausendjährigen<br />
Reich verwirklicht. Das Reich Christi ist nicht von dieser Welt.<br />
Doch eines Tages, so sagt Johannes, werden die »Königreiche der<br />
Welt unserem Herrn und seinem Gesalbten zuteilwerden« (Offb<br />
11,15). Dieser Tag wird erst mit der Wiederkunft unseres Herrn anbrechen,<br />
und keinen Tag früher.<br />
Ist Christus im Jahr 70 n. Chr. wiedergekommen?<br />
Das Problem des (vollen und partiellen) Präterismus<br />
Paulus warnt vor zwei Männern, Hymenäus und Philetus, deren<br />
falsche Lehren sich in der Gemeinde ausbreiteten wie ein Geschwür.<br />
Was lehrten diese Männer? Paulus zufolge »behaupten sie,<br />
die Auferstehung sei schon geschehen« (2Tim 2,17-18). Damit erklärten<br />
sie, dass es nur eine geistliche, aber keine leibliche Auferstehung<br />
gäbe. Paulus lehrt aber überaus klar, dass die Auferstehung<br />
der Gläubigen exakt eine solche leibliche Auferstehung ist wie die<br />
Auferstehung Christi selbst (vgl. 1Kor 6,14; 15,35-49; Phil 3,20-21).<br />
Aufgrund dieser Aussagen von Paulus scheidet der »volle« Präteris-<br />
337
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
mus als eschatologische Alternative für Christen aus, denn er lehrt<br />
genau das: Die Auferstehung (in rein geistlichem Sinne) sei bereits<br />
geschehen. Wenn man wie der volle Präterismus lehrt, dass Christus<br />
bereits wiedergekommen sei und die Auferstehung bei der Zerstörung<br />
Jerusalems 70 n. Chr. stattgefunden habe, dann ist man<br />
Paulus zufolge ein Irrlehrer! 1<br />
Gemäßigte (»partielle«) Präteristen glauben zwar nicht, Wiederkunft<br />
und Auferstehung hätten sich 70 n. Chr. ereignet, aber<br />
sie sind der Ansicht, dass Christus zum Gericht über Israel schon<br />
wiedergekommen sei (als Parusie), um das Ende der jüdischen Ära<br />
(»dieses Zeitalters«) zu besiegeln und das kommende Zeitalter einzuleiten.<br />
Nach Ansicht vieler gemäßigter Präteristen erklärt diese<br />
Sichtweise die neutestamentliche Spannung zwischen einerseits<br />
den Texten, die eine Naherwartung der Wiederkunft zu Lebzeiten<br />
der Apostel lehren und andererseits den Schriftstellen, die von<br />
der Wiederkunft Jesu zu Weltgericht, Totenauferstehung und Neuschöpfung<br />
sprechen.<br />
Die Lehre, dass Jesus bereits 70 n. Chr. zum Gericht erschienen<br />
sei, aber am Ende der Zeit noch einmal kommen werde, führt zu<br />
ernsthaften Auslegungsproblemen. Ein Problem der gemäßigten<br />
Präteristen ist der Glaube an eine zweifache Wiederkunft Jesu –<br />
einmal zum Gericht über Israel (also lokal begrenzt) und noch einmal<br />
zur Totenauferweckung und zum Weltgericht (universal und<br />
weltweit). Diese Sichtweise lehrt nicht nur mehrere Kommen des<br />
Herrn, sondern passt auch nicht zur Lehre Jesu und der Apostel<br />
über die zwei Zeitalter.<br />
Tatsächlich stellt uns das Neue Testament vor eine ausgesprochene<br />
Spannung zwischen Dingen, die in Jesus Christus schon erfüllt<br />
sind und solchen, die noch ausstehen wie die leibliche Auferstehung.<br />
Wie wir in Kapitel 13 bei der Betrachtung der Ölbergrede<br />
gesehen haben, lehrt Jesus, dass seine Wiederkunft sowohl nahe ist<br />
(»dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen<br />
ist«), sie sich aber auch noch hinauszögern kann (das Gleichnis von<br />
den zehn Jungfrauen). Er lehrt, dass seiner Wiederkunft bestimmte<br />
338<br />
1 Keith A. Mathison (Hrsg.), Hyper-Preterism: A Reformed Critique (Phillipsburg,<br />
N.J.: Presbyterian and Reformed Publishing, in Vorbereitung).
