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Voin der RNA-Welt zur Welt der Proteine

Leseprobe "Astrobiologie"

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316 3 Wie entsteht Leben? – das Rätsel der Abiogenese

der RNA-Welt ist dann die heutige Proteinwelt entstanden – LUCA war einer ihrer

ersten Vertreter (s. Abschn. 2.7.3).

Als Resümee muss man aber trotzdem leider feststellen, dass die Hypothese der

RNA-Welt immer noch auf ziemlich tönernen Füßen steht, aber ohne Frage das

Potenzial besitzt, sich in eine chemisch und biologisch plausible Theorie der Abiogenese

zu entwickeln. Sie ist das Beste, was wir gegenwärtig in dieser Beziehung

haben.

3.6.5 Von der RNA-Welt zur Welt der Proteine

Man kann davon ausgehen, dass LUCA bereits ein Organismus war, der vollständig

in der Proteinwelt angekommen ist und einen voll funktionsfähigen Biosyntheseapparat

für in DNA codierte Enzyme besessen hat. Nun ist der Biosyntheseapparat

selbst der primitivsten Mikroorganismen eine Kollektion höchst komplexer und

aufeinander abgestimmter Nanomaschinen mit einer bemerkenswerten Arbeitsteilung,

sodass man sich unweigerlich fragen muss, wie sie sich aus den vergleichsweise

einfachen Replikatoren der RNA-Welt entwickelt haben. Wesentliche grundlegende

Entwicklungen sind dabei

• die Entstehung des genetischen Codes,

• die Etablierung der stabileren DNA als Speicher der genetischen Information

und der molekularen Mechanismen, welche die Übertragung dieser Information

abschnittsweise (Gene) auf mRNA ermöglichen (Transkription),

• die Etablierung der Mechanismen, welche in der Lage sind, die auf mRNA-Moleküle

übertragene genetische Information (Spezifität) in die Primärstruktur der

Aminosäuresequenz eines Proteins umzusetzen (Translation),

• die Entstehung des grundlegenden Replikationsmechanismus der DNA, der eine

Weitergabe der (nahezu) vollständigen genetischen Information an Tochterzellen/Organismen

ermöglicht und damit einen Angriffspunkt für evolutionäre Veränderungen

bietet.

Das Problem ist auch hier, dass alle genannten Punkte voneinander abhängig sind

und der gesamte Biosyntheseapparat nur im Zusammenspiel mit allen seinen Teilen

und eingebaut in das metabolische Netzwerk einer Zelle funktioniert. Das macht es

schwierig, all die einzelnen kleinen Entwicklungsschritte hin zu dieser Komplexität

nachzuvollziehen, da man sie genau genommen an keiner Stelle isoliert für sich

betrachten kann. Im Folgenden sollen deshalb auch nur einige wenige der genannten

Entwicklungen andiskutiert werden, soweit sie grundlegend für die Entstehung

einer ersten, mit allen Lebensattributen ausgestatteten Zelle sind.

3.6.5.1 Die Entstehung des genetischen Codes

Unter dem genetischen Code versteht man die „Tabelle“, nach der in Dreiergruppen

(Tripletts, Codon) in einer DNA/RNA aufeinanderfolgende Nukleinbasen an

den Ribosomen in entsprechende Aminosäuren übersetzt werden. Er stellt damit

mathias.scholz@t-online.de


3.6 Abiogenese

317

die informelle Nahtstelle zwischen Nukleinsäuren und Proteinen dar. Dieser Code

ist bis auf ganz wenige, äußert spezifische Ausnahmen in allen Lebewesen der Erde

gleich, was auf sein hohes Alter hinweist. Und er ist auch nicht gänzlich zufällig

entstanden und dann für alle Zeiten konserviert worden, wie man zuerst annahm,

denn er zeigt deutliche Anzeichen einer Optimierung. Das Schicksal eines jeden

Lebewesens hängt auf Gedeih und Verderb von der fehlerfreien Übersetzung der in

den Genen enthaltenen Information gemäß diesem Code in Proteine ab, was seine

zentrale Rolle in der Biochemie der Zelle unterstreicht. Und er muss natürlich irgendwann

einmal entstanden sein. Die Frage ist nur: Wie?

Das Wesen der genetischen Information

Ein DNA- oder RNA-Molekül mit irgendeiner Nukleotidsequenz stellt für sich genommen

zunächst einmal nur ein Polymer aus einer Vielzahl entsprechender Nukleotiden

dar. Die Anordnung der Nukleotide im Molekül macht quasi ihre Spezifität

aus. Ihr Sinn in Form einer Information erschließt sich erst nachträglich im Vorgang

ihrer Umsetzung in eine Aminosäuresequenz eines Proteins, wofür der gesamte

Biosyntheseapparat der Zelle zur Verfügung stehen muss. Ohne die Möglichkeit der

Interpretation und Umsetzung in eine konkrete Proteinstruktur durch entsprechende

molekulare Mechanismen ist die Nukleotidsequenz für sich genommen selbst ohne

jede Bedeutung und stellt damit auch keine verwertbare Information dar. Es ist deshalb

besser, anstatt von „genetischer Information“ (wenn es sich auch eingebürgert

hat) von „genetischer Spezifität“ zu sprechen, wie es bereits 1953 Henry Quastler

vorgeschlagen hat (Quastler 1953). Oder, wie es Francis Crick einmal ausdrückte:

Die in einem Gen enthaltene Information ist lediglich die Spezifizierung der

Aminosäuresequenz eines Proteins. Sie bezieht sich weder auf den Vorgang einer

Nachrichtenübermittlung, sie stellt auch keine Kommunikation dar, noch hat sie

im semantischen Sinn eine tiefere Bedeutung. Ihr Bedeutungsgehalt erschließt sich

hier erst nach einer quasi Eins-zu-eins- Umsetzung der Codonfolgen des entsprechenden

Gens in über den genetischen Code spezifizierte Aminosäurepolymere –

und das noch in Form einer Einbahnstraße („zentrales Dogma der Molekularbiologie“:

DNA→RNA→Protein→everything else). Daher der Name „Translation“

für diese Umsetzung. Diese Art von Spezifität lässt sich deshalb auch nicht mit

dem Shannon’schen Informationsbegriff adäquat beschreiben, was schon zu einigen

Missverständnissen geführt hat.

