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Leseprobe: Theatergeschichte in einem Band

Peter Simhandls erfolgreiches Handbuch der Theatergeschichte beschreibt kompakt und allgemeinverständlich die Entwicklung des Dramas und Theaters von seinen Ursprüngen bis in die Gegenwart. Der Gang durch die Jahrhunderte führt vom 'Urtheater' der Antike bis hin zur Schaubühne des Bürgertums und zur internationalen Avantgarde. Franz Wille und Grit van Dyk ergänzen umfangreich die Beiträge zur Entwicklung des deutschsprachigen Theaters seit 1990 sowie zum Avantgarde-Theater seit der Jahrtausendwende.

Peter Simhandls erfolgreiches Handbuch der Theatergeschichte beschreibt kompakt und allgemeinverständlich die Entwicklung des Dramas und Theaters von seinen Ursprüngen bis in die Gegenwart. Der Gang durch die Jahrhunderte führt vom 'Urtheater' der Antike bis hin zur Schaubühne des Bürgertums und zur internationalen Avantgarde. Franz Wille und Grit van Dyk ergänzen umfangreich die Beiträge zur Entwicklung des deutschsprachigen Theaters seit 1990 sowie zum Avantgarde-Theater seit der Jahrtausendwende.

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1<br />

THEATERGESCHICHTE IN EINEM BAND


2


3<br />

PETER SIMHANDL<br />

<strong>Theatergeschichte</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>Band</strong><br />

AKTUALISIERTE NEUAUFLAGE<br />

Mit Beiträgen von Franz Wille und Grit van Dyk<br />

HENSCHEL


4<br />

www.dornier-verlage.de<br />

www.henschel-verlag.de<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation <strong>in</strong> der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten s<strong>in</strong>d im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-89487-593-0<br />

© 2007 by Henschel Verlag <strong>in</strong> der Seemann Henschel GmbH & Co. KG, 3., überarbeitete Auflage<br />

© für den Beitrag von Franz Wille by Franz Wille, Berl<strong>in</strong> 2007<br />

(Dieser Beitrag ist e<strong>in</strong>e Aktualisierung des bereits im Jahrbuch 1999 von Theater heute,<br />

Friedrich Berl<strong>in</strong> Verlag, erschienenen Textes.)<br />

© für den Beitrag von Grit van Dyk by Grit van Dyk, Berl<strong>in</strong> 2007<br />

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags<br />

urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen,<br />

Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.<br />

Lektorat: Jürgen Bretschneider<br />

Lektorat der Beiträge von Franz Wille und Grit van Dyk: Wibke Hartewig<br />

Gesamtgestaltung und Satz: Grafikstudio Scheffler, Ingo Scheffler, Berl<strong>in</strong><br />

Titelbild: ??????<br />

Druck und B<strong>in</strong>dung:<br />

Pr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> Germany<br />

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.


5<br />

INHALT<br />

VORWORT<br />

DAS THEATER VON DEN URSPRÜNGEN BIS ZUM BAROCK<br />

Die Wurzeln des Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

Das griechische Drama und se<strong>in</strong>e Aufführungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Drama und Theater im antiken Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

Traditionelles Theater im Fernen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

Geistliches und weltliches Spiel im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />

Drama und Theater im Humanismus und <strong>in</strong> der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />

Die Commedia dell’arte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

Drama und Theater im Elisabethanischen England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

Barocktheater <strong>in</strong> Italien und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

Spanisches Drama und Theater im »Goldenen Jahrhundert« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />

Drama und Theater der Französischen Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108<br />

DAS THEATER DES BÜRGERLICHEN ZEITALTERS<br />

Die Entstehung des bürgerlichen Dramas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116<br />

Europäisches Lustspiel im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />

Von der Wanderbühne zum Stehenden Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />

Drama des Sturm und Drang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141<br />

Drama und Theater der Deutschen Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149<br />

Drama und Theater der europäischen Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159<br />

Theater des hohen Stils und Volkstheater <strong>in</strong> Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166<br />

Das deutsche Drama zwischen Restauration und Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175<br />

Die Übernahme des Theaters durch das Bürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182<br />

Drama und Theater des Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190<br />

Drama und Theater des russischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199<br />

Drama des Impressionismus und Symbolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209<br />

DAS THEATER DES 20. JAHRHUNDERTS IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM<br />

Das Theater Max Re<strong>in</strong>hardts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218<br />

Drama und Theater des Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224


6<br />

Zeitstück und Volksstück <strong>in</strong> der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232<br />

Erw<strong>in</strong> Piscators Politisches Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238<br />

Bertolt Brechts Episches Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245<br />

Drama und Theater im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252<br />

Drama und Theater im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257<br />

Das Theater der ersten Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260<br />

Drama und Theater <strong>in</strong> der Deutschen Demokratischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . 268<br />

Theater <strong>in</strong> der Bundesrepublik Deutschland während des Wiederaufbaus . . . . . . . . . 288<br />

Politisierung des Dramas: Parabel - Dokumentarstück - Kritisches Volksstück . . . . . . 299<br />

Theater <strong>in</strong> der Bundesrepublik Deutschland im politischen Aufbruch . . . . . . . . . . . . . 308<br />

Drama und Theater der siebziger und achtziger Jahre im westlichen<br />

deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321<br />

Das Ende der Normalität. E<strong>in</strong>ige Entwicklungen des Theaters<br />

seit 1990 · Von Franz Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337<br />

DAS THEATER DER AVANTGARDE<br />

Die Theaterreform um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361<br />

Theaterentwürfe der italienischen Futuristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376<br />

Drama und Theater im russischen Futurismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381<br />

Das Theater der Russischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386<br />

Abstraktes und Mechanisches Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398<br />