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
Zeichen vorausgehen, aber zugleich auch, dass seine Wiederkunft<br />
gerade dann geschehen wird, wenn wir es am wenigsten erwarten,<br />
also nach einer unbestimmten Verzögerung. Diese Spannung<br />
zwischen vorausgehenden Zeichen und plötzlicher Wiederkunft<br />
schützt vor zwei potentiellen Gefahren: dem Versuch, ein Datum<br />
zu berechnen und vor untätiger Trägheit. Christen müssen auf die<br />
Zeichen der Zeit achten, während sie in ihrem Kampf nicht müde<br />
werden, wenn unser Herr noch nicht kommt. Jesus ermahnte uns<br />
zur Wachsamkeit und warnte vor Schläfrigkeit.<br />
In den Paulusbriefen finden wir die gleiche Spannung zwischen<br />
dem schon jetzt und dem noch nicht (Röm 8,23-25). Wir haben schon<br />
jetzt Segnungen Christi erlangt, aber noch nicht in Vollendung.<br />
Paulus sagt zum Beispiel, wer durch den Glauben in Christus ist,<br />
der ist schon jetzt auferstanden und mit Christus in den Himmel<br />
versetzt (Eph 2,6), auch wenn die Erlösung unseres Leibes (die Auferstehung)<br />
noch aussteht. Nach der Auferstehung allerdings werden<br />
wir verherrlichte materielle Leiber haben, so wie Jesus Christus<br />
selbst (vgl. Lk 24,38-39; Phil 3,20-21).<br />
Die Spannung zwischen schon jetzt und noch nicht ist zwar ein<br />
zentrales Merkmal neutestamentlicher Eschatologie, doch wirft<br />
dieses Prinzip einige schwierige Auslegungsfragen auf. Präteristen<br />
versuchen, dieses Problem dadurch zu lösen, dass sie betonen, »dieses<br />
Zeitalter« sei bereits 70 n. Chr. geendet. Christus sei schon zum<br />
Gericht über Israel gekommen und habe damit das neue Zeitalter<br />
eingeleitet. Die Spannung des schon jetzt/noch nicht wird aufgelöst,<br />
indem man betont, alle eschatologischen Verheißungen Christi<br />
hätten sich zu Lebzeiten der Jünger erfüllt. Volle Präteristen räumen<br />
der Eschatologie überhaupt keinen Platz mehr ein, gemäßigte<br />
Präteristen nur wenig Platz. Außerdem eröffnet das die Möglichkeit,<br />
Schriftstellen über neue Himmel und die neue Erde (z. B. Jes<br />
2,2-4) auf das gegenwärtige Zeitalter zu deuten. Das passt sehr gut<br />
zur postmillennialistischen Erwartung eines Goldenen Zeitalters<br />
vor der Wiederkunft des Herrn. Das erklärt, warum Postmillennialisten<br />
oft eine gemäßigte präteristische Interpretation der Wiederkunft<br />
des Herrn und des <strong>Millennium</strong>s vertreten.<br />
Doch Präteristen sind nicht allein mit ihrem Unbehagen<br />
über die eschatologische Spannung des Neuen Testaments. Auch<br />
339
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
Dispensationalisten versuchen, den Einfluss der schon jetzt/noch<br />
nicht-Spannung auf die Eschatologie zu reduzieren, gehen dabei allerdings<br />
in genau die entgegengesetzte Richtung. Futuristen betonen,<br />
Jesu Verheißungen an seine Jünger würden sich am Ende des<br />
Zeitalters kurz vor der Wiederkunft des Herrn und im anschließenden<br />
Tausendjährigen Reich erfüllen. Dabei übersehen sie aber,<br />
was Jesus in Matthäus 24,34 sagt: »Dieses Geschlecht wird nicht<br />
vergehen, bis dies alles geschehen ist«. Und auch Johannes sagt:<br />
»Die Zeit ist nahe« (Offb 1,3).<br />
Die Spannung des schon jetzt/noch nicht ist ein wichtiges Element<br />
der neutestamentlichen Eschatologie, und wir sollten nicht<br />
versuchen, sie aufzulösen. Stattdessen sollten wir uns ein Verständnis<br />
des <strong>Millennium</strong>s aneignen, das dieser Spannung gerecht wird.<br />
Hier liegt eine der großen Stärken des Amillennialismus: Er leistet<br />
genau das und hat nicht nur die stimmigste Eschatologie aufgrund<br />
der biblischen Lehre von den zwei Zeitaltern, sondern belässt auch<br />
die Spannung des schon jetzt/noch nicht-Prinzips in der jeweils richtigen<br />