Der genetische Code

Nachdem die Bedeutung der DNA als molekularer Speicher genetischer Spezifität

erkannt wurde, versuchte man ab Mitte der 1950er-Jahre mit viel Scharfsinn und

großem experimentellem Aufwand den genetischen Code, d. h. die konkrete Zuordnung

der 64 möglichen DNA-Codons zu den bekannten 23 proteinogenen bzw.

20 kanonischen Aminosäuren, zu entschlüsseln. Den endgültigen Durchbruch gab

es im Jahre 1961, als es Heinrich Matthei zusammen mit Marshall Nirenberg (Nobelpreis

1968) gelang, dem Nukleotidentriplett UUU die Aminosäure Phenylalanin

zuzuordnen. Die vollständige Entschlüsselung des genetischen Codes zog sich dann

noch weitere fünf Jahre hin und wurde 1966 abgeschlossen (s. Tab. 3.22).

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318 3 Wie entsteht Leben? – das Rätsel der Abiogenese

Tab. 3.22 Genetischer Code (mRNA-Codons). Die Stoppcodons UAA, UAG und UGA terminieren

die Proteinsynthese am Ribosom. In Ausnahmefällen (z. B. bei gewissen Archaeen) werden

die Stoppcodons UGA und UAG auch zur Codierung der drei zwar proteinogenen, aber nicht

kanonischen Aminosäuren Selenocystein, Selenomethionin und Pyrrolysin verwendet. Kursiv dargestellt

sind die Aminosäuren, die sich abiotisch durch Bestrahlung einer Kohlenmonoxid-Stickstoff-Wasserdampf-Mischung

mit energiereichen Protonen herstellen lassen (und die man z. B.

auch an kohligen Chondriten oder bei diversen Ursuppenexperimenten gefunden hat)

1. Position (5‘) 2. Position U C A G 3. Position (3‘)

U Phenylalanin Serin Tyrosin Cystein U

Phenylalanin Serin Tyrosin Cystein

C

Leucin Serin STOP STOP

A

Leucin Serin STOP Tryptophan

G

C Leucin Prolin Histidin Arginin U

Leucin Prolin Histidin Arginin

C

Leucin Prolin Glutamin Arginin

A

Leucin Prolin Glutamin Arginin

G

A Isoleucin Threonin Asparagin Serin U

Isoleucin Threonin Asparagin Serin

C

Isoleucin Threonin Lysin Arginin

A

Methionin Threonin Lysin Arginin

G

G Valin Alanin Asparaginsäure Glycin U

Valin Alanin Asparaginsäure Glycin

C

Valin Alanin Glutaminsäure Glycin

A

Valin Alanin Glutaminsäure Glycin

G

Wenn man sich den genetischen Code anhand seiner Übersetzungstabelle etwas

genauer anschaut, kann man einige auf den ersten Blick nur schwer zu erklärende

Auffälligkeiten beobachten. So existieren für die meisten Aminosäuren mehrere

Codons: für Arginin, Leucin und Serin jeweils 6, für Prolin, Threonin, Alanin, Valin

und Glycin jeweils 4, für Isoleucin 3, für Lysin, Histidin, Glutamin, Glutaminsäure,

Asparagin, Asparaginsäure, Cystein, Phenylalanin und Tyrosin jeweils 2. Nur die

selten in Proteine eingebauten Aminosäuren Tryptophan und Methionin entsprechen

nur einem Codon. Drei weitere Sequenzen werden als Stoppcodons bzw. zur

Codierung der drei nichtkanonischen proteinogenen Aminosäuren verwendet. Da

offensichtlich keine bijektive Abbildung zwischen den Codons und den Aminosäuren

existiert, sagt man, dass der genetische Code entartet ist. Deshalb ist auch keine

eineindeutige Rückübersetzung der Aminosäurefolge eines Peptids oder Proteins

in eine Folge von Nukleotiden möglich. Und das hat wahrscheinlich einen guten,

entwicklungsgeschichtlich bedingten Grund. Dazu muss man wissen, dass die Fehlerfreiheit,

d. h. die Vermeidung von Mutationen (zumindest soweit das physikalisch

möglich ist), ein äußerst wichtiger Aspekt ist in Bezug auf die Stabilität der

Erbinformation über Generationen von Zellen hinweg. Insbesondere eine moderne

eukaryotische Zelle treibt einen riesigen Aufwand, um genau diese Fehlerfreiheit

mathias.scholz@t-online.de


3.6 Abiogenese

319

sicherzustellen. Es gilt z. B. Einzel- und Doppelstrangbrüche eines DNA-Moleküls

zu reparieren, Fehler in der Basenpaarung und Basenreihenfolge zu erkennen und

auszumerzen und auch Veränderungen im Ribose- (RNA) bzw. Desoxyribosegerüst

(DNA) rückgängig zu machen – um nur einige Arten von Nukleinsäureschäden zu

benennen.

Verändert sich an einer Genposition nur eine einzelne Base, dann spricht man

von einer Punktmutation. Sie hat genau in den Fällen keine Auswirkungen auf die

Aminosäuresequenz eines Proteins, wenn die Änderung zu einem Codon führt, welches

die gleiche Aminosäure codiert wie das Triplett ohne diese Basenmodifikation.

