ZAP-2020-03
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
3 <strong>2020</strong><br />
5. Februar<br />
32. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />
Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />
Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
„Was ist Ihr Interesse?“ –Zur Struktur einer Mediation (S. 113)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Bundestag entscheidet über Organspenden (S. 115) • Haftungsfragen beim Einsatz von Künstlicher<br />
Intelligenz (S. 119) • Nutzung von Online‐Mediation (S. 120)<br />
Aufsätze<br />
Börstinghaus, Kündigung von Wohnraummietverträgen: Formalien (Teil 1) (S. 127)<br />
Geißinger, Die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen (S. 151)<br />
Burhoff, Modernisierung des Strafverfahrens – Ermittlungsverfahren (S. 165)<br />
Rechtsprechung<br />
OLG Düsseldorf: Richter als Halter eines Dieselfahrzeugs der Abgasnorm Euro 5 (S. 123)<br />
BGH: Beschleunigtes anwaltliches Vorgehen (S. 124)<br />
OLG Bremen: Schlag mit einem Mobiltelefon (S. 125)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 113–114<br />
Anwaltsmagazin – – 115–120<br />
Rechtsprechung 1 15–20 121–126<br />
Börstinghaus, Kündigung von Wohnraummietverträgen:<br />
Die Formalien und Rechtsfolgen (Teil 1) 4 1843–1866 127–150<br />
Geißinger, Die Beschäftigung schwerbehinderter<br />
Menschen – Rechte und Pflichten nach § 164 SGB IX 18 1707–1720 151–164<br />
Burhoff, Modernisierung des Strafverfahrens – Teil 1:<br />
Ermittlungsverfahren 22 997–1008 165–176<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />
Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />
Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • PräsSG a.D. RA<br />
Dr. Klaus Louven, Geldern • Dr. David Markworth, Köln •RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann,<br />
Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />
PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt<br />
Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr.<br />
Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />
Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />
(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />
Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />
Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />
Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
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service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
„Was ist Ihr Interesse?“ –Zur Struktur einer Mediation<br />
Viele Kollegen glauben, dass die Mediation, genau<br />
wie die Suche nach Ansprüchen und deren Durchsetzung<br />
im rechtlichen Verfahren, eine intellektuelle<br />
Disziplin ist. Meine Hypothese aus 30 Jahren<br />
Erfahrung mit Konfliktlösungen mit Macht, Recht<br />
und Interessenausgleich ist eine andere: Ob man<br />
Mediation versteht und anwendet, hat nichts mit<br />
intellektueller, sondern hat mit geistiger Intelligenz<br />
zu tun. Wenn noch die Vorstellung dominant ist,<br />
dass sämtliche Konflikte nur mit Gewalt gelöst<br />
werden können, kennt man nur Macht als Konfliktlösungsmittel.<br />
Wenn schon erkannt wurde,<br />
dass allgemeingültige Vereinbarungen helfen können,<br />
glaubt man an Recht und staatliche Macht als<br />
Durchsetzungsmittel. Wer zusätzlich dazu schon<br />
erfahren hat, dass äußere Konflikte die Tendenz<br />
haben, Spiegelbild innerer Konflikte zu sein, gibt<br />
dem Interessenausgleich in der Form der Mediation,<br />
des Coachings oder der Therapie den Vorzug.<br />
Das Mediationsverfahren folgt den von GRAWE/<br />
ROTH (GRAWE, Neuropsychotherapie, Göttingen<br />
2004; ROTH/RYBA, Coaching, Beratung und das<br />
Gehirn: Neurobiologische Grundlagen wirksamer<br />
Veränderungskonzepte, Stuttgart 2016) formulierten<br />
Phasen wirksamer Verhaltensveränderung:<br />
Der Mediator baut zuerst die mediative Allianz<br />
auf, aktiviert das Problem emotional, ermittelt die<br />
motivationale Struktur der Beteiligten, findet Ressourcen,<br />
welche beide motivationalen Strukturen<br />
befriedigen können, und verknüpft das Problem<br />
mit Ressourcen zur Lösung.<br />
Die mediative Allianz (Vertrauen, Rapport) baut<br />
der Mediator in der Opening-Phase auf, genau wie<br />
wir Anwälte beim Erstgespräch: Ich selbst muss<br />
glauben, dass ich dem Mandanten helfen kann und<br />
will. Der Mandant sollte daran glauben, dass ich<br />
ihm helfen kann, und beide sollten wir daran<br />
glauben, dass das Recht das richtige Konfliktlösungsmittel<br />
ist. Was hier v.a. hilft ist, sich einfühlen<br />
zu können. Wir sollten in der Lage sein, die<br />
Erzählung unseres Mandanten emotional nachzuvollziehen.<br />
Können wir das nicht, laufen wir<br />
Gefahr, dass es zu keinem Mandatsverhältnis<br />
kommt oder uns unsere Mandanten nicht vertrauen<br />
und uns deshalb nur benutzen.<br />
In der Positionen-Phase geht es darum, dass die<br />
Parteien erklären, was ihr Problem ist. Das<br />
Problem ist meistens der andere, der nicht das<br />
tut, was „ich“ möchte. Das ist identisch mit der<br />
von uns behaupteten Verletzung des Anspruchs<br />
unseres Mandanten.<br />
In der Interessen-Phase, die im rechtlichen Prozess<br />
etwa der Beweismittelphase entspricht, geht es in<br />
der Mediation nicht darum, Beweismittel für die<br />
richterliche Entscheidungsgrundlage zu bezeichnen,<br />
sondern herauszufinden, aus welchem inneren<br />
Beweggrund (Motiv, Interesse, Wert) die Parteien<br />
ihre Forderungen stellen. Nicht das „äußere Gesetz“<br />
ist die Leitlinie der Konfliktlösung, sondern das<br />
„innere Gesetz“. Die Entwicklungspsychologen gehen<br />
davon aus, dass dies dann möglich ist, wenn die<br />
äußeren Gesetze in die Psyche integriert und<br />
transformiert sind. Solche Leitlinien können das<br />
authentische Interesse nach Freiheit, Sicherheit,<br />
Anerkennung, Macht, Harmonie, Intensität, Integrität,<br />
Fürsorge oder Neugier sein. Es geht um<br />
Wahrhaftigkeit und Würde und nicht mehr unbedingt<br />
um Ehre und Wahrheit.<br />
Hier trennen sich nun die Wege: Im juristischen<br />
Verfahren suchen wir Ansätze zur Lösung in der<br />
Außenwelt (Recht), in der Mediation sucht man<br />
diese in der Innenwelt (Psyche, Geist, Seele). Wer<br />
noch der Meinung ist, dass das alles „irrationaler<br />
Humbug“ sei, hat zur Mediation im Moment noch<br />
keinen Zugang. Wir Anwälte sind in dieser Sicht-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 113
Kolumne<br />
<strong>ZAP</strong><br />
weise übrigens nicht die „Interessenvertreter“ unserer<br />
Mandanten, sondern die „Anspruchsvertreter“.<br />
Der Mediator versucht hier, nicht wie wir Anwälte,<br />
den Richter von der Richtigkeit oder Wahrheit der<br />
Forderungen zu überzeugen, sondern die Medianden<br />
anzuregen, sich in einem Selbstfindungsprozess<br />
gegenseitig von der Wahrhaftigkeit der vorgeschlagenen<br />
Interessen zu überzeugen und diese<br />
miteinander neu zu verknüpfen, sodass Lösungen<br />
entstehen.<br />
Zur Illustration der Interessen-Phase ein prozessual<br />
vereinfachtes Beispiel: In einem arbeitsrechtlichen<br />
Prozess behaupte ich als Anwalt des Arbeitgebers,<br />
dass der Arbeitnehmer Grund zur fristlosen Entlassung<br />
geboten hat, da er sich mit den Untergebenen<br />
gegen die Vorgesetzten solidarisiert und<br />
damit sein Vertrauen verspielt hat. Der Kollege<br />
bestreitet dies. Der Richter bittet uns, unsere<br />
Ansprüche zu beweisen. Der Mediator würde den<br />
Mandanten des Kollegen fragen, was er verlieren<br />
würde, wenn er sich nicht mit den Untergebenen<br />
solidarisiert hätte, und dieser meint, dass dann der<br />
Erfolg des Projekts gefährdet gewesen wäre, da die<br />
Untergebenen über bedeutend mehr Sachverstand<br />
verfügen würden als die Vorgesetzten. Mein Mandant<br />
meint, dass er ein solches Vorgehen nicht<br />
zulassen könne, da dies den Arbeitsfrieden im<br />
Unternehmen gefährden würde.<br />
Der Mediator arbeitet heraus, dass es dem Arbeitnehmer<br />
um den Erfolg des Projekts (Anerkennung)<br />
geht und meinem Mandanten um die<br />
Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens im Unternehmen<br />
(Harmonie und Sicherheit).<br />
In der anschließenden Optionen-Phase werden<br />
zahlreiche Möglichkeiten gesucht, die beiden Interessen<br />
entsprechen und diese noch besser erfüllen<br />
als die jeweils gestellten Forderungen. Ein gemeinsames<br />
höheres Interesse, eine gemeinsame Mission<br />
oder Vision befördern diesen Prozess. Im<br />
soeben dargestellten Fall geht es sowohl meinem<br />
Mandanten als auch dem Arbeitnehmer um den<br />
Erfolg (Anerkennung) des Unternehmens. In der<br />
Lösungs-Phase werden sodann aus den gefundenen<br />
Möglichkeiten diejenigen ausgewählt, welchen<br />
beide zustimmen können.<br />
In unserem Fall könnten die beiden Parteien<br />
beschließen, von der fristlosen Kündigung Abstand<br />
zu nehmen, den Arbeitnehmer stattdessen in<br />
einem Start-up einzusetzen und ihm einen Teil<br />
des Lohns in Aktienoptionen auszuzahlen. Damit<br />
wird das Interesse meines Mandanten nach Frieden<br />
im Unternehmen entsprochen und der Arbeitnehmer<br />
kann seinen hohen Anspruch an Team-work<br />
und Erfolg im Start-up ausleben. Beide tragen sie<br />
so zum Erfolg des Gesamtunternehmens bei.<br />
Im rechtlichen Prozess würde der Richter vielleicht<br />
meinem Mandanten Recht geben und<br />
dieser sieht sich als Gewinner. Der Arbeitnehmer<br />
stellt sein Wissen und Können einer anderen<br />
Firma zur Verfügung und diese übernimmt mit<br />
dem dort entwickelten Produkt fünf Jahre später<br />
die Marktführerschaft. Pech gehabt.<br />
Die Mediation unterscheidet sich von einem<br />
rechtlichen Konfliktlösungsweg v.a. im dritten<br />
und vierten Schritt: Anstatt dass die Lösung des<br />
Konflikts im Gesetz gesucht wird, wird sie in der<br />
Psyche der am Konflikt Beteiligten gefunden. Das<br />
ist ein Paradigmenwechsel wie der Übergang von<br />
der Konfliktlösung durch Macht zu der durch<br />
Recht: Die Lösung des Konflikts besteht im Recht<br />
nicht mehr darin, dass der Stärkere den Schwächeren<br />
körperlich besiegt, sondern darin, dass<br />
sein Vorgehen im Einklang mit dem Recht steht.<br />
Wichtig für uns Anwälte ist daher eine genaue<br />
Analyse unserer Mandantschaft, da nur ca. 20 %<br />
der erwachsenen Bevölkerung, wollen wir Entwicklungspsychologen<br />
Glauben schenken, bereits<br />
in dieser Phase denken, fühlen und handeln.<br />
Die anderen 80 % wollen entweder ihre Macht<br />
durchsetzen, Recht haben oder Erfolg. Für die<br />
Macht-Mandanten sind wir nicht zuständig. Für<br />
die Recht-Haber ist der Rechtsprozess das richtige<br />
Tool, für die Erfolgs-Sucher das Verhandeln oder<br />
aber neue Verfahren, die unter dem Begriff Legal<br />
Tech subsumiert werden. Letzteren ist es wichtiger,<br />
dass der Konflikt erfolgreich, d.h., unter einem<br />
minimalen Einsatz von Geld, Zeit und Manpower,<br />
gelöst wird, als vom Richter Recht zu erhalten.<br />
Zukunft haben wir als Anwälte vermutlich dann,<br />
wenn wir uns entweder in einem dieser Konfliktlösungsgebiete<br />
(Recht, Legal Tech, Mediation)<br />
spezialisieren oder auf allen drei Hochzeiten<br />
einmal Tango, einmal Techno und einmal Freestyle<br />
tanzen können.<br />
Rechtsanwalt und Wirtschaftsmediator<br />
ADRIAN SCHWEIZER, Gersau (Schweiz)<br />
114 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Freiberufler sehen optimistisch in<br />
die Zukunft<br />
Das Geschäftsklima in der gewerblichen Wirtschaft<br />
hat sich seit längerem eingetrübt – nicht<br />
so jedoch bei den freien Berufen. Diese blicken<br />
nach wie vor unverzagt in die Zukunft. Dies<br />
meldete kürzlich der Bundesverband der Freien<br />
Berufe e.V. (BFB) nach Auswertung seiner Konjunkturumfrage<br />
Winter 2019. Der BFB hatte im<br />
vierten Quartal 2019 rund 800 Freiberufler zur<br />
Einschätzung ihrer aktuellen wirtschaftlichen Lage,<br />
der voraussichtlichen Geschäftsentwicklung in<br />
den kommenden sechs Monaten, ihrer Personalplanung<br />
und Kapazitätsauslastung befragt.<br />
Danach liegt das Geschäftsklima in den freien<br />
Berufen über vergleichbaren Indizes der gewerblichen<br />
Wirtschaft und hebt sich vom allgemeinen,<br />
eher pessimistischen Trend ab. Ihre aktuelle<br />
Geschäftslage schätzen 45,4 % der befragten<br />
Freiberufler als gut ein, 43,6 % als befriedigend<br />
und 11 % als schlecht. Verglichen mit den Vorjahreswerten<br />
hellt sich die Stimmung damit durchaus<br />
etwas auf: Im Winter 2018 beurteilten 47,7 %<br />
der Befragten ihre Lage als gut, 39,4 % als<br />
befriedigend und 12,9 % als schlecht. Alle Freiberufler-Gruppen<br />
sehen ihre Situation mehrheitlich<br />
als günstig: Die Freiberufler im technisch-naturwissenschaftlichen<br />
Bereich sind am zufriedensten,<br />
verhaltener sind die rechts-, steuer- und wirtschaftsberatenden<br />
Freiberufler, die freien Heilberufe<br />
und die freien Kulturberufe.<br />
„Die Freien Berufe sind auch weiterhin unverzagt. Die<br />
Lageanalyse fällt über alle Berufsgruppen hinweg insgesamt<br />
gut aus. Neun von zehn der befragten Freiberufler<br />
sind mit ihrer aktuellen Situation zufrieden. Auch<br />
der kurzfristige Trend ist positiv, allerdings ist hier eine<br />
gewisse Skepsis abzulesen, was auch darin gründet, dass<br />
die Stimmung in der übrigen Wirtschaft vernehmlich<br />
abflaut“, fasste der Präsident des BFB, Prof. Dr. EWER,<br />
die Ergebnisse der neuesten Umfrage zusammen.<br />
Interessant ist, dass jeder zehnte Befragte damit<br />
rechnet, binnen zwei Jahren noch mehr Mitarbeiter<br />
zu haben als jetzt. Acht von zehn Freiberuflern<br />
wollen ihre Mitarbeiterzahl zumindest halten.<br />
Allerdings gestaltet sich die Personalplanung zusehends<br />
schwieriger. Es zeigt sich damit, dass der<br />
Fachkräftemangel auch bei den Freien Berufen<br />
eindeutige Spuren hinterlässt und die Mitarbeiterbindung<br />
noch dringlicher macht. Die Nachfrage<br />
nach freiberuflichen Dienstleistungen ist jedenfalls<br />
ungebrochen. Für 31,6 % der Befragten ist sie jetzt<br />
schon zu hoch, sie gehen mit ihren Kapazitäten<br />
bereits übers Limit. „Diese Zahlen unterstreichen, dass<br />
die Freien Berufe ein Zukunftssektor sind und ihre<br />
wissensbasierten Dienstleistungen ein hohes Wachstumspotenzial<br />
haben“, erklärte Prof. Dr. EWER.<br />
Bundestag entscheidet über<br />
Organspenden<br />
[Quelle: BFB]<br />
Die Bereitschaft, Organe nach dem eigenen Tod<br />
zu spenden, soll in Zukunft regelmäßiger erfragt<br />
werden. Das hat der Deutsche Bundestag am<br />
16. Januar beschlossen und sich damit für die sog.<br />
Zustimmungslösung entschieden. Künftig soll<br />
eine Erklärung zur Organspende auch in Ausweisstellen<br />
möglich sein. Außerdem sollen Hausärzte<br />
die Patienten ermuntern, eine Entscheidung<br />
zu dokumentieren.<br />
Eine Gruppe von Abgeordneten des Deutschen<br />
Bundestags um ANNALENA BAERBOCK und KATJA<br />
KIPPING hatte den Gesetzentwurf eingebracht.<br />
Auch ein Gesetzentwurf zur sog. Widerspruchslösung,<br />
den eine weitere Gruppe von Abgeordneten<br />
um Bundesgesundheitsminister JENS SPAHN<br />
und Prof. Dr. KARL LAUTERBACH eingebracht hat,<br />
stand zur Abstimmung. Dieser sah vor, jeden zum<br />
potenziellen Organspender zu erklären, der nicht<br />
zuvor widersprochen hatte.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 115
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Nach dem jetzt vom Bundestag beschlossenen<br />
Konzept bleibt die derzeit geltende Rechtslage<br />
(sog. Entscheidungslösung) in ihrem Kern unverändert,<br />
d.h. eine Organspende ist grds. nur dann<br />
möglich, wenn der mögliche Organspender zu<br />
Lebzeiten eingewilligt hat oder sein nächster<br />
Angehöriger zugestimmt hat. Ziel ist es, die persönliche<br />
Entscheidung zu registrieren, verbindliche<br />
Information und bessere Aufklärung zu gewährleisten<br />
und die regelmäßige Auseinandersetzung<br />
mit der Thematik zu fördern.<br />
Das Gesetz hat zudem folgende Eckpunkte:<br />
• Die Einrichtung eines bundesweiten Online-<br />
Registers beim Bundesinstitut für Arzneimittel<br />
und Medizinprodukte.<br />
• Die Ausweisstellen von Bund und Ländern müssen<br />
den Bürgerinnen und Bürgern zukünftig<br />
Aufklärungsmaterial und Organspendeausweise<br />
aushändigen bzw. bei elektronischer Antragsstellung<br />
elektronisch übermitteln. Dabei wird auf<br />
weitere Informations- und Beratungsmöglichkeiten<br />
sowie die Möglichkeit, sich vor Ort oder<br />
später in das Online-Register einzutragen, hingewiesen.<br />
• Hausärzte können künftig bei Bedarf ihre<br />
Patientinnen und Patienten alle zwei Jahre<br />
über die Organ- und Gewebespende ergebnisoffen<br />
beraten. Das Gesetz sieht außerdem vor,<br />
die Organ- und Gewebespende verstärkt in<br />
der ärztlichen Ausbildung zu verankern.<br />
• Grundwissen zur Organspende soll auch in den<br />
Erste-Hilfe-Kursen im Vorfeld des Erwerbs der<br />
Fahrerlaubnis vermittelt werden.<br />
Das Gesetz wird zwei Jahre nach seiner Verkündung<br />
in Kraft treten, voraussichtlich im ersten<br />
Quartal 2022.<br />
[Quelle: BMG]<br />
Strafverschärfung beim sog.<br />
Cybergrooming beschlossen<br />
Der Deutsche Bundestag hat am 17. Januar einen<br />
Gesetzentwurf gegen das sog. Cybergrooming<br />
beschlossen. Täter sollen damit noch effektiver<br />
verfolgt werden können, wenn sie mit dem Ziel<br />
im Netz unterwegs sind, sexuellen Missbrauch<br />
oder die Herstellung von Kinderpornografie anzubahnen.<br />
Künftig ist auch der Versuch strafbar,<br />
d.h., wenn die Täter nur glauben, mit einem Kind<br />
zu kommunizieren, tatsächlich aber mit verdeckten<br />
Ermittlern oder den Eltern Kontakt haben.<br />
Als Cybergrooming wird bezeichnet, wenn Täter<br />
im Internet nach ihren Opfern suchen. Der Begriff<br />
leitet sich ab vom englischen Anbahnen oder<br />
Vorbereiten und steht für unterschiedliche Handlungen,<br />
die einen sexuellen Missbrauch vorbereiten<br />
und durch ein strategisches Vorgehen von<br />
Tätern und Täterinnen gegenüber Mädchen und<br />
Jungen gekennzeichnet sind.<br />
Sexuelle Missbrauchstaten werden oft im Schatten<br />
der Anonymität des Netzes angebahnt. Täter<br />
geben sich in Sozialen Netzwerken wie Snapchat<br />
oder Instagram oder auch in Chatfunktionen von<br />
Online-Spielen oft selbst als Kinder aus und versuchen,<br />
mit Kindern in Kontakt zu kommen. Sie<br />
versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen, manipulieren<br />
ihre Wahrnehmung, verstricken sie in Abhängigkeit<br />
und sorgen dafür, dass sie sich niemandem<br />
anvertrauen. Das vollendete Delikt kann heute<br />
schon nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB bestraft werden.<br />
Künftig werden auch die Fälle strafrechtlich erfasst,<br />
in denen der Täter lediglich glaubt, auf ein Kind<br />
einzuwirken, tatsächlich aber mit einem Erwachsenen<br />
kommuniziert, etwa mit einem Elternteil<br />
oder einem verdeckten Ermittler. Im Laufe des<br />
Gesetzgebungsverfahrens wurde der Entwurf noch<br />
um einen Punkt ergänzt. Danach wird den Strafverfolgungsbehörden<br />
künftig unter engen Voraussetzungen<br />
erlaubt, computergenerierte kinderpornografische<br />
Bilder zu verwenden. Dadurch<br />
sollen sich die Ermittler auch Zugang zu den<br />
geschlossenen Foren verschaffen können. Voraussetzung<br />
dafür ist eine richterliche Genehmigung.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
EuGH-Generalanwalt stärkt Verbot<br />
der Vorratsdatenspeicherung<br />
Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof<br />
(EuGH) MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA hat mit<br />
seinen Schlussanträgen zu mehreren anhängigen<br />
Verfahren, die die Vorratsdatenspeicherung in<br />
Frankreich, Großbritannien und Belgien betreffen,<br />
die Vorbehalte gegen eine anlasslose Datenspeicherung<br />
weiter bekräftigt. In seinen Ausführungen,<br />
die die EuGH-Entscheidung in den Verfahren<br />
C-623/17 C-511/18, C-512/18 und C-520/18 vorbereiten,<br />
vertritt er die Auffassung, dass der Staat auch<br />
zum Zweck der Terrorbekämpfung enge Grenzen<br />
beachten muss. Die Rechtsansicht des Generalanwalts<br />
bindet den EuGH zwar nicht, der Gerichtshof<br />
folgt ihnen jedoch in den meisten Fällen.<br />
116 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Nach Auffassung von CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA<br />
verstoßen die aktuellen Regelungen in Frankreich,<br />
Großbritannien und Belgien gegen die EuGH-<br />
Rechtsprechung, wonach eine anlasslose Speicherung<br />
der Verbindungsdaten nicht mit EU-<br />
Recht vereinbar ist. Für Fälle, in denen es um die<br />
Kriminalitätsbekämpfung oder die nationale Sicherheit<br />
geht, hält er allenfalls eine „begrenzte<br />
und differenzierte“ Speicherung für zulässig; auch<br />
müsse in solchen Fällen der Zugang zu den<br />
gespeicherten Daten der Kontrolle, etwa durch<br />
ein Gericht, unterliegen. Lediglich für außergewöhnliche<br />
Gefahrenlagen, z.B. eine unmittelbar<br />
bevorstehende Bedrohung, die die offizielle Erklärung<br />
des Notstands rechtfertigen könnte, hält<br />
der Generalanwalt eine weitergehende Vorratsdatenspeicherung<br />
für zulässig.<br />
In ersten Kommentaren wird die Stellungnahme<br />
des EuGH-Generalanwalts als Stärkung auch des<br />
Anwaltsgeheimnisses gewertet. Sollte sich der<br />
EuGH der in den Schlussanträgen geäußerten<br />
Rechtsauffassung anschließen, dürfte – so Beobachter<br />
– auch die deutsche Gesetzgebung zur<br />
Vorratsdatenspeicherung, die seinerzeit von der<br />
Anwaltschaft stark bekämpft worden ist, auf der<br />
Kippe stehen. Denn gegen die deutschen Regelungen<br />
zur Vorratsdatenspeicherung in §§ 113a, b<br />
TKG sind derzeit sowohl mehrere Verfassungsbeschwerden<br />
in Karlsruhe als auch – nach<br />
Vorlage durch das BVerwG – ein Verfahren vor<br />
dem EuGH anhängig. Dessen Entscheidung wird<br />
noch im Laufe dieses Jahres erwartet. Wendet<br />
man die vom Generalanwalt dargelegten Rechtsgrundsätze<br />
auf Deutschland an, so die Kommentatoren,<br />
müssten zwangsläufig auch die hiesigen<br />
Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung für EUrechtswidrig<br />
erklärt werden.<br />
[Red.]<br />
E-Mail-Kommunikation mit den<br />
Mandanten<br />
Seit dem 1. Januar gilt der neu gefasste § 2 BORA,<br />
wonach der Rechtsanwalt dem Mandanten – nach<br />
einem Hinweis auf die Risiken – auch unverschlüsselte<br />
E-Mails schicken darf, falls dieser zuvor<br />
ebenfalls unverschlüsselt an den Anwalt gemailt<br />
hatte (vgl. zu dieser Neuregelung auch<br />
Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 2019, 533).<br />
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat nun darauf<br />
aufmerksam gemacht, dass diese rein berufsrechtliche<br />
Regelung nicht die Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung<br />
(DSGVO) außer Kraft<br />
setzt, die ebenfalls Sicherheitsanforderungen an<br />
die EDV in der Kanzlei formuliert und mit empfindlichen<br />
Geldbußen bei Verstößen droht. Die<br />
Vorgaben der DSGVO seien deshalb auch von<br />
jedem Anwalt zu beachten. Auch bei Zustimmung<br />
des Mandanten in eine bestimmte Kommunikationsform<br />
müsse der Anwalt bei seinen E-Mail-<br />
Antworten die „nach dem Datenschutzrecht erforderlichen<br />
Schutzmaßnahmen ergreifen“. Damit seien vor<br />
allem die Schutzstandards der IT-Sicherheit gemeint<br />
(vgl. dazu etwa die Hinweise der BRAK unter<br />
https://www.brak.de/fuer-anwaelte/datenschutz). Ungeklärt,<br />
so die Experten des DAV, sei jedoch die<br />
Frage, ob unverschlüsselte E-Mails „überhaupt<br />
unter der DSGVO zulässig“ sind. Dies sei auch unter<br />
Datenschützern umstritten.<br />
Fazit: Ein Rechtsanwalt, der unverschlüsselte<br />
Mails verschickt, ist zwar ggf. vor berufsrechtlichen<br />
Sanktionen sicher, nicht jedoch vor etwaigen<br />
Bußgeldern nach der DSGVO. So bleibt im<br />
Interesse der Anwälte nur zu hoffen, dass hier<br />
bald eine Klarstellung herbeigeführt wird, notfalls<br />
durch den Gesetzgeber.<br />
[Red.]<br />
EU will gegen den „Gender Pay Gap“<br />
vorgehen<br />
Die EU-Kommission hat angekündigt, demnächst<br />
mit Gesetzgebungsmaßnahmen gezielt gegen die<br />
Lohnungleichheit von Männern und Frauen in den<br />
EU-Mitgliedstaaten vorzugehen. Sie veröffentlichte<br />
Anfang Januar eine erste Folgenabschätzung der<br />
geplanten Maßnahmen („Inception Impact Assessment“)<br />
und kündigt baldige Gesetzgebungsaktivität<br />
zur Stärkung der Lohngleichheit von Frauen und<br />
Männern durch mehr Transparenz bei der Entlohnung<br />
an.<br />
Die EU-Kommission ist überzeugt, dass es sich<br />
positiv auf die Durchsetzung des Grundrechts auf<br />
Gleichbehandlung auch im Entlohnungsbereich<br />
auswirkt, wenn es künftig einen verbesserten<br />
Zugang zu Informationen über das Lohnniveau<br />
sowie ein besseres Verständnis einiger bestehen-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 117
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
der Rechtskonzepte und eine Verbesserung der<br />
Durchsetzungsmechanismen in den EU-Rechtsvorschriften<br />
gibt.<br />
Die neue Initiative geht auf einen schon mehrere<br />
Jahre alten Aktionsplan der EU-Kommission zur<br />
Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles<br />
sowie auf Schlussfolgerungen des Rates<br />
und wiederholte Forderungen des EU-Parlaments<br />
zurück. Auch die neue Kommissionspräsidentin<br />
URSULA VON DER LEYEN hat sich in ihren politischen<br />
Leitlinien verpflichtet, verbindliche Maßnahmen<br />
zur Lohntransparenz einzuführen. Noch bis Anfang<br />
Februar sollen Stellungnahmen von Verbänden<br />
eingeholt werden, bevor weitere gesetzgeberische<br />
Schritte eingeleitet werden.<br />
[Quelle: EU-Kommission]<br />
Neue PKH-Freibeträge zum 1.1.<strong>2020</strong><br />
Mit der Prozesskostenhilfebekanntmachung <strong>2020</strong><br />
(BGBl I, S. 2942) wurden die neuen Einkommensfreibeträge<br />
nach § 115 ZPO zur Berechnung der<br />
Prozesskosten- und Beratungshilfeberechtigung<br />
festgelegt. Diese sind bei allen Entscheidungen<br />
über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe ab<br />
dem 1. Januar maßgeblich, auch wenn der Antrag<br />
bereits 2019 gestellt wurde.<br />
Danach betragen die ab dem 1.1.<strong>2020</strong> maßgebenden<br />
Beträge, die nach § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1<br />
Buchst. b und Nr. 2 ZPO vom Einkommen der<br />
Partei abzusetzen sind,<br />
1. für Parteien, die ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />
erzielen (§ 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 Buchst. b<br />
ZPO): 228 €,<br />
2. für die Partei und ihren Ehegatten oder ihren<br />
Lebenspartner (§ 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 Buchst. a<br />
ZPO): 501 €,<br />
3. für jede weitere Person, der die Partei aufgrund<br />
gesetzlicher Unterhaltspflicht Unterhalt<br />
leistet, in Abhängigkeit von deren Alter (§ 115<br />
Abs. 1 S. 3 Nr. 2 Buchst. b ZPO):<br />
a) Erwachsene: 400 €,<br />
b) Jugendliche vom Beginn des 15. bis zur<br />
Vollendung des 18. Lebensjahrs: 381 €,<br />
c) Kinder vom Beginn des siebten bis zur<br />
Vollendung des 14. Lebensjahrs: 358 €,<br />
d) Kinder bis zur Vollendung des sechsten<br />
Lebensjahrs: 289 €.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Bundesrat will höhere<br />
Haftentschädigung<br />
Seit längerem setzt sich die Anwaltschaft dafür<br />
ein, dass die Haftentschädigung für zu Unrecht<br />
Inhaftierte deutlich angehoben wird. So fordert<br />
etwa der Deutsche Anwaltverein (DAV), dass die<br />
immaterielle Entschädigung für Justizopfer von<br />
derzeit 25 € auf einen Betrag von mindestens<br />
100 € pro Hafttag anzuheben ist.<br />
Anspruch auf eine Entschädigung haben z.B. Untersuchungsgefangene,<br />
deren Verfahren eingestellt<br />
wird oder die freigesprochen werden. Auch<br />
nach einer rechtskräftigen Verurteilung können<br />
Betroffene Haftentschädigung bekommen, wenn<br />
ein Wiederaufnahmeverfahren mit Freispruch<br />
oder Aufhebung der Strafe endet. Die fiskalische<br />
Belastung bei einer Anhebung wie vom DAV<br />
gefordert wäre für den Haushalt bzw. den Steuerzahler<br />
verglichen mit anderen sozialen Ausgaben<br />
eine vernachlässigbare Größe. Der Wert von Freiheit<br />
lasse sich, so der Verein, materiell nicht<br />
quantifizieren. Habe der Staat einem Menschen<br />
diese Freiheit zu Unrecht entzogen, müsse er<br />
versuchen, diesen Verlust zumindest symbolisch<br />
aufzuwiegen. Die derzeitige Entschädigungshöhe<br />