Perspektive.<br />
Gemäßigte Präteristen sehen sich dem Problem gegenüber, dass<br />
das Neue Testament an keiner Stelle von einer lokal begrenzten<br />
Wiederkunft Jesu zum Gericht über Jerusalem 70 n. Chr. spricht.<br />
In der Ölbergrede beschreibt Jesus sein Kommen als sichtbar: »Wie<br />
der Blitz vom Osten ausfährt und bis zum Westen scheint …«, und<br />
mit kosmischen Begriffen: »Die Sonne wird verfinstert werden und<br />
der Mond wird seinen Schein nicht geben und die Sterne werden<br />
vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels erschüttert werden«<br />
(Mt 24,24.27). Israel ist 70 n. Chr. zwar verwüstet worden,<br />
aber die Bibel lehrt an keiner Stelle, dass mit dem sichtbaren Gericht<br />
Jesu Christi die Ereignisse von 70 n. Chr. gemeint sind. Jesus<br />
wird zum Gericht über die Nationen wiederkommen, und dann<br />
werden die Bewohner der Erde sich vor Angst verkriechen wollen<br />
(Offb 6,15-17).<br />
Das vielleicht schwerwiegendste Problem der vollen wie gemäßigten<br />
Präteristen ist, dass sie nicht einsehen, dass es sich beim Ende<br />
dieses Zeitalters und der Vollendung des neuen Zeitalters nicht<br />
nur um Meilensteine der Heilsgeschichte handelt, sondern um deren<br />
Ende. Zweifellos haben die Ereignisse von 70 n. Chr. teilweise<br />
340
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
das erfüllt, was unser Herr seinen Aposteln in Bezug auf das bevorstehende<br />
Gericht über Israel vorausgesagt hat. Doch nicht die Zerstörung<br />
Jerusalems und des Tempels markieren das Ende des Zeitalters,<br />
sondern dieses Ende kommt beim Weltgericht bei der »Vollendung<br />
des Zeitalters« (Mt 13,40). Die Ereignisse von 70 n. Chr.<br />
markieren nicht den Anbruch des zukünftigen Zeitalters, sondern<br />
es bricht mit der Vollendung an (Lk 20,35). Wenn auch die Ereignisse<br />
um 70 n. Chr. von großer heilsgeschichtlicher Bedeutung<br />
sind, so sind sie doch nicht mit der Wiederkunft unseres Herrn<br />
zum Gericht gleichzusetzen. Der Gegensatz zwischen diesem jetzigen<br />
und dem zukünftigen Zeitalter ist ein Gegensatz von zeitlichen<br />
und ewigen Dingen. Dieser Gegensatz bereitet präteristischen<br />
Auslegern erhebliche Probleme, da sie versuchen, diesen Bruch auf<br />
die Zerstörung Jerusalems zu begrenzen. Die beiden Zeitalter sind<br />
nicht einfach zwei Phasen der Heilsgeschichte, sondern zwei separate<br />
eschatologische Epochen, wobei das künftige Zeitalter erst mit<br />
der Wiederkunft unseres Herrn in Vollendung verwirklicht wird.<br />
Was ist mit dem »Vergeistlichen« von Prophetie,<br />
der Bindung Satans und der Nation Israel?<br />
Potentielle Probleme des Amillennialismus<br />
Auch wenn ich glaube, dass der Amillennialismus das biblische<br />
Verständnis des Tausendjährigen Reiches ist, müssen sich auch<br />
Amillennialisten den logischen Konsequenzen ihrer Interpretationen<br />
stellen. Vertreter anderer Auffassungen haben eine ganze Reihe<br />
potentieller Probleme des Amillennialismus aufgezeigt.<br />
Wenn z. B. Dispensationalisten den Vorwurf erheben, dass<br />
Amillennialisten prophetische Schriftstellen vergeistlichen, haben<br />
wir bereits gesehen, dass es vielmehr die Dispensationalisten<br />
sind, die die Bibel nicht korrekt lesen (nämlich »literalistisch« bzw.<br />
überbuchstäblich). Wenn Amillennialisten die alttestamentlichen<br />
Reichgottes-Erwartungen vom Neuen Testament interpretieren<br />
lassen, stellt sich ironischerweise heraus, dass sie die betreffenden<br />
neutestamentlichen Stellen wörtlicher nehmen als die Dispensationalisten.<br />
Während Prämillennialisten darauf beharren, dass ihr<br />
341
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
Verständnis von Offenbarung 19 und 20 dem klaren Sinn des Bibeltextes<br />