Der genetische Code ist nun genau so beschaffen, dass es gerade für die häufig

verwendeten Aminosäuren jeweils mehrere alternative Codons gibt. Wird z. B. in

einem Gen die Nukleotidfolge CUU durch eine Punktmutation in die Folge CUC

überführt, so hat das keinen Einfluss auf die Primärstruktur des exprimierten Proteins,

da beide Folgen jeweils die Aminosäure Leucin codieren. Solche Mutationen

nennt man deshalb auch „stille“ Mutationen. Selbst wenn eine einzelne Punktmutation

zu einer chemisch ähnlichen Aminosäure führt, muss das noch lange nicht

bedeuten, dass das entsprechende Protein in seiner Funktion ernsthaft eingeschränkt

wird. Schaut man sich die Übersetzungstabelle in dieser Beziehung einmal näher

an, dann erkennt man, dass alle Aminosäuren, deren zugehöriges Codon in der mittleren

Position ein U besitzt, mehr oder weniger hydrophob sind. Alle Aminosäuren,

deren mittlere Position im dazugehörenden Codon durch Adenin A besetzt ist, sind

dagegen mehr oder weniger hydrophil. Wird z. B. aufgrund einer Punktmutation

in einem Protein eine ursprünglich hydrophile Aminosäure durch eine hydrophobe

ersetzt, kann es bei der Faltung des Proteins zu Problemen kommen, die weniger

gravierend ausfallen, wenn beispielsweise eine hydrophobe Aminosäure durch eine

andere, ähnlich hydrophobe Aminosäure (z. B. Leucin UUG durch Valin GUG) ersetzt

wird. Schaut man sich unter diesen Gesichtspunkten den genetischen Code etwas

genauer an, dann wird offensichtlich, dass er in Bezug auf die Vermeidung von

Punktmutationen optimiert ist, also nicht völlig zufällig entstanden sein kann. Aber

es gibt noch weitere Auffälligkeiten. So besteht beispielsweise eine bemerkenswerte

Korrelation zwischen der Besetzung der zweiten Position eines Codons und der

Klasse der Aminoacyl-tRNA-Synthease, deren Funktion darin besteht, die tRNAs

entsprechend ihrer (Anti-) Codonsequenz mit der richtigen Aminosäure zu beladen.

Alle diese Umstände und Korrelationen beinhalten übrigens wichtige Fingerzeige

auf die Evolution dieses Codes. Trotzdem zeigen neuere Untersuchungen von

Biomathematikern, dass der genetische Code in Bezug auf die Minimierung von

Fehlern nicht ausoptimiert ist, denn es lässt sich zeigen, dass eine große Zahl alternativer,

in dieser Hinsicht durchaus robusterer Codierungen denkbar ist. Er muss

also wirklich (so wie es Francis Crick bereits 1968 vermutet hat) irgendwann – und

zwar noch in den Anfangszeiten des Lebens –„eingefroren“ worden sein (Crick

1968) und sich auf diese Weise weitgehend aus evolutionären Veränderungen ausgeklinkt

haben.

mathias.scholz@t-online.de


320 3 Wie entsteht Leben? – das Rätsel der Abiogenese

Hypothesen zur Evolution des genetischen Codes

Mit der Entschlüsselung des genetischen Codes und der detaillierten Aufklärung

der Proteinbiosynthese in den Zellen begann man sich auch zusehend Gedanken

über ihre Entstehung zu machen. Die dabei geäußerten Hypothesen und Ideen zeigen

dabei im Detail eine bemerkenswerte Diversität, was bei einem derart komplexen

Gegenstand auch gar nicht so verwunderlich ist. Es können deshalb in dieser

Hinsicht im Folgenden nur ein paar allgemeine Überlegungen und einige neuere

Entwicklungen kurz angeschnitten werden.

Die Hypothesen über den Ursprung des genetischen Codes lassen sich im Wesentlichen

in drei Gruppen einteilen:

Stereochemischer Ursprung

Dieses Modell für den Ursprung des genetischen Codes geht auf den bekannten

Physiker George Gamow (1904–1968) zurück, der strukturelle Gründe für die Zuordnung

von Aminosäuren zu den durch Nukleotide erzeugten Strukturen („rhombusförmige

Löcher“) in der DNA geltend machte. Moderner ausgedrückt, soll eine

von der Struktur der Moleküle herrührende chemische Affinität zwischen den Aminosäuren

und den sie codierenden Codons bestehen. Dies würde bedeuten, dass ihre

Codierung nicht zufällig so ist wie sie ist, sondern sich notwendigerweise aus genau

diesen strukturellen Gründen auf natürliche Weise ergeben hat. Diese Hypothese

wurde verschiedenen experimentellen und theoretischen Tests unterworfen (z. B.

für die sogenannte escaped triplet theory (Yarus et al. 2005)), ohne jedoch statistisch

signifikant die erwarteten Korrelationen bestätigen zu können.

Kontinuierliche Anpassung

Nach dieser Hypothese entwickelte sich der Code unter dem Einfluss selektiver

Kräfte durch positive Auslese hin zu einer weitgehend fehlertoleranten Form, bis

er dann bei einem bestimmten Punkt quasi eingefroren wurde. Das Selektionskriterium

lag dabei in einer Optimierung der Fehlertoleranz bezüglich von Translationsfehlern,

d. h. der Umsetzung des Codes in Aminosäuresequenzen. Zu nennen

sind hier insbesondere die Lethal mutation-Hypothese und die Translation-error

minimization-Hypothese (Alff-Steinberger 1969), die insbesondere auch von Carl

Richard Woese vertreten wurde. Im Detail ergeben sich aber auch hier schwer ausräumbare

konzeptionelle Probleme. Insbesondere wurde verschiedentlich darauf

hingewiesen, dass die scheinbare Robustheit des genetischen Codes eher ein Beiprodukt

der Evolution des Transkriptions-Translations-Apparats ist und ursächlich

wahrscheinlich nichts zu tun hat mit einer inhärenten Tendenz zur Fehlerminimierung

(Stoltzfus und Yampolsky 2007).

Koevolution mit dem chemischen Apparat der Proteinbiosynthese

Die insbesondere von Tze-Fei Wong seit den 1970er-Jahren entwickelte Theorie

einer Koevolution des genetischen Codes mit den Stoffwechselwegen der Aminosäurebiosynthese

(Tze-Fei Wong 1981) wird heute von vielen Wissenschaftlern als

in sich weitgehend schlüssig akzeptiert. Die Kernthese besteht darin, dass das Leben

zuerst mit weniger als den 20 kanonischen Aminosäuren begonnen hat. Das

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3.6 Abiogenese

321

koinzidiert mit der Beobachtung, dass sowohl in Ursuppenexperimenten als auch

in kohligen Chondriten bisher nur eine Teilmenge aller proteinogenen Aminosäuren

nachgewiesen werden konnte. In einer frühen Form des genetischen Codes haben

diese Aminosäuren nach dieser Theorie alle möglichen Codons unter sich aufgeteilt.