in Deutschland von 25 € sei jedoch deutlich niedriger<br />
als jene in anderen Ländern und bilde im<br />
europäischen Vergleich sogar das Schlusslicht.<br />
Offenbar haben die Appelle der Anwaltschaft in der<br />
Politik Gehör gefunden. Nachdem sich zunächst die<br />
Justizministerkonferenz im Herbst 2017 für eine<br />
Erhöhung der Haftentschädigung ausgesprochen<br />
hatte, ohne sich jedoch auf einen konkreten Betrag<br />
festzulegen, schlugen einige Bundesländer in einer<br />
Länderinitiative eine Erhöhung auf 50 € vor. Dieser<br />
Antrag stand nun am 20.12.2019 in der letzten<br />
Sitzung vor dem Jahresende auf der Tagesordnung<br />
des Bundesrates. Dort einigte man sich auf eine<br />
Anhebung auf 75 €. Dieser Betrag geht noch über<br />
die Länderinitiative hinaus, erreicht jedoch nicht die<br />
Forderung etwa des DAV.<br />
Der Bundesrat begründet seinen Entschluss damit,<br />
dass die letzte Anpassung der Entschädigung<br />
für den immateriellen Schaden einer Freiheitsentziehung<br />
2009 erfolgt sei. Daher sei aus seiner<br />
Sicht jetzt eine Erhöhung dringend geboten, wie<br />
es in dem Beschluss der Länderkammer heißt. Der<br />
Gesetzentwurf ist bereits an die Bundesregierung<br />
gesandt worden, die dazu nun eine Stellung-<br />
118 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
nahme formulieren kann. Anschließend muss<br />
sich noch der Bundestag mit dem Ländervorschlag<br />
befassen.<br />
[Quelle: Bundesrat]<br />
Haftungsfragen beim Einsatz von KI<br />
Künstliche Intelligenz (kurz: KI) hält in immer mehr<br />
Bereichen der Industrie und des Dienstleistungssektors<br />
Einzug. Bereits heute bedienen sich etwa<br />
Banken, Versicherungen und Internet-Dienste diesen<br />
fortgeschrittenen Technologien, ohne dass die<br />
Kunden viel davon merken. Anwendungen der<br />
Zukunft, etwa das autonome Fahren, sind ohne<br />
den Einsatz von KI gar nicht denkbar. Auch der<br />
Rechtsberatungsmarkt wird davon nicht unberührt<br />
bleiben, wie bereits die aktuell angebotenen sog.<br />
Legal-Tech-Dienstleistungen zeigen.<br />
Noch steckt diese Technologie in den Anfängen;<br />
aber bereits jetzt wird ihr Einsatz auch rechtlich<br />
hinterfragt, nicht nur bei der Zulässigkeit der<br />
Angebote – im Rechtsmarkt etwa mit Blick auf<br />
das Rechtsdienstleistungsgesetz –, sondern auch<br />
bei der Haftung. Die einzelnen nationalen Regelungen<br />
zum Haftungsrecht sind lange vor der<br />
Entwicklung der KI entstanden und auch auf der<br />
EU-Ebene gibt es derzeit nur die Produkthaftungsrichtlinie.<br />
Diese Situation war im Sommer 2018 Anlass für die<br />
EU-Kommission, zuoffenen Haftungsfragen beim<br />
Einsatz von KI eine Expertengruppe einzusetzen.<br />
Sie sollte erforschen, ob das derzeit geltende EU-<br />
Recht angesichts der neuen Technologien noch<br />
ausreichend ist, oder ob Handlungsbedarf besteht.<br />
Die Ergebnisse der Expertengruppe wurden von der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer kürzlich vorgestellt.<br />
Danach kommt die Expertengruppe in ihrem<br />
Bericht („Liability for artificial intelligence and other<br />
emerging digital technologies“) zu dem Schluss, dass<br />
Handlungsbedarf besteht. Zwar würden die geltenden<br />
Haftungsregelungen in den Mitgliedstaaten<br />
zumindest für einen Grundschutz für Schäden, die<br />
im Zusammenhang mit neuen Technologien entstanden<br />
sind, sorgen. Allerdings könnten aufgrund<br />
der spezifischen Charakteristika dieser KI-Technologien,<br />
wie etwa der Fähigkeit, selbstständig zu<br />
lernen, oftmals keine angemessenen Ergebnisse bei<br />
Anwendung der bestehenden Regelungen in Schadensfällen<br />
erzielt werden. Ferner hänge es aufgrund<br />
der unterschiedlichen Ausgestaltung der Produkthaftungsregeln<br />
in den Mitgliedstaaten auch davon<br />
ab, in welchem Land ein Opfer Kompensation für<br />
seine Schäden fordere. Es mangele an einer kohärenten<br />
und angemessenen Antwort der Rechtssysteme<br />
auf spezifische Bedrohungen für Individuen.<br />
Insbesondere erhielten die Opfer von Schäden<br />
durch neuen Technologien im Vergleich zu Opfern<br />
von Schäden, die durch Menschen oder herkömmliche<br />
Technologie entstanden sind, weniger oder<br />
keine Kompensation. Schließlich sei ein effektiver<br />
Zugang zum Recht nicht immer gegeben, da<br />
entsprechende Prozesse für die Opfer oftmals<br />
übermäßig mühsam oder teuer würden.<br />
Zur Lösung dieser Probleme haben die Experten<br />
zwei Ansätze verfolgt: Der eine geht in Richtung<br />
einer verschuldensunabhängigen, der andere in<br />
Richtung einer fehlerbasierten Haftung. Die Expertengruppe<br />
schlägt beispielsweise vor, eine<br />
„strict liability“ für Personen einzuführen, die KI-<br />
Anwendungen mit erhöhtem Schadensrisiko führen.<br />
Wenn ein Diensteanbieter ein höheres Maß an<br />
Kontrolle hat, als der Nutzer der Anwendung, soll<br />
dies bei der Zurechnung berücksichtigt werden.<br />
Eine Person, die eine KI-Anwendung mit einem<br />
gewissen Maß an Autonomie führt, soll nicht<br />
anders behandelt werden als wenn der Schaden<br />
durch einen menschlichen Helfer entstanden wäre.<br />
Auch wer eine Anwendung führt, der kein erhöhtes<br />
Risiko innewohnt, sollte dazu verpflichtet sein,<br />
die Technologie sorgfältig auszuwählen, zu überwachen,<br />
zu führen und instand zu halten und<br />
schließlich bei Verstößen dagegen haftbar sein.<br />
Hersteller von Produkten oder digitalen Inhalten<br />
sollen für Fehler haften, auch wenn diese auf<br />
Veränderungen, die nach Inverkehrbringen unter<br />
ihrer Kontrolle durchgeführt wurden, entstanden<br />
sind. Ihre verschuldensunabhängige Haftung soll<br />
einen grundlegenden Bestandteil bei der Kompensation<br />
von Schäden darstellen. Wo Dritte der<br />
Gefahr von Schäden ausgesetzt sind, soll eine<br />
verpflichtende Versicherung eingeführt werden.<br />
Die neuen Technologien sollen weiter mit einer<br />
Protokollierungsmöglichkeit ausgestattet sein, so<br />
dass Informationen zum Ablauf ihrer Funktionen<br />
gespeichert werden. Ein Fehler hierbei soll zu einer<br />
Umkehrung der Beweislast führen. Grundsätzlich<br />
soll zwar weiterhin das Opfer beweisen müssen,<br />
wodurch sein Schaden entstanden ist, davon soll es<br />
aber Ausnahmen und Erleichterungen geben, wo<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 119
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
die spezifischen Eigenschaften der neuen Technologien<br />
die Beweisführung erschweren würden.<br />
Eine bislang umstrittene Frage haben die Experten<br />
eindeutig beantwortet: Von der Einführung<br />
einer eigenen Rechtspersönlichkeit für Künstliche<br />
Intelligenz raten sie ab.<br />
[Red.]<br />
Rechtssicherheit für WLAN-<br />
Anbieter<br />
Die vor zwei Jahren in Kraft getretenen Änderungen<br />
am Telemediengesetz haben nach Aussagen<br />
von Marktteilnehmern nur bedingt zu mehr<br />
Rechtssicherheit beim Anbieten von WLAN-Verbindungen<br />
geführt. Dies geht aus dem als Unterrichtung<br />
vorgelegten Bericht der Bundesregierung<br />
zum Dritten Gesetz zur Änderung des<br />
Telemediengesetzes hervor. Auch wenn sich die<br />
Rechtslage für WLAN-Betreiber in der Praxis<br />
insgesamt beruhigt habe, sei nur ein „leichtes<br />
Durchatmen“ bei den WLAN-Betreibern zu verspüren,<br />
„da sich die Rechtsunsicherheit lediglich<br />
verlagert habe“, zitiert die Bundesregierung darin<br />
aus Einschätzungen von Zugangsvermittlern.<br />
Die Kritik zielt darauf ab, dass weiterhin unklar<br />
sei, wann eine Haftung entfalle (zweifelnd<br />
bereits seinerzeit LANGE Kolumne <strong>ZAP</strong> 2016,<br />
1151 f.). Der Gesetzgeber, so die Kritiker, habe<br />
nicht hinreichend konkretisiert, welche Sicherheitsmaßnahmen<br />
WLAN-Betreiber ergreifen<br />
müssen. Auch von Seiten der Rechteinhaber<br />
und der Zugangsanbieter gibt es Detailkritik an<br />
der derzeitigen Rechtslage. Verlässliche Zahlen,<br />
wie sich die Zahl der WLAN-Geräte und Hotspots<br />
in Deutschland nach der Gesetzesänderung<br />
entwickelt habe, gebe es nicht, erklärt die<br />
Bundesregierung weiter. Sowohl von den Zugangsvermittlern<br />
als auch von den Rechteinhabern<br />
werde zumindest vorgetragen, dass fast<br />
jedes neu auf den Markt kommende elektronische<br />
Gerät WLAN-fähig und ein Ausbau der<br />
Hotspots in Deutschland zu verzeichnen sei.<br />
Die Bundesregierung will das Gesetz vorerst<br />
nicht ändern. Sie werde die Entwicklung der<br />
Rechtsprechung weiter aufmerksam verfolgen<br />
und mit den beteiligten Kreisen deren praktische<br />
Auswirkungen erörtern, erklärte sie in ihrem<br />
Bericht.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Nutzung von Online-Mediation<br />
Die Bundesregierung geht davon aus, dass die<br />
zunehmende Gewöhnung an Online-Kommunikation<br />
und Entwicklungen wie die Online-Streitschlichtung<br />
für eine zunehmende Akzeptanz und<br />
Nutzung auch von Online-Mediation sorgen<br />
werden. Das teilte sie kürzlich in einer Antwort<br />
auf eine Kleine Anfrage im Bundestag mit (BT-<br />
Drucks 19/14014). Allerdings dürfte es sich hier um<br />
eine langfristige Entwicklung handeln, heißt es<br />
darin weiter. So sei für den Bereich der Mediation<br />
derzeit noch zu konstatieren, dass in den meisten<br />
Fällen nur Teile des Mediationsverfahrens online<br />
durchgeführt würden, während insb. die zentrale<br />
Phase der Mediation im Regelfall bei persönlicher<br />
Anwesenheit der Beteiligten erfolge.<br />
Wie die Bundesregierung weiter ausführt, legt die<br />
Zertifizierte-Mediatoren-Ausbildungsverordnung<br />
lediglich Mindeststandards für die Aus- und Fortbildung<br />
sowie für Aus- und Fortbildungseinrichtungen<br />
fest. Das Bundesministerium der Justiz und<br />
für Verbraucherschutz (BMJV) plane – nicht zuletzt<br />
aus Anlass des Evaluationsberichts zum Mediationsgesetz<br />
– für das Jahr <strong>2020</strong> einen Kongress mit<br />
allen Interessierten, um sich darüber auszutauschen,<br />
wie die Mediation in Deutschland nachhaltig<br />
gefördert werden könne. In diesem Rahmen werde<br />
auch die Frage erörtert werden, ob die Mediationslandschaft<br />
in Deutschland ausreichend auf<br />
die Digitalisierung und den damit einhergehenden<br />
Wandel vorbereitet ist. [Quelle: Bundestag]<br />
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[Red.]<br />
120 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 15<br />
Rechtsprechung<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Mietwagenkosten: Arithmetisches Mittel aus Fraunhofer-Liste und Schwacke-Liste<br />
(OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 28.11.2019 – 7 U 39/19) • Mietwagenkosten sind nur im Umfang des<br />
günstigsten Vergleichsangebots auf dem örtlich relevanten Markt erstattungsfähig. Gesondert in<br />
Rechnung gestellte weitere Leistungen wie Winterreifen, Zustellung und Abholung des Ersatzfahrzeugs,<br />
weiterer Fahrer, Anhängerkupplung und Navigationsgerät sind dem arithmetischen Mittel aus den<br />
Tabellen von Fraunhofer und Schwacke nur dann zuzuschlagen, sofern sie i.R.d. streitgegenständlichen<br />
Anmietung auch tatsächlich angefallen sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 48/<strong>2020</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Dieselskandal: Einbau eines Thermofensters<br />
(OLG Koblenz, Urt. v. 9.12.2019 – 12 U 555/19) • Angesichts einer als nicht unzweifelhaft und nicht eindeutig<br />
einzustufenden europarechtlichen Gesetzeslage kann der Einbau eines „Thermofensters“ durch den<br />
Hersteller eines mit einem Dieselmotor ausgestatteten Fahrzeugs nicht als sittenwidrige Schädigung des<br />
Fahrzeugerwerbers bewertet werden. Übersteigt die Laufleistung des Fahrzeugs die durchschnittlich zu<br />
erwartende Gesamtlaufleistung von 250.000 km, zehrt die anzurechnende Nutzungsentschädigung einen<br />
eventuell bestehenden Schadenersatzanspruch des Fahrzeugkäufers in vollem Umfang auf. Hinweis: Das<br />
OLG bestätigt seine bisherige Rechtsprechung; im Verfahren ging es um einen Mercedes-Benz A 180 CDI.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 49/<strong>2020</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Untervermietungserlaubnis: Folgen eines Widerrufs<br />
(LG Berlin, Urt. v. 30.10.2019 – 64 S 36/19) • Der Hauptmieter ist nicht allein deswegen berechtigt, ein mit<br />
Erlaubnis des Hauptvermieters begründetes unbefristetes Untermieterverhältnis nach § 573 Abs. 1 BGB zu<br />
kündigen, weil der Hauptvermieter die Untervermietungserlaubnis wirksam widerrufen hat. Liegen die<br />
Voraussetzungen der §§ 549 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2, 573a Abs. 2 BGB für eine erleichterte Kündigung des<br />
Untermietverhältnisses nicht vor und kann der Hauptmieter sich mangels konkreter Absicht, die Mieträume<br />
wieder selbst zu bewohnen, auch nicht auf berechtigten Eigenbedarf stützen, so bleibt seine Kündigung ohne<br />
Erfolg. Die mit dem wirksamen Widerruf der Untervermietungserlaubnis begründete Pflicht des Hauptmieters,<br />
die Untervermietung zu beenden, vermag auch nicht deswegen ein sonstiges berechtigtes Interesse<br />
an der Beendigung des Untermietverhältnisses i.S.d. § 573 Abs. 1 BGB zu begründen, weil ihm bei Fortsetzung<br />
der Untervermietung die Kündigung des Hauptmietverhältnisses drohte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 50/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 121
Fach 1, Seite 16 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Vereinbarung eines neuen Preises nach der VOB/B: Mengenmehrung<br />
(BGH, Urt. v. 21.11.2019 – VII ZR 10/19) • Der Anspruch auf Vereinbarung eines neuen Preises nach § 2 Abs. 3<br />
Nr. 2 VOB/B setzt nach dem Wortlaut der Klausel nur voraus, dass die ausgeführte Menge den im Vertrag<br />
angegebenen Mengenansatz um mehr als 10 % überschreitet und eine Partei die Vereinbarung eines neuen<br />
Preises verlangt. Dagegen ergibt sich aus § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B nicht, dass eine auf die Mengenmehrung<br />
kausal zurückzuführende Veränderung der im ursprünglichen Einheitspreis veranschlagten Kosten<br />
Voraussetzung für den Anspruch auf Vereinbarung eines neuen Preises ist (Anschluss an BGH, Urt.<br />
v. 8.8.2019 – VII ZR 34/18, BauR 2019, 1766 = NZBau 2019, 706). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 51/<strong>2020</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Grunddienstbarkeit: Erneute Anlage<br />
(BGH, Urt. v. 12.7.2019 – V ZR 288/17) • Die Berechtigung aus einer Grunddienstbarkeit, eine Anlage auf<br />
dem dienenden Grundstück mitzubenutzen, bezieht sich bei nächstliegender Auslegung regelmäßig<br />
nicht nur auf die bei der Bestellung des Rechts vorhandene, sondern auch auf eine erneuerte Anlage.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 52/<strong>2020</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Kapitalanlageberatung: Zurechnung<br />
(BGH, Urt. v. 21.11.2019 – III ZR 244/18) • Der Schutzzweck einer Auskunfts- oder Beratungspflicht ist<br />
nicht stets auf den ersten Erwerb einer Anlage auf der Grundlage der Empfehlung begrenzt. Es steht den<br />
Vertragsparteien frei, auch größere oder unbestimmte Risiken einzugehen. Insofern kann der<br />
Schutzzweck haftungserweiternd wirken. Deshalb können auch spätere Anlageentscheidungen, die<br />
der Anleger auf der Grundlage der pflichtwidrig erteilten Empfehlung, jedoch ohne erneute Beratung/<br />
Vermittlung trifft, dem Berater oder Vermittler zuzurechnen sein. Hinweis: In diesem Fall legte der<br />
Kläger Geld bei einem Rechtsanwalt an. Nachdem dieser verstorben war, wurde über seinen Nachlass<br />
ein Insolvenzverfahren eröffnet, in welchem einer Masse von rd. 400.000 € Forderungen im Umfang<br />
von über 8 Mio. Euro gegenüberstehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 53/<strong>2020</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Linksabbieger: Überhöhte Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten<br />
(LG Saarbrücken, Urt. v. 30.12.2019 – 13 S 66/19) • Ereignet sich beim Linksabbiegen eines Pkw ein<br />
Verkehrsunfall mit einem sich auf einer bevorrechtigen Straße mit überhöhter Geschwindigkeit von links<br />
nähernden Motorrads, so steht der festgestellte Geschwindigkeitsverstoß der Annahme eines gegen den<br />
Linksabbieger sprechenden Anscheinsbeweises jedenfalls dann nicht entgegen, wenn der Motorradfahrer für<br />
den Abbiegenden in der Annäherung erkennbar war. Hinweis: Vorliegend stand nach gutachterlichen<br />
Darlegungen ein Geschwindigkeitsverstoß des Vorfahrtsberechtigten von mindestens 61 km/h bis zu 75 km/h<br />
fest. Der Geschwindigkeitsverstoß entlastete den Wartepflichtigen aber nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 54/<strong>2020</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Krankenversicherung: Medizinische Notwendigkeit einer In-vitro-Fertilisation<br />
(BGH, Urt. v. 4.12.2019 – IV ZR 323/18) • Für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer Invitro-Fertilisation<br />
(IVF) mit intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) sind deren Erfolgsaussichten<br />
grds. nur am Behandlungsziel der Herbeiführung einer Schwangerschaft zu messen. Hinweis:<br />
Der Kläger des Ausgangsverfahrens leidet an einer Kryptozoospermie und kann auf natürlichem Wege<br />
keine Kinder zeugen; er nahm seinen privaten Krankenversicherer erfolgreich auf Erstattung der Kosten<br />
122 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 17<br />
(ca. 17.500 €) für insgesamt vier Behandlungszyklen einer IVF und anschließenden Embryotransfer in<br />
Anspruch. Grund für die Leistungsablehnung der Krankenversicherung war das Alter der Ehefrau des<br />
Klägers mit 44 Jahren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 55/<strong>2020</strong><br />
Familienrecht<br />
Umgangsverweigerung: Ordnungshaft<br />
(OLG Saarbrücken, Beschl. v. 11.12.2019 – 6 WF 156/19) • Jedenfalls in Fällen nicht ausreichend nachvollziehbarer<br />
und längerer Umgangsverweigerung kann gegen den betreuenden Elternteil zur Durchsetzung<br />
des Umgangs eine Ordnungshaft (hier: fünf Tage) angeordnet werden, wenn die Anordnung eines<br />
Ordnungsgelds keinen Erfolg verspricht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 56/<strong>2020</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Gemeinschaftliches Testament: Fehlende Erbeinsetzung des überlebenden Ehegatten<br />
(OLG München, Beschl. v. 12.11.2019 – 31 Wx 183/19) • Bedenken die Ehegatten in einem gemeinschaftlichen<br />
Testament die gemeinsamen Kinder als Schlusserben und fehlt eine Erbeinsetzung des überlebenden<br />
Ehegatten für den ersten Erbfall, bildet die Verwendung der Begriffe „nach unserem Tod“ und „wir“ keine<br />
hinreichende Andeutung für einen entsprechenden Willen der Ehegatten für eine Erbeinsetzung des<br />
überlebenden Ehegatten (Anschluss an BGH BGHZ 80, 242; OLG München FG Prax 2013, 72). Das<br />
Nachlassgericht kann einen entsprechenden Willen der Ehegatten bei der Errichtung der Verfügung<br />
unterstellen, ohne diesen zuvor im Wege der Beweisaufnahme zu ermitteln, wenn es für den unterstellten<br />
Willen im Testament keine hinreichende Andeutung zu erkennen vermag (Anschluss an BGH NJW 2019,<br />
2317, 2319). Hinweis: Die Ehegatten errichteten ein von ihnen eigenhändig ge- und unterschriebenes<br />
Testament, in dem es auszugsweise heißt: „Wir (Ehemann) und (Ehefrau) wollen, dass nach unserem Tod das<br />
Haus unser Sohn bekommt.“ Angesichts dieser Formulierung ist die Entscheidung des OLG zumindest<br />
diskussionswürdig. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 57/<strong>2020</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Dieselskandal: Richter als Halter eines Dieselfahrzeugs der Abgasnorm Euro 5<br />
(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3.12.2019 – I-3 U 78/18) • Dass der Vorsitzende eines Zivilsenats selbst Halter<br />
eines Dieselfahrzeugs der Abgasnorm Euro 5 ist, er das ihm vom Hersteller angebotene Aufspielen eines<br />
Software-Updates nach Beratung mit dem Anwalt eines Verkehrsclubs wegen zu besorgender<br />
negativer Folgen abgelehnt hat und er aktuell eine Inanspruchnahme des Herstellers prüft, rechtfertigt<br />
weder die Selbstablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit noch ein Befangenheitsgesuch<br />
desselben Herstellers als Beklagter in einem vor dem Senat geführten Rechtsstreit, in dem der<br />
Käufer eines vom sog. Abgasskandal betroffenen Fahrzeugs Ansprüche gegen Verkäufer und Hersteller<br />
geltend macht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 58/<strong>2020</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Insolvenzrechtliche Verwertungsrechte: Garantieansprüche<br />
(BGH, Urt. v. 14.11.2019 – IX ZR 50/17) • Ein Kostenbeitrag setzt voraus, dass der Insolvenzverwalter eine<br />
Verwertung kraft seines Verwertungsrechts aus § 166 InsO vornimmt oder hätte vornehmen können.<br />
Kommt der Insolvenzverwalter mit der Auskehr des Erlöses in Verzug, schuldet er Verzugszinsen. Verzug<br />
mit der Auskehr des Erlöses tritt i.d.R. nicht ohne Mahnung ein. Hinweis: Der BGH ist der Ansicht, dass<br />
eine Aufrechnung mit Ansprüchen aus § 170 Abs. 1 S. 1 InsO auf eine Verwertungskostenpauschale in<br />
diesem Fall ins Leere geht. Die Inanspruchnahme einer Bundesgarantie ist kein Bestandteil der gem. § 166<br />
Abs. 2 InsO vorgenommenen Verwertung der sicherungszedierten Forderungen. Aus dem erzielten Erlös<br />
fällt dementsprechend keine Verwertungskostenpauschale für die Masse an. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 59/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 123
Fach 1, Seite 18 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Zwangsweise Forderungsdurchsetzung: Beschleunigtes anwaltliches Vorgehen<br />
(BGH, Urt. v. 19.9.2019 – IX ZR 22/17) • Ein Rechtsanwalt, der mit der zwangsweisen Durchsetzung einer<br />
Forderung beauftragt worden ist und einen Titel gegen einen Schuldner des Mandanten erwirkt hat, hat<br />
zügig die Zwangsvollstreckung zu betreiben, soweit pfändbares Vermögen bekannt ist oder mit den<br />
Möglichkeiten, welche die Zivilprozessordnung bietet, ermittelt werden kann (Bestätigung von BGH, Urt.<br />
v. 7.9.2017 – IX ZR 71/16, WM 2017, 1938 Rn 11). Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass eine Verzögerung der<br />
Zwangsvollstreckung zum Ausfall des Mandanten führen würde, muss der beauftragte Rechtsanwalt die<br />
Zwangsvollstreckung mit besonderer Beschleunigung betreiben. Er muss dann unter den verfügbaren<br />
Vollstreckungsmöglichkeiten diejenige auswählen, die am schnellsten zu einem Ergebnis führt.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 60/<strong>2020</strong><br />
Handels-/Gesellschaftsrecht<br />
GmbH-Geschäftsführer: Teilnehmer einer Straftat<br />
(BGH, Beschl. v. 3.12.2019 – II ZB 18/19) • Das Registergericht hat die Eintragung eines Geschäftsführers<br />
einer GmbH von Amts wegen im Handelsregister zu löschen, wenn eine persönliche Voraussetzung für<br />
dieses Amt gem. § 6 Abs. 2 GmbHG nach der Eintragung entfällt. Auch wer nicht als Täter (§ 25 StGB),<br />
sondern als Teilnehmer (§§ 26, 27 StGB) wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat nach § 6 Abs. 2 S. 2<br />
Nr. 3 GmbHG rechtskräftig verurteilt worden ist, kann nicht Geschäftsführer einer GmbH sein. Hinweis:<br />
Der Geschäftsführer wurde wegen Beihilfe zum Bankrott (§§ 27, 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und anderer Taten<br />
durch Strafbefehl zu einer Gesamtgeldstrafe i.H.v. 90 Tagessätzen verurteilt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 61/<strong>2020</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Irreführung durch Unterlassen: Sicherheitslücken in einem Betriebssystem<br />
(OLG Köln, Urt. v. 30.10.2019 – 6 U 100/19) • Der Tatbestand der Irreführung durch Unterlassen gem. § 5a<br />
Abs. 2 S. 1 Nr. 1 UWG ist nicht erfüllt, wenn der Verkäufer eines internetfähigen Mobiltelefons den<br />
Verbraucher nicht darauf hinweist, dass das Betriebssystem Sicherheitslücken aufweist und Sicherheitsupdates<br />
für das Betriebssystem nicht zu erwarten sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 62/<strong>2020</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Rechtsmittelverfahren: Anforderungen an eine Revisionsbegründung<br />
(BAG, Beschl. v. 18.11.2019 – 4 AZR 105/19) • Eine Revisionsbegründung muss den angenommenen<br />
Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs<br />
erkennbar sind. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der angefochtenen<br />
Entscheidung. Der Revisionsführer muss darlegen, warum er die Begründung des Berufungsgerichts für<br />
unrichtig hält. Allein die Darstellung anderer Rechtsansichten ohne jede Auseinandersetzung mit den<br />
Gründen des Berufungsurteils genügt den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Revisionsbegründung<br />
ebenso wenig wie die Wiedergabe des bisherigen Vorbringens (st. Rspr., vgl. etwa BAG, Urt. v. 20.3.2019 –<br />
4 AZR 595/17, Rn 10; v. 9.9.2015 – 7 AZR 190/14, Rn 9 m.w.N.). Hinweis: Es reicht nicht aus, wenn der<br />
Revisionsführer die tatsächlichen und/oder rechtlichen Würdigungen des Berufungsgerichts lediglich mit<br />
formelhaften Wendungen rügt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 63/<strong>2020</strong><br />
Sozialrecht<br />
Nichtzulassungsbeschwerde: Bezeichnung einer Abweichung<br />
(BSG, Beschl. v. 25.10.2019 – B 9 SB 40/19) • Die Bezeichnung einer Abweichung i.S.v. § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG<br />
setzt die Darlegung voraus, dass das LSG die Rechtsprechung des BSG im angefochtenen Urteil infrage<br />
stellt, was nicht der Fall ist, wenn es einen höchstrichterlichen Rechtssatz missverstanden oder übersehen<br />
und deshalb das Recht fehlerhaft angewendet haben sollte (st. Rspr., z.B. BSG, Beschl. v. 24.7.2019 – B5R<br />
124 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 19<br />
31/19 B, juris Rn 51; BSG, Beschl. v. 25.9.2002 – B 7 AL 142/02 B, SozR 3-1500 § 160a Nr. 34 S. 73). Hinweis:Im<br />
Rahmen einer Divergenzrüge muss vertieft darauf eingegangen werden, dass das LSG im angefochtenen<br />
Urteil nicht lediglich die Tragweite der höchstrichterlichen Rechtsprechung verkannt, sondern dieser<br />
Rechtsprechung bewusst einen eigenen Rechtssatz entgegengesetzt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 64/<strong>2020</strong><br />
Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />
Dieselskandal: Klagerecht von Umweltverbänden<br />
(VG Schleswig, Vorlagebeschl. v. 20.11.2019 – 3 A 113/18) • Ist Art. 9 Abs. 3 des am 25.6.1998 in Aarhus<br />
unterzeichneten, mit dem Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17.2.2005 im Namen der Europäischen<br />
Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung<br />
an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten i.V.m.<br />
Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahingehend auszulegen, dass es<br />
Umweltvereinigungen grds. möglich sein muss, einen Bescheid vor Gericht anzufechten, mit dem die<br />
Produktion von Diesel-Personenkraftwagen mit Abschalteinrichtungen – möglicherweise unter Verstoß<br />
gegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom<br />
20.6.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten<br />
Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und<br />
Wartungsinformationen gebilligt wird? Hinweis: Das VG hat dem EuGH (unter C-873/19 anhängig) im<br />
Zusammenhang mit dem Dieselskandal u.a. die Frage vorgelegt, ob die Einschränkung des Klagerechts<br />
der Umweltverbände, wenn diese die Rechtswidrigkeit einer Produktzulassung rügen, durch die Änderung<br />
des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes im Jahr 2017 zu Unrecht erfolgte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 65/<strong>2020</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeitenrecht<br />
Schlag mit einem Mobiltelefon: Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeugs?<br />
(OLG Bremen, Urt. v. 27.11.2019 – 1 Ss 44/19) • Ein Schlag mit einem in der flachen Hand gehaltenen<br />
Mobiltelefon in das Gesicht des Opfers ist grds. nicht als eine Körperverletzung mittels eines<br />
gefährlichen Werkzeugs i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu werten, da hiermit nach Beschaffenheit und<br />
der Art seiner Benutzung keine Eignung zur Herbeiführung erheblicher Körperverletzungen festgestellt<br />
werden kann. Eine andere Bewertung kann ggf. dann vorzunehmen sein, wenn der Schlag mit einer<br />
Ecke oder Kante des Telefons ausgeführt wurde. Auch bei einem Schlag mit dem Mobiltelefon, der zu<br />
einer inneren Platzwunde an der Lippe führt, kann für sich genommen nicht davon ausgegangen<br />