entspricht, haben wir gesehen, dass Offenbarung 20 in<br />
Wirklichkeit eine Rekapitulation von Offenbarung 19 ist. Hat der<br />
Prämillennialismus Recht, dann steht er vor einem viel größeren<br />
Problem: Wie kommt das Böse ins Tausendjährige Reich, nachdem<br />
Christus wiedergekommen ist und die Welt gerichtet hat?<br />
Ein weiterer häufiger Einwand gegen den Amillennialismus besteht<br />
darin, dass Amillennialisten lehren, dass Satan gegenwärtig<br />
gebunden ist, wo doch das Neue Testament lehrt, dass Satan der<br />
»Gott dieser Welt« ist, der den »Sinn der Ungläubigen verblendet<br />
hat« (2Kor 4,4) und der »umhergeht wie ein brüllender Löwe und<br />
sucht, wen er verschlingen kann« (1Petr 5,8). Wie kann das sein?<br />
Wenn man die große Bosheit dieser Welt bedenkt, wie können<br />
Amillennialisten da sagen, dass der Satan gebunden sei und erwarten,<br />
dass irgendjemand das ernstnimmt?<br />
Der Apostel Johannes erklärt uns in Offenbarung 20, was die<br />
Bindung Satans tatsächlich bedeutet. Eingesperrt im Abgrund ist<br />
der Teufel nicht mehr in der Lage, die Nationen zu verführen, bis<br />
er kurz vor dem Ende der Welt wieder freigelassen wird (20,3). Das<br />
heißt nicht, dass dadurch jegliche Aktivität Satans unterbunden<br />
wird. Gerade weil er aus dem Himmel geworfen wurde und im Abgrund<br />
gefangen ist, ist er so wütend, sagt Johannes, und weiß, dass<br />
ihm nur noch »kurze Zeit« bleibt. Jesus Christus hat der Schlange<br />
den Kopf zertreten. Der Erlöser hat ihn auf Golgatha »öffentlich<br />
zur Schau gestellt« (Kol 2,15). Der Teufel ist besiegt und erniedrigt.<br />
Deshalb ist er voller Wut und verhält sich wie ein verwundetes Tier,<br />
das sich wild gegen seine Fessel sträubt. Doch die unaufhörlichen<br />
Versuche Satans, die Nationen gemeinsam gegen Christus und sein<br />
Reich aufzubringen, werden solange unterbunden, bis er freigelassen<br />
wird. Erst dann ist er in der Lage, die Nationen in eine organisierte<br />
finale Revolte gegen Christus zu führen und den großen<br />
Abfall auszulösen, den Johannes und Paulus vorausgesagt haben.<br />
Eine weitere möglicherweise problematische Konsequenz der<br />
amillennialistischen Interpretation ist die Tatsache der neuerlichen<br />
Existenz Israels in Palästina. Zwar besteht nicht unbedingt eine<br />
Verbindung zwischen der Staatsgründung Israels und der Bestätigung<br />
oder Widerlegung des Amillennialismus – und Amillennialis-<br />
342
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
ten sind tatsächlich uneins in der Frage nach einer etwaigen künftigen<br />
Rolle Israels –, doch viele Gegner des Amillennialismus sehen<br />
in der Staatsgründung Israels ein starkes Gegenargument. Das liegt<br />
zum Teil daran, dass zwei führende Vertreter der sogenannten »niederländischen<br />
Schule« des Amillennialismus (Louis Berkhof und<br />
Herman Bavinck) in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gesagt<br />
haben, der Dispensationalismus sei allein deshalb falsch, weil er<br />
behauptet, Israel würde wieder zu einer Nation werden. 2 Als Louis<br />
Berkhof 1939 sein bedeutendes Werk Systematic Theology fertigstellte,<br />
war eine Staatsgründung Israels noch undenkbar. Berkhof<br />
konnte nicht ahnen, was der Zweite Weltkrieg mit sich bringen<br />
würde: den Holocaust und die Neugründung Israels 1948. Er hat<br />
sich in seiner Argumentation einfach zu weit aus dem Fenster gelehnt.<br />
Der Dispensationalismus sieht in der Rückkehr der Juden in<br />
ihre alte Heimat freilich eine Bestätigung seiner Lesart biblischer<br />
Prophetie sowie einen Gegenbeweis zur amillennialistischen Sicht,<br />
dass sich der Abrahamsbund in Jesus Christus erfüllt hat.<br />
In unserer Auslegung von Römer 11 (Kapitel 14) habe ich gezeigt,<br />