Dabei war wahrscheinlich zunächst einmal nur die mittlere Base des Nukleotids

relevant. Es fällt nämlich auf, dass alle Codons der Form XUX (X = U, C, A, G)

Aminosäuren mit hydrophoben Seitenketten codieren (also konkret Phenylalanin,

Leucin, Isoleucin Methionin und Valin), Codons der Form XAX dagegen solche

mit hydrophilen Seitenketten (Tyrosin, Histidin, Glutamin, Asparagin, Lysin, Asparaginsäure

und Glutaminsäure). Möglich ist, dass es in einer primitiven Form

eines Urtranslationsmechanismus nur darauf ankam, entweder eine hydrophile oder

eine hydrophobe Aminosäure in ein Proteinpolymer einzubauen, und der Mechanismus

quasi blind für eine konkrete Aminosäure war. Als sich die Synthesewege

für neue Aminosäuren aufgetan hatten, mussten deshalb bereits belegte Codons auf

diese neuen Aminosäuren quasi umgewidmet werden, und damit wurden auch die

anderen Triplettpositionen signifikant. Dieser Umwidmungsvorgang ist chemisch

hochkomplex, denn er betrifft ja in erster Linie die Entstehung einer neuen tRNA

mit passendem Anticodon und einer passenden Aminoacyl-tRNA-Synthease, die

das Beladen der tRNA mit der entsprechenden Aminosäure bewerkstelligen muss.

Und dass solch ein Vorgang möglich ist und auch wirklich stattfindet, wenn z. B. ein

Bakterienstamm einem außergewöhnlichen Selektionsdruck ausgesetzt wird, zeigt

mittlerweile eine Vielzahl entsprechender Experimente. So konnte bereits Ende der

1950er-Jahre nachgewiesen werden, dass ein bestimmter Stamm des Darmbakteriums

Escherichia coli in der Lage war, statt der kanonischen Aminosäure Methionin

die strukturell ähnliche Aminosäure Selenomethionin in die eigenen Proteine

einzubauen – was einer Uminterpretation des Codons AUG bei der Translation

entspricht (Cohen und Cowie 1957). Die diesem speziellen Stamm angehörigen

Kolibakterien waren nämlich von sich aus nicht in der Lage, Methionin selbst zu

synthetisieren (Auxotrophie). Sie konnten sie aber aus ihrer Umgebung importieren.

Als man in Experimenten das Methionin aus der Nährflüssigkeit durch Selenomethionin

ersetzte, konnte es erfolgreich auf diese nichtkanonische Aminosäure

ausweichen. Mittlerweile wurden von Mikrobiologen sogar Wege gefunden, den

genetischen Code in Teilen umzuprogrammieren, d. h. durch Codes für „künstliche“

Aminosäuren zu erweitern. Damit konnte man Zellen zwingen, völlig neuartige

Proteine, wie sie nirgends sonst in der Natur vorkommen, herzustellen. So entstand

durch den gezielten Einbau einer als Elektronendonator dienenden Aminogruppe in

das bekannte Green Fluorescent Protein (GFP, ein „Gold-fluoreszierendes Protein“,

zuerst extrahiert aus der Qualle Aequorea victoria), ein lang erhofftes Hilfsmittel

für dynamische biophysikalische Untersuchungen von lebenden Zellen mit z. B.

4 Pi-Mikroskopen (Hyun Bae et al. 2003).

Ausgangspunkt einer Koevolution zwischen Translationsapparat und genetischem

Code dürften demnach primär Modifikationen an einem tRNA-Molekül gewesen

sein. Sie könnten dazu geführt haben, dass auf einmal auch die Beladung

einer anderen, aber ähnlichen Aminosäure ermöglicht wurde, als diejenige, für die

es eigentlich spezifiziert ist. Oder anders ausgedrückt: Die Codierung wurde zumathias.scholz@t-online.de


322 3 Wie entsteht Leben? – das Rätsel der Abiogenese

nächst einmal mehrdeutig, da die betreffende tRNA quasi eine fremde Triplettsequenz

dekodiert. Es gibt nun zwei Varianten der tRNA, die sich in einem gewissen

Konkurrenzverhältnis befinden. Entweder eine davon wird wieder wegselektiert,

oder beide können sich mit jeweils unterschiedlichen Anticodons etablieren. Zwar

führt eine derartige Mutation einer tRNA zunächst einmal zu einem fehlerhaft aufgebauten

Protein. Aber die Erfahrung zeigt, dass derartige Einbaufehler oft folgenlos

bleiben (d. h., sie sind funktionell neutral) und in einzelnen Fällen sogar zu einer

Verbesserung der enzymatischen Wirkung des entsprechenden Proteins beitragen.

In einem solchen Fall zeigt sich dann ein Nutzen für diese Modifikation, und die

Chancen stehen gut, dass sie in der Generationenfolge bewahrt wird.

Was Forscher im Labor fertigbrachten, dürfte auch der Natur gelungen sein.