werden, dass das Mobiltelefon nach der konkreten Art seines Einsatzes zur Verursachung erheblicher<br />
Verletzungen geeignet war. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 66/<strong>2020</strong><br />
Wiedereinsetzung: Benachrichtigung des Verteidigers<br />
(LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 31.10.2019 – 5/9 Qs OWi 70/19) • Die unterlassene rechtzeitige Benachrichtigung<br />
des Verteidigers von einer Zustellung an den Betroffenen führt dazu, dass ggf. versäumte Frist<br />
schuldlos versäumt worden ist. Denn Zweck der Benachrichtigung ist es, dem Verteidiger die Fristenkontrolle<br />
zu übertragen, worauf sich der Betroffene verlassen darf. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 67/<strong>2020</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Pflichtverteidigervergütung: Nachträgliche Gesamtstrafenbildung<br />
(OLG Bamberg, Beschl. v. 11.6.2019 – 1 Ws 265/19) • Einem Verteidiger steht für seine Tätigkeit im<br />
Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung nach §§ 460, 462 StPO eine Vergütung nach<br />
Nr. 4204, 4205 VV RVG zu. Etwas anderes folgt insb. nicht daraus, dass sich die schon frühere<br />
Beiordnung als Pflichtverteidiger regelmäßig auf das Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung<br />
erstreckt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 68/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 125
Fach 1, Seite 20 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Steuerrecht<br />
Outsourcing von Finanzdienstleistungen: Kein steuerfreier Umsatz<br />
(BFH, Urt. v. 13.11.2019 – V R 30/19) • Es liegt kein nach § 4 Nr. 8 Buchst. d UStG steuerfreier Umsatz vor,<br />
wenn für eine Bank, die Geldausgabeautomaten betreibt, Dienstleistungen erbracht werden, die darin<br />
bestehen, diese Automaten aufzustellen und zu warten, sie mit Bargeld zu befüllen und mit Hard- und<br />
Software zum Einlesen der Geldkartendaten auszustatten, Autorisierungsanfragen wegen Bargeldabhebungen<br />
an die Bank weiterzuleiten, die die verwendete Geldkarte ausgegeben hat, die gewünschte<br />
Bargeldauszahlung vorzunehmen und einen Datensatz über die Auszahlungen zu generieren. Hinweis:<br />
Die Klägerin stellte funktionsfähige Geldausgabeautomaten mit Soft- und Hardware, die mit dem Logo<br />
der Bank versehen waren, an den vorgesehenen Standorten auf und war für den ordnungsgemäßen<br />
Betrieb verantwortlich; sie transportierte das ihr von der Bank zur Verfügung gestellte Bargeld zu den<br />
Geldausgabeautomaten und übernahm die Bargeldbefüllung der Geldausgabeautomaten.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 69/<strong>2020</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Abgeltungsvergleich: Anwaltliche Aufklärungspflichten<br />
(OLG Frankfurt, Urt. v. 3.12.2019 – 8 U 129/18) • Erwägt die Mandantin den Abschluss eines Vergleichs,<br />
muss ihr ihre Rechtsanwältin dessen Vor- und Nachteile darlegen. Dies gilt im besonderen Maße, wenn es<br />
sich um einen Abfindungsvergleich handelt. Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile eines Vergleichsabschlusses<br />
ist der Rechtsanwältin ein Ermessensspielraum zuzubilligen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 70/<strong>2020</strong><br />
Heilung eines Zustellungsmangels: Fax-Zustellung von Anwalt zu Anwalt<br />
(OLG Köln, Urt. v. 15.11.2019 – 6 U 125/19) • Wird eine Ausfertigung einer einstweiligen Verfügung zur<br />
Vollziehung per Telefax an den Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerseite übersandt, kann der<br />
Zustellungsmangel – sollte die Zustellung als fehlerhaft angesehen werden – durch Zugang des gleichen<br />
Telefaxes geheilt sein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 71/<strong>2020</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Außergerichtlich geschlossener Vergleich: Einigungsgebühr<br />
(LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 29.10.2019 – L 7 AS 15/17 B) • Auch außergerichtlich geschlossene<br />
Vergleiche können die Entstehung einer Einigungsgebühr nach Nr. 1006 Abs. 1 i.V.m. Nr. 1005 i.V.m.<br />
Nr. 1000 Abs. 1 S. 1 VV RVG auslösen. Der Entstehung der Einigungsgebühr nach Nr. 1006 Abs. 1 i.V.m.<br />
Nr. 1005 i.V.m. Nr. 1000 Abs. 1 S. 1 VV RVG steht auch nicht entgegen, dass eine außerhalb des gerichtlich<br />
anhängigen Streitgegenstands liegende Streitigkeit in den Vergleich einbezogen worden ist. Es<br />
widerspricht Treu und Glauben nach dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 242 BGB, wenn der<br />
Rechtsanwalt aus der Staatskasse aufgrund der Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter seiner<br />
Beiordnung eine Vergütung (hier: die Einigungsgebühr) fordert, obwohl er ohne hinreichenden<br />
sachlichen Grund den Erstattungsanspruch der Staatskasse nach § 59 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 RVG i.V.m.<br />
§ 126 Abs. 1 ZPO von vornherein unmöglich gemacht hat. Hinweis: Mit dieser Entscheidung bestätigt der<br />
Senat seine Entscheidung vom 3.5.2019 – L 7 AS 12/17 B. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 72/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong>-Service: Die <strong>ZAP</strong> Rechtsprechung kann und soll nur eine stark komprimierte Wiedergabe der Originaltexte sein. Die<br />
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126 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1843<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Wohnraummietrecht<br />
Kündigung von Wohnraummietverträgen: Die Formalien und Rechtsfolgen<br />
– Teil 1<br />
Von Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Weitere Aufsicht führender RiAG, Gelsenkirchen<br />
Hinweis:<br />
Die Fortsetzung des Beitrags „Kündigung von Wohnraummietverträgen: Die Formalien und Rechtsfolgen<br />
– Teil 2“ lesen Sie demnächst in der <strong>ZAP</strong>!<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Formalien einer Kündigung<br />
1. Absender<br />
2. Adressat<br />
3. Form<br />
4. Zugang<br />
5. Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
Ein Mietverhältnis ist ein Dauerschuldverhältnis, d.h. es ist nicht auf den einmaligen Austausch von<br />
Leistungen gerichtet. Für die Beendigung solcher Verträge gibt es grds. zwei Möglichkeiten: Entweder ist<br />
der Vertrag befristet und endet nach Ablauf der Zeit, für die er eingegangen wurde, oder er wird durch<br />
eine Kündigung beendet. Für Mietverträge ist dies ausdrücklich in § 542 BGB so alternativ bestimmt. Die<br />
Vorschrift gilt für alle Mietverhältnisse und nicht nur für Wohnraummietverträge. Im Wohnraummietrecht<br />
ist der Mietvertrag auf unbestimmte Zeit immer noch die überwiegend vorkommende Vertragsform.<br />
Ein Mietvertrag auf unbestimmte Zeit kann nur durch Kündigung beendet werden. Dabei wird grds.<br />
zwischen drei verschiedenen Kündigungen unterschieden:<br />
• die ordentliche Kündigung, die das Mietverhältnis mit der gesetzlichen oder im Einzelfall auch<br />
vertraglichen Frist beendet;<br />
• die außerordentliche fristlose Kündigung, die das Mietverhältnis regelmäßig nach einem vorwerfbaren<br />
Fehlverhalten mit Zugang der Kündigung beendet;<br />
• die außerordentliche Kündigung mit gesetzlicher Frist, die einer Vertragspartei in bestimmten<br />
Ausnahmefällen eingeräumt wird und das Mietverhältnis regelmäßig mit einer dreimonatigen<br />
Kündigungsfrist beendet.<br />
In diesem Beitrag werden die gemeinsamen formalen Voraussetzungen für die Kündigung und die<br />
Rechtsfolgen einer wirksamen Kündigung dargestellt. Es folgen weitere Beiträge zu den materiellen<br />
Voraussetzungen der außerordentlichen und der ordentlichen Kündigung (zu typischen Fehlern bei der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 127
Fach 4, Seite 1844<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
Kündigung von Wohnraum s. FLATOW <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 879). Die hier dargestellten Formalien gelten, wenn<br />
nichts anderes vermerkt ist, sowohl für die Kündigung des Vermieters als auch für die Kündigung des<br />
Mieters.<br />
II. Formalien einer Kündigung<br />
Die Kündigung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Um ihre Wirksamkeit entfalten<br />
zu können, muss sie vom richtigen Absender dem richtigen Adressaten in der richtigen Form mit dem<br />
richtigen Inhalt zugehen. Gesetzliche Formvorschriften müssen immer nach ihrem Sinn und Zweck<br />
ausgelegt werden. Sie dürfen nicht zum Selbstzweck verkümmern. Auf der anderen Seite müssen die sich<br />
aus dem Gesetz ergebenden formalen Anforderungen aber in dem Umfang, der für eine sinnvolle und<br />
zweckmäßige Gesetzesanwendung erforderlich ist, auch eingehalten und beachtet werden.<br />
1. Absender<br />
Die Kündigung des Mietverhältnisses kann immer nur durch den Vermieter selbst erfolgen. Der Absender<br />
einer Kündigung muss zum Zeitpunkt der Abgabe (LG Köln WuM 1996, 623; offengelassen von BGH NZM<br />
2015, 487 = NJW 2015, 1749, ob es auf den Zeitpunkt des Zugangs ankommt) der Kündigungserklärung<br />
Vermieter des konkreten Mietvertrags sein. Wenn mehrere Personen Vermieter sind, muss die Kündigung<br />
auch von allen Vermietern erklärt werden. Je nach Art der Kündigung kann das Mietverhältnis dann mit<br />
Zugang der Kündigung beendet sein oder nach Ablauf der gesetzlichen Kündigungsfrist.<br />
a) Person des Vermieters<br />
aa) Einzelperson<br />
Die Parteien eines Mietvertrags werden allein durch den zwischen ihnen geschlossenen Mietvertrag<br />
bestimmt. Ihre Beziehungen zur Mietsache, seien es Eigentums-, Besitz- oder sonstige Nutzungsrechte,<br />
sind unerheblich (KG MDR 1998, 529; LG Berlin GE 1987, 91). Bei Einzelpersonen ist dies verhältnismäßig<br />
leicht festzustellen. Die Kündigung muss deshalb durch den oder die Vermieter oder zumindest im<br />
Namen des Vermieters und nicht im Namen des Grundstückseigentümers abgegeben werden (KG MDR<br />
1998, 529; WuM 1997, 101, 1<strong>03</strong>; LG Berlin ZMR 1997, 358). Stammt die Kündigung nicht vom Vermieter<br />
oder bei Personenmehrheiten von allen Vermietern, ist sie formell unwirksam und löst keine Ansprüche<br />
aus. Eine nachträgliche Genehmigung und damit Heilung des Mangels durch den evtl. Berechtigten ist<br />
nicht möglich.<br />
bb) Personenmehrheiten<br />
Mietvertragspartei sind hier zunächst all die Personen, die im Kopf des Vertrags als Mieter oder<br />
Vermieter aufgeführt sind und die den Vertrag auch unterzeichnet haben. Bei Eheleuten genügt es<br />
dabei, wenn diese im Kopf des Vertrags als „Eheleute“ oder „Herr und Frau“ bezeichnet sind. Die Angabe<br />
des Vornamens ist nicht zwingend erforderlich. Unklarheiten können bei der Vermietung von und an<br />
Eheleute(n) auftreten, wenn die Angaben im Mietvertragskopf nicht identisch sind mit den Personen,<br />
die den Mietvertrag unterschrieben haben. Da dieses Phänomen häufiger auf Mieterseite vorkommt,<br />
s. dazu unten unter II 2 a.<br />
b) BGB-Gesellschaft<br />
Eine im Rechtsverkehr nach außen in Erscheinung tretende Außengesellschaft ist teilrechtsfähig (BGH<br />
NJW 2001, 1056). Sie ist dann Vermieterin und muss selbst als eigene Rechtspersönlichkeit die<br />
Kündigungserklärung abgeben und ihr gegenüber muss auch gekündigt werden. Sind im Mietvertrag<br />
aber die einzelnen Gesellschafter als Mietvertragspartei aufgeführt und fehlt ein Hinweis auf die<br />
gesellschaftsrechtlichen Beziehungen, so muss die Kündigung von allen Personen, die im Mietvertrag als<br />
Vermieter genannt werden, erklärt werden bzw. an alle diese Personen adressiert werden. Wird eine<br />
Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Eigentümerin eines Mehrfamilienhauses und Vermieterin der<br />
Wohnungen dieses Anwesens ist, unter Bildung von Wohnungseigentum und Eintragung der einzelnen<br />
128 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1845<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Gesellschafter als Eigentümer der jeweils zugewiesenen Wohnungen auseinandergesetzt, tritt der neue<br />
Eigentümer in die sich während der Dauer seines Eigentums aus dem Mietverhältnis ergebenden Rechte<br />
und Pflichten ein (BGH WuM 2012, 31 = NZM 2012, 150).<br />
Problematischer ist es bei der reinen Innengesellschaft. Hier sind zunächst die Gesellschafter Absender<br />
und Adressat der Erklärung. Umstritten war lange, welche Auswirkungen in diesem Fall ein Gesellschafterwechsel<br />
hat. Ein Mietvertrag über ein Grundstück, den eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts als<br />
Vermieterin abgeschlossen hat, wird nach einem Gesellschafterwechsel jedenfalls dann ohne Weiteres<br />
mit der Gesellschaft in der neuen personellen Zusammensetzung fortgeführt, wenn die ursprünglichen<br />
Gesellschafter mit einem ihre gesamthänderische Bindung bezeichnenden Vermerk (§ 47 GBO) als<br />
Eigentümer oder Erbbauberechtigte im Grundbuch eingetragen waren (BGH NZM 1998, 260).<br />
Die Kündigung des Mieters braucht nicht allen Gesellschaftern einer BGB-Gesellschaft zuzugehen.<br />
Vielmehr wird bei Passivvertretung eine gegenüber der BGB-Gesellschaft abzugebende Willenserklärung<br />
nach dem auch hier anwendbaren Rechtsgedanken aus § 125 Abs. 2 S. 3 HGB bei Abgabe gegenüber<br />
einem der zur Mitwirkung bei der Vertretung befugten Gesellschafter wirksam (OLG Hamburg WuM<br />
1978, 120 = ZMR 1980, 84).<br />
c) Rechtsnachfolge<br />
aa) Tod des Vermieters<br />
Für den Fall des Todes des Vermieters gilt die allgemeine erbrechtliche Bestimmung über die<br />
Universalrechtsnachfolge gem. § 1922 BGB. Der oder die Erben treten als Vermieter in den Mietvertrag<br />
ein. Mietrechtliche Sondervorschriften z.B. über ein Kündigungsrecht gibt es nicht. Da die Erbengemeinschaft<br />
nicht rechtsfähig ist (BGH NJW 2006, 3715; NJW-RR 2004, 1006; NJW 2002, 3389),<br />
werden alle Mitglieder der Erbengemeinschaft zu Vermietern und müssen die Kündigungserklärung<br />
abgeben/unterschreiben oder sich vertreten lassen.<br />
bb) Veräußerung des Gebäudes<br />
Nach § 566 BGB tritt der Erwerber anstelle des bisherigen Vermieters in das bestehende Mietverhältnis<br />
und alle sich daraus ergebenden Pflichten ein (ausführlich zum Vermieterwechsel durch Grundstücksveräußerung<br />
GATHER <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 401 ff.; BÖRSTINGHAUS NZM 2004, 481). Voraussetzung für die Anwendung<br />
der Vorschrift ist:<br />
• Veräußerung des Grundstücks nach Überlassung der Wohnung (BGH NJW-RR 1989, 77);<br />
• Identität zwischen Veräußerer und Vermieter.<br />
Die Anwendung des § 566 BGB setzt zunächst voraus, dass der Wohnraum aufgrund eines wirksamen<br />
Mietvertrags bereits überlassen worden ist. § 566 BGB findet zugunsten des Mieters nur Anwendung,<br />
wenn er zum Erwerbszeitpunkt die tatsächliche Sachherrschaft über die Mietsache ausübt. Ein<br />
Besitzerlangungsinteresse rechtfertigt den Eintritt des Erwerbers in das Mietverhältnis dagegen nicht<br />
(BGH NZM 2016, 675). Überlassung verlangt Besitzeinräumung, und zwar i.d.R. des unmittelbaren<br />
Besitzes. Hierdurch soll der Erwerber geschützt werden, der nur den Besitz als tatsächlichen Zustand<br />
feststellen kann, aber nicht die Existenz schuldrechtlicher Verträge. Der Abschluss eines Mietvertrags<br />
reicht also nicht aus. Der Vermieter muss dem Mieter gem. § 535 Abs. 1 BGB den vertragsgemäßen<br />
Gebrauch bereits eingeräumt haben. Bei der Wohnraummiete soll nach ganz herrschender Auffassung<br />
hierzu die Überlassung der Schlüssel an den Mieter ausreichen.<br />
Erforderlich ist eine Identität zwischen Veräußerer und Vermieter. Strittig ist, ob diese Identität bereits<br />
zum Zeitpunkt des Mietvertragsabschlusses (OLG Köln ZMR 2001, 967) oder erst zum Zeitpunkt der<br />
Veräußerung (OLG Rostock NZM 2006, 262; LAMMEL, Wohnraummiete, 3. Aufl., § 566 Rn 23) bestehen<br />
muss. Wird der Vermieter erst nach Abschluss des Mietvertrags als Eigentümer im Grundbuch<br />
eingetragen, bleibt er auch nach späterer Veräußerung des Grundstücks Vermieter (LG Stendal GE 2001,<br />
925). Bei fehlender Identität treten die Rechtsfolgen des § 566 BGB grds. nicht ein (BGH BGHReport<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 129
Fach 4, Seite 1846<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
2004, 287; NZM 1999, 1091; NJW 1974, 1551; OLG Celle ZMR 2000, 284; LG Berlin ZMR 1988, 61). Der<br />
Erwerber kann nur in Rechte eintreten, welche dem Verkäufer als Vermieter zustanden. Hat der<br />
Zwangsverwalter die Wohnung vermietet, so liegt es nahe, dass er für den damaligen Eigentümer der<br />
Immobilie gehandelt hat. Es liegt dann die für die Anwendung des § 566 BGB erforderliche Identität vor<br />
(BGH WuM 2013, 496 = ZMR 2013, 866). Bei fehlender Identität zwischen Vermieter und Veräußerer ist<br />
§ 566 Abs. 1 BGB aber dann entsprechend anwendbar, wenn die Vermietung des veräußerten<br />
Grundstücks mit Zustimmung und im alleinigen wirtschaftlichen Interesse des Eigentümers erfolgt und<br />
der Vermieter kein eigenes Interesse am Fortbestand des Mietverhältnisses hat (BGH NZM 2017, 847).<br />
Bei Vermietung einer Wohnung durch zwei Miteigentümer bleiben beide auch dann Vermieter – und ist<br />
eine Kündigung gegenüber dem Mieter demgemäß von beiden Vermietern auszusprechen –, wenn der<br />
eine seinen Miteigentumsanteil später an den anderen veräußert. Auf einen solchen Eigentumserwerb<br />
findet § 566 Abs. 1 BGB weder direkte noch analoge Anwendung (BGH NZM 2019, 208).<br />
Die Wirkung der Rechtsnachfolge tritt mit Vollzug der Eigentumsänderung, also i.d.R. mit der<br />
Eintragung im Grundbuch, bei der Zwangsversteigerung mit Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses ein.<br />
Allein durch ein Rechtsgeschäft zwischen Grundstücksveräußerer und -erwerber, z.B. eine Regelung im<br />
notariellen Kaufvertrag über den wirtschaftlichen Besitzübergang und die Lastentragung, kann eine<br />
Rechtsnachfolge nicht begründet werden (LG Hamburg WuM 1993, 48). Möglich ist aber ein „dreiseitiger<br />
Vertrag“, also eine Vereinbarung, an der zusätzlich auch der Mieter beteiligt ist (sog. Mieteintrittsvereinbarung;<br />
BGH NZM 2010, 471). Allein die Tatsache, dass der Mieter aufgrund der Mitteilung der<br />
Veräußerung die Miete an den Erwerber zahlt, kann im Einzelfall eine Zustimmung darstellen (BGH<br />
WuM 2013, 496 = ZMR 2013, 866). Möglich ist aber eine Ermächtigung des Erwerbers durch den<br />
Veräußerer zur Kündigung (BGH NJW 1998, 896).<br />
Ist eine juristische Person, z.B. eine GmbH, AG oder Genossenschaft Eigentümerin des Grundstücks,<br />
liegt bei Veränderung auf Gesellschafterseite selbst bei vollständigem Verkauf oder einer Verschmelzung<br />
regelmäßig keine Veräußerung i.S.d. § 566 BGB vor, da kein Eigentümerwechsel stattfindet. Dies gilt<br />
auch bei einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die als Außengesellschaft i.S.d. BGH-Rechtsprechung<br />
tätig ist (s. oben II 1 b). Auch hier gilt für den Gesellschafterwechsel außerhalb des Grundbuchs § 566<br />
BGB nicht (BGH NZM 1998, 260). Der Mietvertrag wird jedenfalls dann ohne Weiteres mit der<br />
Gesellschaft in der neuen personellen Zusammensetzung fortgeführt, wenn die ursprünglichen<br />
Gesellschafter mit einem ihre gesamthänderische Bindung bezeichnenden Vermerk gem. § 47 GBO<br />
als Eigentümer im Grundbuch eingetragen waren. Scheidet der vorletzte Gesellschafter aus der<br />
Gesellschaft aus, so führt dies regelmäßig zu einem Übergang des Mietvertrags auf den letzten<br />
verbliebenen Gesellschafter unter Erlöschen der GbR (BGHZ 32, 307, 317 f.; BGH NJW 1994, 796; KRAEMER<br />
NZM 2002, 465). Erwerben mehrere Personen, die eine Außengesellschaft bilden, ein Grundstück so wird<br />
die BGB-Gesellschaft gem. § 566 BGB Vermieterin. Das gilt auch dann, wenn der Vermieter eine GbR<br />
gründet oder einer solchen beitritt und das Grundstück mit in die Gesellschaft einbringt. Die<br />
formwechselnde Umwandlung von einer KG in eine GbR und wiederum in eine GmbH führt nach<br />
einem negativen Rechtsentscheid des KG (NZM 2001, 520) auch bei einem zwischenzeitlichen<br />
Gesellschafterwechsel nicht dazu, dass die Identität der Gesellschaft als solche verändert wird. Diese<br />
Umwandlungen haben deshalb keinen Einfluss auf bestehende Mietverhältnisse. Zu beachten sind aber<br />
die Nachwirkungsfristen nach dem Umwandlungsgesetz, wenn es um die persönliche Haftung der<br />
ursprünglichen Gesellschafter geht (dazu KANDELHARD NZM 1999,440).<br />
§ 566 BGB ist weder zwingendes noch halbzwingendes Recht. Deshalb sind grds. abweichende<br />
Vereinbarungen möglich, jedoch bestehen Bedenken gegen eine formularvertragliche Regelung.<br />
cc) Umwandlung in Wohnungseigentum<br />
Wird vermieteter Wohnraum in Wohnungseigentum umgewandelt oder wird Wohnungseigentum<br />
vermietet, entstehen im Schnittpunkt von Mietrecht und Wohnungseigentumsrecht (dazu BLANK WuM<br />
2000, 523; 2013, 94; ARTZ/JACOBY WuM 2013, 67; HÄUBLEIN WuM 2013, 68; BECKER WuM 2013, 73; BEYER WuM<br />
130 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1847<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
2013, 77; LEHMANN-RICHTER WuM 2013, 82; SUILMANN WuM 2013, 86; DÖTSCH WuM 2013, 90) häufig Probleme,<br />
weil beide Bereiche nicht ausreichend aufeinander abgestimmt sind. Hier sind die verschiedenen<br />
Fallkonstellationen zu unterscheiden:<br />
Wird ein Mietvertrag über eine bereits in Wohnungseigentum umgewandelte oder neu errichtete<br />
Eigentumswohnung abgeschlossen, dann ergeben sich die Parteien des Mietvertrags aus dem<br />
Mietvertrag. Für den Fall der Veräußerung der Wohnung nach der Vermietung tritt der Erwerber<br />
gem. § 566 BGB an die Stelle des Veräußerers. Die Vorschrift des § 566 BGB ist auf die Veräußerung von<br />
Wohnungseigentum unmittelbar anwendbar (BGHZ 126, 357).<br />
Zu einer „Vermieterfalle“ kann sich die Umwandlung einer vermieteten Wohnung in eine Eigentumswohnung<br />
entwickeln. Wird Wohnungseigentum begründet, gibt es mindestens zwei, manchmal auch drei<br />
Eigentums- bzw. Nutzungsverhältnisse. Es entstehen mindestens Gemeinschafts- und auch Sondereigentum,<br />
manchmal werden auch noch Sondernutzungsrechte begründet. Dies muss sorgfältig<br />
getrennt werden. Das Mietverhältnis selbst wird durch die Aufteilung nicht berührt. Es bleibt selbst<br />
dann ein einheitliches Mietverhältnis, wenn Sonder- und Gemeinschaftseigentum nach der Umwandlung<br />
betroffen sind. Es stellt sich nur die Frage, wer Vermieter dieses einheitlichen Mietverhältnisses geworden<br />
ist, was dann etwa für die Frage, wer die Kündigungserklärung abzugeben hat, von Bedeutung ist.<br />
• Soweit der Mieter lediglich nicht dem ausschließlichen Mietgebrauch unterliegende Teile mitbenutzt,<br />
die im Gemeinschaftseigentum stehen, z.B. das Treppenhaus, wird die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />
nicht Vermieter (LG Hamburg WuM 1997, 47). Vermieter ist der jeweilige Eigentümer<br />
des Sondereigentums.<br />
• Steht dem Mieter an einem dem Gemeinschaftseigentum unterfallenden Grundstücksteil ein ausschließlicher<br />
Mietgebrauch zu, so wird der Erwerber einer vermieteten Eigentumswohnung alleiniger<br />
Vermieter, wenn die Wohnung nach Überlassung an den Mieter in Wohnungseigentum umgewandelt<br />
worden ist und zusammen mit der Wohnung ein Kellerraum vermietet ist, der nach der Teilungserklärung<br />
im Gemeinschaftseigentum aller Wohnungseigentümer steht (BGH WuM 1999, 390).<br />
• Umstritten ist nach wie vor die Frage, wer Vermieter wird, wenn dem Mieter Räume vermietet<br />
wurden, die nach der Umwandlung zwei verschiedenen Eigentümern gehören. Gehört zu der<br />
Wohnung ein mitvermieteter Nebenraum, der nach der wohnungseigentumsrechtlichen Aufteilung<br />
zum Sondereigentum eines anderen Wohnungseigentümers gehört, dann soll nach einem Urteil des<br />
LG Hamburg (ZMR 1999, 765) der o.g. Rechtsentscheid des BGH nicht anwendbar sein. In diesem Fall<br />
sollen beide Erwerber Vermieter werden.<br />
• Wurde bei einem einheitlichen Mietverhältnis über eine Wohnung und eine Garage das Sondereigentum<br />
an der Wohnung und das Teileigentum an der Garage an unterschiedliche Erwerber<br />
veräußert, so werden beide Erwerber gemeinsam Vermieter des einheitlichen Mietverhältnisses über<br />
Wohnung und Garage (BGH NZM 2005, 941; ebenso schon BayObLG WuM 1991, 78).<br />
• Besteht am Gemeinschaftseigentum ein Sondernutzungsrecht (z.B. an Gartenflächen) zugunsten des<br />
Sondereigentümers, dem auch die vom Mieter bewohnte Wohnung gehört, dann neigt das LG<br />
Hamburg (WuM 1997, 47) zu der Annahme, dass dieser Sondernutzungsberechtigte entsprechend<br />
§§ 566, 567 BGB alleiniger Vermieter ist.<br />
• Ist das Gebäude bereits in Wohnungseigentum geteilt, wurde die Wohnung aber noch von der<br />
Bauherrengemeinschaft vermietet, obwohl zu diesem Zeitpunkt das Wohnungsgrundbuch bereits<br />
angelegt war und ein einzelner Bauherr als Eigentümer eingetragen ist, bleibt die Bauherrengemeinschaft<br />
Vermieter, da § 566 BGB nur einschlägig ist, wenn das Eigentum nach Vertragsschluss<br />
übergeht. Der Erwerber kann sich zwar von der Gemeinschaft den Anspruch auf Miete abtreten<br />
lassen, die volle Vermieterstellung kann er jedoch nicht erlangen. Auch hier muss eine Kündigungserklärung<br />
durch die Bauherrengemeinschaft als Vermieter erfolgen. In diesen Fällen der Vorratsteilung<br />
gem. § 8 WEG setzt sich das Bruchteilseigentum am Wohnungseigentum fort.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 131
Fach 4, Seite 1848<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
• Möglich ist auch die Vermietung von im Gemeinschaftseigentum stehenden Flächen (BGHZ 144, 386;<br />
BayObLG NZM 2000, 41; OLG Hamburg NZM 2001, 132). Das betrifft nicht nur Außenflächen zu<br />
Werbezwecken, sondern auch die Vermietung von Räumen z.B. an den Hausmeister. Denkbar ist<br />
auch, dass die Wohnungseigentümergemeinschaft das Sondereigentum eines insolventen Wohnungseigentümers<br />
erwirbt, um es zu vermieten. Nach bisheriger Rechtsauffassung war aber nicht die<br />
Wohnungseigentümergemeinschaft selbst Vermieterin, sondern die einzelnen Wohnungseigentümer<br />
in ihrer personellen Zusammensetzung zum Zeitpunkt der Vermietung. Seit der Entscheidung des<br />
BGH vom 2.6.2005 (NJW 2005, 2061 = NZM 2005, 543) und der anschließenden Reform des WEG ist<br />
die Wohnungseigentümergemeinschaft teilrechtsfähig. Deshalb kann die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />
auch Vermieterin sein (KAHLEN ZMR 2005, 767; KREUZER, FS Blank, S. 651; zweifelnd<br />
DRASDO, FS Blank, S. 617).<br />
d) Vertretungsfälle<br />
Von der Frage, ob der Vermieter bei Abschluss des Mietvertrags wirksam vertreten wurde und deshalb<br />
überhaupt Vermieter geworden ist, ist die Frage zu unterscheiden, ob der Vermieter auch bei Abgabe<br />
der Kündigungserklärung wirksam vertreten wurde. Auch dabei ist Vertretung gestattet, sie muss aber<br />
offen erfolgen. Der Vertreter gibt eine eigene Willenserklärung ab. Er muss die Kündigungserklärung<br />
auch eigenhändig unterschreiben. Aus der Erklärung des Vertreters muss sich ergeben, in wessen<br />
Namen sie abgegeben wurde, § 164 BGB. Gibt ein Mitglied einer Personenmehrheit die Erklärung für sich<br />
und zugleich als Vertreter für die übrigen Eigentümer ab, muss dies aus der Kündigungserklärung<br />
deutlich hervorgehen. Die Regeln des „Geschäfts, den es angeht“ sind nicht anwendbar. Ist Vermieter<br />
eine juristische Person, z.B. eine GmbH, eine Aktiengesellschaft, eine Genossenschaft oder ein<br />
eingetragener Verein, muss die Kündigung von einem Vorstandsmitglied der Aktiengesellschaft<br />
unterzeichnet sein. Die organschaftlichen Vertreter können sich aber wiederum selbst vertreten lassen.<br />
Sind Eheleute in Form einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts Eigentümer und Vermieter des<br />
Hausgrundstücks, bedarf die Kündigungserklärung des einen Gesellschafters eines Hinweises auf die<br />
Bevollmächtigung durch den anderen Gesellschafter oder darauf, dass er im Namen der aus ihm und<br />
dem anderen Gesellschafter bestehenden BGB-Gesellschaft handelt (LG Köln WuM 2001, 287). Die<br />
Kündigung des Wohnungsmietvertrags in verdeckter Stellvertretung ist jedoch auf jeden Fall<br />
unzulässig; erforderlich ist zumindest ein konkludentes Handeln in fremdem Namen (BGH NJW 2014,<br />
18<strong>03</strong> = NZM 2014, 431). Der Vertreter muss auch Vertretungsmacht haben. Der zum Abschluss eines<br />
Mietvertrags bevollmächtigte Wohnungseigentumsverwalter ist nicht ohne Weiteres befugt, das<br />
Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs fristlos zu kündigen (LG Berlin ZMR 1986, 439).<br />
Da es sich jedoch bei der Kündigung um eine einseitige Willenserklärung handelt, gelten hier noch<br />