dass auch manche Amillennialisten an keine zukünftige Rolle<br />
des Volkes Israel glauben. Sie meinen, »ganz Israel« (Röm 11,26)<br />
beziehe sich auf die Vollzahl der Erwählten oder auf die Gesamtheit<br />
des gläubigen Überrests aller Zeiten. Andere Amillennialisten<br />
glauben an eine jüdische Massenbekehrung vor der Wiederkunft<br />
unseres Herrn, wenn die Vollzahl der Heiden eingegangen sein<br />
wird. Unabhängig davon glauben Amillennialisten jedenfalls, dass<br />
die Staatsgründung Israels nicht mit der Erfüllung des Abrahamsbundes<br />
zusammenhängt, sondern vielmehr mit Gottes unergründlicher<br />
Vorsehung in der Weltgeschichte. Amillennialisten glauben<br />
auch nicht, dass Paulus in Römer 11 irgendetwas von einem irdischen<br />
<strong>Millennium</strong> sagt, und das ist immerhin die einzige Stelle<br />
im Neuen Testament, wo Paulus das Thema von einer möglichen<br />
zukünftigen Rolle Israels in der Heilsgeschichte behandelt.<br />
Doch auch wenn die Landverheißung des Abrahambundes sich<br />
bereits erfüllt hat, ist die kollektive Rückkehr der Juden in ihr altes<br />
2 Berkhof, Systematic Theology, S. 698ff.; Herman Bavinck, The Last Things, (Grand<br />
Rapids: Baker, 1996), S. 107.<br />
343
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
Heimatland fraglos bemerkenswert. Diese Tatsache kann der Amillennialismus<br />
nicht einfach von der Hand weisen. Israel ist wieder<br />
eine Nation. Die Juden sind als Volk zum großen Teil wieder an<br />
einem Ort versammelt. Der Amillennialismus wird sich um eine<br />
stichhaltige Erklärung für diese erstaunliche historische Entwicklung<br />
kümmern müssen, doch er wird sich davor zu hüten haben,<br />
seine Bibelauslegung vom Weltgeschehen bestimmen zu lassen. Die<br />
Antwort auf diesen Einwand hat Paulus in Römer 11 gegeben.<br />
Paulus lehrt in Römer 11 nicht, dass die Gründung des modernen<br />
Staates Israel den Abrahamsbund erfüllt oder mit einem<br />
irdischen Tausendjährigen Reich zu tun hat. Vielmehr muss die<br />
Staatsgründung Israels in Verbindung mit etwas anderem gesehen<br />
werden: Paulus erwartete, dass sich der Großteil Israels unmittelbar<br />
vor der Wiederkunft Jesu Christi zum Glauben an Jesus Christus<br />
bekehren wird. Israels Versöhnung mit Gott ist nach Paulus nichts<br />
weniger als eine wahrhaftige »Auferstehung aus den Toten« (Röm<br />
11,15). Zwar ist Israel gestrauchelt, sagt Paulus, doch nicht so, dass<br />
es außerhalb der Möglichkeit einer Wiederherstellung gefallen wäre<br />
(11,11). Wenn Gott sündige Heiden durch deren Glauben an Jesus<br />
Christus rechtfertigen kann, so kann er dasselbe auch mit jenen<br />
Juden tun, wenn sie den Messias im Glauben annehmen (11,17-24).<br />
Das bedeutet, die Neugründung Israels ist so gut wie sicher mit<br />
dem sehnlichen Wunsch von Paulus verbunden: die Rettung seines<br />
Volkes (Röm 10,1). Wenn man das im Auge behält, kann es keinen<br />
Zweifel daran geben, dass eine zukünftige Massenbekehrung Israels<br />
(der ethnischen Juden) durch die Existenz des Staates Israel und<br />
der Rückkehr eines Großteils der Juden in ihr Land sehr erleichtert<br />
werden wird. Das ist zwar keine Verbindung zum abrahamitischen<br />
Bund, gehört aber ganz sicher zur unergründlichen Vorsehung<br />
Gottes. Was es damit allerdings genauer auf sich hat, wird man der<br />
zukünftigen Entwicklung des Heilsgeschehens überlassen müssen.<br />
344<br />
Abschließende Gedanken<br />
Als jemand, der im Dispensationalismus aufgewachsen ist, habe<br />
ich eine lange und schwierige »Bekehrung« zum Amillennialismus
Kapitel 16: Die Auswertung<br />
hinter mir. Ich weiß aus erster Hand, dass der Kampf mit dieser<br />
Thematik nicht leicht ist. Aber nachdem ich die Beweislast für den<br />
Amillennialismus abgewogen hatte, befand ich die Argumente als<br />