Entsprechend der Koevolutionstheorie sollte sich, grob gesagt, die Entwicklung

zum modernen genetischen Code in drei unterscheidbaren Phasen in Bezug auf

die Aufnahme bestimmter Aminosäuren abgespielt haben. Zunächst standen nur

die wenigen Aminosäuren (5 bis 8) zur Verfügung, die entweder vor Ort abiotisch

synthetisiert oder von Kometen und Meteoriten stammten. Experimentell konnte

gezeigt werden, dass sich alle zur ersten Phase gehörenden proteinogenen Aminosäuren

zumindest durch Bestrahlung eines schwach reduzierenden CO–N 2

–H 2

O-

Gasgemischs mit hochenergetischen Protonen herstellen lassen (kursiv hervorgehoben

in Tab. 3.22). In einer zweiten Phase, die schon ein hochentwickeltes metabolisches

Netzwerk voraussetzte, erfolgte die Produktion weiterer Aminosäuren bereits

vermittels Biosynthese. Diese Phase-2-Aminosäuren lassen sich unter abiotischen

Bedingungen, wie man sie auf der frühen Erde vermutet, nicht synthetisieren. Zu

Beginn dieser Phase waren jedoch bereits alle 4 3 möglichen Nukleotid-Triplett-

Codes auf die abiotisch verfügbaren Aminosäuren aufgeteilt – und zwar im Zuge

der Entwicklung eines ersten einfachen Translationsmechanismus und unter der

Wirkung stereochemischer Wechselwirkungen zwischen den Aminosäuren und

ihren Codons/Anticodons. Als sich dann metabolische Wege zur Synthese neuer

Aminosäuren in einer Urzelle etablierten, mussten zu ihrer Codierung in der RNA/

DNA geeignete vorhandene Codons quasi uminterpretiert werden, d. h., am Ribosom

musste ihre Sequenz zum Einbau der neuen (Phase-2-) anstatt der alten (Phase-1-)

Aminosäure in das entsprechende Protein führen. Die Logik, nach der diese

Uminterpretation eine Erweiterung des ursprünglich vorhandenen Codes im Zuge

einer Verringerung seiner Entartung bedeutete, konnte von Tze Fei Wong und Mitarbeitern

recht schlüssig aufgeklärt werden. Als Phase-3-Aminosäuren bezeichnet

man schließlich Aminosäuren, die erst nach der Translation in Proteine gelangen

( pretranslational modifications) und für die es keine Entsprechungen im genetischen

Code gibt bzw. – in ferner Vergangenheit, als sie noch nicht codiert waren

– einmal gegeben hat.

Auf jeden Fall ist sicher, dass der genetische Code (nicht die Details des Translationsmechanismus)

irgendwann eingefroren wurde – und zwar, bevor sich LUCA

etablierte und noch um einiges entfernt von einem wirklich optimalen Code. Der

Grund dafür könnte eine einfache Nutzen/Kosten-Abwägung (natürlich in Bezug

auf evolutionäre Veränderungen) gewesen sein. Denn eines ist Fakt: Der genetische

Code ist für alle drei Domänen des Lebens auf der Erde im Wesentlichen gleich

mathias.scholz@t-online.de


3.6 Abiogenese

323

(Wenige diverse Ausnahmen, die oftmals nur Mitochondrien-DNA betreffen, spielen

in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle. Sie beweisen aber,

dass der Code eine Evolution durchgemacht hat.). Er muss also zur Zeit der Entstehung

von LUCA zusammen mit dem zugehörigen Satz von tRNAs und tRNA-

Syntheasen bereits vorhanden gewesen sein. 19

Die Entwicklung der informationsgesteuerten Proteinbiosynthese war ohne

Zweifel eine Schlüsselentwicklung im Rahmen der RNA-Welt, denn Proteine können

ihre enzymatischen Funktionen aufgrund ihrer viel größeren möglichen Formenvielfalt

in katalytischen Netzwerken viel besser wahrnehmen als Ribozyme.

Wenn man auch noch nicht genau sagen kann, wie diese Entwicklung im Detail

vonstattengegangen ist, so zeichnet sich doch ab, dass dabei durchaus alles mit natürlichen

Dingen zugegangen ist (Kreationisten behaupten bekanntlich das Gegenteil).

Notwendige Teilschritte, die sich experimentell überprüfen lassen, und die

entsprechende Interpretation der im modernen Proteinbiosyntheseapparat enthaltenen

urtümlichen Elemente erlauben zumindest ein grobes Bild der Entwicklungen

nachzuzeichnen, welches den Anspruch einer naturwissenschaftlichen Rekonstruktion

durchaus genügt. Und mehr kann man fast nicht von einer modernen Theorie

der Abiogenese verlangen.

3.6.5.2 Etablierung der DNA als universeller molekularer Speicher

genetischer Informationen

Mit RNA-Molekülen als Träger genetischer Information hätte das Leben mit hoher

Wahrscheinlichkeit auf einem äußerst niedrigen Entwicklungsstand verharrt. Der

Grund liegt an der chemischen Struktur ihres Zuckergerüsts, genauer an der Präsenz

einer zusätzlichen Hydroxylgruppe an der 2‘-Position der Ribose. Im RNA-Polymer

ist sie die einzige funktionelle Gruppe der Pentose, die keine Bindungsfunktion

erfüllt. Aber sie erhöht entscheidend die Tendenz zur Hydrolyse der Bindung zwischen

dem Zucker und dem Phosphatrest und damit die Gefahr von Strangbrüchen

(neben weiteren Unannehmlichkeiten wie z. B. dem Hang zur Bildung von Wasserstoffbrücken).

Oder kurz gesagt: RNA ist als Polymer äußerst instabil und zum Aufbau

langer Ketten von z. B. mehr als einigen 10.000 Nukleotiden ungeeignet (die

Größe des RNA-Genoms von Retroviren liegt beispielsweise bei 8000 bis 12.000

Basenpaaren). Dafür kann sie im Gegensatz zur DNA eine gewisse Sekundärstruktur

ausbilden (Enzymfunktion) und auch als Einzelstrang existieren. Dadurch, dass

in der DNA das Zuckergerüst aus einer Desoxyribose besteht, die an der 2′-Position

der Pentose lediglich ein Wasserstoffatom gebunden hat (das ist auch schon der

einzige strukturelle Unterschied), entfallen alle Nachteile der RNA. Das DNA-Molekül

kann dafür nur in Form eines Doppelstrangs vorkommen, keine enzymatische

Wirkung entfalten und besitzt zudem eine Stabilität, die Michael Crichton (1942–

2008) letztendlich zu seinem vielbeachteten Roman Jurassic Park inspiriert hat.