besondere Regelungen, die sich v.a. aus der Vorschrift des § 174 BGB ergeben. Danach kann der<br />
Empfänger eine Kündigung eines Vertreters unverzüglich zurückweisen, wenn der Kündigung keine<br />
Vollmacht beigefügt war. Dies gilt auch für die Fälle der Kündigungsermächtigung (§§ 182 Abs. 3, 111<br />
BGB). Die Vollmachtsurkunde muss im Original von allen Vollmachtgebern unterschrieben und dem<br />
Schreiben beigefügt sein (AG Tempelhof MM 1989, 29). Gegebenenfalls muss eine Vollmachtsurkundenkette<br />
bei mehreren Eigentümern/Beauftragten vorgelegt werden (LG Berlin MM 1988, 25); z.B.<br />
bei Beauftragung einer Hausverwaltungs-GmbH, für die ggf. ein Anwalt tätig wird oder ein nicht<br />
vertretungsberechtigter Sachbearbeiter. Eine namens einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts von<br />
einem alleinvertretungsberechtigten Gesellschafter abgegebene einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung<br />
kann von dem Empfänger gem. § 174 S. 1 BGB zurückgewiesen werden, wenn ihr weder<br />
eine Vollmacht der anderen Gesellschafter noch der Gesellschaftsvertrag oder eine Erklärung der<br />
anderen Gesellschafter beigefügt ist, aus der sich die Befugnis des handelnden Gesellschafters zur<br />
alleinigen Vertretung der Gesellschaft ergibt (BGH MDR 2002, 269). Die Beifügung der Vollmacht kann<br />
nur dann unterbleiben, wenn der Empfänger der Kündigung vom Vertretenen anderweitig von der<br />
Bevollmächtigung in Kenntnis gesetzt wurde, § 174 S. 2 BGB (AG Tempelhof-Kreuzberg GE 2018, 938).<br />
Ob hierfür bereits die Vertretung bei Mietvertragsabschluss ausreicht, ist eine Frage des Einzelfalls<br />
(dagegen AG Neuss DWW 1991, 116; zweifelnd OLG Frankfurt NJW-RR 1996, 10, wenn zumindest eine<br />
Kopie der Vollmacht beigefügt ist).<br />
132 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1849<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Die Vollmacht muss sich auf die konkrete Kündigung beziehen. Liegt einer fristlosen und zugleich<br />
hilfsweise fristgerechten Kündigung nur eine Vollmacht für die fristlose Kündigung bei, kann die<br />
ordentliche Kündigung gem. § 174 BGB zurückgewiesen werden (LG Berlin GE 2002, 331). Eine Kündigung<br />
während des Prozesses durch den Prozessbevollmächtigten kann nicht gem. § 174 BGB zurückgewiesen<br />
werden, da hier die Regeln über die Prozessvollmacht vorrangig sind (BGH NZM 20<strong>03</strong>, 229).<br />
Hinweis:<br />
Die Vorschrift des § 174 BGB dient dem Schutz des Geschäftsgegners bei einseitigen Rechtsgeschäften<br />
und ermöglicht es ihm, im Hinblick auf den Umstand, dass einseitige empfangsbedürftige Rechtsgeschäfte<br />
ohne Vertretungsmacht gem. § 180 BGB nichtig und nicht genehmigungsfähig sind, schnellstmöglich klare<br />
Verhältnisse zu schaffen, sodass für die Anwendung von § 174 BGB neben § 88 Abs. 1 ZPO Raum ist und<br />
es nicht erforderlich ist, neben der Zurückweisung nach § 174 BGB eine Vollmachtsrüge nach § 88 ZPO zu<br />
erheben. Auch die im Berufungsverfahren zugestellte Kündigung kann jedenfalls dann mangels beigefügter<br />
Kündigungsvollmacht unverzüglich zurückgewiesen werden, wenn die Prozessvollmachtsurkunde nicht<br />
zugestellt worden war (LG Bonn WuM 1992, 18). Deshalb sollte unter dem Gesichtspunkt des sichersten<br />
Weges eine Vollmacht beigefügt werden.<br />
Eine dem Erklärungsempfänger per Telefax übermittelte Vollmachtsurkunde zur Vornahme einer<br />
Kündigungserklärung ist nicht der Vorlage einer Vollmachtsurkunde i.S.d. § 174 BGB gleichzustellen<br />
(OLG Hamm NJW 1991, 1185; OLG Köln JMBl. NW 1989, 90). Auch die Beifügung einer Fotokopie genügt<br />
nicht (LG Berlin NJWE-MietR 1996, 220), selbst wenn sie beglaubigt wurde (LG Berlin MM 1993, 184; AG<br />
Wedding MM 1989, 30).<br />
Die Zurückweisung der Kündigung muss unverzüglich erfolgen. Unverzüglich bedeutet ohne<br />
schuldhaftes Zögern. Schuldhaftes Zögern bei der Zurückweisung einer Kündigungserklärung mangels<br />
Vorlage einer Vollmacht setzt neben der objektiven Komponente subjektiv ein schuldhaftes, also<br />
vorwerfbares Handeln voraus (OLG München NJW-RR 1997, 904). Dies kann z.B. bei Krankheit etc.<br />
entfallen. Zur Ausübung des Zurückweisungsrechts gem. § 174 S. 1 BGB steht dem Zurückweisenden<br />
eine angemessene Überlegungsfrist zu, innerhalb derer er von seinem Recht Gebrauch macht. Die<br />
Zurückweisung einer Kündigungserklärung ist ohne das Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalls<br />
nicht mehr unverzüglich i.S.d. § 174 S. 1 BGB, wenn sie später als eine Woche nach der tatsächlichen<br />
Kenntnis des Empfängers von der Kündigung und der fehlenden Vorlegung der Vollmachtsurkunde<br />
erfolgt (BAG BAGE 140, 64; 8 Tage unverzüglich: LG Wiesbaden, Urt. v. 25.5.2012 – 3 S 127/11, juris). Der<br />
Erklärungsempfänger darf insb. zunächst Rechtsrat einholen (LG Hamburg WuM 1998, 725; LG München<br />
WuM 1995, 478). 11 Tage sind nicht mehr unverzüglich, wenn ständiger Kontakt zum Rechtsanwalt<br />
besteht (OLG Hamm NJW 1991, 1185; LG Berlin MM 1993, 184).<br />
Die Zurückweisung muss unter Hinweis auf die fehlende Vollmacht erfolgen. Die Zurückweisung wegen<br />
Negierung eines Kündigungsgrundes reicht nicht (AG Frankenthal ZMR 2018, 42). Erfolgt die Zurückweisung<br />
gem. § 174 BGB wiederum durch einen Vertreter des Kündigungsempfängers, so muss auch der<br />
Zurückweisung eine Vollmacht beigefügt werden; andernfalls kann der Vertreter des Kündigenden die<br />
Zurückweisung wiederum gem. § 174 BGB zurückweisen (dazu NIES NZM 1998, 221 f.). Dies hat zur Folge,<br />
dass die Zurückweisung unwirksam ist und regelmäßig eine wiederholte Zurückweisung unter Beifügung<br />
der Vollmachtsurkunde nicht mehr unverzüglich ist, sodass die Kündigung ohne Beifügung der Vollmacht<br />
wirksam ist.<br />
e) Ermächtigung<br />
Möglich ist auch eine Ermächtigung i.S.d. § 185 Abs. 1 BGB zur Erklärung einer Kündigung (BGH NZM<br />
1998, 146, 147; KG WuM 2008, 153; OLG Celle NZM 2000, 93). Die Norm gilt vom Wortlaut her nur<br />
für Verfügungsgeschäfte, ist aber auf verfügungsähnliche Geschäfte entsprechend anwendbar. Der<br />
Bevollmächtigte gibt eine eigene Willenserklärung im fremden Namen ab, der Ermächtigte gibt<br />
demgegenüber eine eigene Willenserklärung im eigenen Namen ab. Voraussetzung ist, dass der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 133
Fach 4, Seite 1850<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
Prozessstandschafter (i.d.R. der Erwerber) ein rechtliches Interesse an der gerichtlichen Geltendmachung<br />
eines fremden Rechts im eigenen Namen hat und eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange<br />
des Prozessgegners nicht zu befürchten ist. Diese Voraussetzungen können bei einem Erwerber<br />
vorliegen, bei einem Hausverwalter wohl nicht. Nach Ansicht des BGH (WuM 2014, 286 m. krit. Anm.<br />
BLANK LMK 2014, 357461) ist eine Offenlegung der Ermächtigung nicht zwingend erforderlich.<br />
Problematisch ist die Frage, ob der Ermächtigte nur Kündigungsgründe, die auch dem Ermächtigenden<br />
zustehen, geltend machen kann oder auch solche, die nur in seiner Person bestehen. Bedeutsam ist das<br />
für die Kündigung wegen Eigenbedarfs durch den Erwerber, wenn der Veräußerer und Ermächtigende<br />
gar keinen Eigenbedarf hat. Hier wird durch die Ermächtigung erst ein Kündigungsgrund geschaffen.<br />
Deshalb kann der Ermächtigte eine Eigenbedarfskündigung erst nach Eintragung im Grundbuch<br />
aussprechen (AG Hamburg ZMR 2015, 133). Die Ermächtigung zum Ausspruch einer Eigenbedarfskündigung<br />
durch den Erwerber für den Veräußerer scheitert regelmäßig daran, dass der Veräußerer<br />
gar keinen Eigenbedarf haben kann, wenn er das Grundstück verkauft. Etwas anderes kann ausnahmsweise<br />
dann gelten, wenn der Erwerber und Ermächtigte zum Kreis der Eigenbedarfspersonen des<br />
Kündigenden gehört. Das kann z.B. der Fall sein, wenn das Grundstück an ein Kind des Veräußerers<br />
übertragen wird und dies in die Wohnung einziehen will. Dann hatte der Veräußerer bereits Eigenbedarf,<br />
den das Kind als Ermächtigter auch ausüben kann.<br />
f) Die Abtretung<br />
Der Vermieter kann das Recht zur Kündigung des Wohnraummietvertrages nicht abtreten (LG Berlin<br />
ZMR 1996, 326; LG Hamburg WuM 1993, 48; LG Kiel WuM 1992, 128; LG Augsburg NJW-RR 1992, 520; LG<br />
Osnabrück WuM 1990, 81; LG München I WuM 1989, 282; LG Wiesbaden WuM 1987, 392; STERNEL,<br />
Mietrecht, Rn IV 2; a.A.: MAYER ZMR 1990, 121, 123; offengelassen von BGH NJW 1998, 896; dazu auch OLG<br />
Düsseldorf ZMR 2000, 170). Der Unterschied zur Ermächtigung ist der, dass im Fall einer Abtretung des<br />
Kündigungsrechts der Zessionar anstelle des Zedenten frei entscheiden könnte, ob er die Kündigung<br />
erklärt oder nicht. Bei der Ermächtigung beruht die Befugnis weiterhin auf einer Erlaubnis des eigentlich<br />
Berechtigten. Dieser kann bis zur Vornahme des Rechtsgeschäfts die Ermächtigung nach § 183 BGB<br />
widerrufen. Dem gegenüber ist die isolierte Abtretung von Mietzinsansprüchen ohne gleichzeitige<br />
Übernahme der Pflichten aus einem Mietverhältnis zumindest bei Gewerberaummietverträgen (BGH<br />
NZM 20<strong>03</strong>, 716 = NJW 20<strong>03</strong>, 2987) zulässig. Die Regelung in einem Grundstückskaufvertrag, dass der<br />
Käufer mit dem Tag des Vertragsschlusses in einen bestehenden Mietvertrag des Verkäufers mit einem<br />
Dritten (ohne dessen Zustimmung) eintritt, kann aber weder im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung<br />
noch im Wege der Umdeutung dahin verstanden werden, dass der Käufer ermächtigt werden<br />
soll, den Mietvertrag im eigenen Namen zu kündigen (OLG Celle NZM 2000, 93).<br />
2. Adressat<br />
Die Kündigung ist an alle Mieter zu richten. Es ist deshalb zunächst zu prüfen, wer Mieter der Wohnung<br />
geworden ist und wer es noch ist, und in einer zweiten Stufe ist dann zu prüfen, an wen die Kündigung<br />
adressiert wurde und wem sie tatsächlich zugegangen ist. Die nur gegenüber einem Mitmieter erklärte<br />
Kündigung ist grds. unwirksam (OLGR Braunschweig 1994, 189). Die Auflösung eines mit Eheleuten<br />
abgeschlossenen Vertrags durch Kündigung setzt voraus, dass die Kündigung beiden Eheleuten<br />
gegenüber erklärt worden und beiden zugegangen ist (BGH MDR 1964, 308). Dies gilt auch dann, wenn<br />
die Eheleute getrennt leben und einer der beiden Ehegatten ohne einverständliche Aufhebung des mit<br />
ihm bestehenden Mietverhältnisses aus der Mietwohnung ausgezogen ist. Eine nur an den in der<br />
Wohnung verbliebenen Ehegatten gerichtete Kündigung ist grds. unwirksam (BayObLG WuM 1983, 107;<br />
AG München NZM 20<strong>03</strong>, 394). Ein Ehepartner kann sich auch nicht einseitig aus seiner vertraglichen<br />
Verpflichtung lösen (AG Hamburg NZM 2009, 319; zu den Folgen des Auszugs eines Ehegatten aus der<br />
gemeinsamen Wohnung: KINNE GE 2006, 1450). Haben nämlich Eheleute gemeinsam einen Mietvertrag<br />
auf der Mieterseite abgeschlossen, so bedarf derjenige Ehegatte, der sich allein aus dem Mietverhältnis<br />
lösen will, hierzu nicht nur des Einverständnisses des Vermieters, sondern ebenso des Einverständnisses<br />
seines im selben Schuldverhältnis stehenden Ehegatten (OLG Celle, Beschl. v. 20.1.1982, WuM 1982, 102;<br />
BayObLG WuM 1983, 107). Jedoch steht dem in der Wohnung verbliebenen mietenden Ehegatten<br />
134 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1851<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
aufgrund des Gebots gegenseitiger Rücksichtnahme und der aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB abzuleitenden<br />
Pflicht, die finanziellen Lasten des anderen Teils nach Möglichkeit zu verringern, ein Anspruch auf<br />
Mitwirkung an einer Vertragsentlassung zu angemessenen Bedingungen zu, soweit der Vermieter hierzu<br />
bereit ist (OLG Hamburg NZM 2011, 311). Gemäß § 1568a BGB kann aber ein Ehegatte vom anderen<br />
verlangen, dass ihm die Wohnung nach der Scheidung überlassen wird. Mit Zugang der Erklärung beider<br />
Ehegatten oder mit Rechtskraft der Endentscheidung im Wohnungszuweisungsverfahren tritt dann der<br />
so bestimmte Ehegatte anstelle des ursprünglich mietenden Ehegatten in ein von diesem eingegangenes<br />
Mietverhältnis ein oder setzt ein von beiden eingegangenes Mietverhältnis allein fort. Der Vermieter<br />
kann das Mietverhältnis innerhalb eines Monats, nachdem er von dem endgültigen Eintritt in das<br />
Mietverhältnis Kenntnis erlangt hat, außerordentlich mit der gesetzlichen Frist kündigen, wenn in der<br />
Person des eintretenden oder allein den Vertrag fortsetzenden Ehegatten ein wichtiger Grund vorliegt.<br />
a) Wer waren die ursprünglichen Vertragspartner?<br />
Zum Teil gibt es Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Inhalts der auf den Vertragsschluss gerichteten<br />
Willenserklärungen hinsichtlich der Person der Vertragspartner. Dies gilt insb. dann, wenn Vornamen<br />
abgekürzt wurden oder wenn mehrere Personen mit dem gleichen Namen in der Wohnung wohnen. In<br />
der Praxis kommt es häufig vor, dass im Kopf des Mietvertrags mehrere Personen genannt werden,<br />
dann aber nur eine von mehreren Personen (z.B. ein Ehegatte) den Mietvertrag unterzeichnet hat. In der<br />
Praxis haben sich hierzu verschiedene Auffassungen entwickelt:<br />
• Es spreche eine tatsächliche Vermutung (OLG Düsseldorf ZMR 2000, 210; WuM 1989, 362; OLG<br />
Oldenburg MDR 1991, 969; LG Berlin GE 2002, 189; GE 1999, 1285; GE 1995, 1553; GE 1995, 567; LG<br />
Heidelberg WuM 1997, 547; AG Dortmund MDR 1993, 755; STERNEL, Mietrecht, I 22) oder der erste<br />
Anschein (SCHOLZ WuM 1986, 5) dafür, dass die Unterschrift des einen Ehepartners auch im Namen<br />
der Ehefrau erfolgen soll. § 1357 BGB gilt aber nicht (LG Berlin GE 2002, 189). Der BGH hat es in einer<br />
Entscheidung zum Landpachtvertrag (BGH NJW 1994, 1649 f.) ausdrücklich offengelassen, ob diese<br />
Auffassungen seine Zustimmung finden. Er hat auf die Unterschiede zum Wohnraummietrecht<br />
hingewiesen. Das OLG Schleswig (WuM 1992, 674) hat den Erlass eines Rechtsentscheids zu<br />
dieser Frage abgelehnt, da es sich um kein Problem des Wohnraummietrechts, sondern des allg.<br />
Vertretungsrechts handele, jedoch ausgeführt, dass es auch von einem Anscheinsbeweis für eine<br />
wirksame Vertretung ausgehe, wenn nur ein Ehegatte den Vertrag unterzeichne, obwohl beide im<br />
Mietvertragskopf genannt werden und der andere Ehegatte an den Verhandlungen teilgenommen<br />
hat. In einer neueren Entscheidung hat der BGH (NJW 2005, 2620; so auch LG Berlin GE 2001, 16<strong>03</strong>)<br />
die Frage ausdrücklich offengelassen, da der den Mietvertrag nicht unterzeichnende Mieter später<br />
dem Mietvertrag zumindest konkludent beigetreten war. Dies kann z.B. durch Unterzeichnung<br />
mehrerer Mieterhöhungserklärungen und die Duldung einer Modernisierung geschehen.<br />
• Teilweise wird auch die Auffassung vertreten, dass im Zweifel nicht anzunehmen ist, dass ein Ehepartner<br />
einen Mietvertrag zugleich in Vertretung und mit Vollmacht für seinen Ehepartner unterschrieben hat<br />
(LG Berlin GE 2004, 1096; LG Osnabrück NZM 2002, 943 f.; LG Berlin GE 1995, 1343; ZMR 1988, 1<strong>03</strong>;<br />
LG Mannheim ZMR 1993, 415; LG Ellwangen DGVZ 1993, 10; AG Potsdam WuM 1996, 696).<br />
• Unterzeichnen beide Ehegatten einen Mietvertrag, in dem nur ein Ehegatte als Mieter bezeichnet ist,<br />
wird im Zweifel nur dieser Mieter (LG Berlin GE 2004, 1096; MM 1997, 283; ZMR 1988, 1<strong>03</strong>; LG<br />
Osnabrück WuM 2001, 438; a.A. AG Köln WuM 1980, 85; nach LG Schweinfurt WuM 1989, 362 ist<br />
derjenige Vermieter, der den Mietvertrag als Vermieter unterschreibt, auch wenn er im Kopf nicht als<br />
Vermieter aufgeführt ist). Steht dabei ein Ehegatte in einem Mietvertrag mit einer Genossenschaft im<br />
Mietvertragskopf als „Mitglied“,befindet sich unter seiner Unterschrift aber der Text „Unterschrift des<br />
Ehegatten als selbstschuldnerischer Bürge/Mitglied“, so ist diese Regelung insgesamt unklar. Es gilt in<br />
diesem Fall die für den Unterzeichner günstigste Alternative, also die Bürgschaft (LG Berlin NZM<br />
2000, 1005).<br />
Heiratet der Mieter erst nach Vertragsabschluss, wird der Ehepartner nicht automatisch Mieter. Er hat<br />
noch nicht einmal einen Anspruch darauf, in den Mietvertrag als Mieter mit aufgenommen zu werden.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 135
Fach 4, Seite 1852<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
In den neuen Bundesländern ist weiterhin § 100 Abs. 3 ZGB zu beachten (QUARCH WuM 1993, 224; MITTAG<br />
WuM 1993, 169). Nach dieser Vorschrift wurde der Ehepartner des Mieters ebenfalls Mietvertragspartei,<br />
auch wenn er den Mietvertrag nicht unterschrieben hat oder wenn er erst später eingezogen ist (LG<br />
Cottbus NJW-RR 1995, 524). Die Vorschrift gilt noch immer für alle Mietverhältnisse, die vor dem<br />
3.10.1990 begründet wurden, fort. Das gilt selbst dann, wenn ein Mietverhältnis vor dem 2.10.1990<br />
schlüssig abgeschlossen, aber erst nach dem 3.10.1990 schriftlich fixiert wurde (AG Frankfurt/O. WuM<br />
1996, 265).<br />
Möglich ist aber, dass ein Ehegatte später ausdrücklich oder konkludent aus dem Mietvertrag wieder<br />
ausgeschieden ist. Außerdem kann es gegen das Schikaneverbot oder gegen Treu und Glauben<br />
verstoßen, wenn der in der Wohnung verbliebene Mieter sich auf den formalen Mangel der nicht<br />
ausreichenden Adressierung der Kündigungserklärung beruft.<br />
Das AG Schöneberg und das LG Berlin (MM 1999, 122) haben in einem Fall, in dem die Ehefrau vor<br />
13 Jahren aus der Wohnung ausgezogen ist, der in der Wohnung verbliebene Ehemann im Scheidungsverfahren<br />
dem Auszug seiner Frau zugestimmt hat und in dem der Vermieter, nachdem er hiervon<br />
Kenntnis hatte, alle Willenserklärungen nur noch an den Ehemann gerichtet hatte, den Abschluss eines<br />
konkludenten Mietaufhebungsvertrags angenommen. Das LG Duisburg (NZM 1998, 73) hat die<br />
Klage des Vermieters gegen einen von zwei Mietern abgewiesen, der, ohne dass das Mietverhältnis<br />
gekündigt worden war, aus der Wohnung ausgezogen war. Es hat seine Entscheidung gestützt auf die<br />
Rechtsprechung des BGH zur Haftung eines aus der Personengesellschaft ausgeschiedenen Gesellschafters<br />
für Verbindlichkeiten der Gesellschaft gem. § 736 Abs. 2 BGB und hat diese Grundsätze auf das<br />
Mietrecht übertragen. Dieser Auffassung sind das OLG Düsseldorf (NZM 1999, 558), das LG Berlin (GE<br />
2001, 205; NZM 1999, 758) und das AG Dortmund (NZM 2001, 94) entgegengetreten. In der Literatur ist<br />
die Entscheidung des LG Duisburg von SONNENSCHEIN (NZM 1999, 977) und KLINKHAMMER (NZM 1998, 744;<br />
FamRZ 1999, 262) abgelehnt worden. Solange die Parteien mietvertraglich in diesen Fällen eine<br />
wechselseitige Empfangsvollmacht vereinbart haben, kann der Vermieter auch die für den unbekannt<br />
verzogenen Mieter bestimmte Willenserklärung an den in der Wohnung verbliebenen Mieter als<br />
Empfangsbevollmächtigten richten. Liegt keine Empfangsvollmacht vor oder hat der Mitmieter diese<br />
nach Auszug widerrufen, dann kann nur nach § 242 BGB im Einzelfall die Notwendigkeit entfallen, die<br />
Kündigung auch an den ausgezogenen Mitmieter zu adressieren.<br />
In Ausnahmefällen wurde angenommen, dass ein Mitmieter aus dem Gesichtspunkt von Treu und<br />
Glauben die allein ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung gegen sich gelten lassen muss. Dies<br />
wurde z.B. angenommen, wenn:<br />
• der andere Mieter die Wohnung verlassen hat, keine neue Anschrift angegeben hat und für den<br />
Vermieter nicht mehr erreichbar ist (LG Limburg WuM 1993, 47);<br />
• bei Eheleuten als Mietern die Kündigung nur dem in der Mietwohnung verbliebenen Mitmieter<br />
gegenüber erklärt worden und diesem zugegangen ist (OLG Frankfurt NJW-RR 1991, 459 = WuM<br />
1991, 76 = ZMR 1991, 1<strong>03</strong>). Dementsprechend hat das LG Frankfurt (WuM 1992, 129) eine Ausnahme<br />
zugelassen, wenn einer der Mieter die Wohnung bereits seit zehn Jahren nicht mehr benutzt.<br />
• Auch nach Ansicht des BGH (NJW 2005, 1715 = NZM 2005, 452) kann es gegen Treu und Glauben<br />
verstoßen, wenn der in der Wohnung verbliebene Mieter sich darauf beruft, dass der ausgezogene<br />
Mieter in der Vergangenheit gar nicht hätte einseitig und allein kündigen dürfen. Dies gilt auch dann,<br />
wenn der Vermieter den ausgezogenen Mieter formal fehlerhaft einseitig aus dem Mietvertrag<br />
entlassen hat (BGH NJW 2004, 1797 = NZM 2004, 419).<br />
Soweit eine Kündigung an mehrere Personen zu richten ist, ist es erforderlich, dass zwischen diesen<br />
verschiedenen Erklärungen auch ein gewisser zeitlicher Zusammenhang besteht, also nicht die<br />
Kündigung eines Mitmieters erst später im Prozess nachgeholt wird (OLG Düsseldorf NJW-RR 1987,<br />
1369; LG Cottbus NJW-RR 1995, 524).<br />
136 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1853<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Praxistipp:<br />
Da es regelmäßig unschädlich ist, einer Person zuviel zu kündigen, sollte in Zweifelsfällen die Kündigungserklärung<br />
an alle in Betracht kommenden Personen adressiert werden. Dies ist i.d.R. weniger risikoreich,<br />
als eine Person zu vergessen.<br />
Nach dem Tod eines Mieters (hierzu: BUTENBERG ZMR 2015, 189; HORST DWW 2013, 362; STERNEL ZMR 2004,<br />
713) müssen die verschiedenen Fallkonstellationen auseinandergehalten werden:<br />
• Hat nur eine Person den Mietvertrag auf Mieterseite abgeschlossen, bildet sie aber mit anderen<br />
Personen einen gemeinsamen Haushalt, so richten sich die Rechtsfolgen nach § 563 BGB:<br />
• Lebt der Ehepartner oder Lebenspartner nach dem LPartG des verstorbenen Mieters mit in der<br />
Wohnung, tritt dieser in den Mietvertrag ein und verdrängt auch alle anderen Personen als Mieter,<br />
die ggf. noch im Haushalt wohnen.<br />
• Andere Personen wie Kinder, Eltern, Geschwister, Großeltern, aber auch Freund und Freundin<br />
werden alle zusammen Mieter, wenn sie mit dem verstorbenen Mieter einen gemeinsamen<br />
Haushalt gebildet haben und wenn kein Ehepartner oder Lebenspartner in der Wohnung wohnt.<br />
• Haben mehrere Personen den Mietvertrag auf Mieterseite abgeschlossen, dann richten sich die<br />
Rechtsfolgen nach § 563a BGB. Unabhängig von der Frage, wer Erbe des verstorbenen Mieters ist,<br />
wird das Mietverhältnis mit dem oder den überlebenden Mietern fortgesetzt, egal wo diese wohnen,<br />
also ob sie mit dem verstorbenen Mieter einen gemeinsamen Haushalt geführt haben oder nicht. Die<br />
Haftung für Mietschulden richtet sich im Innenverhältnis zum Erben nach § 563b BGB.<br />
• Hat der verstorbene (Einzel-)Mieter allein in der Wohnung gelebt, so tritt der Erbe oder treten die<br />
Erben an seine Stelle. Sie können jedoch das Mietverhältnis erleichtert nach § 564 S. 2 BGB mit der<br />
Frist des § 573d BGB kündigen. Zur Haftung für Verbindlichkeiten und den Möglichkeiten der<br />
Beschränkung BGH (DWW 2019, 329).<br />
b) Kündigungsadressat<br />
Die Kündigung ist an alle Personen zu richten, die zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung – noch –<br />
Mieter sind. Die Bezeichnung „Familie“ mit dem nachfolgenden Namen eines von zwei Mietern, die<br />
miteinander verheiratet sind und die Wohnung gemeinsam gemietet haben, macht nicht hinreichend<br />
deutlich, dass in dem Kündigungsschreiben mehrere selbstständige Willenserklärungen zusammengefasst<br />
sind, die gleichzeitig an beide Mieter gerichtet werden sollen. Eine solche Kündigung ist unwirksam<br />
(AG Greifswald WuM 1994, 268; AG Neukölln MM 1993, 219). Wenn in der Adressatenangabe im<br />
Anschriftenfeld zwar nur der Vorname des Ehemanns genannt wird, die Anrede aber mit „Herrn und<br />
Frau“ beginnt, soll die Erklärung aber wirksam sein (AG Hamburg WuM 1999, 484). Die formelhafte<br />
alternative Adressierung „Herr/Frau X“ ist demgegenüber unwirksam (BVerfG WuM 1992, 685).<br />
Zulässig ist bei Personenmehrheiten auf Mieterseite die wechselseitige Bevollmächtigung. Individualvertraglich<br />
stellt sie kein Problem dar. Problematisch können formularvertragliche Vollmachtsklauseln<br />
sein. Sie sind immer dann bedeutsam, wenn auf einer Vertragsseite mehrere Personen vorhanden sind.<br />
In diesem Fall müssen Willenserklärungen gegenüber allen Vertragspartnern erklärt werden und allen<br />
Vertragspartnern zugehen (MILGER MDR 2015, 256, 258). Man muss bei solchen Klauseln unterscheiden<br />
zwischen solchen, die den Empfang einer Willenserklärung, wie z.B. einer Kündigung betreffen und<br />
solchen, die die Abgabe einer solchen Erklärung betreffen.<br />
Empfangsvollmachten in Wohnraummietverträgen sind grds. möglich. Sie verstoßen nicht gegen ein<br />
gesetzliches Verbot und stellen regelmäßig auch keine unangemessene Benachteiligung des Mieters<br />
dar. Der BGH (BGHZ 136, 314 = NJW 1997, 3437) hat schon 1997 in einem Rechtsentscheid entschieden,<br />
dass die gegenseitige Bevollmächtigung der Mieter zur Entgegennahme von Erklärungen durch die<br />
in einem formularmäßigen Wohnraummietvertrag enthaltene Klausel: „Erklärungen, deren Wirkung die<br />
Mieter berührt, müssen von oder gegenüber allen Mietern abgegeben werden. Die Mieter bevollmächtigen sich<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 137
Fach 4, Seite 1854<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
jedoch gegenseitig zur Entgegennahme und Abgabe solcher Erklärungen. Diese Vollmacht gilt auch für die<br />
Entgegennahme von Kündigungen, jedoch nicht für […] Mietaufhebungsverträge“ – zumindest was den Teil der<br />
Empfangsvollmacht angeht wirksam ist.<br />
Soweit die Klausel auch eine Bevollmächtigung zur Abgabe von Willenserklärungen enthält, ist die<br />
Klausel unwirksam, da sie auch vertragsbeendende Willenserklärungen und wesentliche Änderungen<br />
umfasst. Solche Risiken muss der Mieter nicht tragen (KG, Urt. v. 15.1.2018 – 8 U 169/16, juris; CHRISTENSEN<br />
in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB, (22) Mietverträge Rn 6). Die Unwirksamkeit des die Abgabe von<br />
Erklärungen betreffenden Teils der Klausel hat aber keine Auswirkungen auf den Teil, der den Empfang<br />
von Willenserklärungen betrifft. Die Klauselteile sind nach der BGH-Rechtsprechung (BGHZ 136, 314 =<br />
NJW 1997, 3437) teilbar, sodass auch kein Verstoß gegen das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion<br />
vorliegt.<br />
Eine Empfangsklausel ist auch dann wirksam, wenn sie auch für den Empfang vertragsbeendender<br />
(Kündigung) Willenserklärungen gilt. Eine solche Klausel benachteiligt die Mieter nicht unangemessen<br />
i.S.d. § 307 BGB. Das gemeinsame Anmieten und Wohnen ist Ausdruck eines Näheverhältnisses, welches<br />
annehmen lässt, dass ein Mieter Erklärungen des Vermieters, die das Mietverhältnis betreffen, den<br />
Mitmietern weitergibt. Solange die Mieter in der Wohnung zusammenleben, gibt es keine größeren<br />
praktischen Probleme mit einer solchen Empfangsvollmacht. In diesem Fall werden Erklärungen, die an<br />
alle Mieter gerichtet sind, schon dann wirksam, wenn sie in den Briefkasten geworfen werden oder<br />
einem Mitmieter übergeben werden, da die Mitmieter füreinander Empfangsboten sind. Mit Auszug<br />
eines Mitmieters aus der Wohnung endet aber diese Empfangsbotenstellung der übrigen Mitmieter für<br />
den ausgezogenen Mitmieter. Deshalb wird die Empfangsvollmacht erst mit dem Auszug eines Mieters<br />
praktisch bedeutsam, da sie nun die zuvor bestehende Empfangsbotenschaft fortsetzt. Hier besteht ein<br />
schutzwürdiges Interesse des Vermieters, besonders wenn der Auszug eines Mieters ihm nicht<br />
angezeigt wurde. Der ausziehende Mieter ist auch in den Fällen der mietvertraglich erteilten<br />
Empfangsvollmacht ausreichend geschützt. Er kann die Empfangsvollmacht dem Vermieter gegenüber<br />
jederzeit widerrufen (BayObLG NJWE-MietR 1997, 193, 195). Dieses Widerrufsrecht aus wichtigem Grund<br />
kann auch nicht wirksam abbedungen werden. Ein solcher Widerruf kann auch konkludent erfolgen, z.B.<br />
durch den Auszug aus der Wohnung und Mitteilung darüber an den Vermieter unter Angabe der neuen<br />
Anschrift. Die Widerruflichkeit muss dabei in der Klausel nicht ausdrücklich erwähnt werden, sie darf nur<br />
nicht ausgeschlossen sein.<br />
3. Form<br />
a) Allgemeines<br />
Hinsichtlich der erforderlichen Form, die eine Kündigung einhalten muss, ist zwischen den verschiedenen<br />
Mietverhältnissen zu unterscheiden:<br />
• Für Wohnraummietverhältnisse ist gem. § 568 Abs. 1 BGB die Schriftform vorgeschrieben.<br />
• Das gilt auch für die ungeschützten Mietverhältnisse gem. § 549 Abs. 2 und 3 BGB.<br />
• Für Gewerberaummietverhältnisse ist kraft Gesetzes keine Form vorgeschrieben.<br />