überzeugend und sogar überwältigend. Der Amillennialismus erklärt<br />
nicht nur die eschatologische Erwartung der neutestamentlichen<br />
Autoren am schlüssigsten, sondern löst auch die Schwierigkeiten,<br />
die ich schon immer mit dem Dispensationalismus und dem<br />
Prämillennialismus gehabt habe. Weshalb sollte ein Tausendjähriges<br />
Reich von einer Rückkehr zu den alten Abbildern und Schatten<br />
geprägt sein? Wenn Jesus der wahre Tempel ist, warum sollte dann<br />
der Tempel im <strong>Millennium</strong> wieder aufgebaut werden? Wozu all die<br />
Tieropfer, wenn der Tod Christi am Kreuz sie beendet hat? Wie<br />
kann es nach der Wiederkunft Christi noch Menschen mit natürlichen<br />
Leibern auf der Erde geben? Warum müssen die Verfechter<br />
buchstäblicher Auslegung von Prophetie in Daniels siebzig Jahrwochen<br />
und in Jesu Lehre vom Gericht bei seiner Wiederkunft große<br />
Zeiträume einfügen? All das hat mich eine Zeitlang sehr beschäftigt,<br />
und je mehr Prediger und Bibellehrer ich dazu befragte, desto<br />
verstörendere Antworten bekam ich.<br />
Während meines Studiums am Seminar überraschte es mich zu<br />
entdecken, dass die Amillennialisten prophetische Stellen durchaus<br />
wörtlich nahmen, während mich meine dispensationalistische<br />
Hermeneutik zu überbuchstäblichen Interpretationen alttestamentlicher<br />
Stellen verleitete, die im Neuen Testament ganz anders gedeutet<br />
werden. Eine Zeitlang liebäugelte ich mit dem Postmillennialismus,<br />
weil der am Amillennialismus bemängelte, das <strong>Millennium</strong><br />
auf eine Zeit der Niederlage für die Gemeinde Christi zu reduzieren<br />
und Christen dazu zu bringen, ihren soziokulturellen Auftrag zu<br />
vernachlässigen. Letzten Endes kam ich aber zu der Überzeugung,<br />
dass der Postmillennialismus sein Herzstück, ein künftiges irdisches<br />
Goldenes Zeitalter mit einer christianisierten Welt, nicht aufrecht<br />
halten kann. Wenn einige Amillennialisten sich zu wenig um ihre<br />
Aufgaben in Staat und Gesellschaft kümmern, ist das kein biblisches<br />
Argument gegen den Amillennialismus. Vielmehr ist es eine<br />
beschämende Erinnerung daran, dass wir alle Sünder sind und viele<br />
von uns hinter ihren eigenen theologischen Ansprüchen zurückbleiben.<br />
Die Geschichte der westlichen Zivilisation hat gezeigt, dass der<br />
345
Teil 4: Die Bewertung der <strong>Millennium</strong>smodelle<br />
christliche Einfluss auf die Gesellschaft zeitweise überbetont wird<br />
und zeitweise vernachlässigt wird. Aber diese Polarität finden wir<br />
schon im Neuen Testament, besonders in der Spannung zwischen<br />
dem schon jetzt und dem noch nicht. Das Wachstum des Reiches<br />
Gottes zieht zweierlei Auswirkungen nach sich: Einerseits macht<br />
sich der christliche Einfluss in Kultur und Gesellschaft deutlich bemerkbar,<br />
andererseits schlägt der Gemeinde satanischer Widerstand<br />
entgegen, der zur Verfolgung des Volkes Gottes führt und die Verbreitung<br />
des Evangeliums verhindern will, aber nicht kann.<br />
Das Neue Testament lehrt jedoch, dass Gott den Satan kurz vor<br />
dem Ende freilassen wird, und dann wird das Böse massiv hereinbrechen.<br />
Nach der Drangsal jener Tage wird Jesus die Toten auferwecken<br />
und die Welt richten, und dann wird er alle Dinge neu<br />
machen. Das ist nicht nur das Herzstück der biblischen Lehre von<br />
der Zukunft, sondern auch das Herzstück der amillennialistischen<br />
Zukunftserwartung.<br />
Die Meinungsunterschiede in Sachen Tausendjähriges Reich<br />
sind zwar nicht heilsentscheidend, doch diese Unterschiede haben<br />
großen Einfluss darauf, wie wir große Teile der Bibel verstehen und<br />
in welcher Zukunftserwartung wir leben. Auch wenn einige Christen<br />