Theatrale Elemente im Dadaismus und Surrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410<br />

Anton<strong>in</strong> Artauds »Theater der Grausamkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419<br />

Das Liv<strong>in</strong>g Theatre und die Off-Off-Broadway-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424<br />

Das »Arme Theater« des Jerzy Grotowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432<br />

Eugenio Barba und das Od<strong>in</strong> Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437<br />

Peter Brooks Theater der E<strong>in</strong>fachheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444<br />

Ariane Mnouchk<strong>in</strong>e und das Théâtre du Soleil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451<br />

Happen<strong>in</strong>g - Fluxus - Wiener Aktionismus - Performance Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459<br />

Tadeusz Kantors »Theater des Todes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470<br />

Robert Wilsons Bildertheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479<br />

Welt-Theater um die Jahrtausendwende: E<strong>in</strong>e Annäherung · Von Grit van Dyk . . . 489<br />

ANHANG<br />

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508<br />

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529<br />

Register der Bühnenwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543<br />

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559


7<br />

Für Marianne, wen sonst…


8


9<br />

VORWORT<br />

Dieses Buch will knapp, übersichtlich und allgeme<strong>in</strong>verständlich<br />

die Entwicklung des Dramas<br />

und des Theaters <strong>in</strong> ihren Grundzügen beschreiben.<br />

Als E<strong>in</strong>führung für SchülerInnen<br />

und Studierende sowie für alle LiebhaberInnen<br />

des Theaters gedacht, faßt es die verschiedenen<br />

auf se<strong>in</strong>e Gegenstände bezogenen Forschungsergebnisse<br />

zusammen und stellt sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Kontext. Es verzichtet auf das Nachzeichnen<br />

der verschlungenen Wege der Erkenntnis, auf<br />

die Wiedergabe fachlicher Kontroversen und<br />

auf e<strong>in</strong>en komplizierten Anmerkungsapparat.<br />

Die wichtigsten aus der Vielzahl von Untersuchungen,<br />

denen dieses Buch verpflichtet ist,<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dem thematisch gegliederten Literaturverzeichnis<br />

aufgeführt; dieses soll Hilfestellung<br />

leisten bei der weiterführenden Beschäftigung<br />

mit den e<strong>in</strong>zelnen Gegenständen. In diesem<br />

S<strong>in</strong>ne wurde bei der Auswahl berücksichtigt,<br />

daß die genannte Literatur leicht zugänglich<br />

und nicht allzu schwierig zu rezipieren ist. In<br />

der Bibliographie s<strong>in</strong>d auch jene Veröffent -<br />

lichungen ausführlich zitiert, die im Text nur<br />

mit e<strong>in</strong>em Kurztitel angegeben s<strong>in</strong>d. Die Abbildungen<br />

wurden so ausgewählt und plaziert,<br />

daß der konkrete Bezug zum Text gegeben ist.<br />

E<strong>in</strong>ige Kapitel über das Theater der Avantgarde<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ausführlicher Form bereits <strong>in</strong> dem<br />

vom Autor 1993 vorgelegten Buch »Bildertheater«<br />

erschienen.<br />

Die Auswahl der behandelten Epochen und<br />

Themen richtet sich nach deren Relevanz für<br />

das Gegenwartstheater, die der Autoren und<br />

Stücke nach ihrer Bedeutung <strong>in</strong> den Spielplänen<br />

seit dem Zweiten Weltkrieg. Die moderne<br />

fremdsprachige Dramatik wird jeweils im Zusammenhang<br />

mit derjenigen Epoche der deutschen<br />

<strong>Theatergeschichte</strong> behandelt, <strong>in</strong> der sie<br />

prägend <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung trat. Wie jeder Epochen-Gliederung<br />

kann auch der hier vorgenommenen<br />

mit triftigen Argumenten widersprochen<br />

werden, zumal ihre Kategorien unterschiedlicher<br />

Herkunft s<strong>in</strong>d. Wie für das K<strong>in</strong>d<br />

ist für den Wissenschaftler »die Schachtel e<strong>in</strong><br />

Liebl<strong>in</strong>gsspielzeug« (Egon Friedell); die Fülle<br />

der Ersche<strong>in</strong>ungen zu ordnen und historische<br />

Abläufe zu gliedern, gehört aber auch zu se<strong>in</strong>en<br />

orig<strong>in</strong>ären Aufgaben. Dabei ist die Gefahr gegeben,<br />

daß er das Material so auswählt, arrangiert<br />

und deutet, daß es sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong> System e<strong>in</strong>fügt.<br />

Die Schlüssigkeit ist dann nicht die der Historie,<br />

sondern die des Historikers. Was die<br />

Künste betrifft, kann dieser Tendenz der von<br />

Benedetto Croce <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er »Estetica« formulierte<br />

Gedanke entgegenwirken, daß jedes wahre<br />

Kunstwerk letzten Endes unvergleichlich ist<br />

und nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er »Inselhaftigkeit« begriffen<br />

