ZAP-2020-05
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
5 <strong>2020</strong><br />
4. März<br />
32. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />
Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />
Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Wenn jemand eine Reise tut, … (S. 233)<br />
Anwaltsmagazin<br />
DAV kritisiert Entwurf zum Unternehmenssanktionenrecht (S. 237) • Höhere Kilometerpauschale<br />
für Anwälte und Notare (S. 239) • Anwaltliche Unabhängigkeit von Uni‐Dozenten (S. 240)<br />
Aufsätze<br />
Börstinghaus, Kündigung von Wohnraummietverträgen: Rechtsfolgen (Teil 2) (S. 247)<br />
Stollenwerk, Rechtsprechungsübersicht zum Familienrecht (S. 253)<br />
Burhoff, Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (S. 269)<br />
Rechtsprechung<br />
BGH: Mieterhöhungsverlangen (S. 241)<br />
AG Dortmund: Trunkenheitsfahrt mit E‐Scooter (S. 245)<br />
AGH Hamm: Vorläufiges Berufsverbot (S. 246)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 233–234<br />
Anwaltsmagazin – – 235–240<br />
Rechtsprechung 1 25–30 241–246<br />
Börstinghaus, Kündigung von Wohnraummietverträgen:<br />
Die Formalien und Rechtsfolgen (Teil 2) 4 1867–1872 247–252<br />
Stollenwerk, Rechtsprechungsübersicht zum<br />
Familienrecht – 2. Halbjahr 2019 11 R 1<strong>05</strong>3–1068 253–268<br />
Burhoff, Verfahrenstipps und Hinweise für<br />
Strafverteidiger (I/<strong>2020</strong>) 22 R 1159–1168 269–278<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />
Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />
Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • Dr. David<br />
Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer,<br />
Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA<br />
Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />
Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />
(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />
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Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />
Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
„Wenn jemand eine Reise tut, …<br />
… so kann er was verzählen“ (MATTHIAS CLAUDIUS,<br />
Urians Reise um die Welt). Nein, es ist nicht die<br />
Rede von der Deutschen Bahn; dafür würde der<br />
Platz hier ohnehin nicht ausreichen. Die Rede ist<br />
von der Deutschen Justiz, genauer gesagt von<br />
deren Kostenrechtsprechung. Während man in<br />
der Hauptsache auch einmal nach § 287 ZPO grob<br />
schätzen kann oder Entscheidungen nach Billigkeit<br />
treffen darf, verhält es sich bei der Kostenerstattung<br />
anders. Hier muss alles bis auf den<br />
letzten Cent genau abgerechnet und belegt<br />
werden. Daher verwundert es auch nicht, dass<br />
in Kostensachen häufig mehr Rechtsmittel vorgesehen<br />
sind als in der Hauptsache.<br />
Besonders genau nimmt es die Rechtsprechung,<br />
wenn es um die Erstattung von Reisekosten des<br />
Anwalts oder der Partei geht. Diese Kostenpositionen<br />
scheinen deutschen Rechtspflegern<br />
dermaßen ein Dorn im Auge zu sein, dass sie<br />
immer wieder auf neue Ideen kommen, wie man<br />
hier die Kostenerstattung kürzen kann. Dabei<br />
geht es nicht selten um einstellige Euro-Beträge<br />
oder noch weniger.<br />
So hatte sich ein Rechtspfleger am AG Ludwigsburg<br />
mit der Frage zu befassen, ob es denn<br />
zulässig ist, dass Anwalt und Mandant getrennt<br />
mit dem Pkw zum Termin anreisen. Er hat festgestellt,<br />
dass es billiger gewesen wäre, wenn<br />
beide gemeinsam angereist wären, und hat daher<br />
kurzerhand die getrennt angemeldeten Reisekosten<br />
von Anwalt und Partei zusammengestrichen<br />
und nur die einfachen Reisekosten des<br />
Anwalts festgesetzt. Dabei muss man sich vergegenwärtigen,<br />
dass Anwalt und Partei aus Varel<br />
kamen, also etwa 650 km vom Gerichtsort<br />
entfernt. Die Hinfahrt mag ja noch gehen; ich<br />
möchte mir aber nicht die Rückfahrt vorstellen,<br />
wenn ich 650 km lang den Mandanten neben<br />
mir sitzen habe, vor allem nicht, wenn der<br />
Prozess nicht so gelaufen ist, wie der Mandant<br />
ihn erwartet hat. Das LG Stuttgart (AGS 2014,<br />
98) hat die Entscheidung daher auch aufgehoben.<br />
Auch ein Rechtspfleger beim AG Traunstein hat die<br />
Sache sehr genau genommen. Die Münchener<br />
Anwältin hatte bei einer Entfernung zum Gericht<br />
von 1<strong>05</strong> km ein Abwesenheitsgeld i.H.v. 40 € nach<br />
Nr. 70<strong>05</strong> Nr. 2 VV angesetzt, da sie für Hin- und<br />
Rückfahrt einschließlich Termin mehr als vier<br />
Stunden benötigt habe. Der Rechtspfleger hat<br />
dann bei google.maps festgestellt, dass man Hinund<br />
Rückfahrt einschließlich Terminswahrnehmung<br />
auch in drei Stunden 56 Minuten hätte<br />
bewerkstelligen können. Mit anderen Worten: Die<br />
Anwältin habe fünf Minuten vergeudete Fahrtzeit<br />
verursacht, die nicht erstattungsfähig seien. Das<br />
OLG München (AGS 2016, 507) hat glücklicherweise<br />
auch diese Entscheidung aufgehoben und<br />
klargestellt, dass kein Anwalt verpflichtet ist, so<br />
anzureisen, dass er punkt Glockenschlag am Sitzungssaal<br />
erscheint, sondern dass er in Anbetracht<br />
der Verkehrssituation durchaus zeitig losfahren<br />
darf, um einen gewissen Puffer zu haben. Zu<br />
berücksichtigen ist auch noch der Weg von der<br />
Kanzlei bis zum Auto und vom Gerichtsparkplatz<br />
bis zum Gericht. Gleiches gilt dann umgekehrt für<br />
den Rückweg.<br />
Ein Rechtspfleger beim AG Bonn wollte einer<br />
ortsansässigen Anwaltskanzlei die Reisekosten<br />
eines von ihr beauftragten Anwalts aus dem<br />
Gerichtsbezirk verweigern. Die lapidare Begründung:<br />
Anwälte könnten sich selbst vertreten,<br />
sodass sie keinen anderen Anwalt beauftragen<br />
müssten; die gesamte Rechtsprechung des BGH<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 233
Kolumne<br />
<strong>ZAP</strong><br />
zur Erstattung anwaltlicher Reisekosten gelte<br />
nicht für Anwaltskanzleien, die sich fremdvertreten<br />
ließen. Auch diese Entscheidung hatte selbstverständlich<br />
keinen Bestand (AGS 2019, 201).<br />
Man kann sich manchmal nicht des Eindrucks<br />
erwehren, dass Rechtspfleger die Erbsen noch<br />
teilen, bevor sie sie zählen. Daher werden Entfernungen<br />
z.T. nicht nur in Kilometern gerechnet,<br />
sondern in Metern. Dies führt dann unweigerlich<br />
zu der Frage, wie abzurechnen ist, wenn der<br />
nächste volle Kilometer nicht erreicht ist. Das LG<br />
Rostock (StraFo 2009, 439) hat dazu in seiner<br />
Weisheit klargestellt, dass angefangene Kilometer<br />
auf volle Kilometer aufzurunden sind.<br />
Auch die Frage, ob ein Anwalt verpflichtet ist, zur<br />
Vermeidung höherer Kosten mit dem eigenen<br />
Pkw anzureisen, ist höchstrichterlich geklärt. Ein<br />
Anwalt ist nicht gezwungen, mit dem Pkw zu<br />
einem Termin anzureisen. Er darf vielmehr auch<br />
öffentliche Verkehrsmittel in Anspruch nehmen.<br />
Insoweit hat das LAG Niedersachsen schon im<br />
Jahre 2011 ganz im Sinne von GRETA THUNBERG<br />
festgestellt: „Gerade in Zeiten des Klimaschutzes wird<br />
man den bahnfahrenden Anwalt nicht auf die Pkw-<br />
Benutzung verweisen können“ (AGS 2011, 553).<br />
Gerne wird auch immer wieder darüber diskutiert,<br />
ob ein Anwalt bei einer Bahnfahrt erster<br />
Klasse reisen darf. Berücksichtigt man, dass ein<br />
Zeuge erster Klasse fahren darf (§ 5 Abs. 1 JVEG)<br />
und auch die Partei die Kosten erster Klasse<br />
erstattet erhält (§ 91 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 5 Abs. 1<br />
JVEG), erscheint es nur selbstverständlich, dass<br />
auch ein Anwalt erster Klasse reisen darf. Dies ist<br />
an sich einhellige Auffassung, es sei denn, der<br />
Anwalt fährt von Hamburg nach Bremen. In<br />
diesem Fall muss er sich auf den günstigeren<br />
Metronom verweisen lassen (AG Bremen AGS<br />
2017, 593). Andererseits sind dann noch die Kosten<br />
der Straßenbahn vom Hauptbahnhof bis zum<br />
Gericht hinzuzurechnen (2 × 1,40 €), die bei einem<br />
Erste-Klasse-Ticket durch den sog. Citytarif mit<br />
abgedeckt wären. Ob dies auch in umgekehrter<br />
Richtung von Bremen nach Hamburg gilt, ist<br />
höchstrichterlich noch nicht entschieden. Wir<br />
werden aber berichten.<br />
Hat man den Rechtspfleger überzeugt, dass man<br />
erster Klasse fahren darf, dann muss man aber<br />
auch noch rechtfertigen, wieso man keinen<br />
Sparpreis oder gar den sog. Super-Sparpreis in<br />
Anspruch genommen hat. Mit dem BVerwG (AGS<br />
<strong>2020</strong>, 51) hat immerhin jetzt ein höchstes deutsches<br />
Gericht festgestellt, dass die Inanspruchnahme<br />
eines Sparpreises nicht geboten ist, da<br />
hier eine Zugbindung besteht und solche Tickets<br />
im Fall einer Terminsverlegung nicht stornierbar<br />
oder umtauschbar sind.<br />
Bei Übernachtungskosten wird ebenfalls genau<br />
hingeschaut. Auch hier gibt es klare Regeln. Ein<br />
Anwalt ist nur dann berechtigt, eine Übernachtung<br />
in Anspruch zu nehmen, wenn er andernfalls am<br />
Sitzungstag seine Reise bereits zur Nachtzeit (§ 785<br />
Abs. 4 ZPO) antreten müsste. Müsste er also vor<br />
6 Uhr losfahren, dann darf er auch am Vortag<br />
anreisen und sich eine Übernachtung gönnen.<br />
Auch hier wird allerdings genau überprüft, dass<br />
der Anwalt keine zu hohen Übernachtungskosten<br />
aufwendet, wobei die zugestandenen Übernachtungskosten<br />
je nach OLG-Bezirk variieren. Sind<br />
danach die Übernachtungskosten erstattungsfähig,<br />
müssen allerdings noch die Kosten für das<br />
Frühstück herausgerechnet werden, denn für<br />
diesen Tag spart der Anwalt ja das häusliche<br />
Frühstück. Sind diese Kosten in der Hotelrechnung<br />
nicht gesondert ausgewiesen, so sind sie von<br />
Amts wegen mit 10 % zu schätzen und von der<br />
Hotelrechnung abzuziehen (OLG Düsseldorf AGS<br />
2012, 561).<br />
Den vorstehenden Fällen ließen sich noch zahlreiche<br />
weitere Beispiele hinzufügen. Solange sich die<br />
Rechtsprechung mit derart bedeutsamen Fragen<br />
befasst, muss man sich um die Überlastung der<br />
deutschen Justiz keine Gedanken machen.<br />
Rechtsanwalt NORBERT SCHNEIDER, Neunkirchen<br />
234 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Mehr Sicherheit bei Pässen<br />
und Ausweisen angestrebt<br />
Das Bundesinnenministerium (BMI) hat einen<br />
Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Sicherheit<br />
im Pass- und Ausweiswesen erhöht werden soll.<br />
Unter anderem ist vorgesehen, dass das Lichtbild<br />
künftig vor Ort unter Aufsicht der Passbzw.<br />
Ausweisbehörde aufgenommen werden<br />
muss, um Manipulationen durch sog. Morphing<br />
vorzubeugen. Damit ist das Verschmelzen von<br />
mehreren Gesichtsbildern zu einem einzigen<br />
Gesamtbild gemeint, das den Zweck hat, mehreren<br />
Personen die Verwendung desselben Ausweisdokuments<br />
zu ermöglichen. Nach scharfen<br />
Protesten seitens des Fotohandels hat das BMI<br />
Mitte Januar angekündigt, diesen Punkt noch<br />
einmal zu überdenken. Als Alternative werden<br />
derzeit eine Zertifizierung der betreffenden<br />
Fotografen sowie die Einrichtung einer gesicherten<br />
Datenverbindung zwischen ihnen und den<br />
Ämtern erwogen.<br />
Der Gesetzentwurf sieht allerdings noch eine<br />
Reihe weiterer Regelungspunkte vor. So soll u.a.<br />
die Verwendung der Seriennummern von Reisepass<br />
und Personalausweis neu geregelt werden.<br />
Derzeit sind § 16 PassG sowie die §§ 16 und 20 des<br />
PAuswG so restriktiv formuliert, dass die Belange<br />
der zuständigen Behörden, u.a. der Polizeien, nicht<br />
hinreichend berücksichtigt werden. So notieren<br />
ausländische Stellen zu einer aufgegriffenen Person<br />
häufig nur die Seriennummer des Pass- oder<br />
Personalausweisdokuments. Wird diese Seriennummer<br />
an die deutschen Behörden zur weiteren<br />
Verwendung übermittelt, können diese mit der<br />
Seriennummer aufgrund der geltenden Rechtslage<br />
keine weiteren Ermittlungen anstellen.<br />
Vor diesem Hintergrund schafft der Gesetzentwurf<br />
eine Ermittlungsbefugnis mit dem Inhalt,<br />
beim Pass- oder Ausweishersteller die zu einer<br />
Seriennummer gespeicherten Daten, insb. die ausstellende<br />
Pass- oder Personalausweisbehörde, zu<br />
erfragen, um dort weiter zu ermitteln.<br />
Ferner ist geplant, die Sicherheitsmerkmale der<br />
Ausweisdokumente weiter zu verbessern, um<br />
die Fälschungssicherheit zu erhöhen. Da sich<br />
die Gültigkeitsdauer der genannten Dokumente<br />
auf bis zu zehn Jahre erstreckt, sind regelmäßig<br />
mehrere gültige Versionen eines bestimmten<br />
Dokumententyps im Umlauf. Damit die überprüfende<br />
Stelle die Echtheit eines vorgelegten<br />
Ausweisdokuments zuverlässig prüfen kann,<br />
wird in die maschinenlesbare Zone der Pässe,<br />
Personalausweise und technisch verwandten<br />
Dokumente für Ausländer künftig eine Versionsnummer<br />
aufgenommen.<br />
Eine weitere Neuerung betrifft Strafgefangene. Sie<br />
sind gegenwärtig nach § 2 Abs. 2 S. 2 PAuswG von<br />
der Pflicht befreit, einen Personalausweis zu besitzen.<br />
Dies führt in der Praxis häufig dazu, dass<br />
ehemalige Häftlinge nach ihrer Entlassung nicht<br />
über einen gültigen Personalausweis verfügen. Für<br />
viele Geschäfte oder sonstige Vorgänge des täglichen<br />
Lebens ist jedoch die Vorlage eines Ausweises<br />
erforderlich. Diesem Problem hilft der Gesetzentwurf<br />
ab, indem er für Strafgefangene eine Ausweispflicht<br />
ab dem dritten Monat vor Haftentlassung<br />
vorsieht.<br />
Weitere Änderungen betreffen die Nennung des<br />
Geschlechts in Reisepässen sowie die Angaben in<br />
Kinderreisepässen. Sie sollen europarechtlichen<br />
bzw. internationalen Standards angepasst werden.<br />
Der Entwurf lag den Verbänden und Experten<br />
bis zum 28. Januar zur Stellungnahme vor.<br />
Nach deren Auswertung will das Bundeskabinett<br />
über das Vorhaben entscheiden. [Quelle: BMI]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 235
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
GIFFEY kündigt mehrere<br />
Gesetzesvorhaben an<br />
Bundesfamilienministerin FRANZISKA GIFFEY will dem<br />
Bundestag noch im ersten Halbjahr <strong>2020</strong> einen<br />
Gesetzentwurf zur Reform der Kinder- und Jugendhilfe<br />
im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII)<br />
vorlegen. Dies kündigte die Ministerin kürzlich im<br />
Familienausschuss bei der Vorstellung ihrer Vorhaben<br />
für das neue Jahr an. Mit dem entsprechenden<br />
Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sollen<br />
u.a. Kindern, Jugendlichen und Eltern durch die<br />
Einrichtung von Ombudsstellen mehr Mitsprache<br />
bei ihren Belangen eingeräumt werden, die Heimaufsicht<br />
verbessert und die Kostenbeteiligung von<br />
Pflege- und Heimkindern von 75 auf 25 % gesenkt<br />
werden.<br />
Ebenfalls reformiert werden soll in diesem Jahr<br />
der Jugendmedienschutz. Ein Gesetzentwurf befinde<br />
sich bereits in der Ressortabstimmung<br />
und solle bis zum Sommer in das Kabinett<br />
eingebracht werden, sagte GIFFEY. Vorher müsse<br />
er aber noch das Notifizierungsverfahren bei der<br />
EU durchlaufen. Das derzeitige Jugendmedienschutzgesetz<br />
atme noch den „Geist der 80er-Jahre“<br />
und entspreche nicht mehr den Anforderungen<br />
der digitalen Welt von heute mit international<br />
agierenden Plattformen.<br />
GIFFEY kündigte ebenso Reformen beim Elterngeld<br />
an. So sollen die Teilzeitmöglichkeiten für beide<br />
Elternpaare beim „Elterngeld-Plus“ ausgebaut<br />
und im Fall von Frühgeburten mindestens ein<br />
zusätzlicher Monat Elternzeit gewährt werden.<br />
Auf den Weg gebracht werden soll auch die<br />
Ganztagsbetreuung von Schulkindern im Grundschulalter<br />
von der ersten bis zur vierten Klasse.<br />
Der Gesetzesentwurf wurde am 17.2.<strong>2020</strong> zur<br />
Stellungnahme an Länder und Verbände versandt.<br />
Bis zum Weltkindertag am 20. September <strong>2020</strong><br />
würde Ministerin GIFFEY auch gern die Verankerung<br />
von Kinderrechten im Grundgesetz realisiert<br />
sehen. Dies sei aber nur ihr persönlicher<br />
Wunsch und es bestehe dafür kein konkreter<br />
Zeitplan. Ein entsprechender Gesetzentwurf des<br />
federführenden Justizministeriums sei ihrem Ministerium<br />
zur Ressortabstimmung übergeben<br />
worden.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Bundestag beschließt Verlängerung<br />
der Mietpreisbremse<br />
Der Deutsche Bundestag hat Mitte Februar in<br />
zweiter und dritter Lesung den vom Bundesministerium<br />
der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
(BMJV) eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur<br />
Verlängerung und Verbesserung der Regelungen<br />
über die zulässige Miethöhe bei Mietbeginn beschlossen.<br />
Grund für die Neuregelung ist, dass die Bundesregierung<br />
– gestützt u.a. durch eine Studie – der<br />
Auffassung ist, dass die durch das Mietrechtsnovellierungsgesetz<br />
vom April 2015 eingeführten<br />
Regelungen über die zulässige Miethöhe bei<br />
Mietbeginn (sog. Mietpreisbremse) dort, wo sie<br />
durch Erlass einer Rechtsverordnung der jeweiligen<br />
Landesregierung zur Anwendung kommen, den<br />
Mietenanstieg verlangsamt haben. Daher soll es<br />
nun den Ländern für weitere fünf Jahre ermöglicht<br />
werden, ein Gebiet mit einem angespannten<br />
Wohnungsmarkt durch Rechtsverordnung zu bestimmen.<br />
Spätestens mit Ablauf des 31.12.2025<br />
sollen aber alle Rechtsverordnungen wieder außer<br />
Kraft treten.<br />
Das Gesetz sieht darüber hinaus vor, dass der<br />
Anspruch des Mieters oder der Mieterin gegen den<br />
Vermieter auf Rückzahlung zu viel gezahlter<br />
Miete wegen Überschreitens der zulässigen Miete<br />
bei Mietbeginn erweitert werden soll. Künftig<br />
können Mieter zu viel gezahlte Miete erstmals<br />
auch rückwirkend für bis zu zweieinhalb Jahre<br />
zurückfordern. Auf diese Weise soll das Potenzial<br />
der Mietpreisbremse besser ausgeschöpft werden.<br />
Die Neuregelung kommentierte Justiz- und Verbraucherschutzministerin<br />
CHRISTINE LAMBRECHT nach<br />
dem Bundestagsbeschluss wie folgt: „Es ist eine<br />
ganz wichtige Weichenstellung, dass die Mietpreisbremse<br />
für weitere fünf Jahre fortgeschrieben wird und<br />
eine dämpfende Wirkung auf überhitzte Mietmärkte<br />
ausüben kann. Die Wirksamkeit der Mietpreisbremse<br />
hat eine Studie des DIW belegt. Mit dem Gesetz sorgen<br />
wir auch dafür, dass Mieterinnen und Mieter zu viel<br />
gezahlte Miete einfacher zurückfordern können. Damit<br />
setzen wir ein klares Signal gegen schwarze Schafe<br />
unter den Vermietern, die die Vorgaben der Mietpreisbremse<br />
nicht einhalten.“<br />
236 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Unterdessen hat die Ministerin weitere Schritte<br />
angekündigt. So will sie – ebenso wie kürzlich<br />
vom Bundesrat vorgeschlagen (s. dazu Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> 4/<strong>2020</strong>, S. 178) – die Voraussetzungen<br />
für den Tatbestand des Mietwuchers<br />
senken. Zudem soll es künftig erschwert werden,<br />
in den betroffenen Ballungsgebieten Mietwohnungen<br />
in Eigentumswohnungen umzuwandeln.<br />
Mit einem neuen § 22a BauGB soll die<br />
Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen<br />
in angespannten Wohnungsmärkten nur<br />
noch unter besonderen Bedingungen möglich<br />
sein und zudem von einer behördlichen Genehmigung<br />
abhängen.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Gesetzentwurf zur verkürzten<br />
Restschuldbefreiung<br />
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
(BMJV) hat Mitte Februar den<br />
Referentenentwurf eines Gesetzes zur weiteren<br />
Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens<br />
vorgelegt. Er wird zur Zeit mit den Ländern und<br />
Verbänden abgestimmt. Das Ministerium kommt<br />
mit dem Entwurf einer EU-Richtlinie vom Juni<br />
2019 über Restrukturierung und Insolvenz nach,<br />
die vorschreibt, dass unternehmerisch tätige Personen<br />
Zugang zu einem Verfahren haben müssen,<br />
das es ihnen ermöglicht, sich innerhalb von drei<br />
Jahren zu entschulden. Der deutsche Referentenentwurf<br />
setzt die Vorgaben der Richtlinie allerdings<br />
nicht nur für unternehmerisch tätige Personen<br />
um, sondern auch für Verbraucher.<br />
Damit können künftig alle Schuldnerinnen und<br />
Schuldner binnen drei Jahren eine effektive Entschuldung<br />
erlangen. Anders als bislang ist es hierfür<br />
nicht mehr erforderlich, dass sie ihre Verbindlichkeiten<br />
in einer bestimmten Höhe tilgen. Allerdings<br />
müssen sie auch weiterhin bestimmten Pflichten<br />
und Obliegenheiten nachkommen, um eine Restschuldbefreiung<br />
erlangen zu können. Dazu gehören<br />
umfangreiche Offenlegungs- und Mitwirkungspflichten.<br />
Auch muss der jeweilige Schuldner einer<br />
Erwerbstätigkeit nachgehen oder sich um eine<br />
solche bemühen. Die Verkürzung des Verfahrens<br />
soll aber nicht dazu führen, dass er im Fall einer<br />
späteren Wiederverschuldung auch schneller zu<br />
einer zweiten Restschuldbefreiung kommen kann.<br />
Daher wird die derzeitige zehnjährige Sperrfrist auf<br />
13 Jahre erhöht.<br />
Um einen geordneten Übergang von der geltenden<br />
sechsjährigen zur künftigen dreijährigen<br />
Restschuldbefreiungsfrist sicherzustellen, soll die<br />
Frist für die Restschuldbefreiung allmählich und<br />
kontinuierlich verkürzt werden. Das soll, so die<br />
Begründung des Ministeriums, Ungerechtigkeiten<br />
und auch die Ausbildung eines Verfahrensstaus<br />
bei Schuldnerberatungsstellen, Gerichten und<br />
Verwalterbüros vermeiden.<br />
Anlässlich der Richtlinienumsetzung sollen die<br />
Fristen für die Speicherung der Daten über das<br />
Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren<br />
durch Auskunfteien von drei Jahren auf ein Jahr<br />
verkürzt werden, um dem Schuldner oder der<br />
Schuldnerin nach Erteilung der Restschuldbefreiung<br />
einen neuen Start zu erleichtern.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
DAV kritisiert Entwurf zum<br />
Verbandssanktionenrecht<br />
In seiner offiziellen Stellungnahme zum Referentenentwurf<br />
eines Verbandssanktionengesetzes<br />
(vgl. dazu Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 17/2019, S. 886 f.)<br />
hat der Deutsche Anwaltverein (DAV) heftige<br />
Kritik an dem Vorhaben aus dem Bundesjustizministerium<br />
geübt. Mit der Umbenennung des<br />
ursprünglich „Unternehmens- bzw. Verbandsstrafrecht“<br />
in jetzt „Verbandssanktionenrecht“<br />
betitelten Entwurfs werde versucht, verfassungsrechtlichen<br />
Unwägbarkeiten und Problemen<br />
mit dem Schuldprinzip aus dem Weg<br />
zu gehen. Im Grunde sei das geplante Gesetz<br />
„klandestines Unternehmensstrafrecht“: Der Gesetzgeber<br />
setze auf der Tatbestandsseite auf<br />
die „punitive Proklamation“ unter weitgehender<br />
Beibehaltung bisheriger Haftungsstrukturen aus<br />
dem Ordnungswidrigkeitenrecht. Er agiere „wider<br />
der empirisch und gesellschaftstheoretisch belegten<br />
besseren Erkenntnis“, dass das Strafrecht ein<br />
denkbar ungeeignetes Instrument zur Steuerung<br />
der Gesellschaft sei.<br />
Das schon im Koalitionsvertrag verabredete Gesetzesvorhaben<br />
stellt eine Reaktion auf die Wirtschaftsskandale<br />
der letzten Jahre dar. Herzstück<br />
des Vorhabens ist die Verantwortlichkeit der<br />
Leitungsorgane für Gesetzesverstöße des Unternehmens.<br />
Drastisch verschärft werden auch die<br />
Strafen: So soll die Obergrenze für Unternehmens-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 237
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
sanktionen von derzeit maximal 10 Mio. Euro auf –<br />
gestaffelt nach Unternehmensgröße – 10 % des<br />
Jahresumsatzes steigen; bei großen Konzernen<br />
könnte dies zu Strafen in Milliardenhöhe führen.<br />
Schon dies sprenge – so der DAV – mit Blick auf<br />
rechtlich geschützte Interessen sowohl der Anteilseigner<br />
als auch der Arbeitnehmer die Grenzen<br />
der Angemessenheit. Das gelte schon für die<br />
Bemessung der Verbandssanktionen nach dem<br />
durchschnittlichen Jahresumsatz, erst recht aber<br />
für das Abstellen auf den Konzernumsatz. Die<br />