es ablehnen, überhaupt eine Meinung zum <strong>Millennium</strong> zu haben<br />
und daher »Panmillennialisten« sind, die alles (pan) für möglich halten<br />
und einfach abwarten, ist die Endzeit nicht nur eine Streitfrage,<br />
sondern ein zentrales biblisches Thema, das es wert ist, gründlich im<br />
Licht der Heiligen Schrift studiert zu werden.<br />
Trotz unserer vielen Differenzen und manchmal auch hitzigen<br />
Diskussionen sollten wir das Wichtigste nicht aus den Augen verlieren:<br />
Alle Christen, ob Prä-, Post- oder Amillennialisten, sehnen<br />
sich nach jenem Tag, an dem unser Herr Jesus Christus für sein<br />
Volk wiederkommt und der Sünde und dem Leiden ein Ende bereitet.<br />
Das ist die glückselige Hoffnung – an jenem Tage werden<br />
wir sein wie er. Kein Fluch wird mehr sein und alles wird neu. Der<br />
passende Abschluss dieses Abhandlung ist daher das gemeinsame<br />
Einstimmen in das Gebet von Paulus in 1. Korinther 16,22: »Maranatha!<br />
Komm, o Herr!«<br />
346
ANHANG<br />
Grafiken zu den zwei Zeitaltern 1<br />
Himmelfahrt<br />
Wiederkunft<br />
Schöpfung<br />
und Sündenfall<br />
Dieses Zeitalter<br />
(in seinen letzten Tagen)<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
die Herrscher dieser<br />
Weltzeit vergehen<br />
die Welt vergeht<br />
die Finsternis vergeht<br />
Christus erschien am<br />
Ende der Zeitalter<br />
die Christen sind<br />
diejenigen, ȟber die<br />
das Ende der Zeitalter<br />
gekommen ist«<br />
usw.: Jak 5,3;<br />
Hebr 1,2; 1Petr 1,20;<br />
2Tim 3,1.5 u.a.<br />
Das kommende Zeitalter<br />
Neue Schöpfung<br />
und Reich Gottes<br />
Neue Schöpfung<br />
und Reich Gottes<br />
Das kommende Zeitalter<br />
Das kommende Zeitalter<br />
Alte Schöpfung<br />
und Herrschaftsbereich<br />
Alte Schöpfung<br />
Satans<br />
und Herrschaftsbereich<br />
Satans<br />
Dieses Zeitalter<br />
Dieses Zeitalter<br />
1 Vom deutschen Hrsg. hinzugefügt, entnommen aus Samuel Waldron: Endzeit?<br />
Eigentlich ganz einfach! (Oerlinghausen: Betanien Verlag, 2013), S. 52-58 und 119.<br />
347
Anhang: Grafiken zu den zwei Zeitaltern<br />
Vorhergehende Seite:<br />
Oben: »Dieses Zeitalter«, die »letzten Tage« und das zukünftige Zeitalter,<br />
unterteilt durch die zwei Kommen Jesu Christi.<br />
Unten: Das sich daraus ergebende Überlappen der zwei Zeitalter.<br />
Neue Schöpfung<br />
und Reich Gottes<br />
Das kommende Zeitalter<br />
Ewiges Leben<br />
Sohnschaft<br />
Erlösung<br />
Rechtfertigung<br />
Ewiges Leben<br />
Sohnschaft<br />
Erlösung<br />
Rechtfertigung<br />
Alte Schöpfung<br />
und Herrschaftsbereich<br />
Satans<br />
Dieses Zeitalter<br />
Oben: Die überlappenden zwei Zeitalter mit Aspekten der Erlösung, die<br />
»schon jetzt« da sind, aber »noch nicht« in Vollendung.<br />
Unten: Die sich daraus ergebende Spannung im Leben des Christen.<br />
Gerechtigkeit<br />
Freude<br />
Leben<br />
Licht<br />
Neue Schöpfung<br />
und Reich Gottes<br />
Das kommende Zeitalter<br />
der Christ<br />
Alte Schöpfung<br />
und Herrschaftsbereich<br />
Satans<br />
Sünde<br />
Elend<br />
Tod<br />
Finsternis<br />
Dieses Zeitalter<br />
348
Anhang: Grafiken zu den zwei Zeitaltern<br />
Wachstum<br />
Segen<br />
Triumph<br />
Neue Schöpfung<br />
und Reich Gottes<br />
Das kommende Zeitalter<br />
die Gemeinde<br />
Alte Schöpfung<br />
und Herrschaftsbereich<br />
Satans<br />
Bedrängnis<br />
Verfolgung<br />
Abfall<br />
Dieses Zeitalter<br />
Oben: Die sich aus dem Überlappen der Zeitalter ergebende Spannung für<br />
die Gemeinde.<br />
Unten: Die Einordnung des <strong>Millennium</strong>s aus Offenbarung 20 in das heilsgeschichtliche<br />
Schema.<br />
Das <strong>Millennium</strong> im Himmel<br />
Mit Christus herrschen<br />
(V. 4-6)<br />
Das kommende Zeitalter<br />
Himmelfahrt<br />