werden kann.<br />

Neben diesen allgeme<strong>in</strong>en Problemen der<br />

Geschichtsschreibung stellen sich dem Theaterhistoriker<br />

noch solche, die aus se<strong>in</strong>em besonderen<br />

Gegenstand resultieren. Streng genommen<br />

existiert dieser gar nicht. Die Aufführung,<br />

verstanden als e<strong>in</strong> Prozeß, der sich<br />

zwischen m<strong>in</strong>destens zwei leibhaftig anwesenden<br />

Menschen abspielt, verschw<strong>in</strong>det mit ihren<br />

Teilnehmern. Das Ereignis wird <strong>in</strong> diesem Augenblick<br />

Geschichte, egal ob es vor zwei Tagen<br />

oder zweihundert Jahren stattgefunden hat.<br />

Was übrigbleibt, s<strong>in</strong>d Dokumente und Zeugnisse<br />

von mehr oder m<strong>in</strong>der starker Ausdruckskraft:<br />

Beschreibungen und Kritiken, Regiebücher<br />

und Modelle des Bühnenbildes, Kostüme<br />

und Requisiten, Fotos und Videoaufzeichnungen.<br />

In dem auf Literatur basierenden<br />

Theater kommt natürlich dem Text als Relikt<br />

der Aufführung e<strong>in</strong>e besondere Bedeutung zu,<br />

wenn auch se<strong>in</strong> Quellenwert ganz von der Art<br />

und Weise abhängig ist, <strong>in</strong> der die Theatermacher<br />

mit ihm umgegangen s<strong>in</strong>d. Dennoch sah<br />

der Autor auch <strong>in</strong> diesem Faktum e<strong>in</strong>en Grund,<br />

der Entwicklung des Dramas <strong>in</strong> dieser Thea-


10<br />

tergeschichte e<strong>in</strong>en verhältnismäßig breiten<br />

Raum zu gewähren.<br />

Die Grenzen des Theaters zur Lebensrealität<br />

wie zu den Schwesterkünsten werden hier<br />

<strong>in</strong> ihrer Unschärfe belassen, denn gerade von<br />

se<strong>in</strong>en Rändern her hat das Medium immer<br />

wieder wichtige Impulse zu se<strong>in</strong>er Erneuerung<br />

bekommen. Erst recht vermieden wird e<strong>in</strong>e Begrenzung<br />

im H<strong>in</strong>blick auf die Funktion. Besonders<br />

<strong>in</strong> der Vielfalt und im Wechsel se<strong>in</strong>er Aufgabenstellung<br />

hat das Theater se<strong>in</strong>e Lebens-<br />

kraft bewiesen. Mal ist es als moralische Anstalt<br />

<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung getreten, mal als Waffe im politischen<br />

Kampf, mal hat es jenseitige Welten beschworen,<br />

mal Reiche des Phantastischen errichtet;<br />

mal hat es se<strong>in</strong>e Zuschauer belehrt und<br />

erbaut, mal unterhalten und von den Sorgen<br />

des Alltags abgelenkt.<br />

Wie ihm das über zweie<strong>in</strong>halb Jahrtausende<br />

immer wieder gelungen ist, soll <strong>in</strong> diesem Buch<br />

skizziert werden.


Das Theater von den Ursprüngen bis zum Barock<br />

54<br />

GEISTLICHES UND WELTLICHES SPIEL<br />

IM MITTELALTER<br />

Dem Untergang des römischen Bühnenwesens<br />

folgte e<strong>in</strong> theaterloser Zeitraum, der e<strong>in</strong> halbes<br />

Jahrtausend umfaßt. Erst im 10. Jahrhundert<br />

entwickelte sich aus der Liturgie des Christentums<br />

das geistliche Spiel des Mittelalters. Bis<br />

dah<strong>in</strong> hatte die Kirche das Theater als e<strong>in</strong>en<br />

Umschlagplatz der Sünde angesehen und aufs<br />

schärfste bekämpft, wobei sie sich auf die Autorität<br />

der Kirchenväter berufen konnte; besonders<br />

e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich hat August<strong>in</strong>us die verderbliche<br />

Wirkung des Theaters beschrieben: »Nicht<br />

<strong>in</strong> der Absicht, Besseres zu wählen, war ich ungehorsam,<br />

sondern aus Liebe zu den Spielereien<br />

(...) , um durch erdichtete Märle<strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Ohren<br />

zu reizen, daß sie immer lüsterner wurden<br />

und mir dieselbe Neugierde immer mehr und<br />

mehr aus den auf die Schauspiele gehefteten<br />

Augen leuchtete.« (August<strong>in</strong>us, Bekenntnisse,<br />

S. 37) Die rigorose Ablehnung seitens der<br />

christlichen Kirche als der wesentlichen ideologischen<br />

Macht des Mittelalters verh<strong>in</strong>derte<br />

das Weiterleben von Traditionen des Altertums.<br />

Beim geistlichen Spiel handelt es sich<br />

also um e<strong>in</strong>e echte Neuschöpfung, <strong>in</strong> der das<br />

europäische Theater nach der Antike e<strong>in</strong> zweites<br />

Mal geboren wurde – und wiederum aus religiösen<br />

Ursprüngen.<br />

Den geistigen H<strong>in</strong>tergrund dieses Vorgangs<br />

bildete die Ideologie des Gradualismus. Abgeleitet<br />

von »Gradus« ( Stufe), steht dieser Begriff<br />

für die E<strong>in</strong>ordnung des Menschen <strong>in</strong> den gottgewollten<br />

Stufenbau der Welt. Im Gefüge der<br />

Sozialpyramide mit ihren bis zur Leibeigenschaft<br />

reichenden Abhängigkeiten verstand<br />

sich jeder als e<strong>in</strong> für allemal auf e<strong>in</strong>en bestimmten<br />