Soweit Schriftform für die Kündigung vorgeschrieben ist, handelt es sich um eine Wirksamkeitsvoraussetzung.<br />
Auf die Form kann nicht verzichtet werden. Sie gilt sowohl für die Vermieter- wie auch für<br />
die Mieterkündigung. Der Kündigende muss ggf. beweisen, dass die Unterschrift von ihm stammt<br />
(AG Schöneberg GE 2013, 215; AG Hamburg-Wandsbek ZMR 2012, 785).<br />
b) Die Kündigung von Wohnraummietverhältnissen<br />
Die Tatbestandsvoraussetzung der Schriftform ergibt sich aus § 126 Abs. 1 BGB. Erforderlich ist danach eine<br />
Erklärung, die vom Kündigenden eigenhändig durch Namensunterschrift oder mit notariell beglaubigtem<br />
Handzeichen unterzeichnet ist. Unter Name ist grds. der Vor- und Nachname zu verstehen. Es genügt<br />
aber i.d.R. die Unterzeichnung mit dem Nachnamen. Das ist aber die Mindestvoraussetzung, sodass<br />
andere Bezeichnungen, wie Familienbezeichnung („Dein Vater“) oder Funktionen („Die Geschäftsleitung“<br />
138 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1855<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
pp.) nicht ausreichen. Bei Doppelnamen muss grds. mit beiden Namensteilen unterschrieben werden. Die<br />
willkürliche Abkürzung führt zur Unwirksamkeit der Unterschrift (LAG Köln NZA 1987; a.A. BGH NJW 1988,<br />
2822: Abkürzung des zweiten Namens mit den beiden Anfangsbuchstaben reicht aus). Nur wenn keine<br />
Zweifel an der Identität des Unterzeichners bestehen, reicht die Unterzeichnung mit dem ersten Teil des<br />
Doppelnamens aus (BGH NJW 1996, 997; OLG Frankfurt NJW 1989, 3<strong>03</strong>0) z.B., weil sich die Identität<br />
eindeutig aus dem Briefkopf ergibt.<br />
Eine Unterschrift erfordert nach dem Sprachgebrauch und dem Zweck der Formvorschrift (BGH NJW<br />
1997, 3380, 3381; 1985, 1227; 1975, 1704; MDR 1964, 747), dass es sich tatsächlich um eine Schrift handeln<br />
muss. Eine Namensunterschrift setzt ein aus Buchstaben einer üblichen Schrift (BGH NJW 1992, 243;<br />
NJW-RR 1992, 1150; NJW 1989, 588; 1987, 1333; 1985, 1227; 1985, 2651; 1975, 1704) bestehendes Gebilde<br />
voraus, das nicht lesbar (BFH NJW 2000, 607; BGH NJW 1997, 3380, 3381; 1982, 1467; 1959, 734) zu sein<br />
braucht. Erforderlich, aber auch genügend, ist das Vorliegen eines die Identität des Unterschreibenden<br />
ausreichend kennzeichnenden Schriftzuges, der individuelle und entsprechend charakteristische<br />
Merkmale aufweist, die die Nachahmung erschweren (BGH NJW 1959, 734; 1985, 1227; OLG Frankfurt<br />
a.M. NJW 1993, 3079; OLG Düsseldorf NJW-RR 1992, 946, 947), sich als Wiedergabe eines Namens<br />
darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt (BFH NJW 2000, 607, 608;<br />
BGH NJW-RR 2017, 445; NJW 1994, 55), selbst wenn er nur flüchtig niedergelegt ist und von einem<br />
starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist (BGH NJW-RR 2017, 445; 1997, 760; NJW 1997, 3380,<br />
3381). Unter diesen Voraussetzungen ist selbst ein vereinfachter und nicht lesbarer Namenszug als<br />
Unterschrift anzuerkennen, wobei insbes. von Bedeutung ist, ob der Unterzeichner auch sonst in<br />
gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt. Deshalb wird von der Rspr. zunehmend ein großzügiger<br />
Maßstab angelegt, wenn an der Autorenschaft keine Zweifel bestehen und zwar auch in Anbetracht<br />
der Variationsbreite, die selbst Unterschriften ein und derselben Person aufweisen (BGH NJW 1997, 3380,<br />
3381; 1987, 1333; BVerfG NJW 1998, 1853; SCHNEIDER NJW 1998, 1844). Zum Teil wird mit Rücksicht auf die<br />
modernen Kommunikationsmittel, die häufig eine eigenhändige Unterschrift nicht mehr zulassen und<br />
deshalb auch nicht erfordern (GemS-OGB NJW 2000, 2340), eine noch weitere Lockerung bzgl. des<br />
Unterschriftserfordernisses gefordert. Nach Ansicht des BGH genügt aber weder eine eingescannte<br />
(BGH NJW 2006, 3784) noch eine zuvor blanko erteilte und dann ausgeschnittene und aufgeklebte<br />
Unterschrift (BGH NJW 2015, 3246 m. Anm. EINSELE LMK 2015, 373985) den Anforderungen an eine<br />
wirksame Unterschriftsleistung. Bloße Striche oder geometrische Figuren genügen als Unterschrift<br />
ebenso wenig wie die bloße Wiedergabe von Anfangsbuchstaben (LAG Berlin NJW 2002, 989). Es ist<br />
i.d.R. erforderlich, dass man bei wohlwollendster Betrachtung bei Kenntnis des Namens des Unterzeichners<br />
diesen in der Unterschrift wiedererkennen kann (BGH NJW 1988, 713; KG NJW 1988, 2807).<br />
Dabei darf eine dem Schriftzug beigefügte Namenswiedergabe in Maschinenschrift zur Deutung<br />
vergleichend herangezogen werden (BGH NJW-RR 1997, 760; NJW 1992, 243; OLG Düsseldorf NJW-RR<br />
1992, 946). Handzeichen, die allenfalls einen Buchstaben erkennen lassen, sowie Unterschriften mit<br />
einer Buchstabenfolge, die als bewusste und gewollte Unterzeichnung mit einer Namensabkürzung<br />
(Paraphe) (GemS-OGB NJW 2000, 2340; BGH NJW 1998, 762; 1997, 3380, 3381; 1994, 55; 1985, 1227; 1982,<br />
1467; 1967, 2310; OLG Hamm NJW 1989, 3289; OLG Köln RPfleger 1991, 198; OLG Düsseldorf NJW-RR 1992,<br />
946, 947) erscheinen, sowie Faksimile-Stempel (BGH NJW 1989, 838), erfüllen nicht die Voraussetzung<br />
einer formgültigen Unterschrift. Ob ein Schriftzug eine Unterschrift oder lediglich eine Abkürzung<br />
darstellt, beurteilt sich dabei nach dem äußeren Erscheinungsbild (BGH NJW 1997, 3380, 3381; 1994, 55;<br />
1987, 957; 1982, 1467).<br />
Wenn die Kündigung durch eine Personenmehrheit zu erfolgen hat, weil der Mietvertrag auf Vermieteroder<br />
Mieterseite von oder mit mehreren Personen geschlossen wurde, muss die Unterschrift jedes<br />
einzelnen Mitglieds der Personenmehrheit diesen Anforderungen entsprechen. Da aber, wie oben<br />
dargestellt, eine Stellvertretung zulässig ist, ist die Kündigung formal ordnungsgemäß, wenn die<br />
Unterschrift des Vertreters den Anforderungen des § 126 Abs. 1 BGB entspricht. Allein die Tatsache, dass<br />
die beigefügte Vollmacht unterschrieben ist, reicht nicht aus (AG Friedberg WuM 1993, 48). Demgegen-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 139
Fach 4, Seite 1856<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
über gelten für die Vollmachtserteilung die Formvorschriften der §§ 126, 568 BGB nicht. Gemäß § 167 Abs. 2<br />
BGB gilt für die Vollmachtserteilung nicht die Form, welche für das Rechtsgeschäft bestimmt ist, auf das<br />
sich die Vollmacht bezieht.<br />
Die Kündigung kann auch im laufenden Rechtsstreit durch oder in einem Schriftsatz während eines<br />
anhängigen Rechtsstreits erfolgen. In der bloßen Erhebung einer Räumungsklage ist grds. aber noch<br />
keine Kündigungserklärung zu sehen. Erfolgt ausdrücklich eine Kündigung in einem an das Gericht<br />
gerichteten Schriftsatz, so ist der Schriftform des § 568 Abs. 1 BGB genüge getan, wenn dem<br />
Kündigungsadressaten bzw. seinem Bevollmächtigten eine vom Prozessbevollmächtigten der Gegenseite<br />
selbst beglaubigte Abschrift des die Kündigung aussprechenden Schriftsatzes zugeht. Eine<br />
Unterschrift des Prozessbevollmächtigten unter der Abschrift ist neben oder statt der Unterschrift unter<br />
dem Beglaubigungsvermerk nicht erforderlich. Ist die Kündigung in einem prozessualen Schriftsatz<br />
enthalten, so ist der Zugang einer vom Erklärenden unterzeichneten Abschrift des Schriftsatzes beim<br />
Gegner erforderlich; die Zustellung nur einer beglaubigten Abschrift von Anwalt zu Anwalt oder von<br />
Amts wegen nach § 198 oder §§ 208 ff. ZPO genügt auch im Hinblick auf § 132 Abs. 1 BGB nicht (BGH<br />
WuM 1987, 209). Etwas anderes soll ausnahmsweise nur dann gelten, wenn der Prozessbevollmächtigte<br />
des Vermieters die Kündigung selbst ausgesprochen und anschließend als Prozessbevollmächtigter des<br />
Vermieters im Prozess auftritt. In diesem Fall wird dem Formerfordernis des § 568 BGB im Allgemeinen<br />
auch dann Genüge getan, wenn der Anwalt den Beglaubigungsvermerk auf der der anderen Partei<br />
zugestellten Abschrift des Schriftsatzes unterschrieben hat (BGH WuM 1987, 209; OLG Zweibrücken<br />
OLGZ 1981, 350; BayObLG München NJW 1981, 2197; OLG Hamm NJW 1982, 452). Entscheidend ist also,<br />
dass zwischen Schriftsatzverfasser und dem Beglaubigenden Personenidentität besteht. Erfolgt die<br />
Beglaubigung also durch die Geschäftsstellenbeamtin ist die gesetzliche Schriftform gem. §§ 568, 126<br />
BGB nicht gewahrt. Durch eine ins gerichtliche Protokoll erklärte Kündigung wird die Schriftform<br />
ebenfalls nicht gewahrt (AG Braunschweig WuM 1990, 153; AG Münster WuM 1987, 273; LG Berlin MDR<br />
1982, 321). § 127a BGB gilt nur für gerichtliche Vergleiche. In Betracht kommen kann aber die Auslegung<br />
der Erklärung in ein Angebot auf Vertragsaufhebung, dass die andere Seite ausdrücklich oder konkludent<br />
annehmen kann.<br />
Das bedeutet, dass in der Wohnraummiete einschließlich der ungeschützten Mietverhältnisse des<br />
§ 549 Abs. 2 und 3 BGB eine Kündigung in Textform, also per Fax, SMS, E-Mail oder Messenger-Dienst<br />
ebenso unwirksam ist, wie eine mündlich erklärte Kündigung, insb. sind die für die Zulässigkeit der<br />
Vorabübersendung eines gerichtlichen Schriftsatzes per Telefax entwickelten Grundsätze nicht<br />
entsprechend anwendbar (GmS-OGB BGHZ 144, 160 = NJW 2000, 2340). Deshalb wahrt ein sog.<br />
Vorab-Telefax, auch wenn später das Originalschreiben zugeht, die Frist nicht. Auch eine E-Mail mit<br />
eingescannter Unterschrift erfüllt nicht die Schriftform. Hat der Vermieter das Kündigungsschreiben<br />
nicht unterschrieben ist die Kündigung unwirksam und dem Mieter können Schadenersatzansprüche<br />
i.H.d. zur Abwehr der Kündigung aufgewandten Kosten zustehen (LG Hamburg ZMR 2011, 211).<br />
Zulässig ist aber eine Kündigung in elektronischer Form gem. § 126a BGB. Das ergibt sich aus § 126<br />
Abs. 3 BGB, wonach die schriftliche Form durch die elektronische Form ersetzt werden kann. In diesem<br />
Fall muss der Aussteller der Erklärung gem. § 126a Abs. 1 BGB dieser seinen Namen hinzufügen und das<br />
elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Die Anforderungen<br />
an eine solche elektronische Signatur sind in Abschnitt 4 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des<br />
Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.7.2014 über elektronische Identifizierung und<br />
Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie<br />
1999/93/EG geregelt (ABl Nr. L 257 v. 28.8.2014, S. 73; berichtigt in ABl 2015, Nr. L 23, S. 19). Danach<br />
hat eine solche qualifizierte Signatur gem. Art. 25 Abs. 2 VO die gleiche Rechtswirkung wie eine<br />
handschriftliche Unterschrift. Nach Art 27 ff. VO erfordert dies eine Signaturkarte sowie ein qualifiziertes<br />
Zertifikat eines Dienstanbieters und die Nutzung einer sicheren Signaturerstellungseinheit. Hierzu zählt<br />
das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) nicht (DÖTSCH MietRB 2018, 30, 31). Ist in einem mit<br />
qualifizierter elektronischer Signatur versehenen Schriftsatz an das Gericht eine Kündigung eines<br />
Wohnraummietverhältnisses enthalten, ist diese nur wirksam, wenn das Gericht diesen Schriftsatz<br />
140 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1857<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
elektronisch an den Adressaten weiterleitet. Wird der Schriftsatz, wie bisher noch üblich, erst bei<br />
Gericht ausgedruckt, von der Geschäftsstelle beglaubigt und dann an den Adressaten weitergeleitet, ist<br />
die Schriftform des §§ 126, 126a BGB nicht eingehalten. Die Kündigung ist formunwirksam. Etwas<br />
anderes gilt dann, wenn der Anwalt selbst den Schriftsatz mit qualifizierter elektronischer Signatur von<br />
Anwalt zu Anwalt gem. § 195 ZPO zustellt. Zu beachten ist aber, dass § 130a Abs. 3 ZPO neben der<br />
qualifizierten elektronischen Signatur auch die einfache Signatur durch die Absendenden unter<br />
Verwendung eines sichereren Übermittlungsweges vorsieht. Zu den sicheren Übermittlungswegen<br />
gehört gem. § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO die Verwendung des beA nach § 31a BRAO. In diesem Fall fehlt es<br />
an einer qualifizierten elektronischen Signatur gem. § 126a BGB: Eine in einem solchen Schriftsatz<br />
übermittelte Kündigung erfüllt deshalb nicht die Schriftform des §§ 126, 568 BGB. § 130a ZPO hat nur<br />
Bedeutung für die prozessuale Schriftform und für die materielle Schriftform.<br />
c) Kündigung von Gewerberaummietverhältnissen<br />
§ 568 Abs. 1 BGB gilt für Gewerberaummietverhältnisse nicht. Es fehlt in § 578 BGB eine Verweisung auf<br />
die Vorschrift. Deshalb kann dort eine Kündigung in Textform oder auch mündlich erfolgen, soweit<br />
nichts anderes vereinbart ist.<br />
d) Die Textform<br />
Was unter Textform i.S.d. Gesetzes zu verstehen ist, ergibt sich aus der Legaldefinition in § 126b BGB.<br />
Danach muss eine lesbare Erklärung, in der die Person des Erklärenden genannt ist, auf einem<br />
dauerhaften Datenträger abgegeben werden. Ein dauerhafter Datenträger ist jedes Medium, das es dem<br />
Empfänger ermöglicht, eine auf dem Datenträger befindliche, an ihn persönlich gerichtete Erklärung so<br />
aufzubewahren oder zu speichern, dass sie ihm während eines für ihren Zweck angemessenen Zeitraums<br />
zugänglich ist, und geeignet ist, die Erklärung unverändert wiederzugeben.<br />
Ein Hinweis darauf, dass die Erklärung nicht unterschrieben ist und auch nicht unterschrieben werden<br />
muss, ist für die Wirksamkeit der Erklärung unerheblich (BGH WuM 2014, 612). Bei einer Erklärung, die in<br />
Textform abgegeben wird, ist nicht erforderlich, den für die juristische Person tätig gewordenen<br />
Mitarbeiter namentlich zu benennen; vielmehr genügt die Angabe des Namens der juristischen Person<br />
(BGH WuM 2014, 612).<br />
Möglich ist hier also die Kündigung mittels Telefax oder per E-Mail.<br />
e) Vereinbarte Schriftform<br />
Ist im Mietvertrag vereinbart, dass die Kündigung schriftlich zu erfolgen hat, so handelt es sich um<br />
gewillkürte Schriftform gem. § 127 BGB. Anders als bei der Schriftform gem. § 126 BGB ist hier aber<br />
eine Kündigung mittels Telefax zulässig (BGH NZM 2004, 258), da gem. § 127 Abs. 2 BGB die<br />
telekommunikative Übermittlung ausreicht. Das gilt auch, wenn im Mietvertrag vereinbart ist, dass die<br />
Kündigung durch eingeschriebenen Brief zu erfolgen hat. Bei einer solchen Klausel handelt es sich um die<br />
Vereinbarung der gewillkürten Schriftform i.S.d. § 127 Abs. 2 BGB (BGH NJW-RR 1996, 866, 867; BAG NJW<br />
1980, 1304; OLG Frankfurt NJW-RR 1999, 955). Die Versendung als Einschreibebrief soll nur den Zugang<br />
der Kündigungserklärung sichern (BGH NZM 2004, 258). Deswegen ist bei einer solchen Klausel<br />
regelmäßig nur die Schriftform als Wirksamkeitserfordernis für die Kündigungserklärung vereinbart,<br />
dagegen kann ihr Zugang auch in anderer Weise als durch einen Einschreibebrief wirksam erfolgen.<br />
Seit 1.10.2016 ist in § 309 Nr. 13 BGB durch das Gesetz zur Verbesserung der zivilrechtlichen Durchsetzung<br />
von verbraucherschützenden Vorschriften des Datenschutzrechts vom 17.2.2016 (BGBl I, S. 233) dahingehend<br />
geändert worden, dass in Verträgen für Gestaltungserklärungen keine strengere Form als<br />
Textform vereinbart werden darf. Die Regelung gilt für Verträge, die nach dem 1.10.2016 abgeschlossen<br />
wurden. Die Vorschrift gilt gem. § 310 Abs. 1 BGB nicht für Allgemeine Geschäftsbedingungen, die gegenüber<br />
Unternehmern oder gleichgestellten Rechtssubjekten verwendet werden. Auch eine Indizwirkung<br />
besteht nicht (DAMMANN in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, § 309 Nr. 13 Rn 70).<br />
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4. Zugang<br />
a) Allgemein<br />
Eine Kündigung ist unabhängig davon, in welcher Form sie abgegeben werden muss und tatsächlich<br />
abgegeben wird, eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die erst mit ihrem Zugang gem. § 130 BGB<br />
wirksam wird. Bei einer Mehrheit von Mietern ist die Erklärung erst mit Zugang beim letzten Mieter<br />
wirksam zugegangen. Zugang bedeutet, dass die Erklärung so in den Machtbereich des Empfängers<br />
gelangt sein muss, dass unter normalem Lauf der Dinge mit der Kenntnisnahme gerechnet werden kann<br />
(BGH BGHZ 67, 271, 275; NJW 1999, 1093; KG GE 2002, 1559; AG Schöneberg MM 1991, 131 m.w.N.; Palandt/<br />
ELLENBERGER § 130 BGB Rn 5; HOSENFELD NZM 2002, 93). Hierzu zählt auch der Einwurf in einen Briefkasten<br />
oder das Postfach des Empfängers. Wird das Kündigungsschreiben persönlich übergeben, so gilt der<br />
Zeitpunkt der Übergabe. Die Beweislast trifft denjenigen, der die Erklärung abgibt. Der BGH (NJW 1957,<br />
1230) lehnt zu Recht einen Beweis des ersten Anscheins dafür ab, dass tatsächlich nachgewiesen aufgegebene<br />
Briefe auch zugegangen sind. Die Vernehmung des Mieters als Partei über den behaupteten<br />
Zugang der Kündigung soll einen unzulässigen Ausforschungsbeweis darstellen (AG Schöneberg GE<br />
2009, 271). Die Übersendung einer Kopie der Kündigung durch das Gericht bedeutet noch nicht, dass<br />
diese zugegangen ist (LG Berlin GE 2010, 63). Im Übrigen erfüllt die Kopie auch nicht die zumindest in der<br />
Wohnraummiete erforderliche Schriftform. Erfolgt die Kündigung zwar während eines Räumungsprozesses,<br />
aber außerhalb des Verfahrens durch selbstständige Kündigungserklärung und wird diese<br />
dann schriftsätzlich zur Akte gereicht, so kann der Adressat den Zugang immer noch bestreiten (ZEHELEIN<br />
NJW 2017, 41, 42). Bei einer Erklärung gegenüber einer Außengesellschaft genügt es, wenn sich aus der<br />
Kündigung entnehmen lässt, dass sie an die GbR gerichtet ist und dass sie einem vertretungsberechtigten<br />
Gesellschafter zugeht. Das gilt auch dann, wenn den Gesellschaftern die Vertretungsbefugnis<br />
gemeinschaftlich zusteht (BGH ZMR 2012, 261). Soweit die Übergabe durch einen Boten erfolgt,<br />
ist es sinnvoll, dass der Bote Kenntnis vom Inhalt des Schreibens hat, damit er später ggf. im Prozess den<br />
Zugang der bestimmten Willenserklärung bekunden kann.<br />
Nach der ständigen Rechtsprechung (BGH NJW 2019, 1151; NJW 2008, 843; BAG NJW 2018, 2684; NZA<br />
2019, 1490; NZA 2015, 1183) geht eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden i.S.v. § 130 Abs. 1<br />
S. 1 BGB zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers<br />
gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die – abstrakte – Möglichkeit besteht, von<br />
ihr Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen<br />
wie ein Briefkasten. Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist nach den<br />
„gewöhnlichen Verhältnissen“ und den „Gepflogenheiten des Verkehrs“ zu beurteilen. So bewirkt der<br />
Einwurf in einen Briefkasten den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten<br />
Entnahme zu rechnen ist. Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen.<br />
Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten (BAG NZA<br />
2019, 1490). Wenn für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme<br />
bestand, ist es unerheblich, ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder<br />
andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war. Auch konkrete Umstände in der Sphäre des<br />
Empfängers, z.B. Unkenntnis der Sprache oder Analphabetentum fallen in die Risikosphäre des<br />
Empfängers und hindern den Zugang nicht (LAG Köln NJW 1988, 1870). Den Mieter trifft die Obliegenheit,<br />
die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Unterlässt er dies, wird der<br />
Zugang durch solche – allein in seiner Person liegenden – Gründe nicht ausgeschlossen.<br />
Das bedeutet, dass bei Einwurf in den Briefkasten des Mieters der Zugang der Kündigung zu dem<br />
Zeitpunkt erfolgte, zu dem nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme von Schreiben<br />
aus dem Briefkasten zu rechnen war (BAG NZA 2019, 1490; AG Lahr WuM 1987, 85). Höchstrichterlich<br />
wurde bisher die Annahme einer Verkehrsanschauung, wonach bei Hausbriefkästen im Allgemeinen<br />
mit einer Leerung unmittelbar nach Abschluss der üblichen Postzustellzeiten zu rechnen sei, die<br />
allerdings stark variieren können, nicht beanstandet (BGH NJW 2004, 1320). Die örtlichen Zeiten<br />
der Postzustellung stellen gerade keine unbeachtlichen individuelle Verhältnisse des Empfängers<br />
dar. Hierzu zählen z.B. eine Vereinbarung mit dem Postboten über persönliche Zustellzeiten (BGH<br />
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NJW 2004, 1320), konkrete eigene Leerungsgewohnheiten oder auch die krankheits- oder urlaubsbedingte<br />
Abwesenheit. Die allgemeinen örtlichen Postzustellungszeiten gehören dagegen nicht<br />
zu den individuellen Verhältnissen, sondern sind vielmehr dazu geeignet, die regionale Verkehrsauffassung<br />
über die übliche Leerung des Hausbriefkastens zu beeinflussen. Die Entscheidungen über<br />
die Frage, bis wieviel Uhr ein Mieter seinen Briefkasten kontrollieren muss, schwanken deshalb<br />
erheblich:<br />
• Bei einem Einwurf bis 13.45 Uhr soll der Zugang noch am gleichen Tag erfolgt sein (LG Berlin WuM<br />
2006, 220).<br />
• Das OLG Hamm (NJW-RR 1995, 1187) spricht davon, dass eine Erklärung, die am späten Nachmittag<br />
in den Briefkasten geworfen wird, erst am nächsten Tag zugegangen ist.<br />
• Bei einem Einwurf bis 18 Uhr soll grds. noch am gleichen Tag ein Zugang erfolgt sein, nur Silvester<br />
müsse der Mieter um diese Zeit nicht mehr mit dem Zugang rechtserheblicher Erklärungen rechnen<br />
(AG Ribnitz-Damgarten WuM 2007, 18; a.A. LG Hamburg NZM 2017, 597).<br />
• Nach einer Entscheidung des BayVerfGH (NJW 1993, 518, 519; auch LG München II WuM 1993, 331) ist<br />
die Rspr., die einen Einwurf um 18.05 Uhr noch als am gleichen Tag als zugegangen betrachtet, nicht<br />
willkürlich.<br />
• Das AG Schöneberg (WuM 1991, 131) hat zu alten „Bundespost-Zeiten“ bei einem Einwurf nach 17 Uhr<br />
einen Zugang erst am nächsten Werktag angenommen.<br />
• Noch strenger war damals das LG Berlin (GE 2002, 193; nach LG Berlin WuM 2006, 220 ist aber ein<br />
Einwurf um 13.45 Uhr noch rechtzeitig). Danach muss eine Privatperson nach 16 Uhr nicht mehr in<br />
ihren Briefkasten schauen, da üblicherweise die Post, aber auch private Zustelldienste, bis zu diesem<br />
Termin ihre Auslieferungen vorgenommen hätten.<br />
• Entscheidend sind deshalb die örtlichen Gegebenheiten (BAG NZA 2019, 1490). Dort, wo üblicherweise<br />
die Post vormittags ausgetragen wird, muss ein Mieter wegen der abstrakten Möglichkeit, dass<br />
irgendwann irgendwer ihm nachmittags irgendetwas in den Briefkasten werfen könnte, nicht täglich<br />
nachmittags nochmals in den Briefkasten schauen. Sonntags muss der Mieter den Briefkasten nicht<br />
leeren (LAG Schleswig-Holstein BB 2015, 2868 m. Anm. BOEMKE jurisPR-ArbR 12/2016 Anm. 3).<br />
Willenserklärungen des Vermieters gelten dem Mieter auch dann als zugegangen, wenn sie an die im<br />
Vertrag angegebene Anschrift gerichtet sind, der Mieter aber inzwischen seinen Wohnsitz an einem<br />
unbekannten Ort begründet hat (AG Tiergarten GE 1992, 391). Aber auch für den Mieter besteht die<br />
Pflicht, im Rahmen des Üblichen dafür Sorge zu tragen, dass ihm Kündigungserklärungen rechtzeitig<br />
zugehen können; wird diese Obliegenheit verletzt, so ist der die Kündigungserklärung Abgebende im<br />
Wege des Schadenersatzes so zu stellen, als wäre die Erklärung rechtzeitig zugegangen (LG Berlin GE<br />
1991, 151). Dies gilt z.B. bei längeren Krankenhausaufenthalten und ggf. auch längerem Urlaub.<br />
Hinweis:<br />
Das an den Prozessbevollmächtigten des Mieters gerichtete Kündigungsschreiben ist dem Mieter<br />
nur zugegangen, wenn sein Prozessbevollmächtigter insoweit Empfangsvollmacht hatte. Die erteilte<br />
Prozessvollmacht reicht dafür nicht aus (LG Berlin WuM 1987, 25). Jedoch ist die Kündigungserklärung<br />
zugegangen, sobald der Rechtsanwalt den Auftrag des Mieters annimmt, gegen die Kündigung nicht nur<br />
wegen Fehlens einer Empfangsvollmacht, sondern auch wegen Fehlens eines Kündigungsgrundes vorzugehen<br />
(BGH WuM 1980, 195).<br />
b) Einschreibebrief<br />
Kann ein Einschreibebrief wegen Abwesenheit des Empfängers nicht zugestellt werden, muss differenziert<br />
werden (HOSENFELD NZM 2002, 93; DÜBBERS NJW 1997, 25<strong>03</strong>):<br />
• Bei einem Einwurf-Einschreiben wirft der Postmitarbeiter den Brief in den Briefkasten und dokumentiert<br />
dies. Hier ist das Schreiben in dem Augenblick zugegangen, in dem nach dem gewöhnlichen<br />
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Lauf der Dinge mit der Kenntnisnahme gerechnet werden muss. Problematisch ist hier die Beweislast<br />
bezüglich des Zugangs. Während das LG Berlin (GE 2001, 770) ein einfaches Bestreiten des Zugangs<br />
bei einem Einwurfeinschreiben nicht als zulässig erachtet, ist die wohl überwiegende Auffassung<br />
in Literatur und Rechtsprechung anderer Auffassung. Erörtert wird nur, ob der Erklärende mittels<br />
Einwurf-Einschreiben den Zugang und inbs. den Zeitpunkt kraft Anscheinsbeweises nachweisen<br />
kann. Dies würde voraussetzen, dass die von der Post herausgegebenen Belege Urkundsqualität<br />
haben. Gegen Gebühr erhält der Absender nämlich nur einen Datenauszug. Dies ist eine technische<br />
Aufzeichnung und keine Urkunde (HOSENFELD NZM 2002, 93, 95 m.w.N.). Das LG Potsdam (NJW 2000,<br />
3722; dazu REICHERT NJW 2001, 2523) lehnt deshalb auch einen Anscheinsbeweis ab.<br />
• Bei Übergabe-Einschreiben muss der Mieter die Übergabe selbst quittieren. Wird er nicht angetroffen,<br />
wird eine Benachrichtigungskarte in den Briefkasten geworfen. In diesem Fall ist durch den<br />
Einwurf des Benachrichtigungsscheins das Schreiben noch nicht zugegangen (BGH VersR 1971, 262;<br />
BAG NJW 1986, 1374; LG Göttingen WuM 1989, 183; LG Berlin MM 1988, Nr. 1, 25; Palandt/HEINRICHS,<br />
BGB, § 130 Rn 7 m.w.N.; DÜBBERS NJW 1997, 25<strong>03</strong> f.). Dieser Benachrichtigungsschein unterrichtet den<br />
Empfänger nur darüber, dass für ihn eine Einschreibesendung bei der Post zur Abholung bereit liegt.<br />
Er enthält aber keinen Hinweis auf den Absender des Einschreibebriefs und lässt den Empfänger im<br />
Ungewissen darüber, welche Angelegenheit die Einschreibesendung zum Gegenstand hat (BGH NJW<br />
1998, 976 m. Anm. SINGER LM § 130 Nr. 27). Ob das Einschreiben mit oder ohne Rückschein versandt<br />
wurde, ist für den Zugang unerheblich und kann allenfalls den Beweis des Zugangs erleichtern.<br />
Das bedeutet aber nicht, dass grds. im Fall der Abwesenheit des Empfängers und der dadurch bedingten<br />
Nichtzustellbarkeit von Übergabe-Einschreibesendungen ein wirksamer Zugang i.S.v. § 130 BGB<br />
ausgeschlossen ist (a.A. LG Freiburg NZM 2004, 617: Zugang wird fingiert zu dem Zeitpunkt, zu dem<br />
unter normalen Bedingungen mit der Abholung zu rechnen war). Musste der Mieter oder Vermieter mit<br />
dem Zugang einer Kündigung rechnen, muss er durch geeignete Vorkehrungen sicherstellen, dass ihn<br />
die zu erwartenden Erklärungen auch erreichen; andernfalls muss er sich gem. § 242 BGB so behandeln<br />
lassen, als ob ihm die Kündigungserklärung zugegangen wäre (OLG Düsseldorf WuM 2004, 270;<br />
LG Berlin NJW-RR 1994, 850). Das bedeutet u.U., dass der Mieter dem Vermieter eine defekte<br />
Hausbriefkastenanlage anzeigen muss, andernfalls wird er so behandelt, als ob ihm eine Nachricht<br />
zugegangen ist, auch wenn sie nach Einwurf in den Briefkasten abhandengekommen ist (LG Berlin GE<br />
1994, 1383). Wer aufgrund der vertraglichen Beziehungen konkret mit dem Zugang einer Willenserklärung<br />
rechnen muss, hat auch bei Urlaubsabwesenheit dafür Sorge zu tragen, dass ihn Erklärungen<br />
erreichen (AG Rendsburg WuM 2001, 240; LG Saarbrücken WuM 1993, 339). Die Rechtsprechung<br />
verlangt aber zusätzlich, dass der Absender der Erklärung i.d.R. nach Kenntnis von dem nicht erfolgten<br />
Zugang unverzüglich einen neuen Versuch unternimmt, seine Erklärung derart in den Machtbereich des<br />
Empfängers zu bringen, dass diesem ohne Weiteres eine Kenntnisnahme ihres Inhalts möglich ist (BGH<br />
NJW 1952, 1169; VersR 1971, 262 f.; BAG NJW 1987, 1508). Ein wiederholter Zustellungsversuch des<br />
Erklärenden ist allerdings dann nicht mehr sinnvoll und deshalb entbehrlich, wenn der Empfänger die<br />
Annahme einer an ihn gerichteten schriftlichen Mitteilung grundlos verweigert, obwohl er mit dem<br />
Eingang rechtserheblicher Mitteilungen seines Vertrags- oder Verhandlungspartners rechnen muss<br />
(BGH NJW 1998, 976, 977 m. Anm. SINGER LM § 130 Nr. 27; BGH NJW 1983, 929 f.). Gleiches gilt, wenn der<br />
Adressat den Zugang arglistig vereitelt.<br />
c) Zustellung durch Gerichtsvollzieher<br />
Gemäß § 132 Abs. 1 BGB gilt eine Kündigung auch dann als zugegangen, wenn sie durch Vermittlung<br />