vorgesehene Ausfallhaftung der übergeordneten<br />
Konzernunternehmen stelle einen ökonomisch<br />
schädlichen Eingriff in Grundprinzipien des Konzernrechts<br />
(etwa des Trennungsprinzips) dar.<br />
Die Regelungen zu unternehmensinternen Untersuchungen<br />
im Rahmen eines „gestuften Anreizsystems“<br />
würden, so kritisiert der Anwaltverein,<br />
auf eine rechtsstaatlich problematische „Privatisierung<br />
des Ermittlungsverfahrens“ zutreiben. Die im<br />
Referentenentwurf geforderte funktionale Trennung<br />
von Verteidigung und verbandsinterner<br />
Untersuchung schwäche die Effektivität der Verteidigung<br />
in gleichsam rechtsstaatlich problematischer<br />
Weise. Offen blieben arbeitsrechtliche und<br />
datenschutzrechtliche Problematiken.<br />
„Rechtsstaatlich inakzeptabel“ sei auch die geplante<br />
Beschränkung der Beschlagnahmeverbote bei<br />
anwaltlichen Berufsträgern. Sie sei ein Angriff<br />
auf das Recht des Bürgers auf rechtlichen Beistand.<br />
Dem müsse die Anwaltschaft im Interesse<br />
des Rechtsstaats und der Mandanten entgegentreten.<br />
[Quelle: DAV]<br />
Geschäftslage beim<br />
Bundessozialgericht<br />
Anfang Februar fand das diesjährige Jahrespressegespräch<br />
beim Bundessozialgericht (BSG) statt.<br />
Dort stellte Gerichtspräsident RAINER SCHLEGEL u.a.<br />
den Jahresbericht des BSG für das vergangene<br />
Jahr vor.<br />
Seinen Zahlen zufolge war die Verfahrensentwicklung<br />
beim BSG in 2019 erneut gekennzeichnet<br />
durch einen Eingangsrückgang bei den<br />
Revisionen und in geringerem Umfang auch bei<br />
den Nichtzulassungsbeschwerden, während die<br />
Zahl der regelmäßig aufwändig zu bearbeitenden<br />
Prozesskostenhilfe-Verfahren um fast 20 %<br />
deutlich angestiegen ist. Erheblich verringert hat<br />
sich in 2019 die Verfahrenslaufzeit in allen Verfahrensarten.<br />
Der Geschäftsanfall beim BSG lag in 2019 mit<br />
2.979 Neueingängen in sämtlichen Verfahrensarten,<br />
davon 300 Revisionen und 1.726 Nichtzulassungsbeschwerden,<br />
etwas unter dem Niveau<br />
des Vorjahres. Erledigt wurden 2019 insgesamt<br />
356 Revisionen und 1.681 Nichtzulassungsbeschwerden.<br />
Die durchschnittliche Verfahrensdauer bei<br />
den Revisionen betrug 11,1 Monate; 51,7 % der<br />
Verfahren wurden innerhalb eines Jahres entschieden.<br />
Auch die Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren<br />
wurden zeitnah, nämlich in durchschnittlich<br />
5,1 Monaten, einer Entscheidung zugeführt. 89,4 %<br />
aller Beschwerdeverfahren sind innerhalb eines<br />
Jahres, 67,2 % innerhalb von sechs Monaten beendet<br />
worden.<br />
Präsident SCHLEGEL nahm die Vorstellung des<br />
Jahresberichts 2019 auch zum Anlass, die Bedeutung<br />
des Sozialstaats für ein funktionierendes<br />
Gemeinwesen zu betonen. „Es wäre aus meiner<br />
Sicht sehr wünschenswert, wenn sich die Öffentlichkeit<br />
in stärkerem Maße mit den Grundlagen des Sozialstaats<br />
beschäftigen würde, z.B. mit der Frage, was<br />
Sache der beitragsfinanzierten Sozialversicherung, was<br />
der steuerfinanzierten Fürsorge ist. Die Dinge sind<br />
zugegebenermaßen sehr komplex. Aber gerade deshalb<br />
muss man sich um Verständlichkeit bemühen und sich<br />
damit auseinandersetzen“, erklärte der Präsident.<br />
Das Ergebnis, so seine Hoffnung, könnte vielleicht<br />
eine kritischere Sicht auf manche realitätsferne<br />
Äußerung und Vorstellungen aus Politik und<br />
Verbänden zum Umbau und weiteren Ausbau<br />
des Sozialstaats sein.<br />
[Quelle: BSG]<br />
Geschäftslage beim<br />
Bundesarbeitsgericht<br />
Auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat kürzlich<br />
seine Eingangs- und Erledigungszahlen für das<br />
zurückliegende Jahr vorgelegt. Danach gingen<br />
bei dem Erfurter Gericht im Geschäftsjahr 2019<br />
2.472 Sachen neu ein (Vorjahr 1.852 Sachen). 31,76 %<br />
der Eingänge (785 Sachen) entfielen auf Revisionen<br />
und Rechtsbeschwerden im Beschlussverfahren.<br />
Weitere 63,83 % der Eingänge entfielen auf Nicht-<br />
238 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
zulassungsbeschwerden (1.578 Sachen). Gegenüber<br />
dem Vorjahr stellt dies hinsichtlich der Revisionen<br />
und Rechtsbeschwerden im Beschlussverfahren<br />
einen Anstieg um 23,23 % dar (Vorjahr 637 Sachen).<br />
Noch deutlicher hat sich die Zahl der Eingänge bei<br />
den Nichtzulassungsbeschwerden um 47,06 % gesteigert<br />
(Vorjahr 1.073 Sachen).<br />
Darüber hinaus soll – in Anlehnung an die<br />
Erhöhung der Kilometerpauschale für Sachverständige<br />
– auch die Kilometerpauschale für<br />
Rechtsanwälte (Nr. 7003 VV RVG-E) und Notare<br />
(Nr. 32006 KV GNotKG-E) von 0,30 € auf 0,42 €<br />
erhöht werden. Damit sollen insb. die gestiegenen<br />
Anschaffungs- und Betriebskosten für Pkws<br />
zumindest teilweise kompensiert werden.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
Erledigt wurden 2.363 Sachen. Von den erledigten<br />
Revisionen und Rechtsbeschwerden waren 29,15 %<br />
erfolgreich. Die Erfolgsquote bei den Nichtzulassungsbeschwerden<br />
belief sich auf 4 %. Anhängig<br />
waren am Ende des Berichtsjahres noch 1.245 Sachen.<br />
Die durchschnittliche Verfahrensdauer aller<br />
erledigten Verfahren hat sich beim BAG auf knapp<br />
sieben Monate verkürzt.<br />
Was die Zuordnung der in Erfurt anhängigen<br />
Rechtsstreitigkeiten nach Rechtsgebieten angeht,<br />
betrafen die weitaus meisten Sachen die<br />
Themen Beendigung von Arbeitsverhältnissen<br />
(insb. Kündigungen und Befristungen) sowie die<br />
Betriebsverfassung und die Personalvertretung;<br />
sowohl die Neueingänge als auch die weiter<br />
anhängigen Sachen dieser beiden Rechtsgebiete<br />
machen jeweils zusammen rund 50 % aller Fälle<br />
aus, die das oberste deutsche Arbeitsgericht im<br />
Berichtsjahr beschäftigten. Demgegenüber lagen<br />
sowohl die erledigten als auch die weiter anhängigen<br />
Streitigkeiten rund um das Thema Arbeitsentgelt<br />
im lediglich einstelligen Prozentbereich.<br />
[Quelle: BAG]<br />
Folgen des Brexit für britische<br />
Richter und Anwälte auf dem<br />
Kontinent<br />
Am 31. Januar ist das Vereinigte Königreich<br />
offiziell aus der EU ausgetreten. Dieses Ereignis<br />
hat auch Auswirkungen auf die britischen Richter<br />
am Europäischen Gerichtshof (EuGH) und auf<br />
britische Anwälte, die in der EU tätig sind.<br />
So verkündete der EuGH Ende Januar, dass mit<br />
sofortiger Wirkung drei britische Richter – ein<br />
Richter für den Gerichtshof und zwei für das<br />
Gericht – die Luxemburger EU-Gerichtsbarkeit<br />
verlassen. Die Britin ELEANOR SHARPSTON, die seit<br />
2006 Generalanwältin ist, verbleibt allerdings noch<br />
so lange, bis ein Nachfolger von den europäischen<br />
Regierungen ernannt wird. Der EuGH verweist<br />
ergänzend darauf, dass er gemäß dem Austrittsabkommen<br />
noch für alle Verfahren zuständig<br />
bleibt, die vor dem festgesetzten Ende der Übergangszeit<br />
am 31.12.<strong>2020</strong> vom Vereinigten Königreich<br />
oder gegen dieses eingeleitet werden.<br />
Höhere Kilometerpauschale<br />
für Anwälte und Notare<br />
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
(BMJV) hat einen Referentenentwurf<br />
eines Gesetzes zur Änderung des Justizvergütungs-<br />
und Entschädigungsgesetzes (JVEG-<br />
Änderungsgesetz <strong>2020</strong>) vorgelegt. Das Gesetz<br />
enthält Regelungen zur Entschädigung von gerichtlich<br />
bestellten Sachverständigen, Dolmetschern,<br />
Übersetzern sowie von ehrenamtlichen<br />
Richtern und Zeugen. Mit dem Entwurf sollen v.a.<br />
die Vergütungssätze angepasst werden. Daneben<br />
sollen strukturelle Änderungen u.a. das Abrechnungsverfahren<br />
erleichtern.<br />
Was die Tätigkeit britischer Anwälte in der EU<br />
angeht, gab die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
Anfang Februar folgende Informationen: Bisher<br />
konnten Rechtsanwälte, die in Großbritannien als<br />
Advocate/Barrister/Solicitor zugelassen waren,<br />
entsprechend den Regelungen des EuRAG tätig<br />
sein. Nun beginnt die im Austrittsabkommen vorgesehene<br />
Übergangsphase, die bis zum 31.12.<strong>2020</strong><br />
andauern soll. Während dieser Übergangsphase<br />
gelten die Regelungen des EuRAG weiterhin<br />
für Rechtsanwälte aus Großbritannien, die sich in<br />
Deutschland niedergelassen und die Zulassung<br />
erworben bzw. beantragt haben. Dies ergibt sich<br />
aus Kap. 3, Art. 27 Abs. 1 lit. b, 28 des Austrittsabkommens<br />
i.V.m. Art. 10 Abs. 1 u. 3 der RiLi 98/5/EG<br />
des Europäischen Parlaments und des Rates.<br />
Nach der Übergangsphase sollen „britische“ Anwälte<br />
unter die Regelung des § 206 BRAO fallen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 239
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Dafür plant das Bundesjustizministerium, eine<br />
Regelung im Regierungsentwurf des Gesetzes<br />
zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im<br />
Inkassorecht unterzubringen, die dann ab dem<br />
1.1.2021 gelten soll. [Quellen: EuGH/BRAK]<br />
Anwaltliche Unabhängigkeit<br />
von Uni-Dozenten<br />
Ein Rechtsanwalt, der einen Lehrvertrag mit einer<br />
Universität hat, kann diese auch vor den Unionsgerichten<br />
vertreten, ohne dass seine vertraglichen<br />
Bindungen dem entgegenstehen. Dies hat der<br />
Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom<br />
4.2.<strong>2020</strong> entschieden und einen Beschluss der<br />
Vorinstanz – des Gerichts der Europäischen Union<br />
– aufgehoben. Die für das Auftreten vor Gericht<br />
erforderliche Unabhängigkeit des Anwalts werde<br />
durch seine Tätigkeit für die Universität nicht<br />
beeinträchtigt (verb. Rechtss. C-515/17 P und<br />
C-561/17 P).<br />
Der Fall betraf die polnische Universität Breslau,<br />
die in Luxemburg gegen die Exekutivagentur für<br />
Forschung (REA) klagte. Vertreten wurde sie von<br />
einem polnischen Anwalt, der zugleich ihr Dozent<br />
ist. Das Gericht der Europäischen Union wies die<br />
Klage deshalb als „offensichtlich unzulässig“ ab: Es<br />
fehle an einer „ordnungsgemäßen Rechtsvertretung<br />
durch einen Anwalt“ i.S.v. Art. 19 Abs. 3 der Satzung<br />
des EuGH sowie Art. 51 Abs. 1 der Verfahrensordnung<br />
des Gerichts, da der Dozent wegen<br />
seiner vertraglichen Bindung an die Universität<br />
nicht „unabhängig“ sei.<br />
Dem widersprach jetzt aber der EuGH als Rechtsmittelinstanz:<br />
Eine hinreichende Unabhängigkeit<br />
sei zwar dann nicht gegeben, wenn ein Anwalt<br />
eine hochrangige Leitungsfunktion innerhalb der<br />
von ihm vertretenen juristischen Person ausübe<br />
oder wenn er Aktien der von ihm vertretenen<br />
Gesellschaft besitze. Dies sei aber bei bloßer<br />
Wahrnehmung eines Lehrauftrags an einer Universität<br />
nicht der Fall. Die vertraglichen Bindungen<br />
eines Dozenten reichten allein nicht aus,<br />
um anzunehmen, dass seine Fähigkeit, die Interessen<br />
des Mandanten unabhängig zu vertreten,<br />
offensichtlich beeinträchtigt sein würden. Die<br />
dem Rechtsanwalt obliegende Pflicht zur Unabhängigkeit<br />
nach den o.g. Verfahrensbestimmungen<br />
sei also nicht als das Fehlen jeglicher Verbindung<br />
mit seinem Mandanten zu verstehen,<br />
sondern lediglich als Sicherstellung der Fähigkeit,<br />
seiner Aufgabe nachzukommen, die in der Verteidigung<br />
seines Mandanten durch den bestmöglichen<br />
Schutz von dessen Interessen besteht. Aus<br />
diesem Grund verwies der EuGH das Verfahren<br />
jetzt wieder zur erneuten Entscheidung an die<br />
erste Instanz zurück.<br />
[Quelle: EuGH]<br />
Neue eBroschüre zum ERV<br />
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Wussten Sie schon, dass … ?<br />
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Frage Nr. 12 – Kann ich Inhalte aus der<br />
<strong>ZAP</strong> App per E-Mail versenden?) sagen wir Ihnen,<br />
wie Sie z.B. Ihrem Kollegen einen Hinweis zu<br />
einem Beitrag per E-Mail zuschicken können.<br />
Hinweis:<br />
Unter der Überschrift „Wussten Sie schon,<br />
dass …“ informiert Sie die <strong>ZAP</strong> Redaktion regelmäßig<br />
über die Vorteile der <strong>ZAP</strong> App oder häufig<br />
gestellte Fragen zur Online Bibliothek, die<br />
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240 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 25<br />
Rechtsprechung<br />
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Kaufvertragsrecht<br />
Diesel-Skandal: Information der Öffentlichkeit durch den Fahrzeughersteller<br />
(OLG Stuttgart, Urt. v. 26.11.2019 – 10 U 338/19) • Macht der Geschädigte geltend, er sei durch die<br />
sittenwidrige Handlung des Täters zu schädlichen Vermögensdispositionen, hier dem Kauf eines<br />
Gebrauchtwagens mit dem Motor EA189, veranlasst worden, dann trifft den Täter der haftungsbegründende<br />
Vorwurf der sittenwidrigen Schädigung nur dann, wenn der Geschädigte die ihn<br />
schädigende Handlung gerade deswegen vorgenommen hat, weil er dazu sittenwidrig veranlasst<br />
worden ist. Daher muss für eine Haftung aus § 826 BGB im Zeitpunkt des Abschlusses des Gebrauchtwagenkaufs<br />
Sittenwidrigkeit vorliegen (Anschluss an BGH, Urt. v. 20.2.1979 – VI ZR 189/78).<br />
Die Beklagte hat die breite Öffentlichkeit und damit auch die potenziellen Erwerber von Kfz, die mit<br />
dem Motor EA 189 ausgestattet sind, in Form von Pressemitteilungen ab Ende September 2015 bis<br />
Mitte Oktober 2015 darüber informiert, dass dieser Motor mit einer Abschalteinrichtung versehen ist,<br />
die vom KBA als nicht ordnungsgemäß angesehen wird und daher zu entfernen ist. Bei der gebotenen<br />
Gesamtbetrachtung kann ab Mitte Oktober 2015 nicht mehr von einer weiterhin als sittenwidrig<br />
anzusehenden Veranlassung der Schädigung von Käufern durch das ursprünglich sittenwidrige<br />
Inverkehrbringen der Fahrzeuge ausgegangen werden. Hinweis: Auf die konkrete Kenntnis des<br />
einzelnen Erwerbers von der Abschalteinrichtung bei Abschluss des Kaufvertrags kommt es bei der<br />
Beurteilung der Sittenwidrigkeit nach § 826 BGB nicht an. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 90/<strong>2020</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Notdienstpauschale für einen Hausmeister: Verwaltungskosten<br />
(BGH, Urt. v. 18.12.2019 – VIII ZR 62/19) • Bei einer an den Hausmeister entrichteten Notdienstpauschale<br />
handelt es sich nicht um umlagefähige Betriebskosten, sondern um vom Vermieter zu tragende<br />
Verwaltungskosten. Hinweis: Streitgegenständlich war eine „Notdienstpauschale“ i.H.v. insgesamt<br />
1.199,52 € jährlich. Die Pauschale umfasste die dem Hausmeister für dessen Notdienstbereitschaft bei<br />
Störungsfällen wie beispielsweise Stromausfall, Heizungsausfall oder Wasserrohrbruch außerhalb der<br />
üblichen Geschäftszeiten zu zahlende Entlohnung. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 91/<strong>2020</strong><br />
Mieterhöhungsverlangen: Vergleich mit öffentlich gefördertem Wohnraum<br />
(BGH, Urt. v. 18.12.2019 – VIII ZR 236/18) • Ein Mieterhöhungsverlangen, das zur Begründung auf<br />
entsprechende Entgelte mindestens dreier vergleichbarer Wohnungen Bezug nimmt (§ 558a Abs. 2 Nr. 4<br />
BGB), ist nicht allein deshalb formell unwirksam, weil es sich bei den Vergleichswohnungen um öffentlich<br />
geförderten, preisgebundenen Wohnraum handelt. Hinweis: Der Umstand, dass der Mieter allein anhand<br />
des Erhöhungsverlangens die tatsächliche ortsübliche Vergleichsmiete nicht abschließend mittels der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 241
Fach 1, Seite 26 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Vergleichswohnungen überprüfen kann, steht der formellen Wirksamkeit des Erhöhungsverlangens nicht<br />
entgegen. Die Angabe von Vergleichswohnungen in einem Mieterhöhungsverlangen dient nicht dazu,<br />
bereits den Nachweis der ortsüblichen Vergleichsmiete zu führen. Sie soll vielmehr den Mieter lediglich in<br />
die Lage versetzen, das Erhöhungsverlangen zumindest ansatzweise nachzuvollziehen und ggf. mittels<br />
weiterer Nachforschungen die Vergleichbarkeit der Wohnungen zu überprüfen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 92/<strong>2020</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Planerische Architektenleistungen: Wertsteigerung des Grundstücks<br />
(OLG Celle, Urt. v. 6.2.<strong>2020</strong> – 14 U 160/19) • Zur Verkörperung der planerischen Leistungen des Architekten<br />
in einem Bauwerk ist es erforderlich, dass mit der Bauausführung (Errichtung des Bauwerks) begonnen<br />
wurde. Notwendige Vorbereitungshandlungen für die geplante Bebauung stellen keine Bauausführungen<br />
dar. Zu Vorbereitungshandlungen gehört auch die Eintragung von Baulasten, um die Erschließung des<br />
Grundstücks öffentlich-rechtlich zu sichern, um eine Baugenehmigung beantragen zu können. Hinweis:<br />
Streitig war die Eintragung einer Vormerkung zur Sicherung eines Anspruchs auf Einräumung einer<br />
Bauhandwerkersicherungshypothek. Als ungeschriebene Voraussetzung tritt in diesem Zusammenhang<br />
gem. § 650e BGB hinzu, dass ein Unternehmer/Architekt eine Bauhandwerkersicherungshypothek grds.<br />
nur verlangen kann, wenn er durch seine sich im Bauwerk verkörpernde Leistung eine Wertsteigerung des<br />
Grundstücks herbeigeführt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 93/<strong>2020</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Zinssatz für Überziehungskredit: Anforderungen an die Hervorhebung<br />
(OLG Frankfurt, Urt. v. 21.11.2019 – 6 U 146/18) • Der Anforderung des – als verbraucherschützende Norm (§ 2<br />
Abs. 2 Nr. 1 lit. e UKlaG) einzustufenden – Art. 247a § 2 Abs. 2 EGBGB, wonach der Sollzinssatz für<br />
Überziehungskredite „in auffallender Weise“ anzugeben ist, wird nicht bereits dadurch genügt, dass der<br />
Zinssatz nicht in einer Fußnote oder im Kleingedruckten „versteckt“ wird; der Zinssatz muss vielmehr<br />
deutlich hervorgehoben werden. Hinweis: Dies hat das OLG im Streitfall verneint.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 94/<strong>2020</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Fahrzeuganhänger: Brand „bei dem Betrieb“<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.1.<strong>2020</strong> – 14 U 108/19) • Ein von einem Fahrzeuganhänger ausgehender<br />
Brand, der auf fremdes Eigentum übergreift, kann „bei dem Betrieb“ i.S.d. § 7 Abs. 1 StVG entstanden sein,<br />
wenn ein naher örtlicher und zeitlicher Zusammenhang mit dem Defekt einer Betriebseinrichtung des<br />
Anhängers besteht. Eine Betriebseinrichtung des Anhängers liegt nur dann vor, wenn es sich um eine<br />
zur technischen Ausrüstung des Fahrzeugs gehörende, konstruktiv mit diesem verbundene Anlage<br />
handelt. Wenn Geräte i.R.d. Nutzung eines Kfz oder Anhängers zu Wohnzwecken eingebracht werden,<br />
stellen diese keine Betriebseinrichtungen dar. Wenn ein Brand von einem Wohnanhänger ausgeht, der<br />
vom Straßenverkehr abgemeldet wurde und dauerhaft nur noch als Unterkunft genutzt wird, handelt es<br />
sich nicht um eine Auswirkung der Gefahren, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn des § 7<br />
Abs. 1 StVG geschützt werden soll. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 95/<strong>2020</strong><br />
Fahren ohne Fahrerlaubnis: (Ausländischer) Ersatzführerschein<br />
(OLG Celle, Beschl. v. 12.12.2019 – 2 Ss 138/19) • Der in einem EU-Mitgliedsstaat aufgrund einer Verlustoder<br />
Diebstahlsanzeige nach Art. 11 Abs. 5 der 3. FS-RL ausgestellte Ersatzführerschein ist – anders als der<br />
im Wege des Umtauschs einer in Deutschland erteilten Fahrerlaubnis erteilte Führerschein eines anderen<br />
EU-Mitgliedstaats nach Art. 11 Abs. 2 der 3. FS-RL – nicht als „neue“ Fahrerlaubnis anzusehen (Anschluss an<br />
OLG Zweibrücken, Beschl. v. 18.1.2016 – 1 Ss 106/15, juris). Dies gilt auch dann, wenn der Ersatzführerschein<br />
erstmals eine Befristung nach Art. 7 Abs. 2a der 3. FS-RL enthält. Ist einem Verurteilten in Deutschland die<br />
von einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgestellte Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 StGB rechtskräftig<br />
entzogen, zugleich eine Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis nach § 69a Abs. 1 StGB<br />
angeordnet und dem Verurteilten nach Ablauf der Sperrfrist das Recht zur Teilnahme am öffentlichen<br />
Verkehr in Deutschland nicht wieder erteilt worden, berechtigt ein für die entzogene Fahrerlaubnis von<br />
242 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 27<br />
dem EU-Mitgliedstaat nach Art. 11 Abs. 5 3. FS-RL ausgestellter Ersatzführerschein nicht zur Teilnahme am<br />
öffentlichen Verkehr in Deutschland, § 28 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Nr. 3 FeV. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 96/<strong>2020</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Lebensversicherungsvertrag: Rückabwicklung<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 16.12.2019 – 4 U 2238/19) • Eine Schätzung der Nutzungszinsen bei der<br />
Rückabwicklung eines unwirksamen Lebensversicherungsvertrags setzt voraus, dass der Versicherungsnehmer<br />
hierfür tragfähige Anhaltspunkte unter Bezug auf die Ertragslage des Versicherers<br />
behauptet. Ein Privatgutachten, dem ein rechnerisch unzutreffender Prämienbetrag zugrunde liegt und<br />
das zudem Nutzungen aus dem Verwaltungskostenanteil mithilfe einer Bilanzrendite ermittelt, ist als<br />
Grundlage hierfür untauglich. Hinweis: Die Schätzung der Höhe des Nutzungszinsanspruchs ist in erster<br />
Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Sie ist nur daraufhin überprüfbar,<br />
ob der Tatrichter erhebliches Vorbringen der Parteien unberücksichtigt gelassen, Rechtsgrundsätze der<br />
Zinsbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner<br />
Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 97/<strong>2020</strong><br />
Familienrecht<br />
Versorgungsausgleich: Keine dynamische Tenorierung einer Kürzungsaussetzung<br />
(OLG Bremen, Beschl. v. 26.11.2019 – 5 UF 43/19) • Eine nach § 33 Abs. 1 VersAusglG anzuordnende Aussetzung<br />
der Kürzung des Anrechts der ausgleichspflichtigen Person kann nicht dynamisch tenoriert<br />
werden, sondern muss in Form eines konkreten Rentenbetrags ausgesprochen werden. Im Verfahren nach<br />
§§ 33, 34 VersAusglG entspricht es regelmäßig der Billigkeit, die geschiedenen Ehegatten zu gleichen Teilen<br />
an den gerichtlichen Kosten zu beteiligen und keine Erstattung außergerichtlicher Kosten anzuordnen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 98/<strong>2020</strong><br />
Nachlass-/Erbrecht<br />
Testierfähigkeit: Beurteilung durch Fachärzte für Psychiatrie<br />
(OLG München, Beschl. v. 14.1.<strong>2020</strong> – 31 Wx 466/19) • Die Beurteilung der Testierfähigkeit des Erblassers im<br />
Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist grds. Fachärzten für Psychiatrie vorbehalten (st. Rspr., im<br />
Anschluss an BayObLG FamRZ 1985, 742). Die Auswahl eines ungeeigneten Sachverständigen stellt regelmäßig<br />
einen wesentlichen Verfahrensfehler dar, der den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung des rechtlichen<br />
Gehörs erheblich beeinträchtigt. Das Beschwerdegericht kann die Entscheidung und das ihr zugrunde liegende<br />
Verfahren aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Ausgangsgericht<br />
zurückgeben, wenn andernfalls das Beschwerdegericht eine umfangreiche Beweisaufnahme durchführen<br />
müsste. Hinweis: Zwar handelt es sich bei der Frage der Testierfähigkeit um eine juristische Frage, gleichwohl<br />
bedürfen die Gerichte zu ihrer Beantwortung sachverständiger Hilfe. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 99/<strong>2020</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Gehörsverletzung: Entscheidung vor Ende einer Stellungnahmefrist<br />
(BGH, Beschl. v. 19.11.2019 – VI ZR 215/19) • Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird verletzt, wenn das<br />
Gericht eine dem Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet<br />
(vgl. Senatsbeschl. v. 15.5.2018 – VI ZR 287/17, VersR 2018, 935 Rn 8; BVerfGE 12, 110, 113).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 100/<strong>2020</strong><br />