Platz gestellt. Der Versuch, die Grenzen<br />

der herrschenden Ordnung zu überschreiten,<br />

kam e<strong>in</strong>er Auflehnung gegen die göttliche<br />

Satzung gleich. Selbstverständlich erstickte die<br />

Kirche im S<strong>in</strong>ne der Aufrechterhaltung ihrer<br />

Macht jeden Zweifel an dieser Anschauung<br />

schon im Keim. Ihrer Autorität unterlag alles<br />

philosophische und wissenschaftliche Denken.<br />

Der Glaube stand über dem Wissen von der Natur<br />

und dem Menschen. Das Ideal e<strong>in</strong>er rationalen<br />

Durchdr<strong>in</strong>gung der Erfahrungswelt nach<br />

den Gesetzen der Logik lag fern. In se<strong>in</strong>er Orientierung<br />

auf die Ewigkeit und se<strong>in</strong>er statischen<br />

Auffassung des Diesseits behauptete der<br />

Gradualismus die Vorstellung e<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>swelt,<br />

die erst mit dem Beg<strong>in</strong>n der Neuzeit von dem<br />

Bild e<strong>in</strong>er dynamischen Welt des Werdens abgelöst<br />

wurde. Angesichts der Ger<strong>in</strong>gschätzung<br />

des Irdischen ist es nicht verwunderlich, daß<br />

die hochmittelalterliche Kunst der Romanik<br />

nicht Abbilder des Menschen und se<strong>in</strong>er Umwelt<br />

gab, sondern S<strong>in</strong>nbilder des Göttlichen.<br />

Dieses Pr<strong>in</strong>zip galt auch für das geistliche<br />

Spiel der Frühzeit, wie es zuerst <strong>in</strong> der Ost-Kirche<br />

<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung trat, deren Liturgie schon<br />

früh mit dialogischen Elementen, wie etwa der<br />

alternierenden Rezitation von Evangelien-Texten<br />

und den Wechselgesängen zwischen Priester<br />

und Geme<strong>in</strong>de durchsetzt war. Zudem hatten<br />

sich <strong>in</strong> Byzanz Restbestände der griechischen<br />

Tragödie und des Mimusspiels erhalten,<br />

die mit christlichen Elementen Synthesen e<strong>in</strong>gegangen<br />

waren. Angeregt durch die östlichen<br />

Vorbilder g<strong>in</strong>g man um die Jahrtausendwende<br />

auch <strong>in</strong> der West-Kirche an die theatrale Ausgestaltung<br />

des Gottesdienstes. Der Ausgangspunkt<br />

der von Klerikern oratorienartig und mit<br />

feierlichen Bewegungen und Gesten <strong>in</strong> late<strong>in</strong>ischer<br />

Sprache dargebotenen Kirchenraumspiele<br />

war die Osterfeier, deren Liturgie durch<br />

kurze Dialoge (»Tropen«) erweitert wurde. Von<br />

der Kernszene, dem Besuch der drei Marien am<br />

Grab Christi, kann man sich durch die folgende<br />

Anweisung des Bischofs Ethelwood von W<strong>in</strong>chester<br />

e<strong>in</strong> Bild machen: »Während der Lesung<br />

(...) sollen sich vier Brüder umkleiden. E<strong>in</strong>er<br />

von ihnen soll mit der Alba bekleidet here<strong>in</strong>-


55 GEISTLICHES UND WELTLICHES SPIEL IM MITTELALTER<br />

kommen, sich an die Grabstelle begeben und<br />

dort mit e<strong>in</strong>er Palme <strong>in</strong> der Hand still h<strong>in</strong>setzen.<br />

Die drei anderen sollen (...) folgen, mit der<br />

Capp a bekleidet und mit Weihrauchfässern <strong>in</strong><br />

der Hand und sich langsam, als ob sie etwas<br />

suchten, dem Grabe nähern. Sie stellen die drei<br />

Frauen dar, die mit Spezereien kommen, um<br />

Jesu Leichnam zu salben. Wenn nun der am<br />

Grab sitzende Bruder, der den Engel darstellt,<br />

die Frauen herannahen sieht, soll er mit sanfter<br />

Stimme zu s<strong>in</strong>gen beg<strong>in</strong>nen: ›Wen sucht ihr<br />

im Grab, oh Christ<strong>in</strong>nen?‹ Dann sollen die drei<br />

e<strong>in</strong>stimmig antworten: ›Jesu Nazarenum, den<br />

Gekreuzigten, oh Himmlische.‹ Dann wieder<br />

jener: ›Er ist nicht hier, er ist auferstanden, wie<br />

er vorausgesagt hat. Geht und verkündet allen,<br />

daß er von den Toten auferstanden ist.‹ Daraufh<strong>in</strong><br />

sollen sich die drei Frauen zum Chor wenden<br />

mit den Worten: ›Halleluja, der Herr ist auferstanden!‹<br />

Danach soll der am Grab sitzende<br />

Engel die Frauen zurückrufen mit der Entgegnung:<br />

›Kommt und seht die Stätte, wo der Herr<br />

begraben war‹.« (Zitiert nach Robert Fricker:<br />

Das ältere englische Drama. Bd.I. S. 24) Um<br />

diese s Zentrum gruppierten sich im Laufe der<br />

Zeit weitere Szenen: der Wettlauf der Apostel<br />

zum Grab, bei dem Petrus h<strong>in</strong>kend und schnaufend<br />

h<strong>in</strong>ter dem jüngeren Johannes zurückbleibt,<br />

der ihm aber trotzdem den Vortritt läßt,<br />

oder das burleske Spiel von dem geldgierigen<br />

Krämer, se<strong>in</strong>em keifenden Eheweib und den<br />

faulen, liederlichen Knechten, deren Anführer<br />

den Namen Rub<strong>in</strong> oder Rob<strong>in</strong> trug, wie der Anführer<br />

des »Wilden Heeres« der Germanen, was<br />

die Herkunft aus dem heidnischen Brauchtum<br />

möglich ersche<strong>in</strong>en läßt.<br />

Wie die Osterfeier bot auch die Weihnachtsliturgie<br />

e<strong>in</strong>e Reihe von Ansätzen zu e<strong>in</strong>er spielhaften<br />