eines Gerichtsvollziehers zugestellt wurde. Dabei kann der Erklärende gem. §§ 166 ff. ZPO jeden<br />
Gerichtsvollzieher beauftragen, es kommt also nicht nur der Gerichtsvollzieher in Betracht, in dessen<br />
Bezirk der Empfänger wohnt. Die Zustellung erfolgt nach den Vorschriften der ZPO, i.d.R. gem. § 193 ZPO<br />
durch die Post. Zustellung bedeutet dabei nach der Legaldefinition des § 166 ZPO die Bekanntgabe eines<br />
Schriftstückes an den Adressaten, die in einer besonderen gesetzlichen Form bewirkt wird. Die<br />
Beurkundung der Zustellung ist nach neuem Recht keine Wirksamkeitsvoraussetzung mehr, sondern<br />
dient nur noch dem Nachweis der erfolgten Zustellung. Die Zustellung auf Betreiben einer Partei ist<br />
jetzt geregelt im Untertitel: „Zustellungen auf Betreiben einer Partei“. Auf die Zustellung auf Betreiben<br />
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einer Partei sind die Vorschriften der Zustellung von Amts wegen entsprechend anzuwenden, es sei<br />
denn, aus den §§ 192 ff. ZPO ergibt sich etwas anderes. Die von der Partei zu betreibende Zustellung<br />
erfolgt durch den Gerichtsvollzieher. Der Absender muss dem Gerichtsvollzieher das zuzustellende<br />
Schriftstück mit den erforderlichen Abschriften übergeben. Der Gerichtsvollzieher beglaubigt die<br />
Abschriften. Er kann die Zustellung gem. § 193 ZPO selbst vornehmen oder die Post damit beauftragen<br />
(§ 194 ZPO). Eine Zustellung mittels Übergabe-Einschreiben mit Rückschein ist hierbei anders als bei der<br />
Zustellung von Amts wegen nicht möglich. Besonders interessant ist die Zustellung durch den<br />
Gerichtsvollzieher nicht nur wegen des besonderen Nachweises des Zugangs, sondern v.a. auch wegen<br />
der großzügigen Möglichkeiten der Ersatzzustellung. Möglich ist zum einen eine Ersatzzustellung gem.<br />
§ 178 ZPO an Familienangehörige und Mitbewohner und zum anderen auch eine Zustellung durch<br />
schlichtes Zurücklassen des zuzustellenden Schriftstücks bei Annahmeverweigerung, § 179 ZPO sowie<br />
die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gem. § 180 ZPO. Nur wenn die Ersatzzustellung<br />
durch Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten nicht möglich ist, ist die Kündigung durch<br />
Niederlegung gem. § 181 ZPO zuzustellen. In diesem Fall wird das Schreiben bei der Post niedergelegt<br />
und zur Abholung bereitgehalten. Der Adressat wird durch eine Benachrichtigungskarte informiert. Die<br />
Zustellung gilt mit dem Einwurf in den Briefkasten, § 180 ZPO bzw. dem Einwurf der Benachrichtigungskarte,<br />
§ 181 ZPO, als bewirkt (LG Berlin GE 1983, 77). Dies gilt aber dann nicht, wenn der<br />
Vermieter weiß, dass der Mieter die Wohnung (vorübergehend) durch Verlagerung seines Lebensmittelpunktes<br />
verlassen hat (AG Hamburg WuM 1993, 463).<br />
d) Öffentliche Zustellung<br />
Gemäß § 132 Abs. 2 BGB kann eine Kündigung ggf. auch durch öffentliche Zustellung zugestellt werden.<br />
Soweit die Vorschrift danach unterscheidet, dass der Erklärende entweder über die Person, der<br />
gegenüber die Erklärung abzugeben ist, oder über deren Aufenthalt im Unklaren ist, kommt hier wohl<br />
nur die zweite Alternative in Betracht. In diesem Fall ist für die Bewilligung der öffentlichen Zustellung<br />
das AG zuständig, in dessen Bezirk der Erklärungsempfänger seinen letzten Wohnsitz/Aufenthalt hatte.<br />
Das Verfahren richtet sich nach den Vorschriften der ZPO über die öffentliche Zustellung.<br />
e) Zustellung an beschränkt Geschäftsfähige<br />
Ist der Mieter zwar wegen Geisteskrankheit schuldunfähig, aber nicht partiell geschäftsunfähig,<br />
geht ihm das Kündigungsschreiben des Vermieters unmittelbar zu. Ist jedoch für den Mieter ein<br />
Betreuer (umfassend zur Wohnraummiete und Betreuung: SCHUMACHER NZM 20<strong>03</strong>, 257) bestellt, ist die<br />
Kündigung an den Betreuer als gesetzlichen Vertreter zu richten (AG Hamburg ZMR 2001, 898). Für die<br />
Wirksamkeit der Kündigung reicht es nicht aus, dass der Betreuer von dem Inhalt der an den Mieter<br />
gerichteten Kündigung Kenntnis nimmt (LG Dresden WuM 1994, 377; LG Berlin MDR 1982, 321 = GE 1982,<br />
45). Eine gegenüber dem vom Vormundschaftsgericht für den Mieter bestellten Prozesspfleger<br />
abgegebene Kündigungserklärung ist dem Mieter nicht i.S.d. § 130 Abs. 1 S. 1 BGB zugegangen, wenn der<br />
Prozesspfleger (lediglich) zur Vornahme von Prozesshandlungen (also zur aktiven Vertretung), nicht<br />
aber auch zum Empfang von Willenserklärungen (also zur passiven Vertretung) bevollmächtigt ist<br />
(LG Hamburg WuM 1993, 44).<br />
Der Betreuer bedarf für eine Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses gem. § 1907 Abs. 1 BGB der<br />
Zustimmung des Vormundschaftsgerichts. Maßgebend für die Genehmigung sind gemäß dem auch hier<br />
geltenden § 1907 Abs. 2 BGB das Wohl und die Wünsche des Betreuten. Insoweit ist wegen des<br />
Selbstbestimmungsrechtes und des Schutzes der Wohnung des Betreuten selbst irrationalen Wünschen<br />
wie objektiv unsinnigen Mietausgaben zu folgen, solange nicht höherrangige Rechtsgüter gefährdet<br />
sind (OLG Oldenburg NZM 20<strong>03</strong>, 232). Im Genehmigungsverfahren muss wegen der Bedeutung der<br />
Wohnraumkündigung für den Betreuten regelmäßig ein Verfahrenspfleger bestellt und ein Sachverständigengutachten<br />
(zu den Auswirkungen der Wohnungsaufgabe, zum Krankheitsverlauf und den<br />
verbliebenen Möglichkeiten selbstständiger Lebensführung) eingeholt werden. Eine ohne die Zustimmung<br />
erklärte Kündigung ist nichtig (LG Berlin NZM 2001, 807). Umstritten ist, ob die Zustimmung des<br />
Vormundschaftsgerichts auch erforderlich ist, wenn der Betreute die Räume nicht selbst gemietet hat,<br />
aber in ihnen lebt.<br />
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Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
f) Sonderfälle<br />
Ist über das Vermögen des Mieters das (Verbraucher-)Insolvenzverfahren eröffnet worden, ist der<br />
Insolvenzverwalter allein richtiger Adressat der Kündigungserklärung. Hat der Insolvenzverwalter/<br />
Treuhänder die Wohnung gem. § 109 Abs. 1 InsO freigegeben (Enthaftungserklärung), erhält der Mieter<br />
mit Wirksamwerden der Erklärung die volle Verwaltungsbefugnis zurück und ist alleiniger Adressat der<br />
Kündigung (BGH NJW 2014, 1954; NJW 2014, 2585; HINZ ZMR 2014, 949).<br />
Soweit in einem Formularmietvertrag vom Vermieter Zugangserleichterungen vereinbart werden, ist<br />
§ 308 Nr. 6 BGB zu beachten. Danach ist eine Zugangsfiktion bezüglich einer Erklärung des Vermieters<br />
unwirksam. Dies gilt z.B. für den Zugang unter Einschaltung von Empfangsboten und Klauseln, die die<br />
Absendung der Erklärung an den letzten bekannten Aufenthaltsort für ausreichend erklären.<br />
5. Inhalt<br />
a) Allgemein<br />
Aus der Kündigungserklärung muss eindeutig zum Ausdruck kommen, dass der Kündigende das<br />
Mietverhältnis beenden will. Das Wort „Kündigung“ muss er hierfür nicht unbedingt gebrauchen. Im<br />
Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ist an dem Grundsatz festzuhalten, dass sich aus der<br />
Kündigungserklärung der übereinstimmende Kündigungswille aller Kündigenden ergibt und dieser<br />
Kündigungswille allen Kündigungsempfängern zuverlässig zur Kenntnis gebracht wird (AG Leipzig<br />
WuM 1998, 752; AG Friedberg WuM 1980, 63). Keine Kündigung liegt vor, wenn die Vertragsbeendigung<br />
lediglich in Aussicht gestellt, angedroht oder vorgeschlagen wird. Aus der Kündigungserklärung<br />
muss sich ergeben, wer die Kündigung ausgesprochen hat, welcher Mietgegenstand<br />
gekündigt wird und gegen wen sich die Kündigung richtet. Irrtümliche Falschbezeichnungen schaden<br />
nicht, wenn der Empfänger den Irrtum ohne Weiteres erkennen kann. Hat der Empfänger mehrere<br />
Wohnungen gemietet und ist unklar, welche Wohnung gekündigt werden soll, ist die Kündigung<br />
unwirksam (LG Berlin ZMR 1992, 346). Den Empfänger einer Kündigung trifft keine Aufklärungs- oder<br />
Nachforschungspflicht.<br />
Im Austausch des Schlosses durch den Gerichtsvollzieher liegt keine Kündigungserklärung des<br />
Mietverhältnisses durch den Vermieter (OLG Koblenz ZMR 1993, 68), denn eine solche Maßnahme des<br />
Gerichtsvollziehers lässt sich jedenfalls so lange, wie sie nicht von bestimmten Erklärungen begleitet<br />
war, grds. nicht als Willensäußerung des Vermieters verstehen; der Gerichtsvollzieher handelt nämlich<br />
von seinem äußeren Erscheinungsbild her entsprechend seiner gesetzlichen Aufgabe nicht als<br />
Parteivertreter, sondern als selbstständiges Organ der Rechtspflege unter eigener Verantwortung.<br />
Als einseitige Willenserklärung ist eine Kündigung bedingungsfeindlich. Dies gilt nach h.M. allerdings<br />
nur für die echte Bedingung, nicht für die Potestativbedingung (BGH NJW 1986, 2245). Eine echte<br />
Bedingung liegt vor, wenn die Wirksamkeit der Kündigung von einem künftigen ungewissen Ereignis<br />
abhängen soll. Bei der Potestativbedingung soll der Eintritt der Kündigungswirkung an das willkürliche<br />
Verhalten der Gegenpartei geknüpft werden, das sich nicht auf die Kündigung selbst bezieht (z.B. eine<br />
Mieterkündigung, falls der Vermieter Mängel nicht beseitigt). Rechtsbedingungen sind unschädlich.<br />
Das ist z.B. der Fall, wenn zunächst die Nichtigkeit des Mietvertrags, dann seine Anfechtung und<br />
schließlich die Kündigung behauptet wird. Eine hilfsweise ausgesprochene Kündigung ist ebenfalls<br />
wirksam, weil sie unter der Rechtsbedingung der Wirksamkeit des Vertrags und/oder der Unwirksamkeit<br />
zuvor ausgesprochener Kündigungen erfolgt. Das gilt inbs. für den Fall der „hilfsweise“<br />
erklärten ordentlichen Zahlungsverzugskündigung neben einer außerordentlichen fristlosen Kündigung<br />
(BGH BGHZ 220, 1 = NJW 2018, 3517 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 19/2018 Anm. 1;<br />
BÖRSTINGHAUS LMK 2018, 411605; KAPPUS NJW 2018, 3522; BEYER jurisPR-MietR 24/2018 Anm. 3; SINGBARTL/<br />
KRAUS NZM 2018, 946; MEIER ZMR 2019, 175).<br />
146 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1863<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Bei der Befristung einer Kündigung muss unterschieden werden:<br />
• Eine echte Befristung ist zulässig. Damit ist die Kündigung zu einem bestimmten Termin gemeint.<br />
Das gilt sowohl für die ordentliche Kündigung als auch für die außerordentliche Kündigung mit und<br />
ohne Frist.<br />
• Demgegenüber ist eine unechte Befristung unzulässig (BGH NJW 2004, 284). Damit ist z.B. eine<br />
Mieterkündigung „zu dem Zeitpunkt zu dem eine neue Wohnung gefunden wurde“ gemeint.<br />
b) Umdeutung<br />
Nicht immer ist die Erklärung, die eine Mietvertragspartei abgibt, ganz eindeutig. In diesem Fall muss<br />
zunächst eine Auslegung der Erklärung nach dem objektiven Empfängerhorizont erfolgen. Die Auslegung<br />
geht der Umdeutung vor.<br />
Kommt man durch Auslegung zu dem Ergebnis, dass keine Kündigung, sondern eine andere Erklärung<br />
abgegeben wurde oder hat die Partei tatsächlich ausdrücklich eine solche andere Erklärung abgegeben,<br />
so stellt sich die Frage, ob diese Erklärung in eine Kündigung umgedeutet werden kann. Die Umdeutung<br />
dient dem Ziel, den von den Parteien erstrebten wirtschaftlichen Erfolg zu verwirklichen, wenn zwar das<br />
von ihnen gewählte rechtliche Mittel unzulässig ist, aber ein anderer, rechtlich gangbarer Weg zur<br />
Verfügung steht (BGH ZIP 2009, 264; BGHZ 19, 269, 273; 68, 204, 206). Maßstab ist auch hier allein der<br />
objektive Empfängerhorizont. Eine Umdeutung kommt nur dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen<br />
einer anderen, dem gleichen Zweck dienenden Handlung erfüllt sind (BGH NJW 2013, 2361).<br />
Entscheidend ist die Frage, ob, der Empfänger den Beendigungswillen der anderen Partei hinsichtlich des<br />
Vertragsverhältnisses unzweifelhaft erkennen konnte. Deshalb kann eine unwirksame Anfechtungserklärung<br />
in eine außerordentliche Kündigung umgedeutet werden. Voraussetzung ist, dass die<br />
formellen und materiellen Voraussetzungen einer solchen Kündigung erfüllt sind und das Mietverhältnis<br />
auf jeden Fall beendet werden soll (BGH NJW 2006, 2696). Demgegenüber kann ein Angebot auf<br />
Abschluss eines Mietaufhebungsvertrags ebenso wenig in eine Kündigungserklärung umgedeutet<br />
werden – da hier für den Adressaten gerade nicht erkennbar ist, dass ein einseitiges Gestaltungsrecht<br />
ausgeübt werden soll – wie das Angebot eines unwirksamen Zeitmietvertrags (LG Fulda 2016, 2<strong>03</strong>;<br />
allenfalls kann im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ein Kündigungsverzicht vereinbart sein:<br />
BGH NJW 2013, 2820; NZM 2014, 235). Während eine unwirksame Kündigung durchaus in eine<br />
Abmahnung umgedeutet werden kann (BGH WuM 2011, 676; KG GE 2005, 236; AG Berlin-Mitte MM<br />
2014, 28), gilt das für den umgekehrten Fall nicht. Die Umdeutung einer Rücktrittserklärung in eine<br />
Kündigung ist demgegenüber möglich, da hier der Beendigungswille deutlich zum Ausdruck kommt<br />
(BGH ZMR 1987, 143, 144).<br />
Die Umdeutung einer unwirksamen außerordentlichen fristlosen Kündigung in eine ordentliche<br />
Kündigung ist in der Wohnraummiete nur in Ausnahmefällen möglich (BGH WuM 2005, 585; NJW 1981,<br />
976; LG Saarbrücken NZM 2015, 692; LG Berlin GE 1991, 1<strong>03</strong>3). Erforderlich ist auf jeden Fall, dass der<br />
Kündigungsadressat erkennen kann, dass das Mietverhältnis auf jeden Fall, wenn auch zu einem<br />
späteren Termin, beendet werden soll (BGH NZM 2018, 515). Hier ist ein äußerst strenger Maßstab<br />
anzulegen (AG Köln WuM 2016, 249), weshalb eine Umdeutung einer ohne Begründung abgegebenen<br />
und deshalb gem. § 569 Abs. 4 BGB unwirksamen außerordentlichen Kündigung in eine ordentliche<br />
Kündigung ausgeschlossen ist (AG Köln WuM 2016, 249). Erforderlich ist in einem solchen Fall<br />
regelmäßig die hilfsweise Erklärung einer ordentlichen Kündigung. Umgedreht ist auch die Umdeutung<br />
einer fristgerechten Kündigung in eine außerordentlich fristlose Kündigung im Regelfall nicht möglich<br />
(OLG Saarbrücken NZM 2011, 720; FLATOW WuM 2004, 316). Insbesondere scheidet eine solche<br />
Umdeutung aus, wenn das Kündigungsschreiben mit „Fristgerechte Kündigung“ überschrieben ist. Das<br />
Gleiche gilt, wenn der Mieter mit ordentlicher Frist gem. § 573c BGB kündigt, obwohl ihm auch ein<br />
außerordentlicher fristloser Kündigungsgrund zur Verfügung stand (FLATOW WuM 2004, 316). Haben sich<br />
Mieter oder Vermieter bei der Berechnung der Kündigungsfrist verrechnet, muss unterschieden werden,<br />
ob es sich um einen erkennbaren Fehler für die Gegenseite handelt, dann gilt das tatsächlich Gewollte,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 147
Fach 4, Seite 1864<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
oder ob es sich um eine falsche rechtliche Bewertung handelt, die ggf. auch für die Gegenseite nicht<br />
erkennbar war. Im letzten Fall kommt eine Umdeutung nur dann in Betracht, wenn für den Kündigungsadressaten<br />
erkennbar ist, dass das Mietverhältnis auf jeden Fall beendet werden soll, also z.B. im<br />
Kündigungsschreiben auch steht „frühestmöglich“, „so schnell wie möglich“ o.Ä. Dann kommt eine<br />
Umdeutung zum früheren Termin in Betracht.<br />
c) Angabe von Gründen<br />
Hinsichtlich der Angabe von Gründen in der Kündigungserklärung muss nach den verschiedenen<br />
Kündigungstatbeständen unterschieden werden:<br />
Art der Kündigung Mieterkündigung Vermieterkündigung<br />
ordentliche Kündigung ohne Gründe möglich Angabe von Gründen gem. § 573 Abs. 3<br />
BGB<br />
außerordentliche Kündigung<br />
mit gesetzlicher Frist<br />
keine Angabe von Gründen erforderlich,<br />
insb. auch nicht bei der Kündigung gem.<br />
§ 561 BGB nach einer Mieterhöhung<br />
Gründe gem. § 573d Abs. 1 i.V.m. § 573<br />
Abs. 3 BGB notwendig. Ausnahme: Kündigung<br />
ggü. dem Erben, der nicht in der<br />
Wohnung wohnte, gem. § 564 BGB<br />
außerordentliche fristlose<br />
Kündigung<br />
Begründung gem. § 569 Abs. 4 BGB<br />
erforderlich<br />
Begründung gem. § 569 Abs. 4 BGB<br />
erforderlich<br />
Da der Mieter für die ordentliche Kündigung keine Gründe oder ein berechtigtes Interesse benötigt,<br />
muss er konsequenterweise dazu auch im Kündigungsschreiben keine Angaben machen. Anders sieht es<br />
bei der ordentlichen Kündigung des Vermieters aus. Dieser kann ein Wohnraummietverhältnis nur dann<br />
kündigen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat. Nach § 573<br />
Abs. 3 BGB werden als berechtigte Interessen des Vermieters nur Gründe berücksichtigt, die in dem<br />
Kündigungsschreiben angegeben sind, soweit sie nicht nachträglich entstanden sind. Die Kündigungsgründe<br />
müssen dabei identifizierbar sein (BayObLG WuM 1981, 200; 1985, 50). Erforderlich ist, dass der<br />
Kündigungsgrund von anderen Gründen unterschieden werden kann. Hieran sind keine hohen<br />
Anforderungen zu stellen (LG Münster NJW-RR 1990, 398; LG Detmold WuM 1990, 301). Erforderlich<br />
ist aber, dass sich die Schlüssigkeit des Kündigungsgrunds aus ihnen ergibt (LG Freiburg WuM 1990,<br />
300; AG Kenzingen WuM 1990, 433). Zu beachten ist dabei die verfassungsrechtliche Rechtsprechung,<br />
wonach die Instanzgerichte nicht durch übermäßige formale Anforderungen die Durchsetzung eines<br />
materiell-rechtlichen Anspruchs verhindern dürfen.<br />
Das Begründungserfordernis gilt nur sehr eingeschränkt für die sog. Zweifamilienhauskündigung<br />
gem. § 573a BGB (zur Frage, wann ein Zweifamilienhaus vorliegt: BGH NZM 2008, 682; NZM 2011, 71;<br />
2015, 452). Gemäß Abs. 3 muss der Vermieter nur angeben, dass er die Kündigung auf Abs. 1 oder 2<br />
stützen will. Einer Angabe von weiteren Gründen bedarf es nicht. Das ergibt sich auch daraus,<br />
dass bei einer eventuellen Interessenabwägung in den Fällen, in denen sich der Mieter auf die<br />
Sozialklausel beruft, gem. § 574 Abs. 3 BGB nur die Gründe im Kündigungsschreiben gem. § 573 Abs. 3<br />
BGB Berücksichtigung finden. Bei der Teilkündigung gem. § 573b BGB ist nach dem Gesetzeswortlaut<br />
ebenfalls keine Begründung (mehr) erforderlich. Sie kann deshalb im Prozess nachgeschoben werden.<br />
Das ist aber strittig. Nach BEUERMANN (BEUERMANN/BLÜMMEL, Das neue Mietrecht 2001, S. 400) handelt es<br />
sich insofern um ein Redaktionsversehen in § 573b BGB. Das ist aber nicht zwingend, da auch<br />
bezüglich der Teilkündigung bei der Anwendung der Sozialklausel gem. § 574 Abs. 3 BGB nunmehr<br />
auch hier nur auf § 573 Abs. 3 BGB verwiesen wird.<br />
Für die außerordentlichen Kündigungen mit gesetzlicher Frist z.B. nach §§ 540 Abs. 1, 544, 554 Abs. 3,<br />
563 Abs. 4, 563a Abs. 2, 580, 1056 Abs. 2, 2135 BGB, § 30 Abs. 2 ErbbauRVO, § 109 InsO, § 57a ZVG ordnet<br />
§ 573d Abs. 1 die entsprechende Anwendung des § 573 BGB an und damit auch den Begründungszwang<br />
gem. § 573 Abs. 3 BGB. Dies hängt damit zusammen, dass zumindest der Vermieter bei diesen<br />
Gründen auch ein berechtigtes Interesse benötigt (BGH NJW 1997, 1695). Da der Mieter aber ein solches<br />
148 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1865<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
berechtigtes Interesse gerade nicht benötigt, muss er natürlich auch die Gründe nicht angeben. Etwas<br />
anderes gilt jetzt aber für die Kündigung gegenüber dem nicht in der Wohnung lebenden Erben des<br />
Mieters. Diesem gegenüber kann jetzt ohne ein berechtigtes Interesse gem. § 564 BGB gekündigt<br />
werden, sodass auch keine Gründe im Kündigungsschreiben angegeben werden müssen.<br />
Hinweis:<br />
Für die außerordentliche fristlose Kündigung sieht § 569 Abs. 4 BGB sowohl für den Mieter wie auch den<br />
Vermieter vor, dass die Gründe im Kündigungsschreiben angegeben werden müssen.<br />
Die Vorschrift lehnt sich an die Begründungspflicht in § 573 Abs. 3 BGB an, sodass die dortige<br />
Rechtsprechung auch des BVerfG zu den Anforderungen an die Begründung übernommen werden<br />
kann. Auch hier müssen die Kündigungsgründe identifizierbar sein, d.h. der Kündigungsgrund muss von<br />
anderen Gründen unterschieden werden können. Hieran sind keine hohen Anforderungen zu stellen.<br />
Erforderlich ist aber, dass sich die Schlüssigkeit des Kündigungsgrunds aus ihnen ergibt. Eine ohne<br />
Angabe von ausreichenden Gründen abgegebene Kündigung ist unwirksam. Kündigt der Vermieter das<br />
Wohnungsmietverhältnis fristlos wegen Zahlungsverzugs des Mieters (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB), so<br />
genügt er jedenfalls bei klarer und einfacher Sachlage seiner Pflicht zur Angabe des Kündigungsgrundes,<br />
wenn er in dem Kündigungsschreiben den Zahlungsverzug als Grund benennt und den Gesamtbetrag<br />
der rückständigen Miete beziffert. Die Angabe weiterer Einzelheiten wie Datum des Verzugseintritts<br />
oder Aufgliederung des Mietrückstands für einzelne Monate ist entbehrlich (BGH NZM 2004, 187 = NJW<br />
2004, 850; NZM 2004, 699). Es genügt zur formellen Wirksamkeit einer auf Mietzahlungsverzug<br />
gestützten Kündigung des Vermieters, dass der Mieter anhand der Begründung des Kündigungsschreibens<br />
erkennen kann, von welchem Mietrückstand der Vermieter ausgeht, und dass er diesen<br />
Rückstand als gesetzlichen Grund für die fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzugs heranzieht.<br />
Darüber hinausgehende Angaben sind auch dann nicht erforderlich, wenn es sich nicht um eine klare<br />
und einfache Sachlage handelt (BGH NZM 2010, 548 = NJW 2010, 3015).<br />
d) Teilkündigung<br />
Ein Mietverhältnis kann grds. nur einheitlich gekündigt werden (LG Mainz WuM 2001, 489). Mit<br />
Ausnahme der unter § 573b BGB fallenden Fälle können deshalb grds. bei einem einheitlichen<br />
Mietvertrag weder Nebenräume noch Garagen, Keller oder einzelne Räume gekündigt werden. Hat der<br />
Vermieter von Wohnraum lediglich Bedarf an einem Teil der Räume, so kann das Mietverhältnis nicht<br />
wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 573 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB gekündigt werden. Beeinträchtigt<br />
im Einzelfall die den Belangen des Kündigenden entsprechende Teilkündigung die Interessen des Mieters<br />
nicht oder jedenfalls nicht unzumutbar, so ist gem. § 573 Abs. 1 BGB eine Teilkündigung des<br />
Wohnraummietverhältnisses in extremen Ausnahmefällen möglich (OLG Karlsruhe NJW-RR 1997, 711).<br />
Ob ein einheitlicher Mietvertrag über diese Räume und die Wohnung vorliegt, richtet sich zunächst<br />
nach dem Willen der Parteien. Soll eine einheitliche Vermietung erfolgen oder sollen getrennte Verträge<br />
geschlossen werden? Ein Indiz hierfür ist die Tatsache, ob eine oder mehrere Vertragsurkunden<br />
vorliegen. In der Regel tauchen die Probleme bei der Vermietung von Wohnung und Garage auf.<br />
Ist über die Vermietung einheitlich eine Urkunde errichtet worden, spricht der Anscheinsbeweis der<br />
Vollständigkeit und Richtigkeit der Urkunde dafür, davon auszugehen, dass der Wille der Parteien<br />
darauf gerichtet war, einen einheitlichen Vertrag abzuschließen (OLG Düsseldorf WuM 2007, 65). Diese<br />
Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Argumente hierfür sind z.B.:<br />
• nur äußerliche Verbindung zweier ansonsten leicht trennbarer Verträge;<br />
• getrennt ausgewiesene Miete für gewerblich genutzte Räume und Wohnräume (LG Berlin GE 1994,<br />
809);<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 149
Fach 4, Seite 1866<br />
Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />
Miete/Nutzungen<br />
• Identität der Vertragsparteien (LG Köln NZM 2001, 285);<br />
• Vereinbarung verschiedener Kündigungsfristen;<br />
• Möglichkeit, die verschiedenen Räumlichkeiten tatsächlich völlig getrennt zu nutzen.<br />
Ist die Vermietung in zwei getrennten Urkunden dokumentiert, spricht ebenfalls zunächst ein<br />
Anscheinsbeweis dafür, dass die Parteien kein einheitliches Mischmietverhältnis vereinbaren wollten,<br />
sondern dass zwei getrennte Verträge geschlossen werden sollten, deren Schicksal auch völlig<br />
unterschiedlich sein kann (BGH WuM 2013, 421; NZM 2013, 726; GE 2013, 1454; 2013, 1650). Auch diese<br />
Vermutung kann jedoch widerlegt werden; Gesichtspunkte hierfür sind z.B.:<br />
• Verträge wurden zum gleichen Zeitpunkt abgeschlossen;<br />
• Verträge haben die gleiche Laufzeit;<br />
• die räumlichen Verhältnisse sind so, dass nur eine einheitliche Vermietung an einen Mieter erfolgen<br />
kann;<br />
• eine getrennte Herausgabe der Räumlichkeiten ist nicht möglich;<br />
• es liegen keine wesentlich unterschiedlichen Vertragsbedingungen zu grunde;<br />
• es werden unterschiedliche Kündigungsfristen vereinbart (AG Neukölln GE 2000, 131).<br />
Maßgeblich ist zunächst die Feststellung des Parteiwillens. Gerade bei der Garagenmiete kommt es<br />
jedoch häufiger vor, dass für Wohnung und Garage zwei getrennte Vertragsformulare unterzeichnet<br />
werden. Dies liegt zum Teil daran, dass eine Garage im Haus erst später frei wurde, die Garage erst<br />
später errichtet wurde oder der Mieter sich, z.B. aufgrund der immer stärker um sich greifenden<br />
Parkraumbewirtschaftung, erst später entschließt, eine Garage anzumieten.<br />
Hinweis:<br />
Vermietet der Vermieter einer Wohnung seinem Mieter später auch eine auf dem Hausgrundstück gelegene<br />
Garage, so liegt darin selbst dann, wenn dies erst nach Jahren geschieht und eine ausdrückliche<br />
Einbeziehung in den bisherigen Mietvertrag nicht erfolgt, i.d.R. nur eine Ergänzung des bisherigen Vertrags<br />
(OLG Köln OLGR Köln 1993, 272; LG Wuppertal WuM 1996, 621; LG Braunschweig ZMR 1986, 165;<br />
AG Dortmund NJW-RR 1987, 207; AG Augsburg WuM 1987, 25).<br />
Eine neue selbstständige Vereinbarung kommt nur zustande, sofern ein entsprechender Parteiwille<br />
hinreichend deutlich erkennbar geworden ist (OLG Karlsruhe NJW 1983, 1499). Dies ist z.B. der Fall,<br />
wenn die Parteien insofern eine ausdrückliche vertragliche Abrede getroffen haben oder wenn<br />
ausdrücklich verschiedene Kündigungsfristen vereinbart wurden (AG Lichtenberg, Urt. v. 3.3.1994 – 2C<br />
447/93). Ein einheitlicher Mietvertrag ist von vornherein zu verneinen, wenn der Mieter einer<br />
Wohnung zwar in derselben Wohnanlage, aber nicht vom selben Vermieter eine Garage anmietet. Ein<br />
einheitliches Mietverhältnis setzt nämlich die Identität der Vertragsparteien voraus (LG Hamburg<br />
WuM 1986, 338; BayObLG WuM 1991, 78; a.A. AG Köln WuM 1993, 611, wenn zumindest der gleiche<br />
Verwalter handelt). Liegt ein einheitliches Mietverhältnis vor, ist eine Formularklausel, die eine<br />
Teilkündigung zulässt, unwirksam (AG Menden WuM 1999, 573).<br />
150 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1707<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Sozialrecht<br />
Schwerbehindertenrecht<br />
Die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen – Rechte und Pflichten<br />
nach § 164 SGB IX<br />
Von Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht PETRA GEIßINGER, Aßling/Oberbayern<br />
Inhalt<br />
I. Einführung und Ziele des § 164 SGB IX<br />
II. Anwendungsbereich für Arbeitgeber und<br />
Arbeitnehmer<br />
III. Arbeitgeberperspektive<br />
1. Organisationspflicht, § 164 Abs. 1 SGB IX<br />
2. Benachteiligungsverbot, § 164 Abs. 2 SGB IX<br />
3. Beschäftigungspflicht, § 164 Abs. 3 SGB IX<br />
4. Förderung von Teilzeitarbeit, § 164 Abs. 5<br />
SGB IX<br />
5. Unzumutbarkeit und Abwägung<br />
6. Rechtsfolgen bei Verstößen<br />
IV. Arbeitnehmerperspektive<br />
1. Anspruch auf Beschäftigung, § 164 Abs. 4<br />
SGB IX<br />
2. Bevorzugte Berücksichtigung der beruflichen<br />
Bildung<br />
3. Behinderungsgerechte Einrichtung und<br />
Unterhaltung von Arbeitsstätten sowie<br />
Ausstattung mit technischen Arbeitshilfen<br />
4. Anspruch auf Teilzeit, § 164 Abs. 5 SGB IX<br />
5. Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung<br />
V. Perspektive von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung<br />
1. Beteiligungsrechte des Betriebsrats<br />
2. Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung<br />
(SBV)<br />
VI. Verfahrensrechtliche Fragen<br />
1. Klageantrag bei behinderungsbedingter<br />
Beschäftigung<br />
2. Darlegungs- und Beweislast<br />
VII. Schlussbemerkung<br />
I. Einführung und Ziele des § 164 SGB IX<br />
Die Norm des § 164 SGB IX ist eine der wichtigsten im SGB IX, da sie die Chancen und die Teilhabe<br />
schwerbehinderter Menschen im Erwerbsleben regelt. Die Norm wirkt auf den ersten Blick recht<br />
unübersichtlich, sodass hier jeweils aus der Perspektive des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers, aber<br />
auch der Schwerbehindertenvertretung (SBV) und des Betriebsrats (BRs) nicht nur die Pflichten,<br />