Außerdem ist in ihr die Pyrimidinbase Uracil durch ihre methylierte Version, das

19

Eine Ausnahme stellen die tRNA-Syntheasen für die Aminosäuren Glutamin und Asparigin dar,

die, da sie heute bei den Archaeen fehlen, wahrscheinlich auch bei LUCA noch nicht vorhanden

waren.

mathias.scholz@t-online.de


324 3 Wie entsteht Leben? – das Rätsel der Abiogenese

Thymin (T), ersetzt. Dies ermöglicht eine bessere Fehlererkennung und effektivere

Reparaturmechanismen, als sie bei einem RNA-Strang möglich wären.

Wann genau und unter welchen Umständen die anfänglich in Form von RNA gespeicherte

genetische Information in DNA umgeschrieben wurde, ist nicht bekannt.

Aber als DNA zur Verfügung stand, entwickelte sich um dieses Riesenmolekül ein

umfangreicher „Fuhrpark“ an enzymatischen Nanomaschinen, die u. a. für Fehlerkorrekturen,

für das Aufdröseln von DNA-Abschnitten zwecks Transkription und

schließlich zu ihrer Replikation dienten. Das ontologische Problem, welches sich

hier auftut, besteht darin, dass man es offensichtlich mit einer äußerst komplexen

Art von zyklischer Kausalität zu tun hat, die man auf die einfach zu stellende Frage

„Was war zuerst da, das DNA-Molekül oder die Proteine, die für seine Funktionalität

notwendig sind?“ zurückführen kann. Da es biochemische Argumente für

beide Möglichkeiten gibt, ist diese Frage als noch nicht entschieden zu betrachten.

Auf jeden Fall muss es ab einem gewissen Punkt zu einer schnellen und hocheffizienten

Parallelentwicklung gekommen sein, die den gesamten Replikations-,

Transkriptions- und Translationsapparat umfasst hat und dazu diente, die metabolischen

Netzwerke der Zelle mit immer besser arbeitenden Enzymen auf Proteinbasis

auszustatten. LUCA jedenfalls war nach Meinung der meisten Biologen bereits ein

DNA-Wesen. Es war in der Lage, die für die Aufrechterhaltung der Homöostase

notwendigen Stoffwechselwege (Glykolyse, Substratkettenphosphorylierung) zu

realisieren, indem es die dafür notwendigen Enzyme codiert synthetisieren konnte.

Das setzt natürlich einen vollständigen und exakt funktionierenden Proteinbiosyntheseapparat

voraus. So gesehen war das erste greifbare Lebewesen auf der Erde

alles andere als primitiv (zumindest in Bezug auf die unbelebte Welt).

3.6.6 Astrobiologische Implikationen

Geht man von der Richtigkeit des Paradigmas aus, dass das Leben auf der frühen

Erde entstanden ist, dann lassen sich daraus – ebenso wie aus der Kürze der hierfür

benötigten Zeit (Größenordnung 10 8 Jahre) – einige Implikationen in Bezug auf die

Entstehung von „Leben, wie wir es kennen“ im Kosmos ableiten. Zu bedenken ist

dabei, dass sich die Erde vor ca. 4 Ga in Bezug auf ihre Oberfläche und Atmosphäre

völlig von ihrem heutigen Zustand (der außergewöhnlich stark durch die Wirkungen

der Biosphäre beeinflusst ist) unterschieden hat. Selbst eine Rekonstruktion

dieses frühen Zustands des Planeten ist nicht einfach, da viele Zeugnisse aus jener

Zeit verloren gegangen sind, was dem geologisch aktiven Charakter des Planeten

(Stichwort: Plattentektonik) geschuldet ist. So herrscht trotz enormer Forschungsanstrengungen

beispielsweise unter den Astrobiologen immer noch kein Konsens

darüber, wo und unter welchen konkreten Umweltbedingungen auf der frühen Erde

die Abiogenese stattgefunden hat. Gegenwärtig werden aus vielerlei Gründen hydrothermale

Quellen am Grund der Ozeane als wahrscheinlichste Orte für die Entstehung

des Lebens aus unbelebter Materie angesehen. Die Wahrscheinlichkeit ist

hoch, dass man dabei richtig liegt – aber ein Beweis ist das natürlich noch nicht.

Realistisch betrachtet besteht ohnehin nur wenig Hoffnung, dass es irgendwann

mathias.scholz@t-online.de


3.6 Abiogenese

325

einmal gelingt, eine physikalisch-chemisch schlüssige Theorie der Abiogenese auf

der Erde zu entwickeln. Sie würde wahrscheinlich in ihrer Gänze am Problem der

Nachprüfbarkeit scheitern. Was der experimentellen Forschung aber zugänglich ist,

sind wesentliche Teilprobleme einer solchen Theorie wie z. B. die Aufklärung von

Reaktionsfolgen, die zu den monomeren Grundbausteinen des Lebens führen. Das

sind in erster Linie Aminosäuren, bestimmte Saccharide, die für die RNA-Welt wesentlichen

Purine und Pyrimidine, Lipide für den Aufbau von Zellmembranen und

die Verknüpfung all der Reaktionswege dieser Stoffe zu komplexen chemischen

Netzwerken, die der Emergenz fähig sind. Diese Forschungen würden ein Gefühl

dafür vermitteln, ob „Leben, wie wir es kennen“ eher ein Ausnahmephänomen im

Kosmos ist oder quasi zwangsläufig entstehen muss, sobald die Rahmenbedingungen

dafür gegeben sind. Aber was sind nun genau diese Rahmenbedingungen? Man

kann sie in globale Rahmenbedingungen einteilen, die gewöhnlich mit dem Begriff

der „Habitabilität“ assoziiert werden (s. Abschn. 4.1). Die lokalen Rahmenbedingungen

sind dagegen schon weniger greifbar, da sie sich auf konkrete Umweltbedingungen

am Ort der Abiogenese auf einem Planeten beziehen – und diese sind

auch für den Fall der Erde nur ungenügend bekannt. Auf jeden Fall müssen sie im

Vergleich zu heute sehr extrem gewesen sein (man denke nur an das Zeitalter des

Großen Bombardements).