Besorgnis der Befangenheit: Verhandlung nach Terminsaufhebung mit nur einem Beteiligten<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 18.12.2019 – 5 WF 190/19) • Ein Richter, der in einem Scheidungsverfahren trotz<br />
erfolgter Terminsaufhebung einen dennoch erschienenen Beteiligten unter Abwesenheit des anderen<br />
sowie der Verfahrensbevollmächtigten beider Seiten nach § 128 Abs. 1 FamFG anhört sowie zur Folgesache<br />
Versorgungsausgleich mit dem erschienenen Beteiligten verhandelt, kann mit Erfolg wegen Besorgnis der<br />
Befangenheit abgelehnt werden. Hinweis: Das Bemerkenswerte an dieser eindeutigen und in jeder<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 243
Fach 1, Seite 28 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Hinsicht nachvollziehbaren und zwingenden Entscheidung ist deren Vorgeschichte: Die Richterin äußerte<br />
sich dienstlich zum Befangenheitsantrag und sah keine Besorgnis der Befangenheit. Auch das AG<br />
Überlingen wies das Befangenheitsgesuch als unbegründet zurück. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 101/<strong>2020</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Pfändung: Fiktive Nettovergütung<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 19.11.2019 – 4 U 1186/19) • Ein dem Schuldner vom Drittschuldner gewährter<br />
geldwerter Vorteil ist nur bei der Berechnung des pfändbaren realen, nicht aber bei der Ermittlung des<br />
fiktiven Arbeitseinkommens zu berücksichtigen. Nur die fiktive Nettovergütung steht für die Pfändung<br />
zur Verfügung. Freibeträge für Kinder können von dieser fiktiven Nettovergütung nur dann abgesetzt<br />
werden, wenn auch tatsächlich Unterhalt geleistet wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 102/<strong>2020</strong><br />
Handels-/Gesellschaftsrecht<br />
Formwechsel einer GmbH in eine KG: Eintritt eines Gesellschafters<br />
(OLG Oldenburg, Beschl. v. 19.12.2019 – 12 W 133/19 [HR]) • Beim Formwechsel einer GmbH in eine KG ist<br />
der Eintritt des persönlich haftenden Gesellschafters mit Wirksamwerden des Formwechsels möglich.<br />
Hinweis: Das Registergericht hatte einen Eintragungsantrag zurückgewiesen. Der beschlossene<br />
Formwechsel widerspreche dem in § 202 Abs. 1 Nr. 2 UmwG zum Ausdruck kommenden Grundsatz<br />
der Kontinuität der Gesellschafter. Hiernach müssten die Gesellschafter des durch den Formwechsel<br />
entstehenden Rechtsträgers bereits vor dem Formwechsel Gesellschafter der formwechselnden GmbH<br />
geworden sein. Dem ist das OLG nicht gefolgt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 103/<strong>2020</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Wettbewerbsverhältnis: Substitutions- und Behinderungswettbewerb<br />
(OLG Nürnberg, Urt. v. 12.11.2019 – 3 U 592/19) • Ein konkretes Wettbewerbsverhältnis i.S.d. § 2 Abs. 1<br />
Nr. 3 UWG kann sowohl bei Substitutionswettbewerb als auch bei Behinderungswettbewerb vorliegen.<br />
Besteht das konkrete Wettbewerbsverhältnis lediglich aufgrund von Behinderungswettbewerb, können<br />
nur die sog. mitbewerberbezogenen Tatbestände geltend gemacht werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 104/<strong>2020</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Vorläufiger Antrag auf Weiterbeschäftigung: Bestandsschutzverfahren<br />
(LAG Niedersachsen, Beschl. v. 24.1.<strong>2020</strong> – 8 Ta 13/20) • Der vorläufige Antrag auf Weiterbeschäftigung<br />
ist, wenn er im Bestandsschutzverfahren gestellt wird, werterhöhend nur dann zu berücksichtigen,<br />
wenn über ihn entschieden worden ist, wenn er in einem Vergleich mitgeregelt wurde und dort eine<br />
Regelung erhält oder wenn er ausdrücklich als unbedingter Hilfsantrag gestellt wird. Für die Annahme,<br />
der Antrag sei ausdrücklich als unbedingter Hilfsantrag gestellt worden, genügt nicht, dass der Antrag<br />
nicht eindeutig als unechter Hilfsantrag gestellt wird. Im Zweifel ist ein solcher Antrag als sachlich<br />
richtiger und zulässiger unechter Hilfsantrag auszulegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 1<strong>05</strong>/<strong>2020</strong><br />
Sozialrecht<br />
Gewährung von Erstausstattungen: Mitwirkungspflicht eines Antragstellers<br />
(LSG Bayern, Beschl. v. 27.12.2019 – L 8 SO 346/19 B ER) • Auch wenn eine Bedarfslage für die Gewährung<br />
von Erstausstattungen naheliegt, bedarf es für den Zuspruch von Leistungen der Mitwirkung des<br />
Betreffenden, um konkrete Bedarfe ermitteln zu können. Hinweis: Im Zuge ihrer Haftentlassung<br />
beantragte die Antragstellerin die Gewährung einer Erstausstattung, legte aber weder Erklärungen über<br />
ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor noch gab sie an, welche Gegenstände sie<br />
erhalten will. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 106/<strong>2020</strong><br />
244 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 29<br />
Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />
Tarifvertrag: Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit<br />
(BVerfG, Beschl. v. 10.1.<strong>2020</strong> – 1 BvR 4/17) • Aus dem Grundgesetz ergibt sich grds. kein Anspruch darauf,<br />
dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden. Hinweis: Beschwerdeführer in diesem Verfahren<br />
war u.a. die IG BAU, eine Gewerkschaft, die mit den Arbeitgeberverbänden „Zentralverband des Deutschen<br />
Baugewerbes“ und „Hauptverband der Deutschen Bauindustrie“ Tarifverträge über Sozialkassen des<br />
Baugewerbes geschlossen hat. Diese Sozialkassen sind z.T. schon seit 1949 bestehende gemeinsame<br />
Einrichtungen der Tarifparteien i.S.v. § 4 Abs. 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG). Ihr Zweck ist es, im Bereich<br />
des Urlaubs, der Altersversorgung und der Berufsbildung Leistungen zu erbringen, die wegen Besonderheiten<br />
der Baubranche sonst nicht oder nur eingeschränkt zu erlangen wären. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 107/<strong>2020</strong><br />
Steuerrecht<br />
Vorsteuerabzug: Mietereinbauten<br />
(BFH, Urt. v. 13.11.2019 – V R 5/18) • Ein Mieter, der in angemieteten Räumlichkeiten Ein- und Umbauten<br />
(„Mietereinbauten“) im eigenen Namen vornehmen lässt, kann die ihm hierfür von Bauhandwerkern in<br />
Rechnung gestellte Umsatzsteuer im Fall einer entgeltlichen Weiterlieferung an den Vermieter als<br />
Vorsteuer abziehen. Eine Weiterlieferung liegt jedenfalls dann vor, wenn er dem Vermieter nicht nur das<br />
zivilrechtliche Eigentum überträgt, sondern auch einen unmittelbar von diesem tatsächlich genutzten<br />
wirtschaftlichen Vorteil zuwendet. Hinweis: Streitgegenständlich waren Ein- und Umbauten in<br />
angemieteten Praxisräumen von zwei Augenärzten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 108/<strong>2020</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeitenrecht<br />
Haushaltsuntreue: Unterlassen der Angebotseinholung<br />
(BGH, Beschl. v. 8.1.<strong>2020</strong> – 5 StR 366/19) • Ein Entscheidungsträger handelt im Bereich der öffentlichen<br />
Verwaltung nicht stets pflichtwidrig, wenn er nicht das sparsamste i.S.d. niedrigsten Angebots wählt. Beim<br />
Unterlassen eines Preisvergleichs oder einer Ausschreibung kommt eine Strafbarkeit nur bei evidenten und<br />
schwerwiegenden Pflichtverstößen in Betracht. Ein Vermögensnachteil kann bei der Haushaltsuntreue<br />
auch nach den Grundsätzen des persönlichen Schadenseinschlags eintreten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 109/<strong>2020</strong><br />
Voreintragungen: Verweis auf den Bußgeldbescheid im OWi-Verfahren<br />
(OLG Zweibrücken, Beschl. v. 8.1.<strong>2020</strong> – 1 OWi 2 SsBs 117/19) • Das Tatgericht kann hinsichtlich den<br />
Betroffenen belastenden Voreintragungen lediglich auf den Bußgeldbescheid verweisen. Das ist auch bei<br />
der Beschränkung des Einspruchs auf die Rechtsfolgen unzulässig. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 110/<strong>2020</strong><br />
Trunkenheitsfahrt: Gemieteter E-Scooter<br />
(AG Dortmund, Urt. v. 21.1.<strong>2020</strong> – 729 Ds-060 Js 513/19-349/19) • Im Fall einer Trunkenheitsfahrt mit<br />
einem gemieteten E-Scooter nachts zur verkehrsarmen Zeit auf einer Verkehrsfläche ohne jeden Bezug<br />
zum fließenden Straßenverkehr und ohne tatsächlich feststellbare oder auch nur abstrakt drohende<br />
Beeinträchtigung Rechtsgüter Dritter durch einen nicht vorbelasteten und geständigen Täter kann nicht<br />
von einer Ungeeignetheit zum Führen von Kfz ausgegangen werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 111/<strong>2020</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Pflichtverteidiger: Anklage zum Jugendschöffengericht<br />
(LG Saarbrücken, Beschl. v. 11.2.<strong>2020</strong> – 3 Qs 11/20) • Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung<br />
nach § 68 Nr. 1 JGG n.F. i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. liegen auf jeden Fall vor, wenn zum<br />
Jugendschöffengericht angeklagt ist. Maßgebend ist allein, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug<br />
vor einem der in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. genannten Gerichte stattfinden wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 112/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 245
Fach 1, Seite 30 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Besetzungseinwand: Form<br />
(OLG Celle, Beschl. v. 27.1.<strong>2020</strong> – 3 Ws 21/20) • Der Besetzungseinwand nach § 222b StPO (n.F.) ist in der<br />
gleichen Form geltend zu machen wie die als Verfahrensrüge ausgestaltete Besetzungsrüge der<br />
Revision nach Maßgabe von §§ 344 Abs. 2, 309 Abs. 2 StPO. Im Hinblick auf die Besetzung nach<br />
Maßgabe von § 76 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 GVG kann hierbei auf die Rechtsprechung des BGH zur Willkür<br />
zurückgegriffen werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 113/<strong>2020</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Vorläufiges Berufsverbot: Besonderes Interesse<br />
(AGH Hamm, Beschl. v. 10.1.<strong>2020</strong> – 2 AGH 23/19) • Bei dem vorläufigen Berufsverbot gem. §§ 150, 153<br />
BRAO handelt es sich um eine vorläufige Präventivmaßnahme, die mit erheblicher Intensität und<br />
irreparabler Wirkung in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen von hoher Bedeutung eingreift,<br />
weil sie für eine Zwischenzeit einen Sicherungszweck verfolgt. Die damit verbundene Vorwegnahme der<br />
endgültigen Ausschließung bedarf der Rechtfertigung durch ein besonderes Interesse. Auch in dem<br />
durch § 153 BRAO verfahrensrechtlich gesondert geregelten Fall besteht kein Anlass, auf das aus<br />
verfassungsrechtlichen Erwägungen folgende materiell-rechtliche Erfordernis zu verzichten, dass ein<br />
sofortiges Einschreiten zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter geboten<br />
sein muss. Hinweis: Dem Fall lagen Verurteilungen wegen Untreue zugrunde; gleichwohl sah der<br />
Gerichtshof keine Notwendigkeit eines vorläufigen Berufsverbots (Bestätigung von Senat, Beschl.<br />
v. 1.3.2019 – 2 AGH 15/18). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 114/<strong>2020</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Streitwertfestsetzung: Höchstsatz<br />
(LAG Niedersachsen, Beschl. v. 20.1.<strong>2020</strong> – 8 Ta 321/19) • Der Höchstsatz nach § 42 Abs. 2 S. 1 GKG ist für<br />
die Wertberechnung bei Rechtsstreitigkeiten vor den Gerichten für Arbeitssachen über das Bestehen,<br />
das Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses regelmäßig in Ansatz zu bringen,<br />
wenn die Klage auf die unbefristete Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gerichtet und nicht auf eine<br />
Beendigung zu einem früheren Zeitpunkt beschränkt ist. Zulässigkeitsgesichtspunkte oder die Frage, ob<br />
die Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, bleiben bei der Streitwertfestsetzung außer Betracht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 115/<strong>2020</strong><br />
EU-Recht/IPR<br />
Gemeinschaftliches Sortenschutzrecht: Auskunftsübermittlung<br />
(EuGH, Urt. v. 17.10.2019 – C-239/18) • Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1768/95 der Kommission vom<br />
24.7.1995 über die Ausnahmeregelung gem. Art. 14 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates<br />
über den gemeinschaftlichen Sortenschutz ist dahin auszulegen, dass er für den Inhaber eines<br />
gemeinschaftlichen Sortenschutzrechts keine Möglichkeit vorsieht, von einer amtlichen Stelle Auskünfte<br />
zur Verwendung von Vermehrungsmaterial von Arten zu verlangen, ohne dass im entsprechenden<br />
Ersuchen die geschützte Sorte, für die diese Auskünfte verlangt werden, konkret genannt ist. Hinweis:<br />
Diese Entscheidung erging im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Saatgut-Treuhandverwaltungs<br />
GmbH und dem Freistaat Thüringen wegen dessen Weigerung, Auskünfte aus einer Datenbank zu<br />
übermitteln, die durch Angaben von Landwirten gespeist wird, die diese i.R.d. Beantragung von<br />
Fördergeldern aus Europäischen Landwirtschaftsfonds machen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 116/<strong>2020</strong><br />
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246 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1867<br />
Mietvertrag: Kündigung – Rechtsfolgen<br />
Wohnraummietrecht<br />
Kündigung von Wohnraummietverträgen: Die Formalien und Rechtsfolgen –<br />
Teil 2<br />
Von Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Weitere Aufsicht führender RiAG, Gelsenkirchen<br />
Hinweis:<br />
Der erste Teil des Beitrags „Kündigung von Wohnraummietverträgen: Die Formalien und Rechtsfolgen –<br />
Teil 1“ ist abgedruckt in <strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, F.4, S. 1843.<br />
Inhalt<br />
III. Rechtsfolgen einer Kündigung<br />
1. Allgemeines<br />
2. Herausgabeanspruch<br />
3. Anspruch auf Nutzungsentschädigung<br />
4. Kündigungsfrist<br />
IV. Vereinbarungen über das Kündigungsrecht<br />
1. Kündigungsausschlussvereinbarungen<br />
2. Vereinbarungen über Kündigungsfristen<br />
V. Sonstige Vereinbarungen<br />
III.<br />
Rechtsfolgen einer Kündigung<br />
1. Allgemeines<br />
Ist die Kündigung entsprechend den zuvor unter II (s. BÖRSTINGHAUS, <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 1843 ff.) beschriebenen<br />
formellen Voraussetzungen erfolgt und liegt, soweit erforderlich, ein Kündigungsgrund vor, beendet sie<br />
das Mietverhältnis bei einer ordentlichen Kündigung oder einer außerordentlichen Kündigung mit<br />
gesetzlicher Frist zum Ablauf der Kündigungsfrist, bei einer fristlosen Kündigung zum Zeitpunkt des<br />
Zugangs der Kündigung, auch wenn der Vermieter eine Räumungs- oder Ziehfrist bewilligt (BGH NZM<br />
2006, 820). Ein Mietverhältnis wird durch die Kündigungserklärung des Vermieters jedoch dann<br />
nicht beendet, wenn das Mietverhältnis durch Ausübung des Vormietrechts verlängert worden war<br />
(AG Hamburg-Blankenese ZMR 1986, 17). Ein Widerruf oder eine Rücknahme einer Kündigung ist nach<br />
ihrem Zugang nicht mehr möglich, vor und bis zum Zugang kann sie gem. § 130 Abs. 1 S. 2 BGB<br />
widerrufen werden (BGH NZM 1998, 628; OLG Hamm ZMR 1979, 249; LG Düsseldorf DWW 1993, 104).<br />
Ein verspäteter Widerruf wird i.d.R. aber als Angebot auf Abschluss eines Vertrags über die Aufhebung<br />
der Kündigungswirkung oder als ein neuer Mietvertrag unter den bisherigen Bedingungen zu verstehen<br />
sein. Wird ein auf längere Zeit als ein Jahr geschlossener Mietvertrag über ein Grundstück vorzeitig<br />
fristlos gekündigt, einigen sich die Vertragspartner aber später auf eine „Rücknahme der Kündigung“<br />
und Fortsetzung des Mietverhältnisses, dann liegt darin der Abschluss eines neuen Mietvertrags. Soll<br />
dieser für längere Zeit als ein Jahr gelten, unterliegt er dem Schriftformerfordernis des § 550 BGB<br />
(BGH NZM 1998, 628).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 247
Fach 4, Seite 1868<br />
Mietvertrag: Kündigung – Rechtsfolgen<br />
Miete/Nutzungen<br />
2. Herausgabeanspruch<br />
Nach Ausspruch der Kündigung und Ablauf der Kündigungsfrist entsteht ein Abwicklungsverhältnis.<br />
Der Mieter ist verpflichtet, die Wohnung gem. § 546 Abs. 1 BGB und, wenn der Vermieter auch<br />
Eigentümer des Grundstücks ist, gem. § 985 BGB an den Vermieter herauszugeben. Die Rückgabe stellt<br />
damit die Rückabwicklung der Überlassung gem. § 535 Abs. 1 BGB dar. Die Rückgabe setzt grds. eine<br />
Änderung der Besitzverhältnisse zugunsten des Vermieters voraus. Davon abgesehen ist der Zustand,<br />
in dem sich die Mietsache bei ihrer Rückgabe befindet, für die allein in der Rückgabe selbst bestehende<br />
Leistungspflicht ohne Bedeutung. § 546 Abs. 1 BGB enthält keine Regelung darüber, in welchem<br />
Zustand die Mietsache zurückzugeben ist (BGH NJW 2019, 1877; NJW 2018, 1746; NZM 2018, 717). Bei<br />
Verschlechterungen oder Veränderungen der Mietsache kann der Vermieter deshalb zwar Schadenersatz<br />
verlangen, ist aber nicht zur Ablehnung ihrer Rücknahme berechtigt (BGH NJW 2018, 1746).<br />
Bedeutung hat die Frage, ob der ordnungsgemäße Zustand der Mietsache zur Erfüllung der<br />
Rückgabepflicht gehört, auch für die Frage, ob der Vermieter dem Mieter eine Frist setzen muss,<br />
bevor er Schadenersatz verlangen kann. Entscheidend für die Unterscheidung zwischen Ansprüchen<br />
gem. § 280 BGB und solchen gem. § 281 BGB ist nämlich die Frage, ob es sich um die Erfüllung einer<br />
vertraglichen Hauptpflicht oder einer Obhutspflicht oder Obliegenheit handelt. Nach Ansicht des BGH<br />
(NJW 2018, 1746; NZM 2018, 717) muss danach differenziert werden, ob der Anspruch auf eine<br />
Veränderung des Zustands gerichtet ist, dann ist eine Fristsetzung erforderlich (z.B. bei unterlassenen<br />
Schönheitsreparaturen), oder auf Erhaltung des ursprünglichen Zustands. Im letzteren Fall handelt<br />
sich gerade nicht um einen Anspruch statt der Leistung, der immer eine Fristsetzung erfordert. Dem<br />
Vermieter steht in diesem Fall ein sofort fälliger Anspruch auf Schadenersatz zu, und zwar nach seiner<br />
Wahl in Form der Wiederherstellung (§ 249 Abs. 1 BGB) oder des Geldersatzes (§ 249 Abs. 2 BGB).<br />
Ob die Abtretung des Eigentumsherausgabeanspruchs rechtlich möglich ist, ist sehr zweifelhaft (BGH<br />
NJW 1983, 112; abl. OLG München ZMR 1996, 375), jedoch unterliegt die Abtretung des Herausgabe- und<br />
Räumungsanspruchs aus dem Mietvertrag keinen rechtlichen Bedenken. Eine andere Frage ist die, ob der<br />
dem Vermieter zustehende Herausgabeanspruch im Wege der Prozessstandschaft durch einen Dritten<br />
geltend gemacht werden kann. Hierzu ist ein eigenes schutzwürdiges Interesse des Prozessstandschafters<br />
erforderlich. Nach LG Berlin (GE 1989, 311) soll dies zumindest bei der den Grundbesitz des Ehemanns<br />
verwaltenden Ehefrau nicht der Fall sein. Auch der Hausverwalter kann die Ansprüche des Vermieters<br />
nicht in eigenem Namen geltend machen (LG Hamburg WuM 1991, 599; LG Kassel ZMR 1992, 548).<br />
Der Anspruch auf Herausgabe besteht gem. § 546 Abs. 1 BGB nach Beendigung des Mietverhältnisses.<br />
Nach BGH (NJW 1989, 451 f.) wird der Anspruch auf Rückgabe „am letzten Tage der Beendigung des<br />
Mietverhältnisses“ fällig. Fällt dieser Tag auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag, muss die Mietsache<br />
erst am nächsten Werktag zurückgegeben werden. Für die Zeit ist keine Nutzungsentschädigung gem.<br />
§ 546a Abs. 1 BGB zu bezahlen.<br />
Neben dem Herausgabeanspruch besteht der Anspruch auf Räumung. Dazu gehört, dass der Mieter<br />
alle von ihm eingebrachten oder vom Vormieter übernommenen Sachen wieder entfernt. Zu<br />
unterscheiden ist zwischen der gem. § 266 BGB unzulässigen Teilräumung und der Schlechterfüllung<br />
des Räumungsanspruchs, die lediglich Schadenersatzansprüche auslöst. Das ist z.B. der Fall, wenn die<br />
Wohnung in einem verwahrlosten Zustand zurückgegeben wird. Anders sieht es aber dann aus, wenn<br />
der Vermieter erhebliche Kosten aufwenden muss, um die vollständige Räumung – nicht Wiederherstellung<br />
eines vertragsgemäßen Zustands – zu vollenden. Das hat das OLG Hamm z.B. in einem<br />
Fall bejaht, in dem der Mieter einen Öltank zurückgelassen hatte, der für viel Geld entsorgt werden<br />
musste. Auch wenn Keller und Dachboden vollgestopft mit Gegenständen des Mieters sind, liegt eine<br />
unzulässige Teilräumung vor. Das Gleiche gilt, wenn erhebliche Rückbaukosten für Einbauten<br />
erforderlich werden (KG GE 2007, 217).<br />
248 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1869<br />
Mietvertrag: Kündigung – Rechtsfolgen<br />
3. Anspruch auf Nutzungsentschädigung<br />
Der Mieter muss gem. § 546a BGB eine Nutzungsentschädigung für die Zeit der Vorenthaltung zahlen.<br />
Die Mietsache wird dem Vermieter dann i.S.d. § 546a Abs. 1 BGB nach Beendigung des Mietverhältnisses<br />
vorenthalten, wenn der Mieter die Mietsache nicht zurückgibt und das Unterlassen der Herausgabe dem<br />
Willen des Vermieters widerspricht (BGH NZM 2017, 630 = NJW 2017, 2997; NZM 2006, 52; NZM 2006,<br />
12; BGHZ 204, 83). An einem Rückerlangungswillen des Vermieters fehlt es etwa, wenn er trotz<br />
Kündigung des Mieters von einem Fortbestehen des Mietverhältnisses ausgeht (BGH NZM 2017, 630;<br />
NJW 2006, 140; NJW 2013, 3232). Fehlt es an einem Rückerlangungswillen des Vermieters, steht diesem<br />
ein Anspruch auf Nutzungsentschädigung nach § 546a BGB grds. auch dann nicht zu, wenn der Mieter<br />
zur Rückgabe der Mietsache außerstande ist und die subjektive Unmöglichkeit durch ihn selbst<br />
verursacht wurde (BGH NZM 2017, 630; NJW 1960, 909; BGHZ 90, 145, 148).<br />
Der Mieter schuldet eine Entschädigung mindestens in Höhe der vereinbarten Miete oder, wenn die<br />
ortsübliche Miete höher ist, in Höhe der ortsüblichen Miete. Die für vergleichbare Sachen ortsübliche<br />
Miete, die der Vermieter gem. § 546a Abs. 1 Alt. 2 BGB für die Dauer der Vorenthaltung der Mietsache<br />
verlangen kann, wenn der Mieter diese nach Beendigung des Mietverhältnisses nicht zurückgibt, ist bei<br />
beendeten Wohnraummietverträgen nicht nach Maßgabe der auf laufende Mietverhältnisse zugeschnittenen<br />
Regelung über Mieterhöhungen bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete (§ 558 Abs. 2 BGB),<br />
sondern anhand der bei Neuabschluss eines Mietvertrags über die Wohnung ortsüblichen Miete<br />
(Marktmiete) zu bestimmen (BGH NZM 2017, 186 = NJW 2017, 1022). Eine erstmals nach Vertragsbeendigung<br />
eingetretene Verschlechterung der Mietsache, die beim Fortbestehen des Mietverhältnisses<br />
eine Minderung der Miete zur Folge gehabt hätte, führt grds. nicht dazu, den Anspruch des<br />
Vermieters auf Zahlung einer Nutzungsentschädigung in entsprechender Anwendung von § 536 BGB<br />
herabzusetzen (BGH NJW 2015, 2795 = NZM 2015, 695; NJW 1961, 916). Etwas anderes gilt nur dann,<br />
wenn den Vermieter nach Treu und Glauben i.R.d. Abwicklungsverhältnisses ausnahmsweise eine<br />
nachvertragliche Pflicht zur Beseitigung von Mängeln der vorenthaltenen Mietsache trifft. War die<br />
Mietsache bereits zum Zeitpunkt der Beendigung des Mietvertrags mangelhaft und die Miete deshalb<br />
gemindert, dann schuldet der Mieter auch nur eine geminderte Nutzungsentschädigung.<br />
Die Geltendmachung der im Einzelfall höheren Marktmiete bedarf keiner besonderen rechtsgestaltenden<br />
Willenserklärung des Vermieters (BGH NJW 1999, 2808). Die Geltendmachung der höheren ortsüblichen<br />
Miete kann auch rückwirkend und nachträglich geltend gemacht werden. Die Kappungsgrenze des<br />
§ 558 Abs. 3 BGB gilt hier nicht (LG Freiburg WuM 1993, 671; LG Stuttgart NJW-RR 1987, 401). Die<br />
Nutzungsentschädigung ist bis zum Zeitpunkt der Aufgabe der Nutzung zu zahlen, also taggenau<br />
abzurechnen (BGH NZM 2006, 52). Nutzungsentschädigung ist auch für die Zeit einer vom Vermieter<br />
eingeräumten oder vom Gericht angeordneten Räumungsfrist zu zahlen (BGH NZM 2006, 820).<br />
4. Kündigungsfrist<br />
Die Kündigungsfrist ist bei Wohnraummietverträgen unterschiedlich lang. Für Mieter beträgt die<br />
Kündigungsfrist einheitlich immer drei Monate. Für Vermieter verlängert sich die Kündigungsfrist nach<br />
einer Überlassungszeit von fünf Jahren auf sechs Monate und nach einer Überlassungszeit von acht<br />