Darstellung. Ebenfalls ausgehend von<br />

der Frage des Engels »Wen suchet ihr?«, hier an<br />

die Hirten gerichtet, entstanden Kirchenraumspiele<br />

um die Anbetung des Christusk<strong>in</strong>des, die<br />

Drei Könige sowie um Herodes und den betlehemitischen<br />

K<strong>in</strong>dermord. Allerd<strong>in</strong>gs gewannen<br />

diese nie die Bedeutung des über ganz Europa<br />

verbreiteten Osterspiels, von dem <strong>in</strong>sgesamt<br />

fast siebenhundert Varianten, die <strong>in</strong> erster<br />

L<strong>in</strong>ie aus dem Gebiet der deutschen Reichskirche<br />

stammen, überliefert s<strong>in</strong>d.<br />

Im Lauf des 13. Jahrhunderts erfuhr das<br />

geistliche Spiel e<strong>in</strong>e entscheidende Wandlung.<br />

Mit dem Auftreten von Christus selbst als handelnder<br />

und sprechender Figur wurde die Darstellung<br />

e<strong>in</strong>er Fülle weiterer Szenen möglich,<br />

wie die Begegnung des Auferstandenen mit<br />

Maria Magdalena, welche ihn für e<strong>in</strong>en Gärtner<br />

hält, wie die Ersche<strong>in</strong>ung Christi vor dem ungläubigen<br />

Thomas und vor den Jüngern auf<br />

Besuch der drei<br />

Marien am<br />

Grab Christi.<br />

Elfenbe<strong>in</strong>relief,<br />

Metz, 9. Jh.


Das Theater von den Ursprüngen bis zum Barock<br />

56<br />

ihre Lehnsherren, kamen sich allerd<strong>in</strong>gs viele<br />

eher ausgesetzt als befreit vor; verstärkt wurde<br />

dieses Lebensgefühl durch das schw<strong>in</strong>dende<br />

Vertrauen auf die absolute Geborgenheit im<br />

Schoß Gottes. Der <strong>in</strong> zunehmendem Maße auf<br />

sich selbst gestellte Mensch entwickelte e<strong>in</strong>e<br />

pr<strong>in</strong>zipielle Skepsis gegenüber der Welt; der<br />

Gläubige wurde zu e<strong>in</strong>em Zweifelnden. Ihn zu<br />

überzeugen, im Glauben zu bestärken und se<strong>in</strong><br />

Gewissen wachzurütteln, setzte sich das religiöse<br />

Theater jetzt zum Ziel.<br />

Prägend für die spätmittelalterliche Welt -<br />

anschauung waren bürgerliche Ideale: nüchterne<br />

Sachlichkeit, rechnerisches Kalkül, Realismus.<br />

Selbstverständlich spiegeln sich diese<br />

auch im künstlerischen Schaffen wider. Die naturalistische<br />

Ausrichtung der Gotik verdrängt<br />

den Symbolismus der Romanik; statt überzeitlich<br />

gültiger S<strong>in</strong>nbilder gibt die Kunst jetzt Abbilder<br />

der eigenen Zeit. So wie die gotische Architektur<br />

die Mauern der Kathedralen auflöst<br />

und Licht e<strong>in</strong>strömen läßt, so öffnet sich auch<br />

der Raum des Theaters. Man spielt nicht mehr<br />

<strong>in</strong> der Kirche, sondern unter freiem Himmel,<br />

am Marktplatz, dem Zentrum bürgerlichen Lebens.<br />

Die Spielleitung lag zuerst noch <strong>in</strong> den<br />

Händen des Klerus, bald aber übernahmen<br />

Lehrer, Stadtschreiber und Bildende Künstler<br />

diese Funktion. Die bis zu 300 Darsteller, die<br />

man für die großen Passionsspiele brauchte, rekrutierten<br />

sich aus den Bewohnern der Stadt.<br />

E<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielten die Handwerkerzünfte,<br />

denen oft die relativ selbständige Ausgestaltung<br />

e<strong>in</strong>zelner Sequenzen übertragen<br />

wurde. Die Frauenrollen spielten junge Männer,<br />

denn die Präsentation des weiblichen Körpers<br />

galt als sündig. Die Realismus-Forderung<br />

führte zu Beg<strong>in</strong>n des 16. Jahrhunderts dann<br />

doch zum Auftreten von Frauen und Mädchen<br />

auf der Bühne des Marktplatzspiels. Durch die<br />

wirklichkeitsorientierte Spielweise wollte man<br />

das Publikum zum Miterleben bewegen, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ziehen<br />

<strong>in</strong> das Spannungsfeld zwischen dem<br />

Leiden Christi und dem Auferstehungsjubel,<br />

den die Passionsspiele <strong>in</strong> äußerster Drastik darstellten.<br />

Höchst spirituelle Szenen standen hier<br />

neben krassen Derbheiten, leise-poetische nedem<br />

Weg nach Emmaus, oder die Fahrt des Erlösers<br />

<strong>in</strong> die Vorhölle mit der Befreiung von<br />

Adam und Eva. Über viele Stationen wurde der<br />

Bogen geschlagen zurück zur Schöpfungs -<br />

geschichte. Die stoffliche Erweiterung führte<br />

schließlich zum Verlassen des Kirchenraums.<br />

Geistlichkeit und Geme<strong>in</strong>de umkreisten jetzt <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Prozession die Kirche und betraten sie<br />

wieder durch das Portal, das die Pforten der<br />

Vorhölle symbolisierte. Christus klopfte an; von<br />

<strong>in</strong>nen antwortete der Teufel, widersetzte sich<br />

dem E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen des Erlösers, mußte aber am<br />