Wenn man bedenkt, dass zwischen der Ausbildung erster auf Autotrophie beruhender

autokatalytischer Netzwerke und LUCA nur wenige 100 Mio. Jahre liegen

– und das bei einem atemberaubenden Komplexitätsunterschied (!) 20 , dann gelangt

man schnell zu der Schlussfolgerung, dass die Entstehung des Lebens kein rein zufälliger,

sondern ein in irgendeiner Form determinierter Prozess gewesen sein muss,

der unter geeigneten Bedingungen quasi immer wieder stattfinden kann. Erkennt

man diese These an, dann bedeutet dies im Licht der modernen Exoplanetenforschung,

dass zumindest mikrobielles Leben weit im Kosmos verbreitet sein sollte.

Es macht also durchaus Sinn, in Zukunft (d. h., wenn dafür die instrumentellen

Voraussetzungen geschaffen sind) auf geeigneten Exoplaneten nach sogenannten

„Biomarkern“ zu suchen. Diese Aussage lässt sich aber nicht auf hochentwickeltes

Leben ausdehnen, welches man auf der Erde als „Metabionta“ bezeichnet und zu

denen bekanntlich auch der Mensch gehört. Es herrscht allgemein der Glaube vor,

dass die Entwicklung des Lebens zu immer komplexeren Formen ein unabwendbarer

Vorgang ist, wenn dafür nur genügend viel Zeit und ausreichend viele Ressourcen

unter geeigneten Umweltbedingungen zur Verfügung stehen. Aber hier kann

man durchaus skeptisch sein, wenn man sich die Entwicklung des Lebens auf der

Erde in den letzten 3,5 Ga vor Augen führt (Scholz 2014). Denn es ergeben sich in

dieser Beziehung einige unerfreuliche Wahrheiten:

Leben hat die Tendenz, klein und primitiv zu bleiben

Die wahren Beherrscher des Planeten Erde gehören den Domänen Archaea und

Bacteria an, und zwar sowohl was die Individuenzahl, die inkorporierte Biomasse

(ca. 10 3 Gt Kohlenstoff) und die Robustheit in Bezug auf die Umwelt (Stichwort

20

Es sei an das Eingangszitat zu Kap. 3 von Lynn Margulis erinnert!

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326 3 Wie entsteht Leben? – das Rätsel der Abiogenese

Extremophile, s. Abschn. 2.9.1) betrifft. Das ist seit der Entstehung des Lebens so,

das ist heute so und wird auch die nächsten 1–2 Mrd. Jahre noch so bleiben, bis

die immer leuchtkräftiger werdende Sonne unabwendbar dem Leben auf diesem

Planeten ein schleichendes Ende bereiten wird (Li et al. 2009). Prokaryoten (Archaeen,

Bakterien) besitzen dabei auch heute noch einen Komplexitätsgrad, wie

er auch schon vor mehr als 3 Ga vorhanden war. Nur die bedeutend komplexeren

Eukaryonten (sie sind fossil seit ca. 2,1 Ga bekannt) besaßen das Potenzial, sich zu

arbeitsteilig differenzierten Metabiontazu entwickeln. So weiß man durch genetische

Untersuchungen, dass sich alle heute existierenden Tierstämme aus einer Urform

der Rippenquallen ( Ctenophora) entwickelt haben, die vielleicht am Ende des

Ediacariums bzw. (sicher) im frühen Kambrium lebten (Ryan et al. 2013).

In diesem Zusammenhang ist vielleicht noch folgendes Faktum von Interesse:

Der „Superorganismus“ Mensch besteht größenordnungsmäßig aus ca. 10 Billionen

Körperzellen und ~ 100 Billionen Mikroorganismen in vielleicht 1000–1500 (oder

auch mehr) verschiedenen Arten, die immerhin zusammen ~ 10 % seiner Körpermasse

ausmachen. Sie sind zum allergrößten Teil lebensnotwendig (man denke nur

an die Darmbakterien), und ohne sie wäre der Mensch nicht lebensfähig. Und das

gilt nicht nur für ihn, sondern für alle höheren Lebewesen auf diesem Planeten. Es

ist durchaus richtig: Die erfolgreichsten Lebewesen auf der Erde sind ohne Zweifel

die Mikroben!

Der Entwicklungsweg von einer (primitiven) prokaryotischen Zelle zu einer

komplexen eukaryotischen Zelle eines ersten Metabionta hat sehr lange gedauert

Die eukaryotische Zelle, also eine Zelle, bei der die DNA im Zellkern verpackt ist

und die sich durch eine extrem komplexe innere Organisation mit einer Vielzahl

von hochspezifischen Zellorganellen auszeichnet, erschien vor ca. 2,4 Ga–2,2 Ga

auf der Bühne des Lebens. Erstaunlicherweise haben sich aus jener fernen Zeit des

Paläoproterozoikums Fossilien erhalten ( Gabonionta), bei denen es sich nach Meinung

ihrer Entdecker um die frühesten Formen mehrzelligen Lebens handelt (El

Albani et al. 2010). Da sich nach dem gültigen Paradigma bei Mehrzellern immer

um Komplexe (in diesem Fall zusammenhängende Kolonien?) aus voneinander abhängigen

eukaryotischen Zellen handelt, muss man ihre Entstehung aufgrund dieser

Funde um ca. 0,5 Ga zurückdatieren (Bis vor Kurzem war man noch der Meinung,

dass es Eukaryonten erst seit ca. 1,8 Ga auf der Erde gibt.). Zu diesem Zeitpunkt

hatte das Leben bereits fast die Hälfte seiner Geschichte hinter sich. Die ersten

großen und fossil überlieferten Mehrzeller mit einer gewissen nachweisbaren Diversität

gehören der Ediacarafauna an, die vor ca. 600 Ma den Grund der Weltmeere

besiedelte. Ihre Entwicklung (die noch weitgehend unerforscht ist) mündete in eine

knapp 100 Mio. Jahre andauernde Diversifikationsphase, bei der eine Vielzahl neuer

und z. T. grotesk aussehender Tierarten entstanden ist, von denen viele jedoch

schnell wieder ausstarben. Quintessenz dieser Entwicklungen ist jedoch, dass das

Leben einen großen zeitlichen Vorlauf benötigte, bis erste makroskopische und zellulär

ausdifferenzierte Lebewesen überhaupt möglich wurden. Ist ein solches Szenario

in zeitlicher Hinsicht repräsentativ, dann sollte man auf lebensfreundlichen

mathias.scholz@t-online.de


3.6 Abiogenese

327

Exoplaneten um relativ junge Sterne von der Art unserer Sonne (t < 3,5 Ga) nur mit

mikrobiellem Leben rechnen können.