Jahren auf neun Monate. Entscheidend ist dabei die Zeit der Überlassung des Wohnraums. Es gelten<br />
danach folgende Fristen für die Vermieterkündigung:<br />
Zugang der Kündigung bis zum<br />
Dauer der Überlassung der Wohnung<br />
3. Werktag des Monats<br />
unter 5 Jahre und alle zwischen 5 und 8 Jahren mehr als 8 Jahre<br />
Mieterkündigungen<br />
Januar 31.3. 30.6. 30.9.<br />
Februar 30.4. 31.7. 31.10.<br />
März 31.5. 31.8. 30.11.<br />
April 30.6. 30.9. 31.12.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 249
Fach 4, Seite 1870<br />
Mietvertrag: Kündigung – Rechtsfolgen<br />
Miete/Nutzungen<br />
Zugang der Kündigung bis zum<br />
3. Werktag des Monats<br />
unter 5 Jahre und alle<br />
Mieterkündigungen<br />
Dauer der Überlassung der Wohnung<br />
zwischen 5 und 8 Jahren<br />
mehr als 8 Jahre<br />
Mai 31.7. 31.10. 31.1.<br />
Juni 31.8. 30.11. 28.(29.)2.<br />
Juli 30.9. 31.12. 31.3.<br />
August 31.10. 31.1. 30.4.<br />
September 30.11. 28.(29.)2. 31.5.<br />
Oktober 31.12. 31.3. 30.6.<br />
November 31.1. 30.4. 31.7.<br />
Dezember 28.(29.)2. 31.5. 31.8.<br />
Die Kündigungserklärung muss bis zum dritten Werktag dem Kündigungsempfänger zugegangen sein.<br />
Der Samstag zählt dabei als Werktag mit (BGH NJW 20<strong>05</strong>, 2154 = NZM 20<strong>05</strong>, 532). Fällt der dritte<br />
Werktag auf einen Samstag, so gilt § 193 BGB nicht. Eine Kündigung, die erst am folgenden Montag<br />
zugeht, wirkt erst auf einen späteren Zeitpunkt (BGH NJW 20<strong>05</strong>, 1354 = NZM 20<strong>05</strong>, 391).<br />
Bei der Berechnung der Überlassungszeit kann es im Einzelfall zu Problemen kommen:<br />
• Bei der Berechnung zählen die Zeiten mit, die der jetzige Mieter aufgrund eines Mietvertrags des<br />
früheren Ehegatten in der Wohnung gelebt hat (OLG Stuttgart NJW 1984, 874 = WuM 1984, 45).<br />
• Umstritten ist die Anrechnung von Zeiten als Untermieter in der Wohnung. Während die Rechtsprechung<br />
(LG Düsseldorf MDR 1969, 763; LG Bielefeld ZMR 1965, 274) diese Zeit regelmäßig nicht mit<br />
einbezieht, wird in der mietrechtlichen Literatur teilweise das Gegenteil vertreten (KAUFMANN ZMR<br />
1965, 293; BODIE WuM 1965, 38).<br />
• Die Kündigungsfrist nach einem Wohnungswechsel im Haus des Vermieters richtet sich nach der<br />
gesamten Wohndauer (LG Bonn WuM 1987, 322), zumindest dann, wenn der Umzug vom Vermieter<br />
mit veranlasst ist (AG Kerpen WuM 1994, 77). Für diese Auffassung spricht der Sinn der Regelung des<br />
§ 565 Abs. 2 BGB. So kann insb. dessen S. 3 entnommen werden, dass es bei der Ausgestaltung der<br />
Vorschrift im Wesentlichen um den Schutz des Mieters geht; eine von der gesetzlichen Regelung<br />
abweichende Vertragsgestaltung mit kurzen Kündigungsfristen kann dann auch grds. nicht zum<br />
Nachteil des Mieters getroffen werden.<br />
Für die Bemessung des Überlassungszeitraums nach § 573 Abs. 1 BGB ist auf den Zugang der<br />
Kündigung, nicht aber auf den Ablauf der Kündigungsfrist abzustellen (LG Berlin GE 1986, 41; a.A. AG<br />
Lüdinghausen WuM 1985, 267). Soweit im Mietvertrag abweichende, i.d.R. kürzere Fristen festgelegt<br />
sind, sind diese nicht völlig unwirksam. Lediglich der Vermieter muss dann gem. § 573c Abs. 4 BGB die<br />
o.g. Fristen einhalten, der Mieter kann mit der vertraglich vereinbarten kürzeren Frist kündigen. Auch<br />
die in DDR-Mietverträgen enthaltene 14-tägige Kündigungsfrist ist für den Mieter weiter wirksam<br />
(KG NZM 1998, 299).<br />
Wird an vermieteten Wohnräumen nach der Überlassung an den Mieter Wohnungseigentum begründet<br />
und das Wohnungseigentum veräußert, so kann sowohl eine Eigenbedarfskündigung des<br />
Erwerbers wie auch eine Kündigung wegen wirtschaftlicher Verwertung gem. § 577a BGB wirksam nicht<br />
vor Ablauf einer drei-jährigen Wartefrist ausgesprochen werden. Das gesetzliche Vorkaufsrecht steht<br />
dem Mieter einer umgewandelten Eigentumswohnung nur für den ersten Verkaufsfall nach der<br />
Umwandlung zu (BGH NJW 2006, 1869 = NZM 2006, 5<strong>05</strong>). Für die nach Ablauf der Wartefrist<br />
ausgesprochene Kündigung gelten die Fristen des § 573c BGB (OLG Hamm WuM 1981, 35). Soweit die<br />
Gemeinde in der Landesverordnung nach § 577a BGB aufgenommen ist, kann dort die Sperrfrist von drei<br />
auf bis zu zehn Jahren verlängert sein.<br />
250 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1871<br />
Mietvertrag: Kündigung – Rechtsfolgen<br />
Umstritten ist die Frage, welche Auswirkungen es auf die Kündigung hat, wenn der Vermieter die<br />
Kündigungsfrist falsch berechnet und deshalb die Kündigung zu einem zu frühen Termin erklärt hat:<br />
• Nach einem Urteil des LG Göttingen (WuM 1991, 266) ist eine Kündigung unwirksam, wenn dort<br />
der Kündigungstermin falsch angegeben worden ist (so auch STERNEL, Mietrecht, IV 23). Eine<br />
solche Kündigung wirkt grds. nicht zum nächsten zulässigen Termin, es sei denn, der Vermieter<br />
hat hilfsweise zum nächsten zulässigen Termin gekündigt.<br />
• Nach anderer zutreffender Auffassung soll die Kündigung wirksam sein, wenn ein unzutreffender<br />
vorzeitiger Zeitpunkt für die Beendigung des Mietverhältnisses angegeben wird. Die Kündigung wird,<br />
wenn die Angabe des Zeitpunkts überhaupt Inhalt der rechtsgeschäftlichen Erklärung geworden ist,<br />
zum nächsten zulässigen Zeitpunkt wirksam, wenn erkennbar ist, dass der Kündigende den Vertrag<br />
jedenfalls zu diesem Zeitpunkt beenden will (OLG Hamm MDR 1994, 56; LG Köln ZMR 1992, 343;<br />
LG Köln WuM 1993, 541; OLG Hamburg OLGE 36, 64; LG Mannheim WuM 1970, 11 und ZMR 1977, 28 =<br />
WuM 1976, 207 m. Anm. LUTZ DWW 1976, 261).<br />
IV.<br />
Vereinbarungen über das Kündigungsrecht<br />
1. Kündigungsausschlussvereinbarungen<br />
Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Vereinbarung eines Kündigungsausschlusses grds. möglich.<br />
Der BGH hat die tatbestandlichen Voraussetzungen, aber auch die Rechtsfolgen sehr stark ausdifferenziert.<br />
Unterscheidungskriterien für die Beurteilung der Wirksamkeit sind nach Auffassung<br />
des BGH:<br />
Form der Vereinbarung:<br />
Verbindung mit einer Staffelmiete:<br />
Laufzeit:<br />
Beschränkung:<br />
Individualvereinbarung<br />
Formularvertrag<br />
Ja<br />
Nein<br />
Bis vier Jahre<br />
Über vier Jahre<br />
Nur für den Mieter<br />
Wechselseitig für beide Vertragsparteien<br />
Daraus ergibt sich folgende Matrix an Fallkonstellationen:<br />
Individualvertraglicher Kündigungsausschluss<br />
Formularvertraglicher Kündigungsausschluss<br />
Verzicht<br />
gilt<br />
wechselseitig<br />
einseitig<br />
Bis 4<br />
Jahre<br />
Zulässig<br />
Über 4 Jahre Bis 4 Jahre Über 4 Jahre<br />
(BGH NZM 2018, 556;<br />
NJW 2011, 59; NJW<br />
2004, 1448)<br />
Ohne<br />
Mit<br />
Staffelmiete Staffelmiete<br />
Zulässig i.d.R., wenn nur ordentliche<br />
Kündigung ausgeschlossen<br />
wurde (BGH NJW 2004, 3117;<br />
Ohne<br />
Staffelmiete<br />
NZM 2004, 734; WuM 2004, 672) Unzulässig<br />
Ohne<br />
Mit<br />
Staffelmiete Staffelmiete<br />
Ist nur insoweit<br />
unwirksam<br />
als 4 Jahre<br />
überschritten<br />
werden<br />
(BGH NJW<br />
2006, 2696)<br />
Unwirksam<br />
(BGH NJW<br />
2009, 912)<br />
Strittig, aber<br />
nach BGH<br />
möglich<br />
(BGH NJW<br />
2006, 1<strong>05</strong>6;<br />
(BGH NJW<br />
2011, 597;<br />
NJW 20<strong>05</strong>,<br />
1574)<br />
NJW 2009,<br />
353)<br />
Mit<br />
Staffelmiete<br />
Ab 9/2001<br />
vereinbart:<br />
Insgesamt<br />
unwirksam<br />
(BGH NJW<br />
2006,<br />
1<strong>05</strong>9)<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 251
Fach 4, Seite 1872<br />
Mietvertrag: Kündigung – Rechtsfolgen<br />
Miete/Nutzungen<br />
Eine Kündigungsausschlussvereinbarung ist demnach auf jeden Fall unwirksam, wenn<br />
• sie formularvertraglich vereinbart wurde und für mehr als vier Jahre gelten soll;<br />
• sie formularvertraglich vereinbart wurde und auch außerordentliche fristgerechte Kündigungsgründe<br />
erfasst.<br />
Um einen formularvertraglichen Ausschluss handelt es sich auch, wenn der Vermieter handschriftlich in<br />
eine Lücke im vorformulierten Vertragstext die Zahl einträgt (BGH NZM 2017, 71). Die maßgebliche<br />
Vierjahresfrist für die Beurteilung der Wirksamkeit von Kündigungsausschlussvereinbarungen beginnt<br />
immer mit dem Abschluss der Vereinbarung und nicht mit dem Wirksamwerden (BGH NZM 20<strong>05</strong>, 782).<br />
Sie endet dann genau vier Jahre später, auch wenn dies ein Termin ist, zu dem der Mietvertrag gar nicht<br />
gekündigt werden kann, weil er z.B. mitten im Monat liegt (BGH NZM 2006, 579). Etwas anderes kann<br />
bei besonderen Vermietungssituationen wie z.B. bei der Vermietung an Studenten (BGH NZM 2009,<br />
779) oder Auszubildende (AG Dortmund NZM 2010, 862) gelten.<br />
2. Vereinbarungen über Kündigungsfristen<br />
Gemäß § 573c Abs. 4 BGB sind Vereinbarungen zum Nachteil des Mieters unwirksam. Längere<br />
Kündigungsfristen gelten für den Mieter nur noch in folgenden Fällen:<br />
• Die Kündigungsfristen wurden individuell vereinbart. Das gilt auch, wenn der Wortlaut des § 565 BGB<br />
a.F. individuell vereinbart wurde.<br />
• In formularvertraglichen Vereinbarungen wurden entweder andere Fristen als in § 565 BGB a.F.<br />
vereinbart oder der Zeitpunkt, wann diese längeren Fristen jeweils wirksam werden sollten, weicht<br />
von § 565 BGB a.F. ab.<br />
Die vertragliche Vereinbarung abweichender Kündigungsfristen ist, soweit die Kündigungsfrist verlängert<br />
wurde, für den Vermieter wirksam. Seine Kündigung wirkt mit der längeren Frist. Deshalb gilt hier ggf.<br />
auch noch eine vertragliche Kündigungsfrist von einem Jahr.<br />
V. Sonstige Vereinbarungen<br />
In Formularmietverträgen werden häufig bezüglich des Zugangs und auch der Form von Willenserklärungen<br />
hiervon abweichende Regelungen getroffen. Gemäß § 309 Nr. 13 BGB ist jedoch eine<br />
Bestimmung, durch die Erklärungen, die dem Verwender oder einem Dritten gegenüber abzugeben sind,<br />
einer strengeren Form oder besonderen Zugangserfordernissen unterworfen werden, unwirksam.<br />
Hinweis:<br />
Deshalb kann weder vorgeschrieben werden, dass die Kündigung des Mieters per Einschreiben verschickt<br />
werden muss, noch dass für die Kündigung bestimmte Formulare benutzt werden. Diese Einschränkung<br />
gilt jedoch, wenn der Formularvertrag vom Vermieter verwandt wird, ausschließlich für die vom Mieter<br />
abzugebenden Erklärungen. Der Vermieter ist ggf. an seine Beschränkungen gebunden.<br />
Ferner ist gem. § 308 Nr. 6 BGB eine Zugangsfiktion bezüglich einer Erklärung des Vermieters in diesen<br />
Fällen unwirksam. Dies gilt z.B. für den Zugang unter Einschaltung von Empfangsboten und für Klauseln,<br />
die die Absendung der Erklärung an den letzten bekannten Aufenthaltsort für ausreichend erklären.<br />
252 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 11 R, Seite 1<strong>05</strong>3<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
Rechtsprechungsübersicht zum Familienrecht – 2. Halbjahr 2019<br />
Von RiAG a.D. KURT STOLLENWERK, Bergisch Gladbach<br />
Inhalt<br />
I. Kind- und Vaterschaft<br />
1. Elterliche Sorge<br />
2. Umgang<br />
3. Adoption/Vaterschaft<br />
II. Kindesunterhalt<br />
1. Abgrenzung von erweitertem Umgang<br />
und Wechselmodell<br />
2. Bedarf<br />
3. Beschränkte Leistungsfähigkeit<br />
4. Scheidungsfolgenvereinbarung und<br />
deren Abänderung<br />
5. Regressanspruch des Scheinvaters<br />
III. Unterhalt eines nicht verheirateten<br />
Elternteils<br />
1. Bedarf und Bedürftigkeit<br />
2. Keine Verwirkung bei neuer Partnerschaft<br />
3. Tod des Unterhaltspflichtigen<br />
IV. Ehegattenunterhalt<br />
1. Trennungsunterhalt und Karrieresprung<br />
2. Bemessung des eheangemessenen<br />
Selbstbehalts<br />
3. Bedarfsermittlung und Familieneinkommen<br />
4. Herabsetzung und Befristung<br />
V. Ehegüterrecht/Familienvermögensrecht<br />
1. Wegfall der Geschäftsgrundlage einer<br />
Schenkung der Schwiegereltern<br />
2. Ehebezogene Zuwendung mit<br />
Rücktrittsklausel<br />
3. Wohnungsüberlassungsverhältnis<br />
4. Vorzeitiger Zugewinnausgleich<br />
VI. Versorgungsausgleich<br />
1. Ausschluss aus Altersgründen<br />
2. Auszugleichende Gesamtzeit<br />
3. Wahlrecht bei externer Teilung<br />
4. Berücksichtigung bei Wertänderungen<br />
VII. Betreuung<br />
1. Kontrollbetreuung (§ 1896 Abs. 1a<br />
und 3 BGB)<br />
2. Schutzpflichten des Trägers von<br />
Wohnheimen<br />
3. Beteiligter im Betreuungsverfahren<br />
I. Kind- und Vaterschaft<br />
1. Elterliche Sorge<br />
a) Kita-Abholung<br />
Sind die getrennt lebenden Eltern gemeinsam für ihr Kind sorgeberechtigt, so ist gem. § 1687 Abs. 1 S. 1 BGB<br />
eine gemeinsame Entscheidung der Eltern nur dann erforderlich, wenn es sich um eine Angelegenheit von<br />
erheblicher Bedeutung handelt. Dies setzt voraus, dass die Entscheidung erhebliche Auswirkungen auf die<br />
Entwicklung des Kindes hat und deren Folgen nur mit einigem Aufwand zu beseitigen sind.<br />
Das OLG Hamburg (FamRZ 2019, 1335 m. Anm. HENNEMANN) hat hierzu entschieden, dass der überwiegend<br />
sorgeberechtigte Elternteil dem anderen mitsorgeberechtigten Elternteil i.R.d. Alltagssorge untersagen<br />
kann, das Kind außerhalb der geregelten Umgangszeiten von der Kita abzuholen. Es handelt sich hierbei<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 253
Fach 11 R, Seite 1<strong>05</strong>4<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
um eine Angelegenheit des täglichen Lebens i.S.v. § 1687 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB. Angelegenheiten des<br />
täglichen Lebens sind häufig vorkommende Situationen, die zwar eine sorgeberechtigte Entscheidung<br />
der Eltern erfordern, aber ohne Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes sind. Wie die Teilnahme<br />
des Kindes an Tagesausflügen und Klassenreisen in Schule und Kindergarten, seine Freizeitgestaltung,<br />
die Bestimmung des Urlaubs und des Umgangs mit Freunden Angelegenheiten des täglichen Lebens<br />
sind, ist dies auch die Frage, wer das Kind vom Kindergarten, Hort oder der Schule in den Haushalt des<br />
rechtmäßig betreuenden Elternteils begleitet.<br />
b) Herausgabe des Kinderreisepasses<br />
Der Bundesgerichtshof (BGH FamRZ 2019, 1<strong>05</strong>6 m. Anm. RAKE = FuR 2019, 465 bearb. v. SOYKA) hält die<br />
überwiegend vertretene Auffassung mit der Maßgabe für zutreffend, dass sich ein Anspruch eines<br />
Elternteils gegen den anderen auf Herausgabe des Reisepasses des Kindes aus einer entsprechenden<br />
Anwendung der §§ 1632 Abs. 1, 1684 Abs. 2 BGB ergibt. Ein Herausgabeanspruch kann mangels<br />
Eigentums der Mutter oder des Kindes am Reisepass weder aus § 985 BGB hergeleitet werden, noch<br />
besteht in aller Regel ein possessorischer Anspruch, da in den in Betracht kommenden Fällen selten der<br />
Besitz am Pass durch eine verbotene Eigenmacht erlangt wurde. Ebenso wenig kommt eine analoge<br />
Anwendung des Unterhaltsanspruchs in Betracht, da er nicht vergleichbar ist. Sonach liegen die<br />
Voraussetzung einer planwidrigen Lücke wie auch eine Vergleichbarkeit für die analoge Anwendung<br />
der Sorgerechtsregelungen vor. Sowohl die Personensorge als auch der Umgang erfordern, dass der<br />
berechtigte Elternteil die gemeinsame Zeit kindeswohldienlich mit dem Kind verbringen kann. Hieraus<br />
folgt, dass sowohl der sorgeberechtigte als auch der umgangsberechtigte Elternteil den Anspruch auf<br />
Herausgabe des Kinderreisepasses hat. Der Anspruch besteht jedoch nur insoweit, als der berechtigte<br />
Elternteil für die Ausübung seines Rechts den Kinderpass benötigt. Hierbei kann die berechtigte<br />
Besorgnis, dass der die Herausgabe begehrende Elternteil mithilfe des Kinderreisepasses seine elterlichen<br />
Befugnisse überschreitet (etwa das Kind ins Ausland entführen will), dem Herausgabeanspruch<br />
im Einzelfall unter Berücksichtigung der wechselseitigen Loyalitätspflichten entgegenstehen.<br />
Hinweis:<br />
Die analoge Anwendung der Vorschriften zum Sorge- und Umgangsrecht gilt gleichermaßen für die<br />
Herausgabe anderer persönlicher Gegenstände des Kindes, wie Kleidung und Urkunden.<br />
c) Verfügung der Eltern über ein für das Kind angelegtes Sparkonto<br />
Bei einem von den Eltern für das Kind angelegten Sparkonto ist zwischen dem Außen- und<br />
Innenverhältnis zu unterscheiden. Im Anschluss an BGH FamRZ 20<strong>05</strong>, 1168 stellt der BGH (FamRZ<br />
2019, 1620 m. Anm. BECKER = NJW 2019, 3075 m. Anm. ROßMANN = FuR 2019, 657 bearb. v. SOYKA = FamRB<br />
2019, 391 m. Hinw. CLAUSIUS) zum Außenverhältnis klar, dass Kontoinhaber derjenige ist, der nach dem<br />
erkennbaren Willen des das Konto eröffnenden Kunden Gläubiger der Bank werden soll. Die Einrichtung<br />
des Kontos auf den Namen eines anderen lässt für sich genommen noch nicht den Schluss auf einen<br />
Vertrag zugunsten Dritter zu. Ob dies gewollt ist, ist durch eine Auslegung zu klären, die alle Umstände<br />
des Einzelfalls berücksichtigt, wie etwa die Angaben im Kontoeröffnungsantrag und die eingeräumte<br />
Verfügungsbefugnis. Bedeutung kommt der nachfolgenden Verhaltensweise und den Besitzverhältnissen<br />
am Sparbuch zu.<br />
Für die Frage, ob einem Kind Ansprüche gegen seine Eltern wegen einer von diesen vorgenommenen<br />
Verfügungen über ein Sparkonto zustehen, ist das Innenverhältnis zwischen Kind und Eltern<br />
maßgeblich. Der rechtlichen Beziehung zur Bank kommt insoweit nur indizielle Bedeutung zu. Auch<br />
wenn das Kind Forderungsinhaber ist, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass die Eltern mit der Abhebung<br />
und Verwendung des angesparten Geldes gegen die aus dem Sorgerecht erwachsenen Pflichten<br />
verstoßen haben. Insbesondere wenn das Geld aus dem Vermögen der Eltern stammt, liegt es nahe,<br />
dass sie sich im Innenverhältnis die Verfügung über das Geld vorbehalten haben; anders ist es, wenn es<br />
sich um Geldgeschenke Dritter handelt.<br />
254 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 11 R, Seite 1<strong>05</strong>5<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Hinweis:<br />
Inzidenter bejaht der BGH die Doppelnatur des § 1664 Abs. 1 BGB als Sorgfaltsmaßstab und<br />
Anspruchsgrundlage.<br />
d) Gemeinsames Sorgerecht und Wille des Kindes<br />
Maßstab bei der Entscheidung über ein gemeinsames Sorgerecht ist nach § 1671 Abs. 1 BGB das<br />
Kindeswohl. Im Rahmen dieses Entscheidungsmaßstabs kommt nach allgemeiner Auffassung dem<br />
verständlichen Willen eines herangereiften Kindes als Akt der Selbstbestimmung einer zur Selbstständigkeit<br />
erzogenen und strebenden Person eine entscheidende Bedeutung zu. Zu beachten ist, ob<br />
nicht das Kind in der Entwicklung seiner Persönlichkeit bereits so weit fortgeschritten ist, dass einem<br />
seinem Willen zuwiderlaufende Entscheidung eine Gefährdung seiner Entwicklung bedeuten könnte.<br />
Unter Bejahung dieser Grundsätze hat das OLG Köln (NJW 2019, 27<strong>05</strong> m. krit. Anm. DETTENBORN = FamRB<br />
2019, 437 m. Hinw. CLAUSIUS) in einem zu entscheidenden Einzelfall gleichwohl gegen den Willen eines<br />
13-jährigen Kindes aus „wohlverstandenem Kindesinteresse“ für die Beibehaltung des gemeinsamen Sorgerechts<br />
entschieden, weil das Kind nicht nur potenziell durch Parteinahme zugunsten eines Elternteils<br />
beeinflusst sei, sondern der Wille sich maßgeblich nicht gegen die Mitsorge, sondern gegen den Umgang<br />
des Vaters richte.<br />
e) Kindesanhörung in familiengerichtlichen Verfahren (Sorgerechtsentzug)<br />
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG FamRZ 2019, 1437 = NJW 2019, 2532 = FamRB 2019, 390 m. Hinw.<br />
GIERS = <strong>ZAP</strong> F. 1 EN-Nr. 587/2019) konstatiert, dass gegen die Regelung über die Kindesanhörung<br />
in § 159 FamFG keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Die Auslegung, wonach bei der<br />
Ermessensausübung zu berücksichtigen ist, dass die Anwesenheit der Eltern regelmäßig nicht sachgerecht<br />
ist, weil dem Kind dann keine unbefangenen Äußerungen möglich sind, ist nicht zu beanstanden.<br />
Aus Art. 6 GG resultieren keine über Art. 103 Abs. 1 GG (rechtliches Gehör) hinausgehenden Beteiligungsrechte<br />
der Eltern an der Kindesanhörung als Teil der Aufklärung des für den Sorgerechtsentzug<br />
maßgeblichen Sachverhalts.<br />
Hinweis:<br />
Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird erfüllt durch die von Wertungen des Gerichts weitgehend<br />
freigehaltene, in § 28 FamFG vorgesehene Dokumentation in den Verfahrensakten über den wesentlichen<br />
Inhalt der Anhörung.<br />
2. Umgang<br />
a) Verfahrensbeschleunigung<br />
Das Beschleunigungsgebot des § 155 FamFG umfasst alle Kindschaftssachen, insb. als Folgesachen im<br />
Verbund, in dem sie wegen oft vielfacher und schwieriger Fragen besonders Gefahr laufen stark<br />
verzögert bearbeitet zu werden. Das Gebot ist insb. in Verfahren, die das Sorge- und Umgangsrecht<br />
betreffen, besonders bedeutsam (OLG Brandenburg NJW 2019, 3315).<br />
Auch das BVerfG (FamRZ 2019, 1929) weist darauf hin, dass im Umgangsverfahren eine besondere<br />
Sorgfaltspflicht des Gerichts besteht, eine unangemessene Verfahrensdauer zu vermeiden, da ansonsten<br />
die Gefahr einer faktischen Präjudizierung bestehen kann. Es bestehen aber weder verfassungsrechtliche<br />
noch menschenrechtliche Gewährleistungen, generell in Umgangssachen eine Pflicht zu einer<br />
maximalen Verfahrensbeschleunigung zugrunde zu legen.<br />
b) Kontaktverbot gegen einen Elternteil<br />
Das OLG Frankfurt (FamRZ 2019, 1865 = NJW 2019, 2865) weist darauf hin, dass ein Kontaktverbot gegen<br />
einen nicht sorgeberechtigten Elternteil weder auf Normen des Gewaltschutzgesetzes gestützt werden<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 255
Fach 11 R, Seite 1<strong>05</strong>6<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
kann, da diese insoweit von den Sonderregelungen der elterlichen Sorge verdrängt werden, noch auf<br />
§ 1666 BGB, da der nichtsorgeberechtigte Elternteil nicht Dritter im Sinne dieser Vorschrift ist.<br />
Ermächtigungsgrundlage für eine in einer Umgangssache zu treffenden Regelung ist § 1684 Abs. 4 BGB,<br />
der spezielle und unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe enthält. Hiernach ist zu prüfen, ob das Wohl des<br />
Kindes den Ausspruch eines umfassenden Kontaktverbots, einen Umgangsausschluss oder eine<br />
Einschränkung von Umgangskontakten erfordert.<br />
c) Umgangsumfang des leiblichen Vaters<br />
Nach § 1686a Abs. 1. Nr. 1 BGB hat der leibliche Vater, der ernsthafte Interessen an dem Kind gezeigt hat,<br />
ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn der Umgang dem Kindeswohl dient. Das OLG Frankfurt<br />
(FamRZ 2019, 2008) erläutert, dass sich der Umfang nicht an den zu Art. 6 Abs. 2 GG i.V.m. § 1684 BGB<br />
entwickelten Maßstäben zu orientieren hat, sondern an denen nach § 1685 BGB, da das Umgangsrecht<br />
des nicht rechtlichen Vaters nicht durch das Elterngrundrecht geschützt wird. Bei dem zu beachtenden<br />
Kindeswohl ist zu berücksichtigen, wie groß die Akzeptanz der rechtlichen Familie ist. Ein erweiterter<br />
Umgang ist jedenfalls bei einem bestehenden Loyalitätskonflikt nicht angezeigt.<br />
d) Einschränkung des Umgangsrechts<br />
Gemäß § 1684 Abs. 4 S. 1 und 2 BGB kann das Familiengericht das Umgangsrecht einschränken<br />
oder ausschließen, soweit dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Insbesondere kann das Gericht<br />
anordnen, dass der Umgang nur stattfinden darf, wenn ein mitwirkungsbereiter Dritter anwesend ist.<br />
Die Anordnung eines nur begleiteten Umgangs stellt einen erheblichen Eingriff in das in Art. 6 GG<br />
garantierte Elternrecht und in das Recht des Kindes auf Umgang mit dem nicht betreuenden Elternteil<br />
dar und bedarf konkreter Feststellungen der Gefährdung.<br />
• Missbrauchsverdacht<br />
Wird die Einschränkung oder der Ausschluss des Umgangsrechts auf pädophile Neigungen des umgangsberechtigten<br />
Elternteils gestützt, so setzt dies nach einer Entscheidung des OLG Karlsruhe<br />
(FamRZ 2019, 2009) die Feststellung dieser pädophilen Neigungen sowie eine daraus resultierende<br />
konkrete Gefährdung des Kindes voraus. Lässt sich eine Gefährdung durch unbegleitete Umgangskontakte<br />