Ende doch das Tor öffnen und den armen Seelen<br />

den Weg <strong>in</strong> den Himmel freigeben; geme<strong>in</strong>sam<br />

zogen dann alle Beteiligten <strong>in</strong> die Kirche.<br />

Parallel zu der räumlichen Veränderung<br />

vollzog sich die sprachliche; <strong>in</strong> den late<strong>in</strong>ischen<br />

Text drangen immer mehr Elemente der Volkssprache<br />

e<strong>in</strong>. Dies ist im Zusammenhang zu sehen<br />

mit der Durchsetzung des »Nom<strong>in</strong>alismus«,<br />

wie er von Wilhelm von Occam zu Beg<strong>in</strong>n des<br />

14. Jahrhunderts begründet wurde. Der englische<br />

Philosoph g<strong>in</strong>g davon aus, daß die allgeme<strong>in</strong>en<br />

Begriffe von den D<strong>in</strong>gen nur als Zeichen<br />

(»Nom<strong>in</strong>a«) im menschlichen Geist gebildet<br />

werden und ke<strong>in</strong>e den D<strong>in</strong>gen selbst <strong>in</strong>newohnende<br />

Qualität besitzen. Wenn aber<br />

Sprache nur auf menschlicher Konvention beruht,<br />

dann könne es ke<strong>in</strong>e »heiligen Sprachen«<br />

als bevorzugte Medien der göttlichen Offenbarung<br />

geben. Die Dom<strong>in</strong>anz der hebräischen<br />

und griechischen, vor allem aber der late<strong>in</strong>ischen<br />

Sprache, wurde damit auch im geistlichen<br />

Spiel obsolet.<br />

Gründe für die Entwicklung vom szenischen<br />

Ritual zum religiösen Theater lagen aber auch<br />

<strong>in</strong> den tiefgreifenden sozioökonomischen Veränderungen<br />

gegen Ende des 13. Jahrhunderts.<br />

Die Ablösung der für den eigenen Bedarf bestimmten<br />

Hauswirtschaft durch die Produktion<br />

von Gütern für den Verkauf am Markt führte<br />

zur Herausbildung der neuen Berufsstände des<br />

Handwerkers und des Kaufmanns. In den aufblühenden<br />

Städten konstituierte sich das Bürgertum<br />

als e<strong>in</strong>e neue Klasse, die sich zu e<strong>in</strong>em<br />

großen Teil aus ehemals leibeigenen Bauern<br />

zusammensetzte. Gelöst aus der B<strong>in</strong>dung an


57 GEISTLICHES UND WELTLICHES SPIEL IM MITTELALTER<br />

ben lauten, rohen, unflätigen. Alles wurde mit<br />

detailgenauer Deutlichkeit ausgespielt. So trug<br />

etwa der Christus-Darsteller e<strong>in</strong>e Schwe<strong>in</strong>sblase<br />

unter der Perücke, die mit Blut gefüllt war,<br />

das ihm bei der Dornenkrönung über das Gesicht<br />

lief.<br />

E<strong>in</strong>e hervorragende Möglichkeit, Grausamkeit<br />

zu demonstrieren und dadurch das Publikum<br />

zu erschüttern, boten die Märtyrerspiele,<br />

die allerd<strong>in</strong>gs (ebenso wie die Weihnachtsspielen<br />

und Marienklagen, die Weltgerichts- und<br />

Fronleichnamsspiele) nur e<strong>in</strong>e untergeordnete<br />

Rolle spielten. Das Bemühen um e<strong>in</strong>en höchstmöglichen<br />

Naturalismus herrschte auch <strong>in</strong> der<br />

Kostümgestaltung; meist imitierte man e<strong>in</strong>fach<br />

die zeitgenössische Mode; der Gedanke an e<strong>in</strong>e<br />

historisierende Darstellung lag dem Mittelalter<br />

aufgrund des mangelnden Geschichtsbewußtse<strong>in</strong>s<br />

fern. Die Kennzeichnung der Figuren erfolgte<br />

durch symbolische Beigaben; so trugen<br />

etwa die Juden gelbe Spitzhüte und die Fe<strong>in</strong>de<br />

Christi e<strong>in</strong>e rote Perücke. Was die überirdischen<br />

Figuren betrifft, orientierte man sich an<br />

der überlieferten Ikonographie: Die Engel stattete<br />

man mit weißen Alben und Flügeln aus,<br />

den Teufel mit e<strong>in</strong>em Zottelpelz und e<strong>in</strong>er<br />

Renwart Cysats Plan<br />

zum Luzerner<br />

Passionsspiel, 1583


Das Theater von den Ursprüngen bis zum Barock<br />

58<br />

furchterregenden Maske. Auch Gestik und<br />

Sprechweise entfernten sich von den Konventionen<br />

des Kirchenraumspiels. An die Stelle der<br />

streng ritualisierten, symbolischen Gebärdensprache<br />

trat die alltägliche Körpersprache, an<br />

die Stelle des liturgischen Gesangs das <strong>in</strong> gehobenem<br />

Ton gesprochene Wort.<br />

Die bedeutendsten Passionsspiele des deutschen<br />

Sprachraums haben <strong>in</strong> Wien und <strong>in</strong> Bozen,<br />

<strong>in</strong> Vill<strong>in</strong>gen und <strong>in</strong> Luzern, im hessischen<br />

Alsfeld und <strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong> stattgefunden.<br />

Von dem zweitägigen Frankfurter Spiel<br />

aus der Mitte des 14. Jahrhunderts hat sich die<br />

Dirigierrolle erhalten, e<strong>in</strong> vier Meter langer Papierstreifen,<br />

<strong>in</strong> dem neben den Stichworten und<br />

E<strong>in</strong>sätzen der e<strong>in</strong>zelnen Figuren auch detaillierte<br />

