WIR BERLINER – Kundenzeitschrift der GASAG
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10 Streifzug<br />
Der Probeabend <strong>der</strong> „Grölenden Girls“ beginnt<br />
mit einer verwirrenden Choreografie, die entsteht,<br />
wenn knapp 20 Frauen mit Gläsern in <strong>der</strong><br />
Hand sich umarmen wollen, ohne auch nur eine<br />
zu vergessen. So addieren sich die kollektiven<br />
Begrüßungen zur beachtlichen Lautkulisse. Die<br />
„Girls“ sind Mitte 30 bis Ende 40, tragen weiße<br />
T-Shirts und darüber ihre bestickte schwarze<br />
Bomberjacke: „Singing since 2018“.<br />
„Das ist unsere Kutte“, erläutert Julia Teuber<br />
lachend. Sie hat den Hobbychor mitbegründet.<br />
Wie das vonstattenging, ist eine weitere schöne Erzählung<br />
darüber, wie sich Großstädter ihre eigenen<br />
sozialen Nischen erschaffen. Doch bevor Julia<br />
dazu kommt, for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Chorleiter Jonny Wise,<br />
ein britischer Musiker, höchste Konzentration ein:<br />
„Guys, no talking!“ Erst müssen sich die Sängerinnen<br />
lockern: Kinnlade hängen lassen, Zunge raus,<br />
wie eine Krippe voller Kleinkin<strong>der</strong> laut „Wä-wäwä“<br />
gelallt. Aber bald schon geht es los, und die<br />
Damen schmettern voller Inbrunst eine Pop-Perle<br />
nach <strong>der</strong> nächsten, einstimmig, mehrstimmig, aber<br />
immer mit viel Druck und großer Freude. Jetzt gerade<br />
„Toxic“ von Britney Spears.<br />
Gesang in <strong>der</strong> Gemeinschaft: Das war für<br />
lange Zeit eine Domäne des dörflichen Männergesangsvereins<br />
„Harmonia“, des Kirchengemeinkleinen<br />
Siedlung mit Treffpunkt in <strong>der</strong> Mitte:<br />
Kin<strong>der</strong> können hier gemeinsam spielen, Eltern<br />
Kaffee trinken, alle zusammen zu Abend essen.<br />
Jung trifft auf alt, Single auf Familie. Wem nicht<br />
nach Gemeinschaft ist, kann aber auch in <strong>der</strong> eigenen<br />
Küche speisen <strong>–</strong> jede einzelne Wohnung<br />
ist voll ausgestattet.<br />
Geför<strong>der</strong>t wird das Leuchtturmprojekt<br />
über För<strong>der</strong>mittel des Senats aus dem „Son<strong>der</strong>vermögen<br />
Infrastruktur <strong>der</strong> wachsenden Stadt“<br />
(SIWA), erzählt David: „Damit soll experimentelles<br />
Wohnen unterstützt werden.“ Die Frage<br />
war: Wie kann man, bei sorgsamer Nutzung<br />
<strong>der</strong> Fläche, gemeinsames und partizipatives<br />
Wohnen ermöglichen? Als Antwort wurde eine<br />
Mischform aus Wohngemeinschaft und klassischem<br />
Wohnen entwickelt. Während sich die<br />
sprichwörtliche „gute Nachbarschaft“ im klassischen<br />
Wohnsilo mit gestapelten gleichen Wohnungen<br />
eher zufällig entwickelt (und oft genug<br />
gar nicht), ist hier alles von vornherein darauf<br />
ausgelegt: „Natürlich mussten die Menschen, die<br />
später zusammen leben sollen, über einen längeren<br />
Zeitraum zusammengeführt werden. Sie<br />
David Robotham muss nur schnell die WhatsApp-Gruppe aktivieren,<br />
dann kommen die Nachbarn zum Spieleabend vorbei.<br />
Das beeindruckende Holzhaus (o.)<br />
ist preisgekrönt, <strong>der</strong> Blick von <strong>der</strong><br />
Dachterrasse auf die Ringbahn<br />
äußerst urban.<br />
haben sich schon im Rohbau getroffen, Erwartungen<br />
und Interessen abgeglichen.“ Die Clustergruppen<br />
konnten so auch bei <strong>der</strong> Aufteilung<br />
von Wohn- und Gemeinschaftsflächen mitreden.<br />
Herausgekommen sei „eine komplett bunte Mischung<br />
von Leuten“, sagt David, samt einer Demenz-WG<br />
im Erdgeschoss: „Die Damen haben<br />
alle reguläre Mietverträge und sind Mitglie<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Genossenschaft wie alle an<strong>der</strong>en auch.“<br />
Davids Hund Dino, eine Münsterlän<strong>der</strong>-Labrador-Mischung,<br />
ist <strong>der</strong>weil auf die Terrasse<br />
gesprungen und zum Nachbarn gerannt.<br />
Diese Außenfläche teilen sich die Bewohner<br />
dreier Wohnungen <strong>–</strong> und nicht nur <strong>der</strong> Hund<br />
schätzt Auslauf und Austausch. David erzählt<br />
von <strong>der</strong> Hausgruppe auf WhatsApp: „Wir verabreden<br />
uns spontan zu Spieleabenden, organisieren<br />
einen Straßenflohmarkt in unserem Garten,<br />
planen einen gemeinsamen Probenraum für<br />
Musik.“ Das Holzhaus, glaubt David Robotham,<br />
ist ein Blick in die Zukunft des Wohnens in Berlin:<br />
„Das Bedürfnis nach solchen alternativen<br />
Formen des Miteinan<strong>der</strong>s ist da und es wächst.“<br />
Das ist so beson<strong>der</strong>s: Jung<br />
trifft hier auf Alt, Single<br />
auf Familie <strong>–</strong> eine komplett<br />
bunte Mischung!<br />
Wer die Augen und Ohren aufhält, stellt fest:<br />
Überall in <strong>der</strong> Stadt schließen sich Menschen<br />
neu zusammen, packen gemeinsam an, organisieren.<br />
Sozialforscher kennen den Effekt: Je<strong>der</strong><br />
Megatrend erzeugt seinen Gegentrend. Die<br />
Globalisierung sorgt so bei vielen Menschen für<br />
eine Rückbesinnung aufs Lokale. Dem Siegeszug<br />
<strong>der</strong> Digitalisierung folgt die Sehnsucht nach authentischen<br />
Erlebnissen. Nach vielen Jahren <strong>der</strong><br />
Ich-Optimierung wird das Wir wie<strong>der</strong> in den<br />
Fokus genommen <strong>–</strong> jeden zweiten Mittwochabend<br />
auch im Tanzstudio in <strong>der</strong> Greifenhagener<br />
Straße im Prenzlauer Berg.<br />
Jeden zweiten Mittwochabend singen die „Grölenden Girls“ mit<br />
Inbrunst auserwählte Perlen <strong>der</strong> Popmusik.<br />
Grölen mit Britney:<br />
„Baby, can't you see<br />
I'm calling!“<br />
Aus Sängerinnen werden<br />
Freundinnen