aus in der Person des Vaters liegenden Gründen nicht mit hinreichender Sicherheit<br />
feststellen, ist die von der Mutter begehrte Einschränkung des Umgangsrechts des Vaters durch die<br />
Anordnung lediglich begleitender Umgangskontakte nicht begründet.<br />
Hinweis:<br />
Zu den Erfordernissen der Klärung eines Missbrauchsverdachts und der Wahrscheinlichkeit eines<br />
Restrisikos s. BGH FamRZ 2019, 598 = <strong>ZAP</strong> F. 11R, S. 1038.<br />
• Anwesenheit des Umgangspflegers<br />
Bei der Durchführung der Umgangskontakte kann das Gericht die Anwesenheit des Umgangspflegers<br />
anordnen, wenn dies notwendig ist, damit der Umgangspfleger seine ihm aus § 1684 Abs. 3<br />
S. 3 und 4 BGB übertragenen Aufgaben sachgerecht wahrnehmen kann (vgl. BGH FamRZ 2019, 199).<br />
Nach einer Entscheidung des OLG Düsseldorf (MDR 2019, 1508) kommt dies insb. in Betracht, wenn<br />
die Kontakte wegen tiefer Zerrüttung der von Misstrauen geprägten Elternbeziehung und wegen<br />
massiver Vorbehalte und Befürchtungen des hauptsächlich betreuenden Elternteils gegenüber dem<br />
Umgangselternteil ohne Anwesenheit eines vermittelnden Dritten noch nicht in einer dem Kindeswohl<br />
entsprechenden Weise durchführbar erscheinen.<br />
3. Adoption/Vaterschaft<br />
a) Stiefkindadoption<br />
Das BVerfG (FamRZ 2019, 1061 m. Anm. HELMS) hat entschieden, dass der Ausschluss der Stiefkindadoption<br />
in nichtehelichen Familien gegen das allgemeine Gleichheitsgebot verstößt. Zwar sei es ein<br />
256 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 11 R, Seite 1<strong>05</strong>7<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
legitimes gesetzliches Ziel, eine Stiefkindadoption nur zuzulassen, wenn die Beziehung zwischen<br />
Elternteil und Stiefelternteil Bestand verspreche; jedoch lasse sich der Schutz des Stiefkindes vor einer<br />
nachteiligen Adoption auf andere Weise hinreichend wirksam sichern. Die derzeitige Regelung beruhe<br />
auf der unwiderleglichen Vermutung, die nichteheliche Stiefkindfamilie sei instabil und habe nur<br />
vorübergehend Bestand. Diese Annahme habe sich aber in dieser Rigorosität als nicht hinreichend<br />
tragfähig erwiesen und könne die ausnahmslose Schlechterstellung der nichtehelichen Familie gegenüber<br />
der ehelichen Familiensituation nicht rechtfertigen. Der Ausschluss sei auch nicht durch Vereinfachungs-<br />
und Typisierungsbefugnisse des Gesetzgebers berechtigt.<br />
Mit ausführlicher Begründung hat das BVerfG die Voraussetzungen für eine Einschränkung der Stiefkindadoption<br />
dargelegt. Hierbei seien neben der Stabilität der Lebensgemeinschaft insb. das Kindeswohl zu<br />
beachten, sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Risiken des Verlusts des Stiefelternteils,<br />
das Familiengrundrecht aus Art. 6 GG, auf das sich auch die Mitglieder einer nichtehelichen Familie berufen<br />
können, die gesetzliche Regelung der praktisch vollständigen Gleichstellung der nichtehelichen mit den<br />
ehelichen Kindern sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.<br />
b) Anfechtung der Vaterschaft<br />
Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG schützt das Interesse des leiblichen Vaters eines Kindes, die rechtliche Stellung als<br />
Vater einzunehmen. In Abwägung des berechtigten Interesses des leiblichen Vaters und der Interessen<br />
der rechtlichen Eltern räumt § 1600b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB dem leiblichen Vater ein Anfechtungsrecht<br />
ein. Die Anfechtungsfrist beträgt zwei Jahre.<br />
Die Frist wird nach § 1600b Abs. 5 S. 2 BGB gehemmt, solange der Anfechtungsberechtigte widerrechtlich<br />
durch Drohung an der Anfechtung gehindert wird.<br />
Das BVerfG (FamRZ 2019, 1868 = NJW 2019, 3441) betont, dass das Verfahren zur Erlangung der<br />
rechtlichen Vaterstellung hinreichend effektiv sein muss. So ist auch bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen<br />
eine Hemmung vorliegen, eine verfassungsmäßige Prüfung zum Merkmal der widerrechtlichen<br />
Drohung geboten. Von Verfassungs wegen ist nicht zu beanstanden, dass sich die Auslegung des<br />
Tatbestandsmerkmals der widerrechtlichen Drohung nach § 1600b Abs. 5 S. 2 BGB an der Auslegung des<br />
entsprechenden Tatbestandsmerkmal in § 123 BGB orientiert. Eine widerrechtliche Drohung kann darin<br />
liegen, dass die (noch anderweitig verheiratete) Mutter dem mutmaßlichen, mit ihr in nichtehelicher<br />
Gemeinschaft lebenden Vater ankündigt, künftig jeden Kontakt zwischen ihm und dem Kind zu<br />
unterbinden, wie auch in der Ankündigung, die Beziehung zu beenden und unter Mitnahme des Kindes<br />
aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen.<br />
c) Vaterschaftsanerkenntnis eines Transsexuellen<br />
Für die Rechtswirkung der Anerkenntniserklärung nach §§ 1594 ff. BGB ist unerheblich, ob der<br />
Anerkennende der leibliche Vater ist. Besteht keine rechtliche Vaterschaft, wird die Anerkennung<br />
selbst dann wirksam, wenn offenkundig ist, dass der Anerkennende das Kind nicht gezeugt hat. Die<br />
Vaterschaft kann aber nur von einem Mann anerkannt werden. Nach Auffassung des KG (FamRZ 2019,<br />
3598 = FamRB 2019, 478 m. Hinw. SIEDE) kann dies ein „Frau-zu-Mann-Transsexueller“ nicht. Ist<br />
die Mutter nach der Geburt ihres Kindes mit einer Frau eine eingetragene Lebenspartnerschaft<br />
eingegangen, kann folglich nach Geschlechtsänderung des nunmehr männlichen Lebenspartners<br />
dieser trotz einer Vaterschaftsanerkenntniserklärung nicht als Vater in die Geburtsurkunde eingetragen<br />
werden.<br />
Hinweis:<br />
Der transsexuelle Lebenspartner hat die Möglichkeit, das Kind seiner Partnerin als Kind anzunehmen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 257
Fach 11 R, Seite 1<strong>05</strong>8<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
II.<br />
Kindesunterhalt<br />
1. Abgrenzung von erweitertem Umgang und Wechselmodell<br />
Nur bei einem „strikten“ Wechselmodell haften die Eltern für den Unterhalt des Kindes quotal nach<br />
ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen. Bei einem erweiterten Umgang bleibt es nach der<br />
Rechtsprechung des BGH (FamRZ 2015, 236; 2014, 917) bei einer Verteilung des Unterhaltshaftung<br />
entsprechend § 1606 Abs. 3 BGB. Ein paritätisches Wechselmodell besteht erst dann, wenn jeder<br />
Elternteil etwa die Hälfte der Versorgungs- und Erziehungsaufgaben wahrnimmt.<br />
Das KG (FamRZ 2019, 1321 m. Anm. BORTH = MDR 2019, 812 = NJW 2019, 2036 m. Anm. RUETTEN = FamRB<br />
2019, 472 m. Hinw. LICENI-KIERSTEIN) folgt dieser Rechtsprechung und betont, dass eine paritätische<br />
Betreuung auch die hälftige Aufteilung aller organisatorischen Dinge umfasst. Für die Beurteilung kann<br />
als wertendes Element die tragfähige Kommunikations- und Kooperationsbasis herangezogen werden.<br />
Bei einer Betreuung durch beide Elternteile im Verhältnis von 45 % zu 55 % kann von einem unterhaltsrechtlichen<br />
paritätischen Wechselmodell noch keine Rede sein.<br />
Hinweis:<br />
Dem Umstand, dass der barunterhaltspflichtige Elternteil beim erweiterten Umgang einen Teil des<br />
Barbedarfs durch Naturalleistungen erfüllt, auch regelmäßig Bekleidung kauft und Reisen finanziert,<br />
kann bei der Ermittlung der Quote zur Deckung des Gesamtbedarfs Rechnung getragen werden.<br />
2. Bedarf<br />
a) Konkrete Berechnung<br />
Das KG (FuR 2019, 708 bearb. v. VIEFHUES = FamRB 2019, 383 m. Hinw. LICENI-KIERSTEIN) weist darauf hin,<br />
dass der Grundbedarf eines minderjährigen Kindes regelmäßig bereits durch die Ansätze der<br />
„Düsseldorfer Tabelle“ abgedeckt wird. Auch bei hohen Einkommensverhältnissen der Eltern und einem<br />
sich hieraus ergebenden gehobenen Lebensbedarf dient der Unterhalt der Bedarfsbefriedigung, nicht<br />
aber der Teilnahme am Luxus. Wird ein den Höchstansatz der Tabelle übersteigender Unterhalt auf der<br />
Grundlage einer konkreten Bedarfsberechnung gefordert, sind etwaige kostenintensive Bedürfnisse<br />
aufzuzeigen und ist darzulegen, welche Mittel zu deren Deckung notwendig sind.<br />
b) Kosten einer Internatsunterbringung<br />
Nach Auffassung des OLG Karlsruhe (FamRZ 2019, 1859 = <strong>ZAP</strong> F. 1, S. 122, EN-Nr. 463/2019) hat der<br />
unterhaltspflichtige Elternteil nur dann für den schulischen Mehrbedarf eines Kindes aufzukommen,<br />
wenn dieser als berechtigt anerkannt werden kann. Trotz der generellen Bindung an die Entscheidung<br />
des sorgeberechtigten Elternteils hinsichtlich der schulischen Ausbildung ist sie unterhaltsrechtlich<br />
nur anzuerkennen, wenn die daraus folgende Belastung angemessen ist. Bei den zum angemessenen<br />
Unterhalt gehörenden Nebenkosten, die bei einer Internatsunterbringung anfallen (Lehrmittel,<br />
Ausflüge, Bastelbedarf sowie Materialien für eine Therapie), handelt es sich nicht um Sonderbedarf,<br />
sondern um Mehrkosten des Elementarunterhalts, da sie voraussehbar und regelmäßig anfallen. Sie<br />
können daher bei einem bestehenden Unterhaltsurteil nicht mit einer Zusatzklage, sondern nur mit<br />
einer Abänderungsklage geltend gemacht werden.<br />
3. Beschränkte Leistungsfähigkeit<br />
a) Klarstellende Hinweise des BGH<br />
Zum Kindesunterhalt bei beschränkter Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen hat der BGH<br />
(FamRZ 2019, 1415 = MDR 2019, 1063 = FamRB 2019, 337 m. Hinw. LICENI-KIERSTEIN) klarstellende Hinweise<br />
zu einigen Fragen gegeben:<br />
258 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 11 R, Seite 1<strong>05</strong>9<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
• Berücksichtigung von Verbindlichkeiten<br />
Ob Verbindlichkeiten bei der Bestimmung des Kindesunterhalts zu berücksichtigen sind (vgl. BGH<br />
FamRZ 2013, 616 u. 1558), kann nur im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung nach billigem<br />
Ermessen entschieden werden. Insoweit sind insb. der Zweck der Verbindlichkeit, der Zeitpunkt, die Art<br />
ihrer Entstehung, die Dringlichkeit der beiderseitigen Bedürfnisse, die Kenntnis des Unterhaltsschuldners<br />
von Grund und Höhe der Unterhaltsschuld und seine Möglichkeiten von Bedeutung.<br />
Auch minderjährige Kinder müssen sich grds. Verbindlichkeiten zurechnen lassen, soweit sie in der<br />
Zeit des Zusammenlebens der Eltern zur Sicherung des gemeinsamen Lebensbedarfs eingegangen<br />
wurden, nicht dagegen solche, die der Deckung persönlicher Bedürfnisse des Unterhaltspflichtigen<br />
gedient haben. Im Hinblick auf die gegenüber Minderjährigen gesteigerte Unterhaltsplicht ist jedoch<br />
der Mindestunterhalt (§ 1612a Abs. 1 BGB) zu zahlen, soweit dies nicht nur auf Kosten einer ständig<br />
ansteigenden Verschuldung geschehen kann.<br />
• Obliegenheit zur Einleitung eines Insolvenzverfahrens<br />
Im Rahmen einer gesteigerten Unterhaltsplicht kann die Obliegenheit bestehen, ein Verbraucherinsolvenzverfahren<br />
einzuleiten, das es dem Unterhaltsberechtigten ermöglicht, für den laufenden<br />
Unterhalt auf den Differenzbetrag zwischen dem Pfändungsfreibetrag (§ 850c ZPO) und dem dem<br />
Schuldner zu belassenden Unterhalt (§ 850d Abs. 1 S. 2 ZPO) zuzugreifen.<br />
• Anteilige Bedarfsdeckung mehrerer Berechtigter<br />
Soweit die zur Leistung des Unterhalts zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausreichen, den Bedarf<br />
mehrerer gleichrangiger minderjähriger Kinder zu decken, beschränken sich die einzelnen Ansprüche<br />
gegenseitig (§ 1603 Abs. 2 BGB), sodass eine proportionale Kürzung zum jeweiligen Unterhaltsbedarf<br />
erfolgt. Maßgeblicher Einsatzbetrag ist der Anspruch jedes Berechtigten, der diesem bei voller<br />
Leistungsfähigkeit zustehen würde.<br />
• Einsatz der durch Wegfall konkurrierender Ansprüche vorhandenen Mittel<br />
Müssen von konkurrierenden gleichrangigen Kindesunterhaltsverpflichtungen einzelne gem. § 1613<br />
Abs. 1 BGB nicht mehr erfüllt werden, steht dieses Geld i.S.d. § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB für anderweitigen<br />
Mindestkindesunterhalt zur Verfügung. In Abgrenzung zu BGH FamRZ 20<strong>05</strong>, 1154 gilt dies auch,<br />
soweit sich auf der Grundlage konkreter Umstände für die Zukunft prognostizieren lässt, dass<br />
einzelne gleichrangige Kindesunterhaltsansprüche nicht geltend gemacht werden.<br />
b) Gläubigeranfechtung bei Insolvenz des Unterhaltsschuldners<br />
Der BGH (FamRZ 2019, 2018 m. Anm. BORTH = FamRB 2019,469 m. Hinw. JANLEWING) hat die Grenzen der<br />
Zulässigkeit von Unterhaltszahlungen bei Leistungsunfähigkeit des Unterhaltsschuldners erläutert. Ein<br />
unterhaltspflichtiger Schuldner kann trotz erkannter Zahlungsunfähigkeit bei Vornahme von Unterhaltszahlungen<br />
ohne Gläubigerbenachteiligungsabsicht handeln, wenn sich die einzelnen Unterhaltszahlungen<br />
in einer Größenordnung bewegen, die es nahelegt, dass es sich wirtschaftlich um Zahlungen<br />
aus dem zugunsten der Unterhaltsgläubiger pfändungsgeschützten Teil des Einkommens oder<br />
von einem jederzeit schützbaren Konto handelt. In diesem Fall muss der Insolvenzverwalter für<br />
die Anfechtung von Unterhaltszahlungen weitere Umstände darlegen und beweisen, die für einen<br />
Benachteiligungsvorsatz sprechen, etwa eine erheblich die Pfändungsfreigrenzen übersteigende Höhe<br />
der monatlichen Einnahmen des Schuldners.<br />
Hinweis:<br />
In Insolvenzfällen empfiehlt sich die Einrichtung eine Pfändungsschutzkontos bei einem Kreditinstitut i.S.d.<br />
§ 850k Abs. 1 ZPO, da der bei einem solchen Konto bestehende Vermögensteil nicht zur Insolvenzmasse<br />
gehört und Unterhaltszahlungen aus diesem Konto keine Gläubigerbenachteiligung darstellen.<br />
c) Obliegenheit zur Nebentätigkeit und Zurechnung fiktiver Einkünfte<br />
Der einem minderjährigen Kind Unterhaltspflichtige muss gem. § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB in jeder ihm<br />
möglichen und zumutbaren Art und Weise zum Mindestunterhalt des Kindes beitragen und ggf. eine<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 259
Fach 11 R, Seite 1060<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
Nebentätigkeit ausüben. Bei der Bemessung ist nicht nur auf seine tatsächlichen, sondern auch auf<br />
erzielbare Einkünfte abzustellen, soweit seine Erwerbsbemühungen nicht ausreichend sind und für ihn<br />
eine hinreichend reale Beschäftigungsmöglichkeit besteht. Dies gilt nach einer Entscheidung des OLG<br />
Köln (FamRZ 2019, 1786 = FuR 2019, 711 bearb. v. VIEFHUES) auch für einen Unterhaltsschuldner, der eine<br />
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bezieht.<br />
Auch er hat zur Verbesserung seiner Leistungsfähigkeit grds. eine Obliegenheit zur Ausübung einer<br />
Erwerbstätigkeit. Ihm obliegt die Darlegungs- und Beweislast, falls er geltend macht, zu einer Erwerbstätigkeit<br />
angesichts seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht in der Lage zu sein. Er hat<br />
hierbei konkret darzulegen, hinsichtlich welcher beruflichen Betätigung ihm eine Erwerbstätigkeit<br />
nicht zuzumuten ist. Der Bezug einer sozialversicherungsrechtlichen Erwerbsunfähigkeitsrente entbindet<br />
ihn nicht von der Notwendigkeit vorzutragen, warum die gesundheitlichen Einschränkungen<br />
einer Tätigkeit im Rahmen einer verbleibenden Arbeitsfähigkeit gleichwohl entgegenstehen sollen.<br />
4. Scheidungsfolgenvereinbarung und deren Abänderung<br />
Das KG (FuR 2019, 708 bearb. v. VIEFHUES = FamRB 2019, 385 m. Hinw. LICENI-KIERSTEIN) hat in einer<br />
Entscheidung über die Abänderung einer notariellen Scheidungsvereinbarung zum Kindesunterhalt den<br />
Charakter der Vereinbarung und die Voraussetzungen einer Abänderung dargelegt:<br />
• Wenn sich in einer Scheidungsfolgenvereinbarung u.a. ein Elternteil zur Zahlung von Unterhalt für<br />
das bei dem anderen Elternteil lebende Kind verpflichtet hat, so liegt darin ein echter Vertrag<br />
zugunsten des Kindes, wenn dem Kind ein eigenes Forderungsrecht eingeräumt wird. Hiervon kann<br />
ausgegangen werden, wenn sich der Unterhaltspflichtige der sofortigen Zwangsvollstreckung<br />
gegenüber dem Kind unterwirft. Das Kind kann dann selbst eine Abänderung der Unterhaltsregelung<br />
verlangen.<br />
• Der Abänderungsantrag ist gem. § 239 Abs. 1 S. 1 FamFG unzulässig, wenn keine ziffernmäßig<br />
unterlegte Differenz der Tatsachen vorgetragen wird, aus der sich eine wesentliche Veränderung der<br />
dem Titel zugrunde liegenden Verhältnisse ergibt, sowie die Ergebnisrelevanz dieser veränderten<br />
Umstände nicht dargelegt wird.<br />
Der Unterhaltspflichtige kann nach Auffassung des KG ein auf diese Veränderung gerichtetes<br />
Auskunftsbegehren über sein Einkommen nicht mit der Erklärung verweigern, er sei unbegrenzt<br />
leistungsfähig.<br />
5. Regressanspruch des Scheinvaters<br />
Im Anschluss an die vorangegangene Rechtsbeschwerdeentscheidung des BGH (s. <strong>ZAP</strong> F. 11R, S. 1043)<br />
hat das OLG Celle (FamRZ 2019, 1787) entschieden, dass dem Scheinvater die Darlegungs- und<br />
Beweislast obliegt, dass der rechtliche Vater im fraglichen Unterhaltszeitraum über Einkünfte verfügte,<br />
die einen Unterhaltsanspruch über den Mindestunterhalt hinaus rechtfertigen.<br />
Für den unterhaltspflichtigen Vater kann nach Auffassung des OLG die Inanspruchnahme im Einzelfall<br />
(hier für einen 23 Jahre zurückliegenden Zeitraum von 17 Jahren) zum Teil eine unbillige Härte i.S.v. § 1613<br />
Abs. 3 BGB darstellen, die es rechtfertigen kann, den Anspruch auf etwa die Hälfte des rechnerischen<br />
Mindestunterhalts zu reduzieren. Im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung ist dem Umstand<br />
Rechnung zu tragen, ob und ab wann der rechtliche Vater mit der Inanspruchnahme rechnen musste,<br />
sowie die Dauer eines eventuellen Zusammenlebens von Scheinvater mit Kind und Kindesmutter zu<br />
berücksichtigen.<br />
III.<br />
Unterhalt eines nicht verheirateten Elternteils<br />
1. Bedarf und Bedürftigkeit<br />
a) Bemessung und Grundsatz der Halbteilung<br />
Nach § 1615l Abs. 2 S. 2 BGB steht der Mutter eines nichtehelich geborenen Kindes über die Dauer des<br />
Mutterschutzes hinaus ein Unterhaltsanspruch gegen den Vater zu, wenn von ihr wegen der Pflege und<br />
260 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 11 R, Seite 1061<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Erziehung des gemeinsamen Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. Für die<br />
Bedarfsbemessung (§§ 1615l Abs. 3 S. 1, 1610 Abs. 1 BGB) ist auf die Lebensstellung der Mutter abzustellen,<br />
die sich aus dem Einkommen ergibt, das sie ohne die Geburt des Kindes erzielt hätte.<br />
Der BGH (FamRZ 2019, 1234 = MDR 2019, 868 = NJW 2019, 2392 = FuR 2019, 537 bearb. v. SOYKA = FamRB<br />
2019, 338 m. Hinw. SCHNEIDER) weist darauf hin, dass nach dem Grundsatz der Halbteilung der<br />
unterhaltsberechtigten Mutter aus eigenen Einkünften und Unterhaltszahlungen nicht mehr zur<br />
Verfügung stehen darf, als dem unterhaltspflichtigen Vater verbleibt und hierbei auch das überobligatorisch<br />
erzielte Einkommen analog § 1577 Abs. 2 BGB anzurechnen ist.<br />
Hinweis:<br />
Schuldet der unterhaltspflichtige Vater auch seiner Ehefrau Unterhalt, so kommt eine Dreiteilung in Betracht.<br />
b) Begrenzung<br />
Nach Auffassung des OLG Frankfurt (FamRZ 2019, 1611 m. Anm. BORTH = NJW 2019, 2626) ist die Höhe<br />
des Unterhaltsanspruchs in Anwendung des Art. 3 GG grds. durch die Höhe des Unterhaltsanspruchs<br />
begrenzt, den eine eheliche Mutter geltend machen könnte. Bei der Kontrollberechnung sind alle für den<br />
Anspruch der ehelichen Mutter anerkannten Kriterien (z.B. Erwerbstätigenbonus, begrenztes Realsplitting)<br />
zu berücksichtigen.<br />
2. Keine Verwirkung bei neuer Partnerschaft<br />
Das OLG Frankfurt (FamRZ 2019, 1611 m. Anm. BORTH = NJW 2019, 2626= FuR 2019, 710 bearb. v. VIEFHUES =<br />
FamRB 2019, 340 m. Hinw. MENNE) folgt der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur,<br />
dass das Zusammenleben mit einem neuen Partner weder in analoger Anwendung des § 1579 Nr. 2 BGB<br />
noch in wertender Betrachtung über § 1611 BGB die Annahme einer Unterhaltsverwirkung rechtfertigen<br />
kann, wenn nicht andere Verfehlungen i.S.d. § 1611 BGB auf eine grobe Unbilligkeit schießen lassen.<br />
3. Tod des Unterhaltspflichtigen<br />
Der Unterhaltsanspruch der Mutter erlischt gem. § 1615l Abs. 3 S. 4 BGB nicht mit dem Tod des Vaters,<br />
sondern geht als Nachlassverbindlichkeit unverändert auf den Erben über.<br />
Bisher war die dann vorzunehmende Bedarfsbemessung bei konkurrierenden Ansprüchen ungeklärt.<br />
Der BGH (FamRZ 2019, 1234 mit einem ausführlichen Beitrag von MAURER, FamRZ 2019, 1223 = MDR 2019,<br />
868 = NJW 2019, 2392 m. Anm. LÖHNIG = FuR 2019, 537 bearb. v. SOYKA = FamRB 2019, 338 m. Hinw.<br />
SCHNEIDER) hat sich für einen Gleichklang zwischen dem Anspruch aus § 1615l BGB und dem ehelichen<br />
Unterhaltsanspruch ausgesprochen.<br />
Beim ehelichen Unterhalt ist die Höhe des Bedarfs in § 1578 Abs. 1 BGB geregelt. Die Einschränkung des<br />
§ 1581 BGB betrifft nur die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen.<br />
Sonach hat der Eintritt des Todes des Unterhaltspflichtigen auf die Bedarfsbemessung keinen Einfluss.<br />
Wenn der Anspruch aus § 1615l Abs. 2 S. 2 BGB mit einem gleichrangigen ehelichen Unterhaltsanspruch<br />
konkurriert und ersterer bereits vor Rechtskraft der Scheidung bestanden hat, ist der zum Zeitpunkt des<br />
Todeseintritts des Unterhaltspflichtigen bestehende Bedarf des Unterhaltsberechtigten fortzuschreiben.<br />
Hinweis:<br />
Den Erben bleibt es unbenommen, sich die Beschränkung ihrer Haftung auf den Nachlass vorzubehalten.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 261
Fach 11 R, Seite 1062<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
IV.<br />
Ehegattenunterhalt<br />
1. Trennungsunterhalt und Karrieresprung<br />
Die für die Bemessung des trennungsunterhaltsrechtlichen Bedarfs bestimmenden Lebensverhältnisse<br />
(§ 1361 Abs. 1 S. 1 BGB) bemessen sich primär nach den jeweiligen Einkommens- und Vermögensverhältnissen<br />
und werden grds. durch die Umstände bestimmt, die nachhaltig bis zur Rechtskraft der<br />
Ehescheidung eintreten (vgl. BGH FamRZ 2012, 281). Nach allgemeiner Auffassung prägen jedoch<br />
trennungsbedingte Veränderungen des Einkommens, die auf einer unerwarteten und vom Normalfall<br />
erheblich abweichenden Entwicklung beruhen, die ehelichen Lebensverhältnisse nicht mehr. Wie für<br />
den nachehelichen Unterhalt grds. der Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung von Bedeutung ist, ist<br />
für den Trennungsunterhalt der Zeitpunkt der Trennung ausschlaggebend. Nur die im jeweiligen<br />
Zeitpunkt bereits angelegten Veränderungen sind beachtlich. Beim nachehelichen Unterhalt ist<br />
anerkannt, dass bei einem sog. Karrieresprung nach der Trennung das Einkommen nicht mehr<br />
prägend ist (vgl. BGH FamRZ 2016, 199). Das OLG Brandenburg (NJW 2019, 2482) stellt heraus, dass die<br />
zum nachehelichen Unterhalt entwickelten Grundsätze auch bereits für die Dauer des Getrenntlebens<br />
gelten. Ein Karrieresprung, der bei der Berechnung des Trennungsunterhalts unberücksichtigt zu<br />
bleiben hat, liegt vor, wenn nach der Trennung bis zur Rechtskraft der Scheidung das Einkommen<br />
eines Ehegatten eine unerwartete, vom Normalfall erheblich abweichende Entwicklung genommen<br />
hat. Hierfür sprechen etwa eine Bewerbung für eine neue, verantwortungsvollere Tätigkeit erst nach<br />
der Trennung, neue Aufgabenbereiche, veränderte Einkommensstrukturen und eine unerwartete<br />
Berufung in die Geschäftsleitung.<br />
2. Bemessung des eheangemessenen Selbstbehalts<br />
Die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen ergibt sich aus seinen Einkünften abzüglich eines ihm<br />
zu belassenen Selbstbehalts. Dem Unterhaltspflichtigen muss jedenfalls der Betrag verbleiben, der<br />
seinen eigenen Lebensbedarf nach sozialrechtlichen Grundsätzen sicherstellt. In der Vergangenheit<br />
differenzierten die unterhaltsrechtlichen Leitlinien der OLG zu einem Teil beim eheangemessenen<br />
Selbstbehalt nicht zwischen dem eines Erwerbstätigen und eines Nichterwerbstätigen. Überwiegend<br />
wurde jedoch i.R.d. Leistungsfähigkeit die Erwerbstätigkeit honoriert, entsprechend bei der Bedarfsbemessung<br />
durch den Erwerbstätigenbonus. Der BGH (MDR 2019, 1451) hat betont, dass die Bemessung<br />