Regieanweisungen verzeichnet s<strong>in</strong>d. Für<br />

die Frankfurter Aufführungen waren auf dem<br />

Römerberg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Oval ungefähr e<strong>in</strong> Dutzend<br />

als »Loca« bezeichnete Spielstände aufgeschlagen,<br />

deren Bedeutung durch die Ausstattung<br />

mit unterschiedlichen Versatzstücken von<br />

Tag zu Tag wechselte. Die aus Anlaß der Spiele<br />

von weither zusammengeströmten Zuschauer<br />

wanderten geme<strong>in</strong>sam mit den Darstellern<br />

von e<strong>in</strong>em Stand zum anderen; da alle Loca<br />

gleichzeitig vorhanden und auf e<strong>in</strong>en Blick<br />

wahrnehmbar waren, bezeichnet man diese<br />

Bühnenform als »Räumliche Simultanbühne«.<br />

Himmel und Hölle, die beiden Pole des mittelalterlichen<br />

Weltbildes, lagen e<strong>in</strong>ander gegen -<br />

über, der Platz dazwischen bedeutete die Welt<br />

als Ort des christlichen Heilsgeschehens. E<strong>in</strong><br />

anschauliches Bild dieser Bühnenform vermittelt<br />

der Plan für e<strong>in</strong>e der spätesten Aufführungen,<br />

jene des Luzerner Passionsspiels im ausgehenden<br />

16. Jahrhundert. Zu dieser Zeit war<br />

das geistliche Spiel vielerorts durch die Reformation<br />

schon liquidiert worden; <strong>in</strong> den katholisch<br />

gebliebenen Landschaften hatte es immer<br />

mehr den Charakter e<strong>in</strong>es Volksfestes mit ganz<br />

und gar nicht frommen Begleitersche<strong>in</strong>ungen<br />

angenommen, so daß sich die Städte und<br />

schließlich sogar der Klerus selbst genötigt sahen,<br />

rigorose Verbote auszusprechen. So wichen<br />

die geistlichen Spiele auf die Dörfer aus,<br />

wo sie – gestärkt durch die neue Religiosität des<br />

Rekonstruktion e<strong>in</strong>es mittelalterlichen Bühnenwagens<br />

der Aufführungen von Coventry, 15. Jh.<br />

Barock – manchmal bis <strong>in</strong>s 20. Jahrhundert<br />

überlebt haben.<br />

Das religiöse Theater Frankreichs stellt sich<br />

im Vergleich zum deutschen bildkräftiger und<br />

str<strong>in</strong>genter <strong>in</strong> der Dramaturgie dar; auch spiegelt<br />

es noch direkter die sozialen und kulturellen<br />

Verhältnisse der Zeit wider. Se<strong>in</strong>e höchste<br />

Entfaltung erlebte es um die Mitte des 16. Jahrhunderts<br />

im Passionsspiel von Valenciennes.<br />

Dort waren die e<strong>in</strong>zelnen Spielstände an e<strong>in</strong>er<br />

Längsachse nebene<strong>in</strong>ander angeordnet; diese<br />

im ganzen französischen Sprachraum verbreitete<br />

Anordnung bezeichnet man als »Flächige<br />

Simultanbühne«. Die für Spanien charakteristische<br />

Ersche<strong>in</strong>ungsform ist das eng mit der E<strong>in</strong>führung<br />

des Fronleichnamsfestes verbundene<br />

Prozessionsspiel. Aus schlichten Feiern entwickelten<br />

sich im Lauf der Zeit prächtige Umzüge,<br />

bei denen auf Plattformen lebende Bilder<br />

mitgetragen wurden, die sich auf den Plätzen <strong>in</strong><br />

theatrale Aktionen auflösten. In England dom<strong>in</strong>ierte<br />

das Pr<strong>in</strong>zip des Wagenbühnenspiels, von<br />

dem der folgende Bericht e<strong>in</strong>es Zeitgenossen<br />

e<strong>in</strong> Bild gibt: »Nach Beendigung des ersten<br />

Spiels, das am Tor stattfand, bewegte sich der<br />

Wagen zum Haus des Bürgermeisters, und<br />

während die Szene dort wiederholt wurde,<br />

rückte auf den Platz am Tor der nächste Wagen<br />

mit der zweiten Szene vor. So hatte jedes Stück


59 GEISTLICHES UND WELTLICHES SPIEL IM MITTELALTER<br />

Neidhart mit dem Veilchen.<br />

Holzschnitt, 1580<br />

se<strong>in</strong>en besonderen Wagen, und es wurde auf<br />

diese Weise gleichzeitig an mehreren Punkten<br />

fortlaufend gespielt, so daß die Zuschauer an<br />

den verschiedenen Stationen alle den gesamten<br />

Zyklus zu sehen bekamen.« (Zitiert nach<br />

He<strong>in</strong>z K<strong>in</strong>dermann: <strong>Theatergeschichte</strong> Europas.<br />

Bd. I. S. 355) Neben der Wagenbühne kannte<br />

man <strong>in</strong> England, vor allem <strong>in</strong> Cornwall, auch<br />

e<strong>in</strong>e räumliche Form der Simultanbühne; die<br />

e<strong>in</strong>zelnen Spielstände wurden hier auf e<strong>in</strong>em<br />

kreisrunden Erdwall errichtet.<br />

Die weltlichen Spiele des Mittelalters blieben<br />

<strong>in</strong> ihrer Bedeutung weit h<strong>in</strong>ter den geistlichen<br />

zurück. Ihre Ursprünge lagen e<strong>in</strong>erseits<br />

<strong>in</strong> den mimischen Aktionen fahrender Spielleute,<br />

der sogenannten Joculatoren oder Histrionen,<br />

und andererseits im vorchristlichen<br />

Brauchtum, wie es sich mancherorts <strong>in</strong> Rudimenten<br />

bis <strong>in</strong> die Gegenwart erhalten hat. Aus<br />

Fruchtbarkeitsriten entwickelten sich Streitspiele<br />

zwischen den Jahreszeiten, wie etwa das<br />

niederländische Speel van den W<strong>in</strong>ter ende van<br />

den Somer aus der Mitte des 14. Jahrhunderts.<br />

Hier disputieren die beiden Jahreszeiten über<br />

die Frage, welche für die Liebe geeigneter sei,<br />

der die Herzen erfreuende Sommer oder der<br />

W<strong>in</strong>ter, der mit se<strong>in</strong>er Kälte die Menschen <strong>in</strong><br />

die Betten treibt. Am Ende ersche<strong>in</strong>t die Liebesgött<strong>in</strong><br />