sondern auch die Handlungsmöglichkeiten dargestellt werden sollen.<br />
Durch das BTHG (Bundesteilhabegesetz) vom 23.12.2016 wurde die Struktur des SGB IX geändert. Die<br />
Ansprüche auf Beschäftigung und das Benachteiligungsverbot sind nun im Teil 3, §§ 154 ff. SGB IX unter<br />
„Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen“ geregelt. Den Anspruch gibt es in<br />
dieser Form seit dem 1.1.2008. Er entspricht dem früheren § 81 SGB IX, auf den sich noch viele der<br />
zitierten Fundstellen, insb. der Rechtsprechung, beziehen. Inhaltlich existiert die Regelung bereits seit<br />
dem 1.7.2001.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 151
Fach 18, Seite 1708<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Sozialrecht<br />
In der anwaltlichen Beratungspraxis wird sie entweder gar nicht oder nur am Rande berücksichtigt.<br />
Auch ist die detaillierte Kenntnis insb. im Arbeitnehmer- bzw. SBV-/Betriebsratsmandat von Vorteil,<br />
wenn es um die prozessuale Durchsetzung geht. Erst in letzter Zeit hat das Thema der Beschäftigung<br />
schwerbehinderter Menschen an Bedeutung zugenommen, auch im Hinblick auf die gestärkten<br />
Teilhaberechte und die Antidiskriminierung von behinderten Menschen sowie als Mittel gegen den<br />
vielfach beklagten Facharbeitermangel (eingehend dazu DÜWELL, LPK-SGB IX zu § 164, Rn 4–8).<br />
Die Kernziele des § 164 SGB IX sind sowohl die Beschäftigungsförderung, die Beschäftigungssicherung<br />
als auch die Durchsetzung des Benachteiligungsverbots von schwerbehinderten Menschen. Diese Ziele<br />
werden verstärkt sowohl durch Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen, insb. nach § 164<br />
Abs. 4 und 5 SGB IX, als auch durch Beteiligungsrechte der SBV, des BR und der Bundesagentur für Arbeit<br />
(BA für Arbeit).<br />
Kerninhalt/Struktur des § 164 SGB IX:<br />
Abs. 1 • Organisationspflicht für Arbeitgeber bei Stellenbesetzung,<br />
• Kooperation mit der BA für Arbeit,<br />
• Beteiligung von SBV und Anhörung von BR/Personalrat<br />
Abs. 2 • Benachteiligungsverbot für Arbeitgeber,<br />
• Verweis auf AGG<br />
Abs. 3 • Pflicht für Arbeitgeber, die Mindestquote schwerbehinderter Menschen (dauerhaft) zu erfüllen<br />
Abs. 4 • Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen gegenüber dem Arbeitgeber,<br />
• behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten,<br />
• behinderungsgerechte Gestaltung der Arbeitsplätze/Umfeld,<br />
• behinderungsgerechte Arbeitsorganisation/Arbeitszeit,<br />
• Ausstattung des Arbeitsplatzes mit erforderlichen technischen Arbeitshilfen,<br />
• Unterstützung des Arbeitgebers durch BA für Arbeit und Integrationsamt,<br />
• Grenze für Arbeitgeber, Zumutbarkeit und Aufwand<br />
Abs. 5 • Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen sowie Anspruch des schwerbehinderten<br />
Menschen auf Teilzeitbeschäftigung, wenn wegen Art der Behinderung notwendig<br />
Für öffentliche Arbeitgeber gelten nicht nur die Pflichten des § 154 i.V.m. § 164 SGB IX, sondern<br />
weitergehende Pflichten, wie die Meldepflicht an die BA für Arbeit und die Pflicht zur Einladung eines<br />
schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch (vgl. § 165 SGB IX).<br />
II. Anwendungsbereich für Arbeitgeber und Arbeitnehmer<br />
Die Pflichten des § 164 SGB IX gelten grds. für alle Arbeitgeber, also auch diejenigen, die nicht unter das<br />
KSchG fallen, soweit sich aus dem Wortlaut nicht etwas anderes ergibt.<br />
Umgekehrt gilt die Vorschrift für alle schwerbehinderten Menschen. Es findet keine Begrenzung auf<br />
Arbeitnehmer im klassischen Sinne nach § 611a BGB statt. Denn der Maßstab ist hier allein § 2 Abs. 2<br />
SGB IX. Dieser setzt zumindestens einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 oder höher voraus.<br />
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Behindertenbegriff europarechtskonform (RL 2000/78/EG)<br />
weit auszulegen ist, sodass auch behinderte Menschen mit einem GdB von mindestens 30 (gleichgestellt<br />
i.S.v. § 2 Abs. 3 SGB IX) darunterfallen (vgl. FABRICIUS in juris-PK, 3. Aufl. zu § 164 Rn 9; DÜWELL in LPK SGB IX<br />
zu § 164 Rn 20; BAG, Urt. v. 3.4.2017 – 9 AZR 823/06; BAG, Urt. v. 18.11.2008 – 9 AZR 643/07).<br />
III.<br />
Arbeitgeberperspektive<br />
1. Organisationspflicht, § 164 Abs. 1 SGB IX<br />
§ 164 Abs. 1 ist als Organisationspflicht für den Arbeitgeber ausgestaltet. Danach ist der Arbeitgeber<br />
verpflichtet, vor jeder Stellenbesetzung zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten<br />
Menschen besetzt werden können. Dabei ist die BA für Arbeit einzubinden, diese kann als arbeitslos<br />
152 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1709<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
oder als arbeitssuchend gemeldete schwerbehinderte Menschen dem Arbeitgeber vorschlagen.<br />
Weiter hat der Arbeitgeber die SBV bzw. die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen, insb. den BR,<br />
einzubeziehen.<br />
Hieraus lässt sich aber keine unmittelbare Einstellungspflicht eines schwerbehinderten Menschen für<br />
den Arbeitgeber ableiten, sondern lediglich eine mittelbare Pflicht, indem der Arbeitgeber Maßnahmen<br />
ergreifen muss, um wenigstens die Mindestbeschäftigungsquote zu erreichen (vgl. DÜWELL, LPK SGB IX<br />
zu § 164 Rn 1<strong>03</strong>/104).<br />
Prüfungsreihenfolge für den Arbeitgeber:<br />
1. Liegt eine freie Stelle vor?<br />
2. Erstellen eines konkreten Anforderungsprofils<br />
3. Besetzungs-/Auswahlverfahren<br />
Es stellt sich die Frage, wann der Arbeitgeber i.S.d. § 164 Abs. 1 aktiv werden muss. Dies ist dann der Fall,<br />
wenn ein freier Arbeitsplatz vorhanden ist. Dabei wird der freie Arbeitsplatz sehr weit definiert, es<br />
betrifft nicht nur neu geschaffene oder extern zu vergebende Stellen, sondern ist auch anzunehmen bei<br />
der Wiederbesetzung oder nur interner Vergabe von Arbeitsstellen bzw. demnächst frei werdenden<br />
Stellen. (vgl. DÜWELL, LPK SGB IX zu § 164 Rn 110, 113, 114). Eine freie Stelle liegt auch dann vor, wenn der<br />
Arbeitgeber plant, diese mit einem Leiharbeitnehmer zu besetzen (vgl. BAG, Urt. v. 23.6.2010 – 7 ABR 3/09;<br />
BAG, Urt. v. 15.10.2013 – 1 ABR 25/12).<br />
Im nächsten Schritt hat der Arbeitgeber dann noch vor der eigentlichen Stellenausschreibung ein<br />
konkretes Anforderungsprofil zu erstellen. Mit dem konkreten Anforderungsprofil soll das Ziel der<br />
Beschäftigungsförderung von schwerbehinderten Menschen besser erreicht werden, denn es ist<br />
davon auszugehen, dass kein Arbeitsplatz von vornherein für schwerbehinderte Menschen ungeeignet<br />
ist. Neben dem Anforderungsprofil sind auch Angaben über die zu erwartende Arbeitsbelastung<br />
anzuführen sowie eine Gefährdungsbeurteilung nach §§ 5,6 ArbSchG zu erstellen. Im Hinblick auf<br />
mögliche negative Folgen für den Arbeitgeber, insb. auf Schadenersatzansprüche wegen Diskriminierung<br />
schwerbehinderter Menschen, sollte auf die Erstellung des Anforderungsprofils allergrößte<br />
Sorgfalt verwendet werden.<br />
Hilfreich ist hierbei die Orientierung an einem Kriterienkatalog:<br />
• Welche beruflichen Qualifikationen sind erforderlich?<br />
• Handelt es sich um eine körperlich leichte oder schwere Tätigkeit?<br />
• Bestehen besondere Anforderungen an die Gebrauchsfähigkeit von Fingern/Händen?<br />
• Erfordert die Tätigkeit ständiges Gehen, Stehen oder Sitzen oder wechselnde Körperhaltungen bzw.<br />
Zwangshaltungen?<br />
• Ist die Tätigkeit mit Heben oder Tragen verbunden? Wenn ja, um welche Lasten geht es?<br />
• Erfordert die Tätigkeit häufiges Bücken oder das Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten?<br />
• Ist die Tätigkeit mit besonderen Anforderungen an Konzentrations-, Reaktions-, Umstellungs- und<br />
Anpassungsvermögen verbunden?<br />
• Besteht eine Verantwortung für Personen und Maschinen?<br />
• Ist der Arbeitnehmer mit der Überwachung und/oder der Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge<br />
betraut?<br />
• Ist die Tätigkeit mit Publikumsverkehr verbunden?<br />
• Ist der Arbeitsplatz besonderen Belastungsfaktoren ausgesetzt?<br />
• Handelt es sich um Schichtarbeit oder eine Tätigkeit mit häufig wechselnden Arbeitszeiten?<br />
• Gibt es weitere besondere Belastungsfaktoren (Arbeit bei Nässe, Kälte, Zugluft, Lärm, Vibration etc.)?<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 153
Fach 18, Seite 1710<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Sozialrecht<br />
Literaturhinweis:<br />
Vgl. SCHMIDT, BETTINA Schwerbehindertenarbeitsrecht, 3. Aufl. 2019, Rn 138; DÜWELL LPK SGB IX zu § 164<br />
Rn 129–130; FABRICIUS juris-PK zu § 164 Rn 20.<br />
Allein schon aus Transparenzgründen sollte der Kriterienkatalog für alle Anforderungsprofile nach einem<br />
einheitlichen festgelegten Verfahren ermittelt werden. Grundsätzlich ist der Arbeitgeber in der<br />
Gestaltung des Anforderungsprofils zwar frei, aber es ist auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber<br />
hier die Beteiligung der SBV vorgesehen hat, ebenso wie das Anforderungsprofil Grundlage für den<br />
Vermittlungsprozess der BA für Arbeit ist. Vereinzelt wird an der Unterstützung der BA für Arbeit Kritik<br />
laut. Die Unterstützung der Arbeitgeber zur Erfüllung ihrer Pflicht nach § 164 Abs. 1 SGB IX ist nicht<br />
immer zufriedenstellend, oftmals erhält der Arbeitgeber lediglich die Auskunft, man möge die<br />
vorgesehene Stelle doch allgemein als freie Stelle der BA für Arbeit melden. Dies wird den besonderen<br />
Vorgaben nicht gerecht, die Schaffung eines eigenständigen Portals für Arbeitgeber zur Erfüllung ihrer<br />
Pflicht nach § 164 Abs. 1 SGB IX wäre sinnvoll und würde auch die Betreuung von schwerbehinderten<br />
Arbeitslosen verbessern (vgl. FABRICIUS in juris-PK, 3. Aufl. 2018, zu § 164 Rn 19 unter Bezugnahme auf LAG<br />
Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 12.12.2013 – 26 TaBv 1164/13, ZB 2014, Nr. 2, 13).<br />
Im nächsten Schritt findet dann die eigentliche Personalauswahl statt. Diese hat sich an § 164 Abs. 1<br />
S. 3–5 und 10 SGB IX zu orientieren. Danach schlägt die BA für Arbeit oder der Integrationsfachdienst<br />
(IFD) entsprechende Bewerber vor. Der Arbeitgeber unterrichtet die SBV und den BR unmittelbar<br />
nach Eingang der Bewerbungen schwerbehinderter Menschen oder gleichgestellter behinderter<br />
Menschen, und zwar unabhängig davon, ob diese auf Vorschlag der BA für Arbeit oder als<br />
Initiativbewerbung beim Arbeitgeber eingegangen sind. Dabei hat der Arbeitgeber die SBV und den<br />
BR über den Eingang einer jeden einzelnen Bewerbung sofort zu unterrichten. Ein Ansammeln von<br />
mehreren Bewerbungen und späteres Weiterleiten ist mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbar<br />
(vgl. DÜWELL LPK SGB IX zu § 164 Rn 144 unter Hinweis auf eine Entscheidung des ArbG Marburg, Urt.<br />
v. 29.7.2005 – 2 Ca 65/05, DB 2005, 1860).<br />
Sind die Bewerbungen nicht auf Vorschlag der BA für Arbeit eingegangen, so trifft den Arbeitgeber die<br />
Pflicht, die Bewerbungsunterlagen daraufhin sorgfältig zu prüfen, ob es sich um einen schwerbehinderten<br />
Menschen als Bewerber handelt. Dies verlangt, dass der Arbeitgeber zumindestens das<br />
Anschreiben, den Lebenslauf und das letzte Zeugnis gelesen hat, um herauszufinden, ob möglicherweise<br />
eine Schwerbehinderung des Bewerbers vorliegt. Gerade im Hinblick auf die Erfüllung der gesetzlichen<br />
Pflicht ebenso wie der Beteiligungsrechte von SBV und BR sollte der Arbeitgeber diesen Prüfungsschritt<br />
ernst nehmen. Auf der anderen Seite werden dem Arbeitgeber aber keine übertriebenen Nachforschungsaktivitäten,<br />
z.B. bei Vorlage eines abgelaufenen Schwerbehindertenausweises abverlangt<br />
(vgl. FABRICIUS juris-PK zu § 164 Rn 23/24; DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 142–146; ArbG Ulm, Urt.<br />
v. 17.12.2009 – 5 Ca 316/09, ZMV 2010, 56 f.; BAG, Urt. v. 13.10.2011 – 8 AZR 608/10, Behindertenrecht<br />
2012, 169 ff.; LAG Köln, Urt. v. 2.11.2012 – 4 Sa 248/12, Behindertenrecht 2014, 56).<br />
Eine Verschärfung der Organisationspflicht trifft diejenigen Arbeitgeber, die ihrer Mindestbeschäftigungspflicht<br />
nicht nachkommen, § 164 Abs. 1 S. 7–9 SGB IX. Trifft der Arbeitgeber eine Entscheidung, mit<br />
der die SBV oder der BR nicht einverstanden sind, so ist der Arbeitgeber verpflichtet, unter Darlegung<br />
seiner Gründe diese mit der SBV und dem BR zu erörtern. Hervorzuheben ist hierbei, dass das BAG<br />
ausdrücklich klargestellt hat, dass diese Erörterungspflicht nicht diejenigen Arbeitgeber trifft, die ihrer<br />
Beschäftigungspflicht nachkommen (vgl. BAG, Urt. v. 21.2.2013 – 8 AZR 180/12, BAGE 144, 275; FABRICIUS<br />
in juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 30; DÜWELL LPK SGB IX zu § 164 Rn 155).<br />
Gleichzeitig ist der schwerbehinderte Mensch anzuhören, § 164 Abs. 1 S. 8 SGB IX. Die Pflicht zur<br />
Erörterung geht dabei über ein bloßes Informieren von SBV und BR deutlich hinaus, es wird verlangt,<br />
dass Argumente ausgetauscht werden (vgl. FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 28).<br />
154 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1711<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Nach der Erörterung hat der Arbeitgeber dann alle Beteiligten über die Entscheidung zu unterrichten.<br />
Streitig ist dabei, in welcher Form dies zu geschehen hat. In der Literatur wird die Auffassung vertreten,<br />
dass dies in Schriftform zu erfolgen hat. Zur Begründung wird angeführt, dass diese die gerichtliche<br />
Überprüfung erleichtert und ein Nachschieben von weiteren Gründen dem Arbeitgeber verwehrt<br />
würde. Die Rechtsprechung ist dieser Auffassung nicht gefolgt. Der Arbeitgeber hat die freie Wahl,<br />
welche Art der Unterrichtung er wählen will (vgl. BAG, Urt. v. 18.11.2008 – 9 AZR 643/07, NZA 2009,<br />
728 ff., DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 107 und 50).<br />
2. Benachteiligungsverbot, § 164 Abs. 2 SGB IX<br />
Arbeitgeber sind verpflichtet, schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung zu<br />
benachteiligen. Hinsichtlich der Details enthält Satz 2 eine Verweisung auf das AGG, insb. die §§ 1, 2, 7<br />
und 15 AGG. Wie bereits dargelegt, ist vom weiten europarechtlichen Behindertenbegriff i.S.d.<br />
EU-Richtlinie 2000/78/EG auszugehen. Adressat ist in erster Linie der Arbeitgeber, das Benachteiligungsverbot<br />
bindet jedoch auch die Vertrags- und Tarifparteien.<br />
Der Umfang des Benachteiligungsverbots erstreckt sich dabei vom Einstellungsverfahren (Zugang<br />
zu Erwerbstätigkeit nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG), über die Beschäftigungsbedingungen im laufenden<br />
Beschäftigungsverhältnis sowie den beruflichen Aufstieg (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 AGG) und bis hin zum<br />
Sozialschutz bei Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen.<br />
Zu beachten ist der weite Beschäftigungsbegriff des § 6 Abs. 1 S. 2 AGG, der auch diejenigen<br />
schwerbehinderten Menschen umfasst, die sich erst um eine Arbeitsstelle bewerben. Auch solche<br />
Personen genießen damit den Schutz nach § 164 Abs. 2 SGB IX (vgl. BAG, Urt. v. 19.8.2010 – 8 AZR 370/09,<br />
NZA 2011, 200). Das BAG hat entschieden, dass schon die Nichteinbeziehung in die Auswahl zur Einstellung<br />
eine Verletzung des Benachteiligungsverbots darstellt, denn in diesem Nachteil liegt die Versagung einer<br />
Chance (vgl. BAG, Urt. v. 17.8.2010 – 9 AZR 839/08, NZA 2011, 153).<br />
Aber allein aus der Nichterfüllung der Pflichtquote kann allerdings nicht schon per se eine Verletzung<br />
des Benachteiligungsverbots begründet werden.<br />
Es entspricht der herrschenden Meinung, dass die Frage nach einer Schwerbehinderung oder einer<br />
Gleichstellung im Einstellungsverfahren oder Personalfragebogen unzulässig ist. Hieraus folgt, dass<br />
ein schwerbehinderter Bewerber diesbezüglich ein Recht zur Lüge hat. In engen Grenzen ist es dem<br />
Arbeitgeber aber erlaubt, danach zu fragen, ob der Bewerber die konkreten Leistungsanforderungen<br />
erbringen kann. Das Risiko für den Arbeitgeber, wenn dieser sich im Bewerbungsgespräch nach<br />
bestimmten Erkrankungen erkundigt, die Rückschlüsse auf eine Behinderung ermöglichen, ist sehr<br />
hoch mit der Folge, dass der Arbeitgeber zu Entschädigungszahlungen an den Bewerber verurteilt<br />
werden kann.<br />
Auch Fragen bzw. Angaben in der Stellenausschreibung zur Flexibilität und Belastbarkeit eines<br />
Bewerbers beinhalten ein hohes Risiko der Benachteiligung eines schwerbehinderten Menschen. Die<br />
Rechtsprechung stellt hierbei auf die Umstände des Einzelfalls ab, sodass es in solchen Fällen auf eine<br />
besonders sorgfältige Dokumentation sowie Recherche des Sachverhalts ankommt.<br />
Ein Arbeitgeber sollte auch darauf achten, dass einzelne Formulierungen im Arbeitsvertrag nicht<br />
gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen. So kann eine Klausel, wonach der Mitarbeiter erklärt,<br />
dass er zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses den Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes<br />
nicht unterliegt, einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot begründen (vgl. LAG Hamburg, Urt.<br />
v. 30.11.2017 – 7 Sa 90/17).<br />
Im laufenden Beschäftigungsverhältnis wird das Benachteiligungsverbot gem. § 164 Abs. 2 SGB IX<br />
durch den Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 164 Abs. 4 und 5 SGB IX<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 155
Fach 18, Seite 1712<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Sozialrecht<br />
konkretisiert (vgl. die Ausführungen dazu unter III 3 bzw. IV). Weiter ist auf die Möglichkeiten der<br />
betrieblichen Prävention, insb. auf das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX und das<br />
betriebliche Wiedereingliederungsmanagement (BEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX zu verweisen (vgl.<br />
hierzu auch GEIßINGER <strong>ZAP</strong> F. 17, S. 1313 ff.).<br />
In Fällen der Diskriminierung bei Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses ist zu differenzieren<br />
zwischen Kündigungen, die dem KSchG unterliegen, und Kündigungen während der Wartezeit und in<br />
Kleinbetrieben. Bei Kündigungen, die dem KSchG unterliegen, sind die Diskriminierungsverbote des<br />
AGG und deren mögliche Rechtfertigungen im Rahmen der Konkretisierung der Sozialwidrigkeit zu<br />
berücksichtigen (vgl. BAG, Urt. v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, BAGE 128, 238; BAG, Urt. v. 20.6.2013 –<br />
2 AZR 295/12, BAGE 145, 296). Sofern das KSchG keine Anwendung findet, also bei Kündigungen<br />
während der Wartezeit und in kleinen Betrieben, gelten die Vorgaben des AGG unmittelbar gem. § 2<br />
Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 AGG i.V.m. § 134 BGB.<br />
3. Beschäftigungspflicht, § 164 Abs. 3 SGB IX<br />
Diese Pflicht trifft nur Arbeitgeber, die nach § 154 Abs. 1 SGB IX der Beschäftigungspflicht unterliegen.<br />
Dies sind alle Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich mindestens 20 Arbeitsplätzen.<br />
Auch wenn der Wortlaut von schwerbehinderten Menschen spricht, so ist auch hier im Wege der<br />
richtlinienkonformen Auslegung, RL 2000/78/EG, der weite europarechtliche Behinderungsbegriff zu<br />
verwenden, wonach diese Norm auf alle behinderte Menschen ab einem GdB von 30 anzuwenden ist.<br />
Durch die Formulierung in Abs. 3, wonach durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen ist, dass<br />
wenigstens der vorgeschriebenen Zahl der schwerbehinderten Menschen eine möglichst dauerhafte<br />
behinderungsgerechte Beschäftigung ermöglicht wird, beinhaltet die Pflicht für den Arbeitgeber, nicht<br />
nur vorhandene Arbeitsplätze hierfür zu nutzen, sondern auch neue behinderungsgerechte Arbeitsplätze<br />
einzurichten, um die Pflichtquote zu erfüllen.<br />
Dieser Eingriff in die unternehmerische Freiheit ist gerechtfertigt, soweit die Grenzen der Zumutbarkeit<br />
und und der Verhältnismäßigkeit der Aufwendungen in Übereinstimmung mit den Arbeitsschutzvorschriften<br />
gewahrt sind (vgl. DÜWELL LPK SGB IX zu § 164 Rn 175; FABRICIUS juris-PK zu § 164<br />
Rn 64).<br />
In einer aktuellen Entscheidung hat das BAG die unternehmerische Entscheidungsfreiheit gestärkt<br />
und nun klargestellt, dass der Anwendungsbereich des § 164 Abs. 3 SGB IX ebenso wie des Abs. 4 S. 1<br />
Nr. 1 nur die schwerbehinderten Beschäftigten im ungekündigten Arbeitsverhältnis erfasst. Weiter<br />
geht das BAG davon aus, dass die Beschäftigungspflicht in Abs. 3 lediglich eine Organisationspflicht<br />
des Arbeitgebers begründet, ohne Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen zu schaffen.<br />
Das BAG verweist zur Begründung darauf, dass das SGB IX durch das Erfordernis der Zustimmung<br />
durch das Integrationsamt und der Beteiligung der SBV in Kombination mit der Berücksichtigung der<br />
Schwerbehinderung im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ein abschließendes<br />
Schutzsystem bereits enthalte. Folglich ist der Arbeitgeber nicht daran gehindert, eine Unternehmerentscheidung<br />
dahingehend zu treffen, die zum Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses für den<br />
schwerbehinderten Menschen führe (BAG, Urt. v. 16.5.2019 – 6 AZR 329/18, NZA 2019, 1198).<br />
4. Förderung von Teilzeitarbeit, § 164 Abs. 5 SGB IX<br />
Nach Abs. 5 ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen zu fördern.<br />
Umgekehrt haben schwerbehinderte Menschen einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung, wenn die<br />
kürzere Arbeitszeit wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist.<br />
§ 164 Abs. 5 SGB IX stellt eine Spezialvorschrift zu § 8 TzBfG dar. Der Teilzeitanspruch nach SGB IX ist<br />
umfassender als der des TzBfG. Dies wird daran deutlich, dass der Teilzeitanspruch nach SGB IX auch in<br />
156 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1713<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Kleinunternehmen mit bis zu 15 Beschäftigten besteht und zeitlich bereits auch in den ersten 6 Monaten<br />
des Arbeitsverhältnisses Anwendung findet. Es muss allerdings ein kausaler Zusammenhang zwischen<br />
dem Verlangen auf Arbeitszeitverkürzung und der Art und Schwere der Behinderung gegeben sein. In<br />
Zweifelsfällen kann der Arbeitgeber bestreiten, dass ein kausaler Zusammenhang besteht. Es liegt dann<br />
am schwerbehinderten Menschen, den kausalen Zusammenhang zwischen Verlangen nach Arbeitszeitverkürzung<br />
und seiner Behinderung darzulegen und zu beweisen.<br />
Weiter hat der Arbeitgeber darauf zu achten, dass er den Teilzeitanspruch eines schwerbehinderten<br />
Menschen nicht aus betrieblichen Gründen i.S.d. § 8 TzBfG ablehnen kann, sondern nur, soweit die<br />
Teilzeitbeschäftigung für ihn unzumutbar oder mit unverhältnismäßigem Aufwand i.S.d. § 164 Abs. 4 S. 3<br />
SGB IX verbunden ist.<br />
Sofern die genannten Voraussetzungen vorliegen, entsteht der Anspruch auf Teilzeit unmittelbar<br />
und mit sofortiger Wirkung; einer Vertragsänderung bedarf es nicht (vgl. BAG, Urt. v. 14.10.20<strong>03</strong> –<br />
9 AZR 100/<strong>03</strong>, BAGE 108,77). Es ist allerdings empfehlenswert, diese im Hinblick auf die Anforderungen<br />
des § 3 NachwG zu dokumentieren.<br />
5. Unzumutbarkeit und Abwägung<br />
Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, den Ansprüchen des schwerbehinderten Menschen entgegen zu<br />
halten, dass diese für ihn unzumutbar sind oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden<br />
wären bzw. staatliche oder berufsgenossenschaftliche Arbeitsschutzvorschriften dem entgegenstehen,<br />
§ 164 Abs. 4 S. 3 SGB IX. Es sind also die Interessen des schwerbehinderten Menschen auf<br />
behinderungsgerechte Beschäftigung mit denen des Arbeitgebers sorgsam abzuwägen (vgl. DÜWELL in<br />
LPK-SGB IX zu § 164 Rn 205; FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 76). Den Arbeitgeber trifft hier eine<br />
hohe Darlegungs- und Beweislast (vgl. BAG, Urt. v. 14.3.2006 – 9 AZR 411/05), weil andernfalls Sinn<br />
und Zweck des Gesetzes, insb. die der Beschäftigungsförderung und Beschäftigungssicherung nicht<br />
erreicht werden könnten.<br />
Es ist also nicht ausreichend, wenn der Arbeitgeber pauschal einwendet, er habe alle Möglichkeiten<br />
geprüft und die Schaffung bzw. Einrichtung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes sei ihm daher<br />
unzumutbar. Es sind immer konkret die Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Er hat konkret darzulegen,<br />
welche Möglichkeiten zur Schaffung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes er in Betracht gezogen<br />
hat, und aus welchem Grund er diese nicht realisieren wird.<br />
Der Arbeitgeber hat in seine Erwägungen einzubeziehen, dass es die Möglichkeit gibt, finanzielle<br />
Zuschüsse des Integrationsamts (z.B. den Beschäftigungssicherungszuschuss nach § 185 Abs. 3 Nr. 2<br />
SGB IX, früher Minderleistungsausgleich genannt, oder Zuschüsse zur behinderungsgerechten Einrichtung<br />
von Arbeitsplätzen) und der BA für Arbeit zu erhalten. Nimmt der Arbeitgeber solche<br />
finanziellen Leistungen, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Anspruch, kann er sich nicht auf<br />
die Unzumutbarkeit berufen (vgl. DÜWELL in LPK-SGB IX zu § 164 Rn 204).<br />
Wendet der Arbeitgeber die Unzumutbarkeit einer Umorganisation ein, dann hat er konkret darzulegen,<br />
ob und in welcher Form andere Arbeitsplätze gefährdet sind bzw. für andere Arbeitnehmer Nachteile<br />
drohen.<br />
Wird erst durch bestimmte Maßnahmen des Arbeitgebers ein arbeitsschutzrechtskonformer Zustand<br />
hergestellt, kann der Arbeitgeber sich nicht darauf berufen, dass eine behinderungsgerechte Beschäftigung<br />
für ihn unzumutbar oder unverhältnismäßig wäre. Die Einhaltung arbeitsschutzrechtlicher<br />
Vorschriften ist für den Arbeitgeber zwingend und Ausdruck der allgemeinen Fürsorgepflicht.<br />
6. Rechtsfolgen bei Verstößen<br />
Die Verletzung der Beschäftigungspflicht durch den Arbeitgeber kann unterschiedliche Sanktionen nach<br />
sich ziehen. Zum einen sind dies die Bußgeldvorschriften nach § 238 Abs. 1 SGB IX. Dies betrifft insb. die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 157
Fach 18, Seite 1714<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Sozialrecht<br />
Verletzung der Beschäftigungspflicht. Zuständig für die Verfolgung der Bußgeldtatbestände sind die<br />
jeweiligen Landesdirektionen der BA für Arbeit (Verwaltungsbehörde nach § 238 Abs. 3 SGB IX i.V.m. § 47<br />
OWiG). Nach § 238 Abs. 2 SGB IX beträgt die Geldbuße bis zu 10.000 €.<br />
Arbeitgeber, die die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigen, haben für<br />
jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte Menschen eine Ausgleichsabgabe nach<br />
§ 160 SGB IX zu zahlen. Die Höhe ergibt sich aus § 160 Abs. 2 SGB IX, derzeit zwischen 125 € und 320 € je<br />
unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. Die Ausgleichsabgabe hat der Arbeitgeber jährlich an das für seinen<br />
Sitz zuständige Integrationsamt zu zahlen (vgl. § 160 Abs. 4 SGB IX).<br />
Hinweis:<br />
Zu den innerbetrieblichen Sanktionen durch den BR, insb. nach § 99 BetrVG vgl. die Ausführungen unter V<br />
(Perspektive des BR).<br />
Die Verletzung des Benachteiligungsverbots gem. § 164 Abs. 2 SGB IX kann i.V.m. § 15 Abs. 1 AGG<br />
Schadenersatzansprüche des schwerbehinderten Menschen nach sich ziehen. Eine Haftungshöchstgrenze<br />
ist nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehen und auch vom BAG bislang abgelehnt<br />
worden (vgl. FABRICIUS juris-LPK SGB IX zu § 164 Rn 54; DÜWELL LPK-SGB IX zu § 104 Rn 60/78). Lediglich<br />
für den immateriellen Schaden ist nach § 15 Abs. 2 S. 2 AGG die summenmäßige Begrenzung auf<br />
höchstens drei Monatsverdienste vorgesehen.<br />
Im laufenden Beschäftigungsverhältnis können Konstellationen vorkommen, in denen der Arbeitgeber in<br />
Annahmeverzug nach § 615 BGB gerät und so dem schwerbehinderten Menschen Annahmeverzugslohn<br />
schuldet. Dies ist insb. dann der Fall, wenn der Arbeitgeber sein Direktionsrecht gem. § 106 GewO nicht<br />
oder nicht ordnungsgemäß ausübt und dem schwerbehinderten Menschen eine seiner eingeschränkten<br />
Leistungsfähigkeit entsprechende Tätigkeit nicht zuweist (vgl. SCHMIDT, a.a.O., Rn 278–281).<br />
Auch die Verletzung der Beschäftigungspflicht nach § 164 Abs. 4 SGB IX kann Schadenersatzansprüche<br />
nach § 280 BGB des schwerbehinderten Menschen zur Folge haben. Der Schadenersatz besteht in der<br />
dem schwerbehinderten Menschen entgangenen Vergütung durch die Verletzung der Beschäftigungspflicht.<br />
Beispiel:<br />
Wird ein schwerbehinderter Mensch von der Erbringung seiner Arbeitsleistung widerruflich freigestellt<br />