Das <strong>Millennium</strong> auf Erden<br />
Satan gebunden und losgelassen<br />
(V. 1-3 und 7-10)<br />
Wiederkunft<br />
Dieses Zeitalter<br />
349
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Der Triumph des Lammes<br />
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Gebunden · 478 Seiten<br />
ISBN 978-3-935558-30-3<br />
23,90 Euro<br />
Endlich ein reformatorisch geprägter Kommentar auf Deutsch!<br />
Er hilft die Offenbarung zu verstehen, ohne die Auslegung immer<br />
wieder je nach politischer Lage ändern zu müssen. Die Bildersprache<br />
der Offenbarung wird mit gesunder Schriftauslegung vom Alten<br />
Testament her gedeutet und zeigt uns den geistlichen Krieg<br />
hinter den Kulissen und den letztendlichen Sieg Christi – auch auf<br />
ganz praktische und seelsorgerliche Weise.<br />
»15 Jahre lang habe ich die Offenbarung gemieden, weil ich dachte,<br />
sie sei zu schwierig zu verstehen. Dann war es höchste Zeit, diese<br />
Vernachlässigung dieses Teils von Gottes Wort zu beenden. Ich<br />
danke Dennis Johnson für diesen Kommentar, der gut begründet<br />
ist, ohne in den heute üblichen Sensationalismus zu verfallen. Ich<br />
hätte mir nie erträumt, dass die Offenbarung sich mir erschließt<br />
oder gar mein Lieblingsbuch der Bibel wird. Dabei bringt es die<br />
gesamte Bibel wunderbar auf den Punkt.« (Stan Mccullars, Rezensent<br />
auf amazon.com)<br />
»Wann immer die Offenbarung auf unser Herz so wirkt, wie Gott<br />
es beabsichtigt hat, werden wir Jesus mehr vertrauen, lieben und<br />
fürchten.« (Dennis E. Johnson)
Weitere Bücher vom Betanien Verlag<br />
Samuel E. Waldron<br />
Endzeit? Eigentlich ganz einfach!<br />
Verständliche biblische Lehre statt komplizierter Systeme<br />
Paperback · 274 Seiten · ISBN 978-3-935558-43-3 · 14,90 Euro<br />
Der Autor entfaltet die biblische Zukunftslehre durch sorgfältige Schriftauslegung:<br />
Klare Bibelstellen liefern das Grundmuster, in dem auch schwierige<br />
Stellen verständlich werden. Ein klares Modell von zwei Zeitaltern erscheint.<br />
Francis Schaeffer<br />
Wie können wir denn leben?<br />
Aufstieg und Niedergang der westlichen Kultur<br />
Paperback · 238 Seiten · ISBN 978-3-935558-37-2 · 13,90 Euro<br />
Mit seiner Geistes- und Kulturgeschichte aus christlicher Sicht bietet Schaeffers<br />
Klassiker Allgemeinbildung im besten, biblischen Sinne und schärft unser<br />
geistliches Urteilsvermögen bezüglich der Entwicklung dieser Welt.<br />
Michael Lawrence<br />
Biblische Theologie für die Gemeinde<br />
Ein Leitfaden für die Anwendung von Gottes Offenbarung<br />
Paperback · 278 Seiten · ISBN 978-3-935558-45-7 · 13,90 Euro<br />
Eine sehr lehr- und hilfreiche Einleitung in die Biblische Theologie – in die<br />
Lehre von den roten Fäden der Bibel; mit großem Praxisbezug. Wie erkennt<br />
und vermittelt man den »ganzen Ratschluss Gottes« in lebensprägender Weise?<br />
Stephen Westerholm<br />
Angriff auf die Rechtfertigung<br />
Die Neue Paulusperspektive auf dem Prüfstand<br />
Paperback · 126 Seiten · ISBN 978-3-945716-03-8 · 9,90 Euro<br />
Ein notvolles aktuelles Thema: Die Rechtfertigung allein aus Glauben –<br />
Kernpunkt der Reformation – wird heute massiv angegriffen. Der Autor untersucht<br />
diese »Neuen Paulusperspektive« und prüft sie anhand der Bibel.<br />
Gregory Beale<br />
Der Tempel aller Zeiten<br />
Die Wohnung Gottes und der Auftrag der Gemeinde<br />
Gebunden · 480 Seiten · ISBN 978-3-935558-30-3 · 23,90 Euro<br />
Eine tiefschürfende biblisch-theologische Studie darüber, wie Gott durch das<br />
Tempel-Motiv die ganze Bibel hindurch zeigt, wie er unter seinem Volk wohnen<br />
und seine Herrlichkeit ausbreiten will – von Eden angefangen bis hin zum<br />
großen Ziel, dass in der Ewigkeit Jesus und die Gemeinde dies erfüllen werden.