Venus und schlichtet den Streit, <strong>in</strong>dem<br />

sie beide für gleichrangig erklärt. Aus der<br />

Sitte des Maikönigtums s<strong>in</strong>d vermutlich die mit<br />

Gesang- und Tanze<strong>in</strong>lagen durchsetzten Neid -<br />

hartspiele hervorgegangen, die vor allem <strong>in</strong><br />

Süddeutschland und Österreich verbreitet waren.<br />

Ihre Hauptgestalt ist der legendäre M<strong>in</strong>nesänger<br />

und Spielmann Neidhart von Reuenthal,<br />

dem die Herzog<strong>in</strong> von Österreich versprochen<br />

hat, ihn zu ihrem Maibuhlen zu küren, wenn er<br />

ihr das erste Veilchen zeigt. Der Sänger entdeckt<br />

es tatsächlich, stülpt se<strong>in</strong>en Hut darüber<br />

und eilt zur Herzog<strong>in</strong>. Die Bauern aber, denen<br />

er sich mit se<strong>in</strong>en Spottversen mißliebig gemacht<br />

hat, vergällen ihm den Triumph. Als<br />

Neidhart vor der edlen Frau se<strong>in</strong>en Hut lüftet,<br />

liegt etwas Übelriechendes darunter. Die ursprünglich<br />

nur für wenige Darsteller konzipierte<br />

Szene schwoll im Lauf des Spätmittelalters<br />

zu e<strong>in</strong>em umfangreichen Drama mit ungefähr<br />

siebzig Rollen an.<br />

Auch das Fastnachtsspiel, wie es vor allem <strong>in</strong><br />

Nürnberg und Lübeck sowie im Südtiroler<br />

Städtchen Sterz<strong>in</strong>g während des Spätmittelalters<br />

zur Blüte gelangte, hatte se<strong>in</strong>e Wurzeln <strong>in</strong><br />

Volksbräuchen, wie zum Beispiel im Nürnberger<br />

Schembartlaufen, bei dem maskierte Handwerksgesellen<br />

<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Versen und Liedern<br />

die Prom<strong>in</strong>enten der Stadt verspotteten und für<br />

ihre Fehltritte rügten. Im Rahmen ihrer geselligen<br />

Zusammenkünfte während der Fastnachtszeit<br />

vergnügten sie sich mit Rätseln, Witzen<br />

und possenhaften Szenen. Die Improvisa -<br />

tion trat aber bald <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund; es entstanden<br />

die ersten schriftlich fixierten Spiele <strong>in</strong><br />

Gestalt revueartiger Szenenfolgen. Deren Spott<br />

richtete sich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie gegen die Bauern,<br />

die den städtischen Handwerkern als Inbegriff<br />

der Dummheit erschienen, so daß sich alle<br />

möglichen derben und obszönen Witze über sie<br />

reißen ließen. E<strong>in</strong>e moralische Absicht verfolgte<br />

das frühe Nürnberger Fastnachtsspiel mit<br />

se<strong>in</strong>en Hauptautoren Hans Rosenplüt und Hans<br />

Folz noch nicht; erst Hans Sachs hat dann die<br />

Gattung auf e<strong>in</strong> höheres sittliches und künstlerisches<br />

Niveau gehoben. Während <strong>in</strong> Nürnberg<br />

vor allem das mittlere Bürgertum als Trägerschicht<br />

<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung trat, waren es <strong>in</strong> Lübeck


566<br />

DIE AUTOREN<br />

Peter Simhandl, geboren 1939 <strong>in</strong> Niederösterreich,<br />

war nach se<strong>in</strong>em Studium der Volkskunde<br />

und Theaterwissenschaft <strong>in</strong> Wien als<br />

Dramaturg für Film und Fernsehen tätig. Von<br />

1970 bis 1999 war er Ord<strong>in</strong>arius für Literaturund<br />

Theaterkunde an der Hochschule der<br />

Künste <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Außerdem hat er als Dramaturg<br />

bei Produktionen der HdK sowie verschiedener<br />

Theater <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und Wien mitgewirkt<br />

und diverse Publikationen zur<br />

Schauspielkunst herausgegeben.<br />

Franz Wille, geboren 1960, studierte <strong>in</strong> München<br />

und Berl<strong>in</strong> und promovierte zur Theorie<br />

der Aufführungsanalyse. Von 1982 bis<br />

1986 war er Dramaturg an der Freien Volksbühne<br />

Berl<strong>in</strong> (Intendant Kurt Hübner). Seit<br />

1990 Redakteur von Theater heute.<br />

Grit van Dyk, geboren 1974, studierte Theaterund<br />

Erziehungswissenschaft <strong>in</strong> Giessen, Berl<strong>in</strong><br />

und Madrid. Seit der Spielzeit 1992/93 ist<br />

sie als Schauspieldramaturg<strong>in</strong> am Volkstheater<br />

Rostock tätig.

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