Metabionta erreichen schnell eine hohe Diversität und Komplexität. Grundlegende

biologische Baupläne (z. B. Tiere mit Innenskelett, Schalentiere, Arthropoden

etc.) werden nach ihrer Entstehung nur noch modifiziert, aber nicht

neu erfunden

Zu erwähnen ist, dass zu Beginn des Kambriums innerhalb von einigen 10 Mio.

Jahren die Natur eine sehr große Zahl von verschiedenen Bauplänen erfunden hat,

die sich taxonomisch in Tierstämme ( Phylum) einteilen lassen. Aus nicht mehr

nachvollziehbaren Gründen waren am Ende dieser sogenannten „kambrischen Explosion“

(die genaugenommen eine adaptive Radiation war) vor ca. 540 Mio. Jahren

die meisten dieser biologischen Baupläne wieder verschwunden, und es sind

seitdem (bis auf wenige Ausnahmen) keine neuen hinzugekommen. Wären damals

zufällig die Chordata (z. B. die Pikaia aus dem Burgess-Schiefer) ausgestorben,

dann gäbe es heute weder Hering, Spatz noch Mensch… Oder anders ausgedrückt,

Mehrzelligkeit garantiert noch lange nicht die Entwicklung von mit Menschen (anatomisch

mehr oder weniger) vergleichbaren Lebewesen.

Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist eine Geschichte von glücklich überstandenen

Katastrophen

Wenn man bedenkt, was in den rund 4 Mrd. Jahren von der Entstehung des Lebens

bis zum Erscheinen des Menschen hätte alles passieren können, was für das Leben

auf der Erde absolut tödlich gewesen wäre, dann kann man die Schlussfolgerung

wagen, dass höheres, d. h. mehrzelliges Leben im Kosmos eher selten bis sehr selten

anzutreffen ist. Und es hat in der Geschichte des Lebens auf der Erde eine ganze

Anzahl von einschneidenden Ereignissen (Katastrophen) gegeben (mindestens 10

große, wenn man die gegenwärtig stattfindende mitzählt), die zu einem sogenannten

„Faunen- oder auch Florenschnitt“, also einem Massenaussterben (Extinktion)

von Tier- und Pflanzenarten, geführt haben. Dieser paläontologisch gut gesicherte

Tatbestand hat Peter Ward veranlasst, seine Medea-Hypothese zu formulieren

(gewissermaßen als Gegenpart zur lebensfreundlichen Gaia-Hypothese von James

Lovelock), nach der das multizellulare Leben (verstanden in ihrer Gesamtheit als

Superorganismus) quasi zum Suizid neigt (Ward 2009).

Es ist aber nicht abzustreiten, dass derartige Katastrophen für die Entwicklung

des Lebens auch ungeahnte Chancen bieten, da auf diese Weise ehemals besetzte

ökologische Nischen wieder frei werden. Das fast vollständige Aussterben der großen

landlebenden Reptilien vor 65 Mio. Jahren war z. B. die Voraussetzung dafür,

dass die Säugetiere, die zur Zeit der Dinosaurier winzig klein waren und unter ihnen

nur ein Schattendasein fristeten, auf einmal erfolgreich die Erde erobern konnten.

Intelligenz im Sinne von Ich-Bewusstsein und zivilisationsstiftender Kraft ist

keine evolutionsbiologische Notwendigkeit

In den vielen Milliarden Jahren, seitdem es Leben auf der Erde gibt, steht das schwer

zu definierende Phänomen der Intelligenz als Ausdruck besonderer kognitiver Fämathias.scholz@t-online.de


328 3 Wie entsteht Leben? – das Rätsel der Abiogenese

higkeiten ganz am Ende der Entwicklung. Solche Fähigkeiten stellen zwar ohne

Zweifel immer einen Selektionsvorteil dar, aber sie sind erst bei höheren Primaten

zusammen mit dem Ich-Bewusstsein zu einer Synthese gelangt, die eine kulturelle,

zivilisatorische Entwicklung überhaupt erst ermöglichten. Die Einzigartigkeit des

Homo sapiens liegt in dieser Hinsicht in seiner Fähigkeit, kulturelle Informationen

weiterzugeben und zu einem zentralen Aspekt seines Lebens zu machen. Möglich

wurde dies durch die Entstehung zunächst sprachlicher, dann schriftlicher Kommunikation

(Mayr 2001). Ohne diese sehr speziellen Fähigkeiten sind kulturelle

(Kunst und Literatur) und technologische Entwicklungen (Mathematik und Naturwissenschaften)

nicht möglich.

Denken und Intelligenz sind übrigens kein alleiniges Privileg des Menschen.

Wenn man sich etwas umschaut, erkennt man schnell, dass sie unter warmblütigen

Tieren (Vögel und Säugetiere) durchaus verbreitet sind (Reichholf 2011).

Aber ohne sprachliche Komponente und spezielle motorische Fähigkeiten, die den

Menschen auszeichnen und mit deren Hilfe er seine Umwelt aktiv und bewusst

verändern kann, bleibt ihnen eine zivilisatorische Entwicklung versagt. Vorsichtig

ausgedrückt, lehrt allein schon das Beispiel Erde, dass außerirdische Zivilisationen

extrem selten sein dürften und ihre Zahl in unserer Milchstraße außer von Evolutionsbiologen

fast immer maßlos überschätzt wird.

mathias.scholz@t-online.de

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