des eheangemessenen Selbstbehalts Aufgabe des Tatrichters ist. Hierbei sind die gesetzlichen Vorgaben<br />
zu beachten, die sich insb. aus dem Wesen der Unterhaltspflicht ergeben. Dabei ist dem Tatrichter nicht<br />
verwehrt, sich an Erfahrungs- und Richtwerte anzulehnen, sofern nicht im Einzelfall besondere<br />
Umstände eine Abweichung gebieten. Dabei kann auch eine Differenzierung zwischen erwerbstätigen<br />
und nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen erfolgen.<br />
Hinweis:<br />
Seit dem 1.1.<strong>2020</strong> werden wohl allgemein die Richtwerte der Düsseldorfer Tabelle mit 1.180 € für den<br />
Nichterwerbstätigen und mit 1.280 € für den Erwerbstätigen berücksichtigt.<br />
3. Bedarfsermittlung und Familieneinkommen<br />
In einer Entscheidung zum Aufstockungsunterhalt des geschiedenen Ehegatten erläutert der BGH<br />
(FamRZ <strong>2020</strong>, 21 = NJW 2019, 3570 m. Bespr. BORN, NJW 2019, 3555 = FuR <strong>2020</strong>, 38) mehrere Aspekte:<br />
a) Stichtagsprinzip<br />
Der Unterhaltsbedarf eines geschiedenen Ehegatten richtet sich gem. § 1578 BGB nach den ehelichen<br />
Lebensverhältnissen im Zeitpunkt der Scheidung (vgl. oben IV 1). Nacheheliche Entwicklungen wirken<br />
sich auf den Bedarf nur aus, wenn ein ehelicher Anknüpfungspunkt vorhanden ist (vgl. BVerfG NJW 2011,<br />
836; BGH FamRZ 2014, 1183). Für die Bemessung des Unterhaltsbedarfs des geschiedenen Ehegatten ist<br />
ausnahmsweise die Unterhaltsplicht gegenüber einem neuen Ehegatten zu berücksichtigen, wenn sie<br />
bereits die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt hat. Dies ist der Fall, wenn bereits ein Anspruch der<br />
späteren Ehefrau auf Betreuungsunterhalt gem. § 1615l BGB bestand.<br />
262 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 11 R, Seite 1063<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
b) Bemessungsumstände<br />
• Nach § 1573 Abs. 1 und 2 BGB kann der geschiedene Ehegatte Unterhalt verlangen, solange und soweit<br />
er nach der Scheidung keine angemessene Tätigkeit zu finden vermag. Ihm obliegt eine angemessene<br />
Tätigkeit i.S.v. § 1574 Abs. 2 BGB. Die Beurteilung hängt von einer Gesamtwürdigung der in Betracht<br />
zu ziehenden Umstände ab. Bei Verletzung der Obliegenheit sind die erzielbaren Einkünfte fiktiv<br />
zuzurechnen.<br />
• Wenn der Unterhaltspflichtige eine unterhaltsrechtlich anzuerkennende zusätzliche Altersvorsorge<br />
betreibt, ist es geboten, dies auch dem Unterhaltsberechtigten durch eine entsprechende Erhöhung<br />
des Altersvorsorgeunterhalts zu ermöglichen.<br />
c) Quotenberechnung oder konkreter Bedarf<br />
Die Berechnung des Unterhalts mit der 3 / 7-Quote des anrechenbaren Einkommens geht davon aus,<br />
dass das gesamte Einkommen für Konsumzwecke verbraucht wird. Bei sehr hohem Einkommen ist dies<br />
nicht der Fall, und es kommt eine konkrete Bedarfsberechnung in Betracht. Als Familieneinkommen ist<br />
dabei das Einkommen anzusehen, das für den ehelichen Lebensbedarf der beiden Ehegatten zur<br />
Verfügung steht und damit insoweit unterhaltsrelevant ist. Seit der Entscheidung des BGH (FamRZ 2018,<br />
260 = NJW 2018, 468) zur „Schallgrenze“ kann davon ausgegangen werden, dass bis zur Höhe des<br />
Doppelten des höchsten Einkommensbetrags der Düsseldorfer Tabelle das Familieneinkommen dem<br />
Konsum dient. Der BGH betont, dass in diesem Fall ohne Darlegung der konkreten Einkommensverwendung<br />
der Unterhaltsbedarf nach der Einkommensquote bemessen werden kann. Soweit das<br />
Einkommen darüber hinausgeht, hat der Unterhaltsberechtigte, wenn er dennoch Unterhalt nach der<br />
Quotenmethode begehrt, die entsprechende Verwendung des Einkommens für den Lebensbedarf<br />
darzulegen und im Fall des Bestreitens in vollem Umfang zu beweisen.<br />
4. Herabsetzung und Befristung<br />
Nach den im Gesetz näher umschriebenen Billigkeitsvoraussetzungen kann der nacheheliche Unterhalt<br />
zeitlich begrenzt (§ 1578b Abs. 2 BGB) oder/und auf den angemessenen Lebensbedarf herabgesetzt<br />
(§ 1578b Abs. 1 BGB) werden.<br />
Der BGH legt dar, dass für eine zeitliche Begrenzung des Unterhalts insb. zu berücksichtigen ist, inwieweit<br />
durch die Ehe Nachteile im Hinblick auf die Möglichkeit eingetreten sind, für den eigenen Unterhalt zu<br />
sorgen, aber auch eine darüber hinausgehende nacheheliche Solidarität. Wesentliche Aspekte sind hierfür<br />
neben der Dauer der Ehe insb. die in der Ehe gelebte Rollenverteilung wie auch die vom Unterhaltsberechtigten<br />
während der Ehe erbrachte Lebensleistung.<br />
Für eine Herabsetzung bildet der angemessene Lebensbedarf den Maßstab. Er bemisst sich nach dem<br />
Einkommen, das der unterhaltsberechtigte Ehegatte ohne Ehe und Kindererziehung aus eigenen Einkünften<br />
zur Verfügung hätte. Er muss aber jedenfalls das Existenzminimum des Unterhaltsberechtigten<br />
erreichen.<br />
Der Unterhaltspflichtige, der sich auf eine Herabsetzung oder Befristung des nachehelichen Unterhalts<br />
beruft, trägt hinsichtlich der hierfür sprechenden Tatsachen die Darlegungs- und Beweislast.<br />
Hinweis:<br />
Eine Kompensation der ehebedingten Nachteile durch den Versorgungsausgleich kommt nur bei dessen<br />
vollständiger Durchführung in Betracht.<br />
V. Ehegüterrecht/Familienvermögensrecht<br />
1. Wegfall der Geschäftsgrundlage einer Schenkung der Schwiegereltern<br />
Nach der Geschäftsverteilung des BGH sind für die vergleichbaren Sachverhalte des Bestands einer<br />
Schenkung der Schwiegereltern nach Scheitern der Ehe oder einer partnerschaftlichen Beziehung ihres<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 263
Fach 11 R, Seite 1064<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
Kindes der XII. oder der X. Senat zuständig, je nachdem, ob es sich um eine eheliche oder nichteheliche<br />
Lebensgemeinschaft handelt. Beide Senate stimmen darin überein, dass die vom beschenkten Partner<br />
des eigenen Kindes geteilte oder jedenfalls erkannte Vorstellung des Schenkers, eine zugewendete<br />
Immobilie werde vom eigenen Kind und dessen Partner dauerhaft als gemeinschaftliche Wohnung oder<br />
Familienwohnung genutzt, die Geschäftsgrundlage eines Schenkungsvertrags bilden kann und eine<br />
Rückgewähr in Betracht kommt (vgl. BGH FamRZ 1999, 7<strong>05</strong>; 2010, 958). Unterschiedlich sind die<br />
Auffassungen darüber, unter welchen Voraussetzungen eine volle Rückgewähr geschuldet wird.<br />
Der XII. Senat (vgl. BGH FamRZ 2015, 393; <strong>ZAP</strong> F. 11 R, S. 925) hat entschieden, dass beim Wegfall der<br />
Geschäftsgrundlage noch eine messbare Vermögensmehrung vorhanden sein muss und auf den<br />
Rückgewähranspruch ein Abschlag wegen teilweiser Zweckerreichung zu erfolgen hat. Der X. Senat<br />
(FamRZ 2019, 1595 m. Anm. WEVER = FamRB 2019, 400 m. Hinw. BURGER) hat sich dagegen für die Lösung<br />
„Alles oder Nichts“ ausgesprochen. Entscheidender Gesichtspunkt mag die Verschiedenheit der<br />
eingegangenen Lebensbeziehung und die daran geknüpfte Erwartung sein.<br />
Der BGH erläutert, dass wie bei jedem Vertrag dem Schenkungsvertrag Umstände oder Vorstellungen<br />
vom Bestand oder künftigen Eintritt solcher Umstände zugrunde liegen können, die nicht zum Vertragsinhalt<br />
erhoben werden, auf denen der Geschäftswille gleichwohl aufbaut und deren schwerwiegende<br />
Veränderungen einen Anspruch auf Anpassung oder gar das Recht erfordern können, sich<br />
vom Vertrag zu lösen. Bei der Prüfung, was Geschäftsgrundlage ist, gilt es zu beachten, dass der<br />
Schenkungsvertrag keinen Austauschvertrag mit Leistung und Gegenleistung darstellt. Die Leistung<br />
des Schenkers ist mit der Übergabe erbracht, die Dankesschuld des Beschenkten dauert jedoch an. Je<br />
mehr der zugewendete Gegenstand nach seiner Art und seinem Wert geeignet ist, die künftige<br />
Lebensgestaltung des Beschenkten zu beeinflussen, desto eher wird der Schenker typischerweise<br />
Vorstellungen über diese Lebensgestaltung hegen. Ein Grunderwerb ist regelmäßig auf Dauer ausgelegt.<br />
So ist auch anzunehmen, dass der Schenker einer Immobilie damit regelmäßig die Vorstellung verbindet,<br />
dass das Grundstück dem Beschenkten zumindest für einen längeren Zeitraum zur Verfügung steht.<br />
Nach Auffassung des X. Senats ist bei der Annahme, dass Vorstellungen dieser Art Grundlage des Vertrags<br />
geworden sind, Zurückhaltung geboten. Da die Schenkung kein Dauerverhältnis begründet, reicht für<br />
einen Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht aus, dass die (nichteheliche) Lebensgemeinschaft nicht bis<br />
zum Tode eines der Partner Bestand hat. Hat jedoch die gemeinsame Nutzung der Immobilie entgegen<br />
der mit der Schenkung verbundenen Erwartung nur kurze Zeit angedauert, kommt regelmäßig ein Wegfall<br />
der Geschäftsgrundlage in Betracht. Dies hat der X. Senat im entschiedenen Fall angenommen, in dem sich<br />
das Kind und sein Partner weniger als zwei Jahre nach der Schenkung getrennt haben.<br />
In diesem Fall ist nach Auffassung des Senats der Schenker i.d.R. berechtigt, vom Schenkungsvertrag<br />
zurückzutreten und das gesamte Geschenk oder dessen Wert zurückzufordern.<br />
2. Ehebezogene Zuwendung mit Rücktrittsklausel<br />
Das OLG Stuttgart (FamRZ 2019, 1925) stellt klar, dass im Regelfall eine Rücktrittsklausel in einer<br />
Vereinbarung zwischen künftigen Ehegatten über die Zuwendung des hälftigen Miteigentums an einem<br />
Grundstück für den Fall des Scheiterns der Ehe nicht sittenwidrig ist. Dies gilt auch dann, wenn bereits<br />
bei der Zuwendung geplant war, das Grundstück zu bebauen und deshalb mit einer erheblichen<br />
Wertsteigerung zu rechnen war. Das OLG folgt in seiner Begründung der „Kernbereichslehre“ des BGH<br />
(FamRZ 2004, 601). Es handelt sich bei der Hingabe nicht um eine Schenkung nach § 516 BGB, die nur<br />
gegeben ist, wenn die Zuwendung unentgeltlich zur freien Verfügbarkeit des Empfängers geleistet wird,<br />
sondern um eine ehebezogene Zuwendung. Die Wertsteigerung des Grundstücks durch den Hausbau<br />
kann nicht Gegenstand eines Verwendungsersatzanspruchs des Rücktrittsgegners nach §§ 347 Abs. 2,<br />
994 Abs. 1 BGB sein. Verwendungen sind nur Vermögensaufwendungen, die der Sache zugutekommen,<br />
indem sie ihrer Wiederherstellung, Erhaltung oder Verbesserung dienen, nicht aber Zustandsveränderungen,<br />
etwa durch Bebauung (vgl. BGH NJW 2001, 3118).<br />
264 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 11 R, Seite 1065<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Hinweis:<br />
Die Wertsteigerung findet ihre Berücksichtigung im Zugewinnausgleich durch den Ansatz des Rückgewähranspruchs<br />
im Aktivvermögen des rücktrittsberechtigten Ehegatten und im Passivvermögen<br />
des anderen Ehegatten.<br />
3. Wohnungsüberlassungsverhältnis<br />
Ist nach der Trennung der Ehegatten ein Ehegatte aus der Ehewohnung ausgezogen und hat er binnen<br />
sechs Monaten nach seinem Auszug eine ernstliche Rückkehrabsicht dem anderen Ehegatten gegenüber<br />
nicht bekundet, so wird gem. § 1361b Abs. 4 BGB vermutet, dass er dem verbliebenen Ehegatten das<br />
alleinige Nutzungsrecht überlassen hat. Der ausgezogene Ehegatte hat dann nach § 1361b Abs. 3 BGB alles<br />
zu unterlassen, was geeignet ist, die Ausübung dieses Nutzungsrechts zu erschweren oder zu vereiteln<br />
(vgl. BGH MDR 2016, 1454). Wenn der ausgezogene Ehegatte die tatbestandlichen Voraussetzungen einer<br />
freiwilligen Wohnungsüberlassung bestreitet und er den Wiedereinzug in die Ehewohnung begehrt, so<br />
kann nach einer Entscheidung des OLG Stuttgart (MDR 2019, 1453) der in der Wohnung verbliebene<br />
Ehegatte im Wege einer Feststellungsklage gerichtlich klären lassen, dass ein Wohnungsüberlassungsverhältnis<br />
vorliegt.<br />
Hinweis:<br />
Der Feststellungsantrag bei einem Wohnungsüberlassungsverhältnis ist zu unterscheiden vom Antrag auf<br />
Zuweisung der Ehewohnung nach § 1361b Abs. 1 BGB, der von dem getrennt lebenden Ehrgatten gestellt<br />
werden kann, um eine unbillige Härte zu vermeiden.<br />
4. Vorzeitiger Zugewinnausgleich<br />
• Voraussetzungen<br />
In der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte besteht Einigkeit dahingehend, dass das Verlangen<br />
nach vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeinschaft im Fall der §§ 1386, 1385 Nr. 1 BGB allein an<br />
die Trennung und den Ablauf einer mindestens dreijährigen Trennungszeit anknüpft. Die in der<br />
Literatur vereinzelt vertretene Auffassung, dass das Aufhebungsverlangen während eines rechtshängigen<br />
Scheidungsverfahrens den güterrechtlichen Schutz des § 1365 BGB aushöhlen würde und<br />
deshalb durch ein besonderes Interesse gerechtfertigt werden müsse, hat der BGH (FamRZ 2019,<br />
1045 = MDR 2019, 808 = FuR 2019, 464 bearb. v. SOYKA) abgelehnt. Weder der mit der Aufhebung der<br />
Zugewinngemeinschaft verbundene Wegfall des Schutzes vor Gesamtvermögensgeschäften noch die<br />
gleichzeitige Anhängigkeit einer güterrechtlichen Folgesache im Scheidungsverbund gebieten die<br />
darüber hinausgehende Darlegung eines berechtigten Interesses an der vorzeitigen Aufhebung der<br />
Zugewinngemeinschaft.<br />
Hinweis:<br />
Der potenzielle Ausgleichsgläubiger ist auch im Fall einer vorzeitigen Aufhebung der Zugewinngemeinschaft<br />
nicht schutzlos gestellt. Ihm steht die Möglichkeit eines Arrests zur Sicherung seiner Ausgleichsforderung<br />
zur Verfügung.<br />
• Verhältnis zum Zugewinnausgleich nach Scheidung<br />
Die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft ist nicht mehr möglich, wenn der Gegenstand<br />
der Zugewinngemeinschaft zuvor durch Scheidung beendet worden ist. Eine dennoch ergangene<br />
Entscheidung über die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft ist dann gegenstandslos.<br />
Vorzeitiger Zugewinnausgleich gem. § 1385 BGB und Zugewinnausgleich nach der Ehescheidung sind<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 265
Fach 11 R, Seite 1066<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
verschiedene Streitgegenstände (BGH FamRZ 2019, 1535 = MDR 2019, 1258 = NJW 2019, 2935 =<br />
FamRB 2019,3 80 m. Hinw. HERR; Abgrenzung zu BGH FamRZ 2012, 1296). Fr den Wechsel von einem<br />
dieser Ansprüche zum anderen bedarf es daher einer wirksamen Antragsänderung. Die gerichtliche<br />
Antragserhebung bezüglich eines dieser Ansprüche führt nicht zur Hemmung der Verjährung auch<br />
des anderen.<br />
VI.<br />
Versorgungsausgleich<br />
1. Ausschluss aus Altersgründen<br />
Das BVerfG (FamRZ 2019, 1992) hat klargestellt, dass der Ausschluss einer betrieblichen Altersversorgung<br />
bei der Aufnahme der Erwerbstätigkeit nach Vollendung des 50. Lebensjahrs auch keine mittelbare<br />
Diskriminierung von Frauen ist, wenn der Ausschluss alle Erwerbstätigen erfasst. Mehrheitlich werde auch<br />
von Müttern vor dieser Altersgrenze die frühere Erwerbstätigkeit wieder aufgenommen, sobald ihre<br />
Kinder die Grundschule besuchen.<br />
2. Auszugleichende Gesamtzeit<br />
a) Versorgungszusage bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer<br />
In einer Entscheidung über den Ausgleich der Pensionszusage einer GmbH für ihren beherrschenden<br />
Gesellschafter-Geschäftsführer befasst sich der BGH (FamRZ 2019, 1993 m. Anm. BORTH = MDR 2019,<br />
1385) v.a. mit zwei Problembereichen:<br />
• Bei solchen Versorgungsrechten ist für den Beginn der einzustellenden Gesamtzeit i.R.d. zeitratierlichen<br />
Bewertung auf den in der Versorgungszusage für den Erwerb des Anrechts tatsächlich festgelegten<br />
Erdienensverlauf abzustellen, regelmäßig auf den Zeitpunkt der Zusage, wenn der Geschäftsführer<br />
damals schon die Unternehmereigenschaft besaß.<br />
• Wenn das in der Ehezeit erworbene Anrecht im Zeitpunkt der Entscheidung über den Versorgungsausgleich<br />
nicht mehr vollständig vorhanden ist, ist diese negative Entwicklung zu berücksichtigen,<br />
auch wenn sie durch eine nachehezeitliche Vereinbarung zwischen dem ausgleichspflichtigen<br />
Ehegatten und der Gesellschaft erfolgt.<br />
b) Gesamtzeit bei Dienstzeitverlängerung eines Beamten<br />
Bei einem Lebenszeitbeamten ist der Zeitraum bis zum Ende des Ruhestands als höchsterreichbare<br />
Zeitdauer zu berücksichtigen (§ 40 Abs. 2 S. 1 VersAusglG). Der Ruhestand ist regelmäßig mit dem Ende<br />
der Regelaltersgrenze bestimmt. Ist jedoch bereits vor der letzten tatrichterlichen Entscheidung über<br />
den Versorgungsausgleich eine Verlängerung der Dienstzeit über die Regelaltersgrenze hinreichend<br />
gewiss, ist diese nach einer Entscheidung des BGH (FamRZ 2019, 1604 = MDR 2019, 1135 = FuR 2019, 711<br />
bearb. v. GÖTSCHE = FuR 2019, 433 m. Hinw. WAGNER) bei der Ermittlung der höchstens erreichbaren<br />
Zeitdauer zu berücksichtigen; sie wirkt auf den Ehezeitanteil zurück.<br />
3. Wahlrecht bei externer Teilung<br />
Bei der externen Teilung kann die ausgleichsberechtigte Person gem. § 15 Abs. 2 VersAusglG wählen, ob<br />
ein für sie bestehendes Anrecht ausgebaut oder ein neues Anrecht begründet werden soll. Bei der<br />
Ausübung des Wahlrechts hat sie gem. § 222 Abs. 2 FamFG nachzuweisen, dass der ausgewählte<br />
Versorgungsträger mit der vorgesehenen Teilung einverstanden ist. Nach h.M. kann das wirksam<br />
ausgeübte Wahlrecht grds. nicht nachträglich widerrufen werden. Der BGH (FamRZ 2019, 1775 m. Anm.<br />
BORTH = NJW 2019, 3228 = MDR 2019, 1507 = FuR 2019, 431 = FamRB 2019, 431) hat jedoch entschieden,<br />
dass der Zielversorgungsträger sein erklärtes Einverständnis bis zum Erlass der letzten tatrichterlichen<br />
Entscheidung dann abändern kann, wenn der maßgebliche Tarif geschlossen worden ist und es ihm<br />
aus versicherungsrechtlichen Gründen nicht mehr gestattet ist, neue Versicherte in dem vormals<br />
angebotenen Tarif aufzunehmen. Der Ausgleichsberechtigte kann dann sein Wahlrecht unter den<br />
geänderten Bedingungen neu ausüben. Das Gericht hat ihn hierauf hinzuweisen.<br />
266 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 11 R, Seite 1067<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Hinweis:<br />
Im Fall einer externen Teilung ist bei einem privaten Zielversorgungsträger eine nähere Konkretisierung<br />
der Bedingungen der Zielversorgung in der Beschlussformel geboten.<br />
4. Berücksichtigung bei Wertänderungen<br />
Wie beim Unterhalt bleiben nachehezeitliche Veränderungen wegen des Stichtagsprinzips außer Betracht,<br />
die keinen Bezug zum ehezeitlichen Erwerb aufweisen. Rechtliche oder tatsächliche Veränderungen nach<br />
dem Ende der Ehezeit sind jedoch dann zu berücksichtigen, wenn sie auf den Ehezeitanteil zurückwirken<br />
(§§ 5 Abs. 2 S. 2, 40 Abs. 3 S. 2 VersAusglG).<br />
Nach § 51 Abs. 1 VersAusglG ändert das Gericht eine Entscheidung über einen öffentlich-rechtlichen<br />
Versorgungsausgleich, die nach dem bis zum 31.8.2009 geltenden Recht getroffen worden ist, bei einer<br />
wesentlichen Wertänderung auf Antrag ab, indem es die in den Ausgleich einbezogenen Anrechte nach<br />
den §§ 9 bis 19 VersAusglG teilt. Wesentlich ist die Wertänderung nach § 51 Abs. 2 VersAusglG, wenn<br />
hinsichtlich eines Anrechts die Voraussetzungen des § 225 Abs. 2 und 3 FamFG erfüllt sind.<br />
a) Änderung bei Anrechten der betrieblichen Altersversorgung<br />
In einer Entscheidung zum Ausgleich bei einer Rente aus einem endgehaltsbezogenen betrieblichen<br />
Anrecht gibt der BGH (FamRZ 2019, 1314= MDR 2019, 995 = FuR 2029, 715 bearb. v. GÖTSCHE, im Anschluss<br />
an BGH FamRZ 2018, 894 und BGH FamRZ 2016, 2000) mehrere Hinweise:<br />
• Gemäß § 51 Abs. 3 S. 1 VersAusglG ist bei einem Anrecht der betrieblichen Altersversorgung eine<br />
Abänderung auch dann zulässig, wenn sich der vor der Umrechnung ermittelte Wert des Ehezeitanteils<br />
wesentlich von dem dynamisierten und aktualisierten Wert unterscheidet. Wesentlich ist die Wertänderung<br />
auch dann, wenn in richtiger Weise die monatlichen Rentenbeträge verglichen werden.<br />
• Bei der Berechnung der Wertänderung ist die Anwartschaftsdynamik bis zum Renteneintritt zu<br />
berücksichtigen. Bei einer endgehaltsbezogenen betrieblichen Altersversorgung geht mit dem<br />
nachehezeitlich eingetretenen Versorgungsfall die Unverfallbarkeit der auf der allgemeinen Lohnentwicklung<br />
beruhenden Anwartschaftsdynamik einher. Die Unverfallbarkeit gehört zu den auf den<br />
Ehezeitanteil zurückwirkenden tatsächlichen Änderungen.<br />
• Die Frage, ob der Ausgleichswert die Wertgrenze für eine einseitig auf Verlangen des Versorgungsträgers<br />
durchzuführende externe Teilung (§§ 14 Abs. 2 Nr. 2, 17 VersAusglG) überschreitet, beurteilt<br />
sich nach der Bewertung des Anrechts zum Ende der Ehezeit.<br />
b) Anrechte kommunaler Wahlbeamter bei Wiederwahl<br />
In Fortführung seiner Rechtsprechung (vgl. BGH FamRZ 1992, 46) hat der BGH (FamRZ 2019, 1<strong>05</strong>2 =<br />
MDR 2019, 807 = FuR 2019, 655 bearb. v. GÖTSCHE = FamRB 2019, 388 f. m. Hinw. WAGNER) die<br />
Voraussetzung für eine zurückwirkende Veränderung (§ 5 Abs. 2 VersAusglG) in einem Fall bejaht, in<br />
dem ein kommunaler Wahlbeamter am Ende der Ehezeit bereits eine Versorgung nach beamtenrechtlichen<br />
Grundsätzen erworben hatte und nach der Ausgangsentscheidung wiedergewählt worden war.<br />
• Erfolgt eine Wiederwahl erst nach der Erstentscheidung und ist daher rückschauend betrachtet die<br />
Gesamtdienstzeit zu gering bemessen und deshalb der ehezeitlich erlangte Teil zu hoch bewertet,<br />
kommt eine Korrektur in Betracht.<br />
Nach § 5 Abs. 2 S. 2 VersAusglG können grds. nur rechtliche oder tatsächliche Veränderungen nach dem<br />
Ende der Ehezeit bei der Bewertung berücksichtigt werden, die einen Bezug zum ehezeitlichen Erwerb<br />
aufweisen und rückwirkend betrachtet auf der Grundlage der individuellen, zum Bewertungsstichtag<br />
bestehenden Verhältnisse den ehebezogenen Wert ändern. Ein wiedergewählter Wahlbeamter erhält<br />
jedoch aus den ausgeübten Ämtern eine einheitliche Versorgung; sein Beamtenverhältnis gilt als nicht<br />
unterbrochen. Zur Ermittlung des Ausgleichswerts sind in entsprechender Anwendung des § 40 Abs. 1<br />
bis 3 VersAusglG die Grundsätze der zeitratierlichen Bewertung heranzuziehen (§§ 41 Abs. 2 S. 1, 44<br />
Abs. 1 Nr. 1 VersAusglG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung ist weiterhin das Ende der Ehezeit.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 267
Fach 11 R, Seite 1068<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2019<br />
Rechtsprechung<br />
• Wenn im Erstverfahren ein begrenzter Ausgleich nach § 1587b Abs. 5 BGB erfolgt ist, ist im<br />
Ausgleichsverfahren zu prüfen, ob sich der Wert des zunächst nur teilweise ausgeglichenen Anrechts<br />
wesentlich geändert hat. Hierbei ist der im Erstverfahren ermittelte hälftige Ehezeitanteil und nicht<br />
der durch Höchstbetrag begrenzte Ausgleichsbetrag mit dem aktuellen Ausgleichswert des teilweise<br />
ausgeglichenen Anrechts zu vergleichen.<br />
VII. Betreuung<br />
1. Kontrollbetreuung (§ 1896 Abs. 1a und 3 BGB)<br />
a) Grundvoraussetzung<br />
Der BGH (FamRZ 2019, 1356 = MDR 2019, 1150 = FuR 2019, 667 bearb. v. SOYKA) weist darauf hin, dass das<br />
Bedürfnis nach einer Kontrollbetreuung nicht allein damit begründet werden kann, der Vollmachtgeber<br />
sei aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr selbst in der Lage, den Bevollmächtigten zu überwachen.<br />
Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten. Notwendig ist der konkrete, durch hinreichend<br />
tatsächliche Anhaltspunkte untermauerte Verdacht, dass mit der Vollmacht dem Betreuungsbedarf<br />
nicht in gebotener Weise Genüge getan wird. Ein Missbrauch der Vollmacht oder ein entsprechender<br />
Verdacht ist nicht erforderlich. Ausreichend sind konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Bevollmächtigte<br />
nicht mehr entsprechend der Vereinbarung und im Interesse des Vollmachtgebers handelt.<br />
b) Fehlender freier Wille des Betroffenen<br />
Auch eine Kontrollbetreuung kann gem. § 1896 Abs. 1a BGB nicht gegen den freien Willen des<br />
Betroffenen eingerichtet werden. Für eine gegen den Willen des Betroffenen zulässige Entscheidung<br />
ist die Feststellung erforderlich, dass dem Betroffenen die Fähigkeit zur freien Willensbildung fehlt.<br />
Dies ergibt sich noch nicht aus der Feststellung, dass der Betroffene aus gesundheitlichen Gründen<br />
gehindert ist, in dem angeordneten Aufgabenkreis eigene Angelegenheiten interessengerecht zu<br />
regeln, und insoweit Hilfe durch einen Betreuer benötigt.<br />
2. Schutzpflichten des Trägers von Wohnheimen<br />
Wie sich aus §§ 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB ergibt, kann ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum<br />
Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut ist, erwarten, dass der Heimträger ihn vor einer<br />
Gefahrenlage schützt, wenn er selbst aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkung nicht in der<br />
Lage ist, die Gefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Der BGH<br />
(FamRZ 2019, 1817) erläutert die hieraus folgende Obhutspflicht des Heimträgers und eine Haftung nach<br />
§ 823 BGB bei einer Schutzpflichtverletzung.<br />
Soweit es mit einem vernünftigen finanziellen und persönlichen Aufwand möglich und für die Heimbewohner<br />
sowie das Pflege- und Heimpersonal zumutbar ist, hat der Heimträger nach seinem Ermessen<br />
entweder die Empfehlungen der einschlägigen DIN-Norm (EN 806.2) umzusetzen oder aber die<br />
erforderliche Sicherheit gegenüber der Gefahr auf andere Weise zu gewährleisten, um Schäden der<br />
Heimbewohner zu vermeiden (hier Verbrühung durch in die Sitzbadewanne strömendes Wasser).<br />
3. Beteiligter im Betreuungsverfahren<br />
Gegen eine von Amts wegen im Betreuungsverfahren ergangene Entscheidung steht nach § 303 Abs. 2<br />
Nr. 1 Nr. 3 FamFG im Interesse des Betroffenen u.a. dessen Eltern das Recht der Beschwerde zu, wenn<br />
sie im ersten Rechtszug förmlich beteiligt worden sind. Eine solche Beteiligung ist nach einer<br />
Entscheidung des BGH (FamRZ 2019, 1091 = FuR 2019, 469 bearb. v. SOYKA, im Anschluss an BGH FamRZ<br />
2019, 915) zwar auch dann gegeben, wenn die Hinzuziehung konkludent erfolgt. Dies setzt aber voraus,<br />
dass das Gericht dem Beteiligten eine Einflussnahme auf das Verfahren ermöglichen will und dies zum<br />
Ausdruck bringt. Allein der Umstand, dass ein Angehöriger bei der Anhörung des Betroffenen anwesend<br />
ist und das Gericht ihm die Möglichkeit eingeräumt hat, zu der beabsichtigten Einrichtung Stellung zu<br />
nehmen, macht den Angehörigen noch nicht zum Betroffenen, wenn dieser vom ausdrücklichen<br />
Hinweis des Gerichts, er könne auf einen Antrag nach § 7 Abs. 4 FamFG am Verfahren förmlich beteiligt<br />
werden, keinen Gebrauch gemacht hat.<br />
268 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1159<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (I/<strong>2020</strong>)<br />
Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Leer/Augsburg<br />
Inhalt<br />
I. Hinweis<br />
II. Ermittlungsverfahren<br />
1. Durchsuchung<br />
2. „Unverzügliche“ Vorführung<br />
(§§ 115 ff. StPO)<br />
III. Hauptverhandlung<br />
1. Ablehnung (§§ 24 ff. StPO)<br />
2. Verlesung von Urkunden in der<br />
Hauptverhandlung<br />
3. Rechtlicher Hinweis (§ 265 StPO)<br />
IV. Nachsorge/Entschädigungsfragen<br />
I. Hinweis<br />
Ende des vergangenen Jahres sind im Bundesgesetzblatt (BGBl) noch einige gesetzliche Neuregelungen<br />
verkündet worden und die entsprechenden Gesetze dann auch in Kraft getreten. Das waren zunächst<br />
das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ (BGBl I, S. 2121), das am 13.12.2019 in<br />
Kraft getreten ist. Über die wesentlichen Änderungen der StPO durch dieses Gesetz haben wir in <strong>ZAP</strong><br />
F. 22, S. 997 ff. und 1009 ff. berichtet. Verkündet worden ist außerdem das „Gesetz zur Neuregelung des<br />
Rechts der notwendigen Verteidigung v. 10.12.2019“ (BGBl I, S. 2128), das ebenfalls am 13.12.2019 in Kraft<br />
getreten ist. Dieses Gesetz hat in Umsetzung der EU-RiLi 1916/<strong>2020</strong> eine völlige Neuregelung des<br />
Rechts der Pflichtverteidigung gebracht, über die HILLENBRAND in <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 983 ff.) berichtet hat. Und<br />
schließlich ist noch am 16.12.2019 das „Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im<br />
Jugendgerichtsverfahren v. 9.12.2019“ (BGBl I, S. 2146) verkündet worden und damit am 17.12.2019 in<br />
Kraft getreten. Dieses Gesetz diente der Umsetzung der EU-RiLi 2016/800 und enthält u.a. weitere Fälle<br />
der Beiordnung eines Rechtsbeistands im JGG-Verfahren.<br />
II.<br />
Ermittlungsverfahren<br />
1. Durchsuchung<br />
In der Praxis spielen die mit Durchsuchungen zusammenhängenden Fragen eine große Rolle. Für den<br />
Verteidiger ist in dem Zusammenhang immer die Frage von besonderer Bedeutung, ob eigentlich der<br />
für die Anordnung dieser Ermittlungsmaßnahme notwendige Anfangsverdacht vorgelegen hat (vgl.<br />
dazu BURHOFF, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 1589 ff. m.w.N.<br />
[im Folgenden kurz: Burhoff, EV]). Dazu hat vor kurzem noch einmal das Bundesverfassungsgericht<br />
(BVerfG) in einem Verfahren mit dem Vorwurf des Besitzes von Kinder-/Jugendpornografie Stellung<br />
genommen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.11.2019 – 2 BvR 31/19 und 886/19, NJW <strong>2020</strong>, 384 = StRR 1/<strong>2020</strong>,<br />
13). In Bezug auf den Anfangsverdacht von Taten des Besitzes nach §§ 184b Abs. 3 und 184c Abs. 3 StGB<br />
knüpft das BVerfG an seine Entscheidung NJW 2018, 3571 = StRR 12/2018, 8 an.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 269
Fach 22 R, Seite 1160<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem sich der Beschwerdeführer gegen die Durchsuchung<br />
seiner Wohnräume in einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Besitzes kinderund<br />
jugendpornografischer Schriften sowie gegen die Sicherstellung und Auswertung der aufgefundenen<br />
technischen Geräte und Datenträger gewandt hatte.<br />
Auszugehen ist etwa von folgendem Sachverhalt: Durchsucht worden waren in einem Ermittlungsverfahren<br />
gegen zwei andere Beschuldigte deren Wohnräume wegen des Verdachts des Besitzes kinderund<br />
jugendpornografischer Schriften. Dabei sind technische Geräte und Datenträger aufgefunden und<br />
sichergestellt worden. Bei der Auswertung der sichergestellter Speichermedien wurden auf einer der<br />
sichergestellten Festplatten 43 E-Mail-Nachrichten aus dem Jahr 2009 mit belastenden Bild- und<br />
Videodateien aufgefunden. Die Absenderadresse einer E-Mail mit zwei Bilddateien konnte aufgrund einer<br />
Providerauskunft dem Beschwerdeführer zugeordnet werden. Das AG hat daraufhin die Durchsuchung<br />
der Wohnung des Beschwerdeführers angeordnet. Der Anfangsverdacht beruhe auf den Angaben des<br />
gesondert Verfolgten, der auf die Frage, ob er mit dem Nutzer der in Rede stehenden E-Mail-Adresse<br />
kinderpornografische Dateien ausgetauscht habe, angegeben habe, dass über den Account „irgendwas<br />
gelaufen“ sei, er aber nicht mehr wisse, was. Auf den sichergestellten Datenträgern des gesondert<br />
Verfolgten habe festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer zwei Bilddateien verschickt<br />
habe, die jeweils dasselbe männliche erigierte Glied eines Jugendlichen zeigten. Die leicht erkennbare<br />
Beinbehaarung lasse vermuten, dass es sich um einen Jungen in der Pubertät handele. Es wurden beim<br />
Beschwerdeführer mehrere Computer, Festplatten und ein Smartphone sichergestellt. Der Beschwerdeführer<br />
erklärte bei der Durchsuchung, dass es sich bei dem Glied, das die versendeten Bilder zeigten, um<br />
sein eigenes handeln könne. Das AG bestätigte die vorläufige Sicherstellung der bei der Durchsuchung in<br />
Verwahrung genommenen Datenträger zum Zwecke der Durchsicht. Die Beschwerden des Beschwerdeführers<br />
bleiben erfolglos. Das BVerfG hat die angegriffenen Beschlüsse aufgehoben und die Sache<br />
zurückverwiesen.<br />
Das BVerfG (a.a.O.) verweist nochmals darauf, dass notwendiger, aber auch in Anbetracht der Eingriffsintensität<br />
einer Wohnungsdurchsuchung hinreichender Anlass für eine Durchsuchung der<br />
Verdacht sei, dass eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs (Art. 13 Abs. 2 GG) verlange<br />
auf konkreten Tatsachen beruhende Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße<br />
Vermutungen hinausreichen (vgl. dazu BURHOFF, EV, Rn 1589 ff.). Eine Durchsuchung dürfe nicht der<br />
Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.<br />
Diesen Anforderungen würden – so das BVerfG – die angefochtenen Beschlüsse nicht gerecht. Es<br />
sei zwar die Annahme, der Beschwerdeführer habe sich im Besitz von zumindest jugendpornografischen<br />
Schriften befunden und diese an den Empfänger der E-Mail versandt, verfassungsrechtlich nicht<br />
zu beanstanden. Diese Annahme könne aber nicht allein auf die der E-Mail beigefügten Bilddateien<br />
gestützt werden. Bei geschlechtsreifen Personen falle eine Altersbestimmung schwer, da sichtbare<br />
Anhaltspunkte wie bei Kinderpornografie („vor der Pubertät“) nicht existieren. Hier lasse sich aufgrund<br />
des körperlichen Entwicklungsstands ausschließen, dass ein Kind i.S.v. § 184b StGB abgebildet sei. Ob es<br />
sich um das Glied eines Jugendlichen oder eines Erwachsenen handele, könne den Bildern aber nicht<br />
entnommen werden. Es komme hier zudem hinzu, dass die Bilddateien an einen Empfänger versandt<br />
worden seien, der nach eigener Aussage auf einer Plattform eine gesamte Datenbank mit kinder- und<br />
jugendpornografischem Material zum Tausch bereithielt und mindestens 43 E-Mail-Nachrichten mit<br />
kinder- und jugendpornografischem Material empfangen oder verschickt habe. Die Angaben des<br />
Empfängers seien zwar ausgesprochen vage, was auf den erheblichen Zeitablauf zurückzuführen<br />
sein dürfte. Sie hätten jedoch im Zusammenhang mit dem Versand der E-Mail und den beigefügten<br />
Bilddateien einen Austausch von kinder- oder jugendpornografischem Material zwischen dem Beschwerdeführer<br />
und dem Empfänger der E-Mail möglich erscheinen lassen.<br />
Das BVerfG (a.a.O.) beanstandet jedoch den Zeitablauf. Die angefochtenen Beschlüsse würden nämlich<br />
keine sachlich zureichenden, plausiblen Gründe dafür darlegen, weshalb sich der Beschwerdeführer auch<br />
in nicht verjährter Zeit und insb. noch zum Zeitpunkt der Durchsuchungsanordnung im März 2018 im<br />
Besitz von jugend- oder gar kinderpornografischen Schriften befunden haben soll. Eine mögliche, an das<br />
270 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1161<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Versenden und den Besitz der in Rede stehenden zwei Bilddateien im Jahr 2009 anknüpfende Straftat<br />
wäre zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses im März 2018 nicht mehr verfolgbar,<br />
da gem. § 184c Abs. 2 und 4 StGB a.F. i.V.m. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB Verfolgungsverjährung eingetreten<br />
gewesen sei. Hinsichtlich einer noch verfolgbaren Straftat vermute der Durchsuchungsbeschluss<br />
lediglich, dass der Beschwerdeführer „auch heute noch im Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften“<br />
sei. Worauf das AG diese Vermutung stützt, werde nicht erläutert. Wenn das LG meint, es liege nach<br />
allgemeiner Lebenserfahrung fern, dass es sich bei dem Versenden der Bilder im Jahr 2009 um einen<br />
Einzelfall gehandelt haben könnte, da dies für das beschriebene Tatbild untypisch sei, knüpfe es letztlich<br />
an die Persönlichkeit des Beschwerdeführers an und schreibe ihm eine generelle, fortbestehende<br />
Tatgeneigtheit zu. Angesichts der nur vagen Tatsachengrundlage müssten sich die angegriffenen<br />
fachgerichtlichen Entscheidungen dann aber mit der Frage auseinandersetzen, warum auch mehrere<br />
Jahre nach dem Versand der E-Mail noch der Schluss darauf zulässig sein soll, dass sich der Beschwerdeführer<br />
weiterhin im Besitz von kinder- und jugendpornografischem Material befinde und mithin weiter<br />
Straftaten begehe. Vor diesem Hintergrund hätte es angesichts der besonderen Umstände des Falls<br />
auch einer eingehenderen Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme bedurft.<br />
Hinweise:<br />
Das BVerfG räumt den Verfolgungsbehörden zwar einen weiten Spielraum für die Annahme eines<br />
Anfangsverdachts bei sog. KiPo-Straftaten ein, wenn weitere Anhaltspunkte hinzutreten, die die<br />
Tatbegehung als möglich erschienen lassen (s.a. BVerfG NJW 2014, 3085 [Fall „EDATHY“]). Es genügt<br />
aber trotz dieses weiten Spielraums für die Annahme eines Anfangsverdachts nicht, wenn die Ausgangstat<br />
verjährt ist und angesichts eines erheblichen Zeitablaufs keine greifbaren Anhaltspunkte<br />
dafür bestehen, dass sich der Beschuldigte auch aktuell noch im Besitz von KiPo-Schriften befindet.<br />
Die Annahme, ein solcher Beschuldigter mache typischerweise so weiter, ist nichts anderes eine bloße<br />
Vermutung.<br />
Als Verteidiger wird man sich in vergleichbaren Fällen auf den Standpunkt stellen (müssen), dass die<br />
aufgrund einer solchen Durchsuchung gewonnenen Beweisergebnisse unverwertbar sind und nicht zur<br />
Grundlage einer Verurteilung des Beschuldigten gemacht werden dürfen. Der Verwertung ist daher zu<br />
widersprechen (zu Beweisverwertungsverboten bei einer Durchsuchung BURHOFF, EV, Rn 1684 ff.; zum<br />
Widerspruch BURHOFF, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 3740 ff.<br />
[im Folgenden kurz: BURHOFF, HV]).<br />
2. „Unverzügliche“ Vorführung (§§ 115 ff. StPO)<br />
Das AG Oberhausen hat in einem Beschluss vom 18.10.2019 (27 Gs 916/19 [132 Js 198/16]) in einem<br />
Verfahren wegen des Verdachts des versuchten Totschlags und Verstoßes gegen das Waffengesetz einen<br />
gegen den Beschuldigten bestehenden Haftbefehl aufgehoben. Aufgrund dieses Haftbefehls des AG<br />
Oberhausen vom 18.11.2016 war der (ausländische) Beschuldigte erst im Oktober 2019 festgenommen<br />
und am 13.10.2019 gem. § 115a StPO dem Richter des nächsten AG vorgeführt worden. Dort hatte der<br />
Beschuldigte beantragt, dem zuständigen Richter vorgeführt zu werden. Mit Verfügung vom 14.10.2019<br />
bestimmte das zuständige AG Oberhausen einen Vernehmungstermin auf den 16.12.2019 um 12.15 Uhr<br />
und ordnete die Vorführung des Beschuldigten an. Am 16.10.2019 teilte die Justizvollzugsanstalt Dresden<br />
mit, dass ein Einzeltransport aufgrund der Kurzfristigkeit und der personellen Situation nicht realisierbar<br />
sei. Der Beschuldigte werde am 22.10.2019 in die Justizvollzugsanstalt Duisburg-Hamborn verlegt und<br />
treffe dort am 29.10.2019 ein. Mit Schreiben vom 17.10.2019, dem Vorsitzenden beim AG Oberhausen am<br />
18.10.2019 vorgelegt, teilte die Justizvollzugsanstalt Dresden mit, dass eine Vorführung nicht erfolgen<br />
werde. Nach Auffassung der Justizvollzugsanstalt Dresden erfolge eine unverzügliche Vorführung, indem<br />
der Gefangene mit dem nächsten Sammeltransport verlegt werde. Auch aus organisatorischen Gründen<br />
sei ein Einzeltransport nicht umsetzbar.<br />
Das AG Oberhausen (a.a.O.) hat seinen Haftbefehl aufgehoben. Es verweist auf § 115a Abs. 1 StPO,<br />
wonach der Beschuldigte unverzüglich, spätestens am Tage nach der Ergreifung, dem nächsten AG<br />
vorzuführen ist, wenn er nicht spätestens am Tag nach der Ergreifung dem zuständigen Gericht<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 271
Fach 22 R, Seite 1162<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
vorgeführt werden kann. Werde der Beschuldigte nicht freigelassen, so sei er nach § 115a Abs. 3 S. 1 StPO<br />
auf sein Verlangen dem zuständigen Gericht zur Vernehmung nach § 115 StPO vorzuführen. Zwar gebe<br />
es im Fall des § 115a Abs. 3 S. 1 StPO keine gesetzliche Frist zur Vorführung vor dem zuständigen Gericht.<br />
Jedoch erfordere es das in Haftsachen grds. geltende Beschleunigungsgebot, dass dies unverzüglich<br />
geschieht, sodass in einem solchen Fall ein Einzeltransport durchgeführt werden müsse (vgl. BÖHM/<br />
WERNER in MüKo zur StPO, 2014, § 115a Rn 21; MEYER-GOßNER/SCHMITT, StPO, 62. Aufl. 2019, § 115a Rn 8,<br />
jeweils m.w.N. [im Folgenden kurz: MEYER-GOßNER/SCHMITT]). Eine Sammelverschubung sei mit den<br />
Grundrechten des Beschuldigten aus Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG nicht vereinbar (vgl. BÖHM/WERNER, a.a.O.,<br />
§ 115a Rn 21). Der Haftbefehl sei daher aufzuheben.<br />
Hinweis:<br />
Eine zutreffende Entscheidung, die mit dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 GG ernst<br />
macht. Als Verteidiger sollte man sie bei entsprechenden „Vorführterminen“, zu denen der Mandant nicht<br />
vorgeführt wird, im „Gepäck haben“ und damit argumentieren.<br />
III.<br />
Hauptverhandlung<br />
1. Ablehnung (§§ 24 ff. StPO)<br />
Hoch hergegangen ist es offenbar in einer Hauptverhandlung beim AG Köln. Die Wogen sind so hoch<br />
geschlagen, dass die Richterin sich schließlich dazu veranlasst sah, einen Wachtmeister zu holen und dem<br />
Verteidiger – während der nicht unterbrochenen Hauptverhandlung – anzudrohen, ihn bei weiterem<br />
störenden Verhalten aus dem Saal entfernen zu lassen. Das hat dann zu einem Ablehnungsantrag<br />
geführt. Der hatte Erfolg. Die Richterin ist im Beschluss des AG Köln vom 24.1.<strong>2020</strong> (537 Ds 819/19) als<br />
befangen angesehen worden.<br />
Das AG Köln (a.a.O.) stellt darauf ab, dass für eine erfolgreiche Ablehnung eines Richters nach den<br />
§§ 24 ff. StPO die Sichtweise eines vernünftigen Ablehnenden und die Vorstellungen, die sich ein „geistig<br />
gesunder Prozessbeteiligter bei der ihm zumutbaren ruhigen Prüfung der Sachlage machen kann“, von Bedeutung<br />
seien. Der Ablehnende müsse daher Gründe für sein Befangenheitsgesuch vorbringen, die jedem<br />
besonnenen unbeteiligten Dritten unmittelbar einleuchten (vgl. MEYER-GOßNER/SCHMITT, § 24 Rn 8<br />
m.w.N.). Hier hatte es nach dem Sitzungsprotokoll und dem insoweit im Kern übereinstimmenden<br />
Vorbringen des Angeklagten und der dienstlichen Stellungnahme der abgelehnten Richterin in der<br />
Hauptverhandlung einen intensiven und lautstärkeren Disput zwischen dem Verteidiger und der<br />
Richterin über die Art und Weise der Vernehmung des Angeklagten sowie die Unterbrechung der<br />
Verhandlung gegeben. Dieser hatte die Richterin schließlich dazu veranlasst, einen Wachtmeister zu<br />
holen und dem Verteidiger – während der nicht unterbrochenen Hauptverhandlung – anzudrohen, ihn<br />
bei weiterem störenden Verhalten aus dem Saal entfernen zu lassen.<br />
Jedenfalls Letzteres stellt nach Auffassung des AG Köln (a.a.O.) ein offensichtlich rechtswidriges<br />
Verhalten dar, das aus der Sicht des Angeklagten die Besorgnis der Befangenheit rechtfertige. § 177 GVG<br />
erlaube während einer laufenden Verhandlung keine Zwangsmittel gegen „störende“ Verteidiger, weil<br />
sie nicht zu dem in der Vorschrift aufgezählten Personenkreis gehören (vgl. MEYER-GOßNER/SCHMITT, § 177<br />
GVG Rn 3a). Selbst wenn man aus einer älteren Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1976 (NJW 1977,<br />
437 f.) für Extremfälle Ausnahmen in Betracht ziehen wolle, war ein solcher Extremfall vorliegend<br />
offensichtlich nicht gegeben. Hierzu könne auf die vorgenannte BGH-Entscheidung verwiesen werden,<br />
da ihr ein im Kern vergleichbarer Fall zugrunde gelegen habe. Dort hatte ein Rechtsanwalt als<br />
Prozessbevollmächtigter einer Zivilpartei den Vorsitzenden Richter in der mündlichen Verhandlung<br />
durch ständiges Unterbrechen am Protokolldiktat gehindert und dies auch nach förmlichem Entziehen<br />
des Worts fortgesetzt. Daraufhin war er auf Anordnung des Richters, die durch einen nachfolgenden<br />
Beschluss der Kammer (für Handelssachen) bestätigt worden war, durch zwei Gerichtswachtmeister<br />
aus dem Sitzungssaal geführt worden. Der BGH (Dienstgericht des Bundes) hat diese sitzungspolizeiliche<br />
Maßnahme als offensichtlich rechtswidrig bewertet. Zur Begründung verweise der BGH darauf,<br />
272 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1163<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
dass Rechtsanwälte nach dem eindeutigen Wortlaut der §§ 177, 178 GVG in der Rolle des Prozessbevollmächtigten<br />
oder des Verteidigers nicht der gerichtlichen Sitzungspolizei und Ordnungsstrafgewalt<br />
unterliegen. Das ergebe sich auch aus der Funktion des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ der<br />
Rechtspflege und als unabhängiger Berater des Mandanten in allen Rechtsangelegenheiten. Der<br />
unzweideutige Wortlaut der §§ 177, 178 GVG lasse es nicht zu, die zwangsweise Entfernung eines<br />
Anwalts in Situationen anzuordnen und vollziehen zu lassen, die nicht so außergewöhnlich seien, dass<br />
angenommen werden könnte, der Gesetzgeber habe sie nicht in seine Überlegungen einbezogen.<br />
Hinweis:<br />
Wenn man den AG-Beschluss liest, fragt man sich: Gibt es so ein Verhalten eines Vorsitzenden in einer<br />
strafverfahrensrechtlichen Hauptverhandlung tatsächlich noch? Denn die vom AG Köln angesprochenen<br />
Fragen sollten – unabhängig von dem angeführten BGH-Beschluss (a.a.O.) – nach dem Beschluss des OLG<br />
Hamm vom 6.6.2003 (StV 2004, 69 = StraFo 2003, 244) an sich geklärt sein. Das OLG hat – anders und<br />
weiter als der BGH – die Festsetzung von Ordnungsmitteln gegen einen Verteidiger nach den §§ 177, 178<br />
GVG insgesamt, also auch in Extremfällen, als unzulässig angesehen (unter Aufgabe von OLG Hamm JMBl<br />
NW 1980, 215).<br />
Greift das Gericht doch zu Sanktionen bzw. droht diese an, bleibt keine andere Möglichkeit, als mit dem<br />
scharfen Schwert der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit zu reagieren. Dabei hat das AG Köln<br />
(a.a.O.) keine Zweifel, dass sich aus einer solchen Maßnahme ableiten lässt, dass das Gericht dem Angeklagten<br />
nicht unbefangen gegenübertritt.<br />
2. Verlesung von Urkunden in der Hauptverhandlung<br />
Werden in der Hauptverhandlung Urkunden verlesen, ist sehr schnell der Unmittelbarkeitsgrundsatz<br />
des § 250 StPO tangiert. Zwei neuere Entscheidungen des BGH befassen sich mit den bei Verlesung von<br />
Urkunden in der Hauptverhandlung ggf. auftretenden Problemen/Fragen.<br />
a) Einführung von DNA-Gutachten im Selbstleseverfahren<br />
Im Beschluss des BGH vom 3.9.2019 (3 StR 291/19, NJW 2019, 3736 = StraFo <strong>2020</strong>, 24 = NStZ <strong>2020</strong>, 94)<br />
hatte der Angeklagte, der u.a. wegen zweier Wohnungseinbruchdiebstähle verurteilt worden war,<br />
Revision eingelegt und diese u.a. auf eine Verfahrensrüge gestützt. Mit ihr hatte er eine Verletzung des<br />
§ 250 StPO durch die Einführung von diversen – von privaten Laboren erstellten – molekulargenetischen<br />
Spurengutachten (DNA-Gutachten) im Wege des Selbstleseverfahrens gerügt.<br />
aa) Verfahrensgeschehen<br />
Dem lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am zweiten Hauptverhandlungstag hatte der<br />
Vorsitzende hinsichtlich 30 in einer Liste aufgeführter Urkunden das Selbstleseverfahren gem. § 249<br />
Abs. 2 StPO angeordnet. Die Liste umfasste acht DNA-Gutachten, die von privaten Laboren stammten.<br />
Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen waren jeweils nicht i.S.d. § 256<br />
Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt. Die<br />
Strafkammer gab für die Verlesung der DNA-Gutachten weder einen Grund an, noch fasste sie hierzu<br />
einen Beschluss i.S.v. § 251 Abs. 4 S. 1, 2 StPO. Der Verteidiger erklärte in der Hauptverhandlung, gegen<br />
die Durchführung des Selbstleseverfahrens keine Einwände zu erheben, der (albanische) Angeklagte<br />
könne die Schriftstücke selbst lesen. Keiner der Verfahrensbeteiligten erteilte ein ausdrückliches Einverständnis<br />
mit der Verlesung der betreffenden Gutachten. Der Angeklagte und sein Verteidiger<br />
beanstandeten die Verlesung auch nicht als unzulässig. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen<br />
Sachverständigen wurden nicht in der Hauptverhandlung vernommen. Ebenso wenig fanden<br />
Erörterungen zu den Gutachten statt. An einem der folgenden Hauptverhandlungstage traf der<br />
Vorsitzende die Feststellungen über die Kenntnisnahme der Urkunden und die Gelegenheit hierzu.<br />
In dem angefochtenen Urteil hat die Strafkammer dann u.a. ausgeführt, dass sich die Täterschaft des<br />
Angeklagten maßgeblich aus Angaben seines Mittäters ergebe, aber auch durch das Ergebnis der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 273
Fach 22 R, Seite 1164<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Beweisaufnahme im Übrigen belegt sei. Dabei hat das LG darauf abgestellt, dass in einigen Fällen der<br />
Anklage DNA-Spuren existierten, die ausweislich der im Selbstleseverfahren eingeführten DNA-Gutachten<br />
vom Angeklagten bzw. seinem Mittäter stammten.<br />
bb) Kein Einverständnis des Angeklagten und des Verteidigers<br />
Nach Auffassung des BGH (NJW 2019, 3736 = StraFo <strong>2020</strong>, 24 = NStZ <strong>2020</strong>, 94) hat das LG durch die<br />
von ihm gewählte Vorgehensweise den Grundsatz der persönlichen Vernehmung (§ 250 StPO)<br />
umgangen. Die Ersteller der Gutachten hätten vielmehr in der Hauptverhandlung angehört werden<br />
müssen. Denn die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden Ausnahmetatbestände des<br />
§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO oder des § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO hätten nicht vorgelegen (vgl. dazu BURHOFF, HV,<br />
Rn 2945 ff., 3272 ff., 3352 ff.).<br />
Die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO waren nach Auffassung des BGH (a.a.O.) schon<br />
deshalb nicht erfüllt, weil weder der Angeklagte und sein Verteidiger noch die Staatsanwaltschaft ihr<br />
Einverständnis mit der Verlesung erteilt hatten. Ein solches sei insb. nicht darin zu erblicken, dass der<br />
Verteidiger erklärt habe, der Durchführung des Selbstleseverfahrens nicht entgegenzutreten. Im<br />
Hinblick auf die eingeschränkte Sprachkompetenz des Angeklagten habe er hiermit der Strafkammer<br />
nach den konkreten Umständen nur zu verstehen gegeben, dass er gegen das „Wie“ der Einführung der<br />
Urkunden aus der Selbstleseliste keine Einwände hat erheben wollen. Zum „Ob“ ihrer Einführung durch<br />
Verlesen habe er sich durch seine Erklärung nicht verhalten.<br />
Auch eine stillschweigende Zustimmung habe nicht vorgelegen. Eine solche komme überhaupt nur in<br />
Betracht, wenn aufgrund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden<br />
dürfe, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst gewesen sind (BGH<br />
NStZ 2015, 476; 2017, 299 m.w.N.; LR/SANDER/CIRENER, StPO, 26. Aufl., § 251 Rn 22 m.w.N.). Daran fehle es<br />
hier. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Revisionsvorbringen sei das Erfordernis eines Einverständnisses<br />
für eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte Verlesung der Gutachten (etwa durch eine<br />
Frage des Vorsitzenden o.Ä.) zu keinem Zeitpunkt in der Hauptverhandlung thematisiert worden. Es sei<br />
angesichts der Vielzahl der Urkunden auf der Selbstleseliste auch nicht derart offensichtlich gewesen,<br />
dass es sich den Prozessbeteiligten aufgedrängt hätte.<br />
Hinzu kam für den BGH (a.a.O.) Folgendes: Das Einverständnis – auch das stillschweigende – müsse<br />
bereits im Zeitpunkt der Anordnung der Verlesung durch das Gericht vorliegen (LR/SANDER/CIRENER,<br />
a.a.O., Rn 23). Hier habe der Vorsitzende gleichzeitig mit der Anordnung des Selbstleseverfahrens die auf<br />
diese Weise einzuführenden Urkunden bezeichnet; die Verfahrensbeteiligten haben also erst mit der<br />
Anordnung erfahren, welche Urkunden sie umfasst. Sie hätten deshalb ihr Einverständnis gar nicht<br />
vorher erklären können. Erst recht scheide ein stillschweigendes Einverständnis in dieser Verfahrenskonstellation<br />
aus.<br />
cc) Beschluss fehlt<br />
Im Übrigen fehle es – so der BGH (NJW 2019, 3736 = StraFo <strong>2020</strong>, 24 = NStZ <strong>2020</strong>, 94) überdies an dem<br />
gem. § 251 Abs. 4 S. 1, 2 StPO von dem gesamten Spruchkörper zu erlassenden und mit Gründen zu<br />
versehenden Beschluss. Grundsätzlich sei schon dieser Umstand allein geeignet, die Revision zu<br />
begründen (vgl. BGH NStZ 2011, 356, 357 m.w.N.; NStZ 2012, 585). Ein Fall, in dem sich der Rechtsfehler<br />
ausnahmsweise nicht ausgewirkt habe, weil den Verfahrensbeteiligten Grund und Reichweite der<br />
Verlesung bekannt gewesen seien, liege hier nicht vor.<br />
dd) § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und b StPO<br />
Die DNA-Gutachten hätten – so der BGH (NJW 2019, 3736 = StraFo <strong>2020</strong>, 24 = NStZ <strong>2020</strong>, 94) – auch<br />
keine Erklärungen einer öffentlichen Behörde (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StPO) oder eines allgemein<br />
vereidigten Sachverständigen (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO) enthalten. Nach dem insoweit<br />
unwidersprochenen Revisionsvorbringen seien die vorliegend tätig gewordenen Sachverständigen<br />
gerade nicht allgemein vereidigt gewesen. Eine Ausdehnung der eine Durchbrechung des Unmittel-<br />
274 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1165<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
barkeitsgrundsatzes gestattenden Ausnahmevorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO komme<br />
nicht in Betracht, auch wenn die hier konsultierten Institute vielfach von Ermittlungsbehörden<br />
beauftragt und als zuverlässig bekannt seien. Denn Gutachten von vereidigten Sachverständigen seien<br />
bei der Anwendung von § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO v.a. deshalb Behördengutachten gleichgestellt, weil im<br />
Vereidigungsverfahren die sachliche und persönliche Befähigung des Sachverständigen geprüft werde.<br />
Nur der Sachverständige, der das Verfahren durchlaufen habe, sei nach dem Motiv der gesetzlichen<br />
Regelung mit einer solchen Sachautorität ausgestattet, dass es gerechtfertigt sei, auf seine persönliche<br />
Einvernahme in der Hauptverhandlung zu verzichten (vgl. MüKo-StPO/KRÜGER, § 256 Rn 17 unter<br />
Verweis auf BT-Drucks 15/1508, S. 26). Diese klare Festlegung des Gesetzgebers könne nicht dadurch<br />
unterlaufen werden, dass Kosten- oder Kapazitätsgründe die Landeskriminalämter dazu veranlassen,<br />
für forensische DNA-Untersuchungen auf private Institute zurückzugreifen.<br />
Hinweis:<br />
Einer Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO bedarf es in diesen Fällen nicht, denn gem. § 251 Abs. 4 S. 1<br />
StPO obliegt es dem gesamten Spruchkörper und nicht dem Vorsitzenden allein, über die Verlesung zu<br />
beschließen. Damit ist der Anwendungsbereich des § 238 StPO nicht eröffnet.<br />
b) Ärztliche Atteste in der Hauptverhandlung<br />
Die zweite Entscheidung, die ich vorstellen möchte, der Beschluss des BGH vom 7.8.2019 (1 StR 57/19)<br />
befasst sich mit der Zulässigkeit der Verlesung von ärztlichen Attesten. Das LG hatte die beiden<br />
Angeklagten jeweils wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />
verurteilt. Dagegen richteten sich die Revisionen der Angeklagten, die mit ihren Verfahrensrügen<br />
beanstandet haben, dass das LG unter Verletzung der Vorschriften über den Grundsatz der persönlichen<br />
Vernehmung und den Urkundenbeweis gem. §§ 249, 250, 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO drei ärztliche Berichte<br />
über vom Geschädigten erlittene Körperverletzungen, die nicht mit einer Unterschrift versehen<br />
gewesen seien, rechtsfehlerhaft im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt habe.<br />
Der BGH (a.a.O.) hat die Rügen als zwar zulässig erhoben, aber unbegründet angesehen. Der BGH führt<br />
aus: Mit § 256 StPO werde in Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 250 StPO) und über<br />
§ 251 StPO hinaus ein Urkundenbeweis zugelassen, indem bestimmte Zeugnisse, Gutachten, Atteste,<br />
Berichte und Protokolle in der Hauptverhandlung verlesen werden können. Insbesondere in Bezug auf<br />
die hier verfahrensgegenständlichen ärztlichen Atteste über Körperverletzungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 2<br />
StPO erlaube der Gesetzgeber aus letztlich pragmatischen Gründen eine Verlesung (vgl. BGHSt 57, 24 =<br />
StRR 2012, 100). Bei der großen Anzahl der Verfahren würde es – so der BGH – zu einer übermäßigen<br />
Belastung der Ärzte und erhöhten Kosten führen, wenn in jedem Fall der Arzt, der entsprechende<br />
Feststellungen getroffen hat, persönlich vernommen werden müsste. Vor diesem Hintergrund habe der<br />
Gesetzgeber durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens<br />
v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) die Verlesungsmöglichkeiten nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO –<br />
unabhängig vom Tatvorwurf – auf alle Körperverletzungen erweitert und dabei das Ziel verfolgt, dass<br />
auf die Vernehmung des behandelnden Arztes verzichtet werden könne, der häufig aus Mangel an<br />
Erinnerung an den früheren Patienten ohnehin nur das wiedergeben könne, was er zuvor in seinem<br />
Attest bereits schriftlich niedergelegt habe (BT-Drucks 18/11277, S. 36).<br />
Verlesen werden könne – so der BGH (a.a.O.) – nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein ärztliches Attest, in dem<br />
ein ordnungsgemäß nach dem für ihn geltenden Berufsrecht bestellter Arzt die Art und den Umfang<br />
einer von ihm im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit wahrgenommenen Körperverletzung beschreibe<br />
(LR-STUCKENBERG, § 256 Rn 45; DIEMER in KK-StPO, 8. Aufl., § 256 Rn 8 m.w.N.). Im Übrigen stelle § 256 StPO<br />
keine besonderen Formerfordernisse an das Attest. Insbesondere erfordere das Attest keine besondere<br />
Unterschriftsform. Es genüge vielmehr, dass erkennbar werde, welcher Arzt die Körperverletzung<br />
festgestellt und die Verantwortung für den Befund übernommen hat, sowie dass ausgeschlossen werden<br />
kann, dass ein bloßer Entwurf vorliegt (vgl. BGH StraFo 2007, 331; BGH, Beschl. v. 1.8.2018 – 5 StR 330/18).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 275
Fach 22 R, Seite 1166<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Nichts anderes ergebe sich aus der von der Revision zitierten Entscheidung des OLG Düsseldorf<br />
(StraFo 2015, 127 = StV 2015, 542), das lediglich dann vom Fehlen der Voraussetzungen des § 256 Abs. 1<br />
Nr. 2 StPO ausgehe, wenn mangels Unterzeichnung unklar bleibe, auf wessen Erkenntnisse die im<br />
Attest niedergelegten Befundtatsachen zurückgehen (insoweit missverständlich MEYER-GOßNER/SCHMITT,<br />
§ 256 Rn 19).<br />
Auf dieser Grundlage haben dem BGH (a.a.O.) die hier im Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO)<br />
eingeführten drei ärztlichen Atteste auch ohne handschriftliche Unterzeichnung für eine Verlesung<br />
nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO genügt. Allen sei zu entnehmen, dass die festgestellten Befundtatsachen<br />
von Ärzten erhoben wurden, die gemeinsame Urheber der Atteste seien und die Verantwortung für den<br />
Inhalt der Berichte übernommen hätten.<br />
Hinweis:<br />
Grundlage für die Verlesung von ärztlichen Attesten ist § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO, der durch das „Gesetz zur<br />
effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) in<br />
seinem Anwendungsbereich erweitert worden ist. Unabhängig vom Tatvorwurf können danach jetzt<br />
ärztliche Attest über Körperverletzungen verlesen werden. Bis zu der Neuregelung konnten nur ärztliche<br />
Atteste über Körperverletzungen, die nicht zu den schweren Körperverletzungen gehören, verlesen<br />
werden (wegen der Einzelh. s. BURHOFF, HV, Rn 3194 ff. m.w.N.).<br />
3. Rechtlicher Hinweis (§ 265 StPO)<br />
Will das Tatgericht die Annahme des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe auf eine Motivlage<br />
stützen, die von der in der Anklageschrift angenommenen deutlich abweicht, muss gem. § 265 Abs. 2<br />
Nr. 3 i.V.m. Abs. 1 StPO ein rechtlicher Hinweis erteilt werden. Das ist das Fazit aus dem BGH (Beschl.<br />
v. 24.7.2019 – 1 StR 185/19, StraFo 2019, 507 = NStZ <strong>2020</strong>, 97). Ergangen ist der Beschluss in einem<br />
Verfahren, in dem das LG den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und<br />
festgestellt hat, dass seine Schuld besonders schwer wiegt. Nach den Feststellungen des LG hatte der<br />
Angeklagte seine frühere Lebensgefährtin getötet. Diese Tötung hat das LG als Mord aus niedrigen<br />
Beweggründen (§ 211 Abs. 2 StGB) gewertet. Bei dieser Wertung hat es dem Umstand erhebliches<br />
Gewicht beigemessen, dass der Angeklagte mit der Tötung der ehemaligen Lebensgefährtin den Verlust<br />
des gemeinsamen Sorgerechts für den gemeinsamen Sohn verhindern wollte, v.a. auch deshalb, weil<br />
sonst für ihn die letzte Aussicht weggebrochen wäre, einem drohenden Strafvollzug zu entgehen.<br />
Die Revision des Angeklagten hatte mit einer Verfahrensrüge teilweise Erfolg, der folgendes Verfahrensgeschehen<br />
zugrunde gelegen hat: Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage hatte<br />
das Vorliegen niedriger Beweggründe damit begründet, der Angeklagte habe mit der Tötung seiner<br />
ehemaligen Lebensgefährtin die Aufdeckung seiner Falschangaben im Sorgerechtsstreit sowie den ihm<br />
drohenden Verlust des durch die falschen Angaben erschlichenen gemeinsamen Sorgerechts für den<br />
gemeinsamen Sohn bei einem unmittelbar bevorstehenden Gerichtstermin verhindern wollen. Zudem<br />
habe er der Getöteten jedes Recht abgesprochen, in Zukunft das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn<br />
auszuüben. In Abweichung hiervon hat das LG in den Urteilsgründen als Beweggrund des Angeklagten<br />
für die Tötung der Lebensgefährtin zugrunde gelegt, dass er den Verlust des Sorgerechts auch deshalb<br />
verhindern wollte, weil dies seine letzte Hoffnung, dem sich bereits abzeichnenden Strafvollzug zu<br />
entgehen, zunichtegemacht hätte. Einen förmlichen Hinweis darauf, dass es gedachte, von einem<br />
anderen Tatmotiv als Anknüpfungspunkt für die Annahme niedriger Beweggründe als die Anklage<br />
auszugehen, hat das LG in der Hauptverhandlung nicht erteilt.<br />
Diese Verfahrensweise des LG ist nach Auffassung des BGH (a.a.O.) mit § 265 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 1<br />
StPO nicht vereinbar. Dem Angeklagten hätte – so der BGH – ein förmlicher Hinweis darauf erteilt<br />
werden müssen, dass das LG die Annahme des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe auf eine<br />
Motivlage zu stützen gedachte, die von der in der Anklageschrift angenommenen deutlich abwich. Dies<br />
ergibt sich für den BGH u.a. daraus, dass mit dem „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren<br />
276 <strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1167<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 17.8.2017“ (BGBl I, S. 3202, 3210) der Gesetzgeber in § 265 Abs. 2<br />
Nr. 3 StPO die Hinweispflicht des § 265 Abs. 1 StPO auf Fälle erweitert habe, in denen sich in der<br />
Hauptverhandlung die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen<br />
Anklage ändere und dies zur genügenden Verteidigung vor dem Hintergrund des Gebots rechtlichen<br />
Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und des rechtsstaatlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens (vgl. BVerfG,<br />
Beschl. v. 8.12.20<strong>05</strong> – 2 BvR 1769/04) einen Hinweis erforderlich mache (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 37<br />
sowie BGH StV 2019, 818). Der Gesetzgeber habe dabei an die Rechtsprechung angeknüpft, nach<br />
der eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer<br />
Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht (BT-Drucks 18/11277, S. 37 unter Hinweis auf<br />
BGH StraFo 2015, 68 = NStZ 2015, 233). Die durch den BGH hierzu entwickelten Gesichtspunkte habe der<br />
Gesetzgeber kodifizieren, weitergehende Hinweispflichten hingegen nicht einführen wollen (vgl. BGH<br />
StV 2019, 818). Nach der Rechtsprechung des BGH sei aber auch bereits im Übrigen nach der alten<br />
Rechtslage (§ 265 Abs. 1 und 4 StPO a.F.) anerkannt gewesen, dass ein förmlicher Hinweis dann zu<br />
erteilen sei, wenn die Verurteilung auf ein schon in der Anklageschrift angenommenes Mordmerkmal<br />
gestützt werden soll, sich aber die Tatsachengrundlage, die dieses nach Auffassung des Gerichts ausfüllt,<br />
gegenüber derjenigen ändert, von der die Anklage ausgegangen ist (vgl. BGH StRR 10/2018, 11 = StraFo<br />
2018, 523 m.w.N.). Dies bedeute für das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe, dass der Angeklagte<br />
nicht nur davon in Kenntnis zu setzen sei, durch welche bestimmten Tatsachen das Gericht das<br />
Mordmerkmal als erfüllt ansieht; vielmehr sei er auch darüber zu informieren, dass sich diese Tatsachen<br />
aus Sicht des Gerichts gegenüber der Anklageschrift oder aber auch einem früher erteilten Hinweis<br />
geändert haben können (BGH, a.a.O.).<br />
Hinweis:<br />
Zutreffend geht der BGH (a.a.O.) davon aus, dass nach den von ihm aufgestellten Maßstäben dann im<br />
entschiedenen Fall aber ein Hinweis geboten war. Denn die Tatsachengrundlage, auf welche das LG das<br />
Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe gestützt hat bzw. stützen wollte, wich wesentlich von derjenigen<br />
der Anklage ab. Die Urteilsgründe sind von einem anderen Tatmotiv und damit zur subjektiven Tatseite von<br />
einem anderen Sachverhalt ausgegangen als die Anklage (zu den Einzelh. der mit der Erforderlichkeit eines<br />
rechtlichen Hinweises nach § 265 StPO zusammenhängenden Fragen BURHOFF, HV, 1949 ff. m.w.N.).<br />
IV. Nachsorge/Entschädigungsfragen<br />
Nach Beendigung eines Strafverfahrens gibt es häufig Streit um die Frage, wie eigentlich Dritte, bei denen<br />
im Verfahren Gegenstände beschlagnahmt worden sind, die nun nicht mehr benötigt werden, wieder<br />
in den Besitz dieser Gegenstände gelangen. Müssen diese abgeholt werden oder kann der Dritte verlangen,<br />
dass sie ihm (wieder-)gebracht werden? Mit der in Rechtsprechung und Literatur umstrittenen<br />
Frage hat sich der BGH in seinem Urteil vom 16.5.2019 (III ZR 6/18, NJW 2019, 2618 = StRR 1/<strong>2020</strong>, 18)<br />
auseinandergesetzt.<br />
Nach dem Sachverhalt waren in dem dem Zivilstreit zugrunde liegenden Verfahren im Rahmen eines<br />
strafprozessualen Ermittlungsverfahrens, das die Staatsanwaltschaft seit 2013 gegen den Ehemann der<br />
Klägerin geführt hatte, der Klägerin gehörende Sachen bei einem Lagerunternehmen und in einem<br />
Bankschließfach auf der Insel S. beschlagnahmt und zur Polizeidirektion F. verbracht worden. Nach<br />
Freigabe der beschlagnahmten Gegenstände durch die Staatsanwaltschaft holte die auf S. wohnhafte<br />
Klägerin die beschlagnahmten Gegenstände im April/Mai 2016 bei der Polizeidirektion F. ab. Zuvor hatte<br />
sie die Staatsanwaltschaft vergeblich zur Verbringung der Gegenstände nach S. aufgefordert. Mit ihrer<br />
Klage hat die Klägerin die Erstattung von Fahrtkosten i.H.v. 152,40 € nebst vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten<br />
und Zinsen verlangt. Das LG hatte der Klage im Wesentlichen stattgegeben und das<br />
beklagte Land zur Zahlung von Fahrtkosten nebst vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten und Zinsen<br />
verurteilt. Auf die vom LG zugelassene Berufung des Beklagten hat das OLG Schleswig die Klage<br />
abgewiesen (vgl. NStZ-RR 2018, 96). Die dagegen eingelegte Revision der Klägerin hatte beim BGH<br />
keinen Erfolg.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 5 4.3.<strong>2020</strong> 277
Fach 22 R, Seite 1168<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Ebenso wie das OLG (a.a.O.) geht der BGH (a.a.O.) davon aus, dass in einem Strafverfahren<br />
beschlagnahmte Gegenstände auch gegenüber nicht beschuldigten Dritten nicht in entsprechender<br />
Anwendung von § 697 BGB an dem Ort zurückzugeben sind, an welchem sie aufzubewahren waren.<br />
Die verwahrende Justizbehörde sei nicht verpflichtet, die Sachen an den Beschlagnahmeort oder den<br />
Wohnsitz des Berechtigten zurückzubringen. Es fehle somit an einer Pflichtverletzung des Beklagten<br />
gem. § 280 Abs. 1 S. 1 BGB beziehungsweise einer Amtspflichtverletzung i.S.v. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB, Art. 34<br />
S. 1 GG. Die Rückgabepflicht sei Holschuld und nicht Bringschuld (BGH NJW 20<strong>05</strong>, 988). Dem lasse<br />
sich nicht entgegenhalten, dass die Sache nicht aufgrund eines vertraglichen Einverständnisses des<br />
Hinterlegers, sondern – oftmals gegen dessen Willen – durch den hoheitlichen Zugriff der Strafverfolgungsbehörden<br />
in die öffentlich-rechtliche Verwahrung überführt worden sei (so insb. HOFFMANN/<br />
KNIERIM, NStZ 2000, 461, 462 ff.; ähnlich DAMRAU, NStZ 2003, 408, 410). Dieser Gesichtspunkt sei für die<br />
Festlegung des Leistungsorts hinsichtlich der Herausgabe nach Beendigung des Verwahrungsverhältnisses<br />
ohne wesentliche Bedeutung. Denn die Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Zugriffs begründe eine<br />
sachliche Rechtfertigung für das öffentlich-rechtliche Verwahrungsverhältnis, die in ihrem Gewicht<br />
dem vertraglichen Konsens bei einem privatrechtlichen Verwahrungsvertrag mindestens gleichkomme.<br />
Der ursprünglich rechtmäßige Zustand werde auch nicht dadurch nachträglich rechtswidrig, dass die<br />
Beschlagnahme endet und die Staatsanwaltschaft die Sache zur Abholung bereitstellt. Es sei deshalb<br />
gerechtfertigt, die gesetzlichen Regelungen für die Abwicklung eines beendeten Verwahrungsverhältnisses,<br />
zu denen § 697 BGB gehört, bei der Beendigung einer Beschlagnahme nach § 94 Abs. 2 StPO<br />
entsprechend heranzuziehen. Das sei auch weitgehend h.M. in der Literatur.<br />
Der BGH (a.a.O.) sieht – insb. im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. Nr. 73a S. 1 RiStBV) –<br />
nicht die Notwendigkeit einer Einschränkung in den Fällen, in denen Sachen eines nicht beschuldigten<br />
Dritten beschlagnahmt wurden. Die Regelung des § 697 BGB sei vielmehr auch dann entsprechend<br />
anzuwenden, wenn – wie im entschiedenen Fall – im Gewahrsam eines nicht beschuldigten (unbeteiligten)<br />
Dritten befindliche Gegenstände rechtmäßig beschlagnahmt wurden, wobei der Betroffene ggf. in entsprechender<br />
Anwendung von § 23 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 JVEG für Fahrtkosten und sonstige notwendige<br />
Aufwendungen, die ihm im Zusammenhang mit der Abholung der Gegenstände entstehen, zu entschädigen<br />
sei. Schließlich ergibt sich für den BGH etwas anderes auch nicht aus verfassungsrechtlichen<br />
Erwägungen.<br />
Hinweis:<br />
Zunächst: Mit dieser Entscheidung des BGH dürfte jetzt endgültig geklärt sein, dass im Strafverfahren<br />
beschlagnahmte Gegenstände, die einem Dritten gehören, von diesem nach Beendigung der Beschlagnahme<br />
zurückgeholt werden müssen. Er hat keinen Anspruch darauf, dass sie ihm von den beschlagnahmenden<br />
Ermittlungsbehörden zurückgebracht werden (vgl. zu allem auch BURHOFF, EV, Rn 840 ff.<br />
m.w.N.).<br />
Aber: Der Dritte ist für seine „Aufwendungen“ im Zusammenhang mit der Abholung gem. § 23 Abs. 2<br />
S. 1 Nr. 1 JVEG wie ein Zeuge zu entschädigen. Danach kommt v.a. der Ersatz von Fahrtkosten und<br />
sonstigen notwendigen Aufwendungen in Betracht (§ 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 3 i.V.m. §§ 5, 7 JVEG).<br />
Die Entschädigungspflicht nach § 23 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 JVEG erfasst zwar unmittelbar nur die freiwillige<br />
Herausgabe von Gegenständen (§ 95 Abs. 1 StPO). Der BGH (a.a.O.) wendet die Entschädigungsregelung<br />
jedoch entsprechend an, wenn Nichtbeteiligte, die von Maßnahmen der Durchsuchung und Beschlagnahme<br />
betroffen werden, die Gegenstände nicht freiwillig herausgeben und es deshalb der Beschlagnahme<br />
nach § 94 Abs. 2 StPO bedarf. Denn die Sach- und Interessenlage entspricht auch in einem<br />
solchen Fall dem Normzweck des § 23 Abs. 2 JVEG. Die Aufwendungen, die zur Wiedererlangung der<br />
(ehemals) beschlagnahmten Gegenstände erforderlich waren, können im Verfahren nach § 4 Abs. 1<br />
JVEG auf direktem Weg, d.h. ohne einen Schadenersatz- oder Amtshaftungsprozess führen zu müssen,<br />
erstattet verlangt werden. Über die dabei zu beachtende Drei-Monatsfrist (§ 2 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 JVEG)<br />
und den Fristbeginn (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 JVEG) ist der Rechteinhaber gem. § 2 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 JVEG<br />
zu belehren.<br />
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