und erhält während der Freistellungsphase lediglich eine Grundvergütung und verliert dabei regelmäßig<br />
sonst gezahlte Schichtzulagen, besteht ein Schadenersatzanspruch i.H.d. nicht gezahlten Schichtzulagen.<br />
Des Weiteren ist auch ein Schadenersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 164 Abs. 4 SGB IX<br />
denkbar, da letzterer ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB darstellt (vgl. BAG, Urt. v. 4.10.2005 – 9 AZR<br />
632/04, BAGE 116, 121). Befindet sich der Arbeitgeber mit der behinderungsgerechten Einrichtung und<br />
Unterhaltung der Arbeitsstätten oder des Arbeitsplatzes mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen<br />
der Ausstattung nach § 164 Abs. 4 Nr. 4 und 5 SGB IX in Verzug, kommt auch eine Verurteilung auf<br />
Vornahme einer bestimmten Handlung (z.B. den Einbau von elektrischen Türöffner oder die Anschaffung<br />
eines höhenverstellbaren Schreibtisches) in Betracht, denn auch diese Regelung ist als Individualanspruch<br />
des schwerbehinderten Menschen ausgestaltet (vgl. dazu die Ausführungen unter IV 3).<br />
IV.<br />
Arbeitnehmerperspektive<br />
1. Anspruch auf Beschäftigung, § 164 Abs. 4 SGB IX<br />
§ 164 Abs. 4 gewährt dem schwerbehinderten Menschen einen Rechtsanspruch gegenüber seinem<br />
Arbeitgeber auf Beschäftigung, bei der er seine Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten<br />
und weiter entwickeln kann und zwar unter Berücksichtigung der Behinderung und ihrer Auswirkungen<br />
auf die Beschäftigung.<br />
158 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1715<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Damit gewährt der Gesetzgeber dem schwerbehinderten Menschen einen individuell einklagbaren<br />
Rechtsanspruch auf Beschäftigung, der dadurch begrenzt wird, dass er dem Arbeitgeber unzumutbar<br />
bzw. mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden ist (vgl. DÜWELL LPK SGB IX zu § 164<br />
Rn 178; FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 69). Die Grenze der Unzumutbarkeit ist dabei eher hoch<br />
anzusetzen, denn der Arbeitgeber hat eine gesteigerte Fürsorgepflicht gegenüber dem schwerbehinderten<br />
Menschen. Daraus folgt, dass der Arbeitgeber besonders intensiv prüfen muss, welche<br />
Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Während der Prüfphase ist der Arbeitgeber gehalten, dem<br />
schwerbehinderten Menschen eine vorübergehende behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen.<br />
Zunächst erfüllt der Arbeitgeber den Anspruch i.d.R. dadurch, dass er dem Arbeitnehmer die im<br />
Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeit zuweist (Ausübung des Direktionsrechts). Ist der schwerbehinderte<br />
Mensch nicht mehr in der Lage, die vertraglich geschuldete Tätigkeit zu erbringen, hat dies nicht zur<br />
Folge, dass der Beschäftigungsanspruch entfällt, sondern der schwerbehinderte Mensch hat einen<br />
Rechtsanspruch auf Vertragsänderung (vgl. BAG, Urt. v. 4.10.2005 – 9 AZR 632/04).<br />
Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers:<br />
• Zuweisung eines freien Arbeitsplatzes,<br />
• Maßnahmen der Umorganisation (z.B. Arbeitsplatztausch, Änderung des Raums, des Teams),<br />
• Kündigung eines anderen Mitarbeiters zur Besetzung mit dem schwerbehinderten Menschen<br />
(Freikündigung) (str.; BVerwG, BAG zurückhaltend),<br />
• Versetzung auf einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz,<br />
• Zuweisung eines mit einem Leiharbeitnehmer besetzten Arbeitsplatzes.<br />
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Arbeitnehmer nicht verpflichtet ist, den Arbeitgeber<br />
vorab auf Zustimmung zur Vertragsänderung zu verklagen, denn der Beschäftigungsanspruch nach<br />
§ 164 Abs. 4 SGB IX entsteht unmittelbar kraft Gesetz (vgl. BAG, Urt. v. 10.5.2005 – 9 AZR 230/04, NZA<br />
2006, 155). Der Arbeitnehmer muss allerdings den Anspruch auf behinderungsgerechte bzw. leidensgerechte<br />
Beschäftigung unter Angabe der behinderungsbedingten bzw. krankheitsbedingten Beeinträchtigungen<br />
geltend machen (LAG Nürnberg, Urt. v. 18.4.2018 – 2 Sa 408/17, BB 2018, 1977–1984). Dabei<br />
ist auch möglich, dass der Arbeitnehmer im Rahmen einer Wiedereingliederung eine anderweitige,<br />
behinderungsgerechte Beschäftigung verlangt (BAG, Urt. v. 13.6.2006 – 9 AZR 229/05, NZW 2007, 91;<br />
LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 23.5.2018 – 15 Sa 1700/17).<br />
Allerdings hat der Arbeitnehmer bereits nach dem Wortlaut keinen Anspruch auf einen ganz<br />
bestimmten Arbeitsplatz; der Anspruch beschränkt sich darauf, dass der Arbeitnehmer verlangen<br />
kann, dass er nach seinen Fähigkeiten und Kenntnissen unter Berücksichtigung seiner Behinderung<br />
beschäftigt wird. Dies wird konkretisiert durch § 164 Abs. 4 S. Nr. 4, 5 SGB IX, also die behinderungsgerechte<br />
Einrichtung, Ausstattung oder Umgestaltung des Arbeitsplatzes. Dies bedeutet auch, dass<br />
er keinen Anspruch auf Beförderung hat, wenngleich auch eine Beförderung an sich nicht von<br />
vornherein ausgeschlossen ist. Umgekehrt gilt das Verbot der unterwertigen Beschäftigung (FABRICIUS<br />
juris-PK SGB IX zur § 164 Rn 66; DÜWELL SGB IX zu § 164 Rn 181).<br />
2. Bevorzugte Berücksichtigung der beruflichen Bildung<br />
Der unmittelbare Beschäftigungsanspruch wird flankiert durch Maßnahmen nach § 164 Abs. 4 Nr. 2–5<br />
SGB IX. Im Einzelnen:<br />
Die Beschäftigungssicherung von schwerbehinderten Menschen findet auch dadurch statt, dass diese<br />
bei der beruflichen Aus- und Fortbildung bevorzugt berücksichtigt werden. Dabei ist zwischen der<br />
innerbetrieblichen und außerbetrieblichen Fortbildung zu unterscheiden. Eine Pflicht des Arbeitgebers<br />
innerbetriebliche Fortbildungen anzubieten, besteht nicht, werden diese aber angeboten, so<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 159
Fach 18, Seite 1716<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Sozialrecht<br />
sind schwerbehinderte Menschen bevorzugt zu berücksichtigen. Bei außerbetrieblichen Maßnahmen<br />
ist dies schwächer ausgestaltet, hier hat der Arbeitgeber dem schwerbehinderten Menschen nur den<br />
Zugang dazu zu erleichtern (FABRICIUS juris-PK SGB IX zur § 164 Rn 70/71; DÜWELL SGB IX zu § 164<br />
Rn 193–198).<br />
3. Behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung von Arbeitsstätten sowie Ausstattung<br />
mit technischen Arbeitshilfen<br />
Die behindertengerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten nach § 164 Abs. 4 Nr. 4<br />
SGB IX (i.V.m. § 3a ArbStättV barrierefreie Gestaltung) und Ausstattung mit den erforderlichen<br />
technischen Arbeitshilfen betrifft nicht nur den jeweiligen Einzelarbeitsplatz des schwerbehinderten<br />
Menschen, sondern das gesamte Arbeitsumfeld wie Zugänge zu Gebäuden, Türen und Fenster,<br />
Aufzüge, Toiletten, Duschen und Umkleideräume, Pausen- und andere Sozialräume, Fluchtwege und<br />
Notausgänge, Parkplätze, Zugang zur Kantine etc. (FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 73/74).<br />
Beispiele:<br />
• Handlauf (beidseits) an Treppen,<br />
• blindengerechte Beschriftung und Markierung,<br />
• Errichtung von stufenlosen Rampen an Zugängen<br />
• automatische Türöffner,<br />
• höhenverstellbare Schreibtische,<br />
• Bürostühle für mobiles Sitzen/Stehhilfen,<br />
• Hebe- und Greifhilfen,<br />
• angepasste IT-Hard- und Software z.B. für Sehbehinderte und bewegungseingeschränkte Menschen,<br />
• Einrichtung und Zuweisung von Parkflächen in Eingangsnähe.<br />
Die behinderungsgerechte Gestaltung eines Arbeitsplatzes bezieht sich auch auf die Arbeitsorganisation<br />
und die Gestaltung von Arbeitszeit und Schichtmodellen.<br />
Beispiele:<br />
• Herausnahme aus der Nachtschicht (attestierte Nachtschichtuntauglichkeit),<br />
• Begrenzung der Schichtzeiten (z.B. Arbeiten nur im Korridor von 8 Uhr bis 20 Uhr),<br />
• abweichende Pausenregelung (längere, häufigere Pausen),<br />
• keine Akkordarbeit,<br />
• keine Arbeit in Reinräumen,<br />
• keine Arbeit an Maschinen mit erhöhter Unfallgefahr für schwerbehinderte Menschen,<br />
• Stellung eines Gebärdendolmetschers für Meetings.<br />
Die genannten Ansprüche sind ebenfalls Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen und damit<br />
einklagbar. Zur Begründung empfiehlt sich für den schwerbehinderten Menschen ein entsprechendes<br />
Attest des behandelnden Facharztes oder des Betriebsarztes.<br />
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass bei der Umsetzung der o.g. Maßnahmen die Integrationsämter<br />
und die BA f. Arbeit unterstützen durch Beratung und finanzielle Hilfen.<br />
4. Anspruch auf Teilzeit, § 164 Abs. 5 SGB IX<br />
Nach § 164 Abs. 5 S. 2 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung,<br />
wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Art und Schwere der Behinderung notwendig ist. Als Spezialregelung<br />
zu § 8 TzBfG bedarf es hier weder einer bestimmten Form noch Frist für die Antrag auf<br />
Teilzeit durch den schwerbehinderten Menschen. Der Anspruch kann also mit sofortiger Wirkung<br />
160 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1717<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
geltend gemacht werden (DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 206–207). Auch eine Vertragsänderung ist<br />
nicht notwendig (FABRICIUS juris-PK SGB IX zur § 164 Rn 77–79). Der Anspruch kann je nach Art und<br />
Schwere der Behinderung auch befristet sein. Eine Rückkehr zur vorherigen Arbeitszeit ist damit<br />
möglich.<br />
Der Anspruch auf Teilzeit beinhaltet jedoch nicht einen Anspruch auf Wechsel in die Altersteilzeit und<br />
die damit verbundenen Vorteile einer gleitenden Übergangs vom Erwerbsleben in die Altersrente (BAG,<br />
Urt. v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114). Ob dies auch auf das relativ neue Flexirenten-Modell<br />
übertragen werden kann, ist noch offen. Im Übrigen wird auf die Ausführungen unter III 4 verwiesen.<br />
5. Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung<br />
Nach längeren Phasen der Arbeitsunfähigkeit ist ein Arbeitnehmer oftmals nur in der Lage, seine<br />
Arbeitsleistung unter geänderten Arbeitsbedingungen zu erbringen. Bei einer stufenweisen Wiedereingliederung<br />
nach § 74 SGB V/§ 44 SGB IX wird der Arbeitnehmer langsam wieder an sein volles<br />
Leistungsvermögen herangeführt, indem die Arbeitsbelastung i.d.R. über mehrere Wochen hinweg<br />
stundenweise gesteigert wird. Während der stufenweisen Wiedereingliederung erhält ein gesetzlich<br />
krankenversicherter Arbeitnehmer i.d.R. weiter Krankengeld. Ein solches Wiedereingliederungsverhältnis<br />
hat nichts mit dem eigentlichen Arbeitsverhältnis zu tun, sondern stellt nach herrschender<br />
Meinung ein Vertragsverhältnis sui generis dar. Dabei muss sich der Arbeitgeber nicht auf ein solches<br />
Wiedereingliederungsverhältnis einlassen; er kann die Zustimmung verweigern, denn es gilt das<br />
Prinzip der Freiwilligkeit.<br />
Anders ist dies jedoch bei schwerbehinderten und gleichgestellten Arbeitnehmern. Hier hat das BAG<br />
entschieden, dass ein Beschäftigungsanspruch i.S.d. Wiedereingliederung besteht, wenn ein solcher<br />
Arbeitnehmer zuvor arbeitsunfähig erkrankt war und nach ärztlicher Empfehlung stufenweise seine<br />
berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen kann und soll (vgl. BAG, Urt. v. 13.6.2006 – 9 AZR 229/05, NZA<br />
2007, 91). In solchen Fällen besteht eine Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers dahingehend, dem<br />
schwerbehinderten Menschen erneut die Teilhabe am Arbeitsleben durch stufenweise Wiedereingliederung<br />
zu ermöglichen.<br />
V. Perspektive von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung<br />
1. Beteiligungsrechte des Betriebsrats<br />
§ 164 Abs. 1 S. 6 SGB IX verpflichtet den Arbeitgeber die genannten Vertretungen nach § 176 SGB IX, also<br />
insb. den Betriebsrat (BR), ebenso wie Personalrat im öffentlichen Dienst und Mitarbeitervertretung in<br />
kirchlichen Einrichtungen bei der Prüfung der Beschäftigungsmöglichkeiten von schwerbehinderten<br />
Menschen zu beteiligen.<br />
Die Prüfung von Beschäftigungsmöglichkeiten von schwerbehinderten Menschen stellt eine personelle<br />
Einzelmaßnahme nach § 99 BetrVG dar. Dem BR ist jedenfalls das vollständige Anforderungsprofil,<br />
Angaben zur Arbeitsbelastung sowie die Gefährdungsbeurteilung nach §§ 5, 6 ArbSchG mitzuteilen.<br />
Erfüllt der Arbeitgeber diese Pflicht nicht oder nicht vollständig, besteht für den BR nach § 99 Abs. 2 Nr. 1<br />
BetrVG ein Zustimmungsverweigerungsrecht (vgl. DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 165; FABRICIUS juris-PK<br />
SGB IX zu § 164 Rn 17).<br />
Bei der Organisation der Personalauswahl im engeren Sinne ist der Arbeitgeber verpflichtet nach § 164<br />
Abs. 1 S. 4 SGB IX den BR umfassend und sofort über den Eingang von Vermittlungsvorschlägen durch<br />
die BA für Arbeit und eingehende Bewerbungen schwerbehinderter Menschen zu unterrichten. Ein<br />
Sammeln mehrerer Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen und eine gemeinsame Weiterleitung<br />
an den BR „im Paket“ ist nicht zulässig (vgl. DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 144).<br />
Nach § 164 Abs. 1 S. 7–9 SGB IX besteht eine umfassende Erörterungspflicht für diejenigen Arbeitgeber<br />
mit dem BR, die die Mindestbeschäftigungspflicht nicht erfüllen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 161
Fach 18, Seite 1718<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Sozialrecht<br />
Nach § 93 BetrVG kann der BR eine betriebsinterne Ausschreibung verlangen. Allerdings besteht kein<br />
erzwingbares Recht hinsichtlich Form und Inhalt von Stellenausschreibungen, sodass es empfehlenswert<br />
ist, hinsichtlich Ausschreibungsmodalitäten eine freiwillige Betriebsvereinbarung zu schließen.<br />
Ergänzend sei noch auf das Recht zur Unterrichtung bei Maßnahmen der allgemeinen Personalplanung<br />
nach § 92 BetrVG hingewiesen. In diesem Zusammenhang kann der BR darauf hinwirken, dass u.a.<br />
Maßnahmen zur Förderung der Eingliederung von schwerbehinderten Menschen ergriffen werden.<br />
Bei Maßnahmen zur beruflichen Bildung sowie Erleichterungen zur Teilnahme an außerbetrieblichen<br />
Maßnahmen der beruflichen Bildung nach § 164 Abs. 4 Nr. 2 und 3 SGB IX hat der BR gem. § 98 Abs. 3<br />
BetrVG ein qualifiziertes Mitbestimmungsrecht dergestalt, dass er konkret ein namentliches Vorschlagsrecht<br />
für Teilnehmer an einer Bildungsmaßnahme besitzt (vgl. DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 196). Gemäß<br />
§ 98 Abs. 6 BetrVG gilt dies auch für sonstige innerbetriebliche Maßnahmen.<br />
2. Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung (SBV)<br />
Hinsichtlich der Beteiligung der SBV kann auf die Ausführungen unter 5 a verwiesen werden mit der<br />
Maßgabe, dass die Beteiligung der SBV unmittelbar über die Regelung des § 178 Abs. 2 SGB IX stattfindet<br />
(vgl. BAG, Urt. v. 15.2.2005 – 9 AZR 635/<strong>03</strong>; FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 16). Bei Verstößen gegen<br />
die umfassende Unterrichtungspflicht hat die SBV die Möglichkeit, die Durchführung oder Vollziehung der<br />
betreffenden Maßnahme aussetzen zu lassen, um die Beteiligung innerhalb von sieben Tagen nachholen<br />
zu können.<br />
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass es auch zu den Aufgaben der SBV gem. § 178 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX<br />
gehört, Teilhaberechte von schwerbehinderten Menschen zu realisieren, insb. Anträge zu stellen. Zu den<br />
Aufgaben der SBV gehört es auch allgemein, Beschäftigte darin zu unterstützen, Anträge zur Feststellung<br />
einer Schwerbehinderung beim zuständigen Versorgungsamt zu stellen ebenso wie Anträge auf Gleichstellung<br />
bei der zuständigen BA für Arbeit.<br />
VI.<br />
Verfahrensrechtliche Fragen<br />
1. Klageantrag bei behinderungsbedingter Beschäftigung<br />
Nicht immer gelingt es, den Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen gem. § 164<br />
Abs. 4 Nr. 1 SGB IX außergerichtlich, ggf. auch im BEM-Verfahren erfolgreich durchzusetzen, sodass dann<br />
Klage beim Arbeitsgericht eingereicht werden muss. Vielfach stellt sich dann die Frage unter Berücksichtigung<br />
des Bestimmtheitsgrundsatzes, wie der Klageantrag zu formulieren ist.<br />
Formulierungsvorschlag:<br />
Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger, ggf. nach entsprechender Vertragsänderung, vorbehaltlich der<br />
Zustimmung des Betriebsrats und ggf. nach Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens, in<br />
einem Arbeitsbereich einzusetzen, in dem der Kläger noch leichte körperliche Tätigkeiten, bevorzugt im<br />
Sitzen in geschlossenen und temperierten Räumen ausüben kann.<br />
hilfsweise den Beklagten zu verurteilen, den Kläger ggf. nach entsprechender Vertragsänderung, vorbehaltlich<br />
der Zustimmung des Betriebsrats und ggf. nach Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens,<br />
als Verwaltungsangestellten (Einkauf), alternativ Sachbearbeiter Telekommunikation, alternativ<br />
Angestellter Materialverwaltung, alternativ Telefonist/Verwaltungsangestellter (Bürokommunikation),<br />
alternativ Lagerangestellter (Material- und Gütebestimmung) zu beschäftigen.<br />
(vgl. Vorschlag nach SCHMIDT, a.a.O. Rn 241 unter Hinweis auf BAG, Urt. v. 10.5.2005 – 9 AZR 230/04,<br />
NZA 2006, 155, 158; DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 219).<br />
Bei eingeschränkter Schichttauglichkeit sollten zur Klarstellung auch noch die wöchentliche Arbeitszeit<br />
und die möglichen Schichtzeiten in den Antrag aufgenommen werden.<br />
162 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1719<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Es sollte auch darauf geachtet werden, dass mehrere unterschiedliche Beschäftigungsmöglichkeiten<br />
genannt werden, da dem schwerbehinderten Menschen kein Anspruch auf Zuweisung eines bestimmten<br />
Arbeitsplatzes zusteht. So kann sichergestellt werden, dass die Beschäftigungsklage nicht<br />
als unbegründet abgewiesen wird, denn dem Arbeitgeber bleibt die Entscheidung, mit welcher der<br />
genannten Tätigkeitsvorschläge er den Arbeitnehmer beschäftigen will (vgl. BAG, Urt. v. 10.5.2005 –<br />
9 AZR 230/04, NZA 2006, 155,158, m.w.N.).<br />
Gleiches gilt auch für den Antrag auf behindertengerechte Ausstattung der Arbeitsstätte, wenn der<br />
Arbeitgeber zu einer bestimmten Handlung verurteilt werden soll.<br />
Formulierungsvorschlag:<br />
Der Beklagte wird verurteilt, die Zugänge zum Büro der Beklagten einschließlich Umkleideraum, Pausenraum<br />
und Toilette im Gebäude (Adresse, Stockwerk genaue Bezeichnung ggf. unter Beifügung einer<br />
Skizze bzw. eines Plans) jeweils mit elektrischen Türöffnern auszustatten.<br />
2. Darlegungs- und Beweislast<br />
Bei einer Beschäftigungsklage nach § 164 Abs. 4 SGB IX gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast<br />
(vgl. BAG, Urt. v. 10.5.2005 – 9 AZR 230/04, NZA 2006, 155 ff.): Der schwerbehinderte oder gleichgestellte<br />
Arbeitnehmer als Kläger sollte folgende Punkte darlegen und beweisen:<br />
• eingeschränktes Leistungsvermögen, ggf. unter Vorlage eines fachärztlichen bzw. betriebsärztlichen<br />
Attestes,<br />
• Geltendmachung des Weiterbeschäftigungsanspruchs,<br />
• Darlegung, welche Beschäftigungsmöglichkeiten aus seiner Sicht noch bestehen, bei denen die<br />
vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten verwertet werden können,<br />
• Darlegung, wie der Arbeitsplatz ggf. umgestaltet werden muss, damit eine Weiterbeschäftigung<br />
möglich ist.<br />
Sodann muss der beklagte Arbeitgeber substanziiert auf folgende Punkte eingehen und unter Beweis<br />
stellen:<br />
• konkrete Begründung, warum keine behinderungsgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen,<br />
• Darlegung, dass die im Antrag genannten Zuweisungen an Beschäftigungsmöglichkeiten für ihn unzumutbar/unverhältnismäßig<br />
sind,<br />
• Darlegung, dass kein entsprechender Arbeitsplatz vorhanden ist und auch nicht in naher Zukunft frei<br />
wird,<br />
• Darlegung, dass auch kein entsprechender Arbeitsplatz durch Versetzung besteht,<br />
• Darlegung, dass der Arbeitnehmer nicht über die notwendige Qualifikation verfügt,<br />
• Darlegung, warum eine Umgestaltung mit technischen Arbeitshilfen nicht möglich ist,<br />
• die behinderungsgerechte Beschäftigung verstößt u.U. gegen Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften,<br />
• erfolglose Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX.<br />
Literaturhinweis:<br />
Vgl. zum Vorgehenden auch SCHMIDT, a.a.O., Rn 243–252).<br />
Aus den vorgenannten Ausführungen wird sehr deutlich, dass der größere Aufwand für die Darlegungsund<br />
Beweislast beim Arbeitgeber liegt, will dieser nicht riskieren, zur behindertengerechten Beschäftigung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 163
Fach 18, Seite 1720<br />
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />
Sozialrecht<br />
nach § 164 Abs. 4 SGB IX verurteilt zu werden. Dies ist nur konsequent, wenn man sich vor Augen hält, dass<br />
das Ziel des § 164 SGB IX in erster Linie die Beschäftigungsförderung und Beschäftigungssicherung von<br />
schwerbehinderten Menschen ist.<br />
VII. Schlussbemerkung<br />
In der anwaltlichen Beratung und Vertretung bieten sich sowohl im Arbeitgeber- als auch im<br />
Arbeitnehmer bzw. BR-/SBV-Mandat vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, die es zu nutzen gilt.<br />
Im Arbeitgebermandat sollte besonderes Augenmerk auf die Dokumentation des Anforderungsprofils, der<br />
Stellenbeschreibung und der Recherche von Beschäftigungsmöglichkeiten gelegt werden. Die Pflichten<br />
nach § 164 SGB IX sollten auch als Chance begriffen werden, nicht nur die Mindestbeschäftigungsquote an<br />
schwerbehinderten Menschen zu erfüllen bzw. Sanktionen wie Schadenersatzansprüche und Bußgelder<br />
zu vermeiden, sondern durch die Ausnutzung aller Möglichkeiten einschließlich technischer und finanzieller<br />
Förderung durch die Integrationsämter/BA für Arbeit auch als ein Mittel gegen den vielfach beklagten<br />
Fachkräftemangel zu betrachten.<br />
Im Arbeitnehmermandat sollten schwerbehinderte Menschen dazu ermutigt werden, ihre Ansprüche<br />
frühzeitig und konsequent, z.B. auch im BEM-Verfahren oder in der stufenweisen Wiedereingliederung<br />
geltend zu machen und durchzusetzen. Der Verzicht auf diese Ansprüche oder ein überstürztes<br />
Nachgeben und Ausscheiden durch Aufhebungsvertrag mit anschließender (längerer) Arbeitslosigkeit<br />
oder gar dem Bezug von befristeter Erwerbsminderungsrente sind keine echten Alternativen zur<br />
dauerhaften Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen.<br />
Auch die Betriebsräte und die SBV sollten aktiv und selbstbewusst die gesetzlichen Möglichkeiten der<br />
Mitbestimmung nutzen, um die Ziele von Beschäftigungsförderung und -sicherung von schwerbehinderten<br />
Menschen zu erreichen bzw. zu verbessern.<br />
Letztendlich bietet sich für Rechtsanwälte die Möglichkeit, neben der allgemeinen Beratung und<br />
Vertretung im Arbeitsrecht ihr Mandatsspektrum zu erweitern und alle Akteure im Arbeitsrecht bei der<br />
Umsetzung der gesetzlichen Ziele im Schwerbehindertenrecht kompetent zu vertreten.<br />
Hinweis:<br />
Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag die maskuline Form verwendet, gemeint ist jedoch die<br />
sprachliche Gleichbehandlung aller Geschlechter [Anm. des Verf.].<br />
164 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 997<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Strafverfahren<br />
Ermittlungsverfahren – StPO-Änderungen 2019<br />
Modernisierung des Strafverfahrens – Teil 1: Ermittlungsverfahren<br />
Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Leer/Augsburg<br />
Inhalt<br />
I. Vorbemerkung<br />
1. Gesetzgebungsverfahren<br />
2. Wesentlicher Inhalt der Neuregelung<br />
II. Exkurs: Audiovisuelle Aufzeichnung von<br />
Beschuldigtenvernehmungen (§ 136<br />
Abs. 4 StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Regelungsinhalt<br />
3. Verfahren<br />
4. Beweisverwertungsverbote<br />
5. Verwendung in der Hauptverhandlung<br />
III. Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und<br />
Ton (§ 58a StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Erweiterung des Anwendungsbereichs<br />
des § 58a StPO<br />
3. „Mussregelung“ in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO<br />
4. Zustimmung/Widerspruch des Zeugen<br />
5. Verfahren/Rechtsmittel<br />
IV. Molekulargenetische Untersuchungen<br />
(§ 81e StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Regelungsinhalt des § 81e Abs. 2 S. 2 StPO<br />
3. Verfahren/Rechtsmittel/Beweisverwertungsverbote<br />
V. Telefonüberwachung (§ 100a StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Verfahren/Rechtsmittel/Beweisverwertungsverbot<br />
3. Befristung der Änderung<br />
I. Vorbemerkung<br />
1. Gesetzgebungsverfahren<br />
Immer wieder ist in den vergangenen Jahren eine „Reform“ der StPO angemahnt worden (vgl. dazu<br />
z.B. LÖFFELMANN StV 2018, 536; s. aber auch zur Kritik u.a. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2019 vom<br />
November 2019, S. 1 ff. unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmendeutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf).<br />
Besonders laut sind die Rufe aus der<br />
Justiz, wie z.B. vom sog. Strafkammertag, gewesen, die meist unter der Überschrift: „Verteidiger<br />
verzögern durch unnötige Anträge“ für eine Beschleunigung der Verfahren plädiert haben (vgl. dazu<br />
nur die Pressemitteilung des OLG Bamberg Nr. 15/2017 v. 26.9.2019 und SANDHERR DRiZ 2017, 338, 341;<br />
dazu DALLMEYER StV 2018, 533). Auch der Koalitionsvertrag der GroKo vom 7.2.2018 hatte sich die<br />
Modernisierung der StPO und eine Beschleunigung des Strafverfahrens auf die Fahnen geschrieben,<br />
Stichwort: „Pakt für den Rechtsstaat“.<br />
Diese Rufe – vornehmlich aus der Justiz – sind nicht ungehört geblieben. Die Bundesregierung hat am<br />
14.5.2019 sog. Eckpunkte zur Modernisierung des Strafverfahrens vorgelegt, dem ist dann im Juni 2019<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 165
Fach 22, Seite 998<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
der Referentenentwurf des BMJV zum „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens“<br />
gefolgt. Dieser ist dann übergegangen in den Regierungsentwurf zum „Entwurf eines<br />
Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens“. Der hat Zustimmung, aber auch harsche Kritik<br />
erfahren, auf die hier im Einzelnen aber nicht eingegangen werden soll (vgl. dazu die unter https://<br />
www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Modernisierung_Strafverfahren.html zusammengestellten<br />
Stellungnahmen verschiedener Verbände/Gerichte).<br />
Das anschließende Gesetzgebungsverfahren war von beispielloser Eile geprägt: Die BT-Drucksache 19/<br />
14747 vom 5.11.2019 ist im Bundestag bereits am 7.11.2019 in erster Lesung gelesen und an die Ausschüsse<br />
überwiesen worden (BT-Plenarprotokoll 19/124, S. 15293D–15306B). Bereits am 11.11.2019 hat im<br />
federführenden Rechtsausschuss eine Sachverständigenanhörung stattgefunden (wegen der Einzelheiten<br />
s. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw46-pa-recht-modernisierung-strafverfahren-<br />
665548). Aufgrund der Beschlussvorlage des Rechtsausschusses 19/15161 ist der Gesetzentwurf dann<br />
bereits am 15.11.2019 in zweiter und dritter Lesung im Bundestag gelesen und in der Ausschussfassung<br />
angenommen worden (vgl. BT-Drucks 19/14747 und 19/15161). Der Bundestag hat den Bundesrat von der<br />
Annahme des Gesetzes unterrichtet. Dieser hat in seiner Sitzung vom 29.11.2019 den Vermittlungsausschuss<br />
nicht angerufen.<br />
Hinweis:<br />
Das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ (im Folgenden kurz: Gesetz) ist<br />
am 12.12.2019 im BGBl verkündet worden (vgl. BGBl I, S. 2121). Nach Art. 10 S. 1 des Gesetzes sind die<br />
Neuregelungen damit am Tag nach der Verkündung, also am 13.12.2019, in Kraft getreten.<br />
Da es sich um Verfahrensrecht handelt, sind/waren sie ohne Einschränkung auch in bereits laufenden<br />
Straf- und Bußgeldverfahren anzuwenden.<br />
Der Beitrag gibt im vorliegenden ersten Teil einen Überblick über die wichtigsten Änderungen im<br />
Ermittlungsverfahren (vgl. im Übrigen BURHOFF, StPO 2019, Rn 14 ff.). Vorgestellt werden außerdem in<br />
einem Exkurs (vgl. II) Änderungen, die schon durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren<br />
Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) in § 136 Abs. 4 StPO vorgenommen<br />
worden sind, die aber erst am 1.1.<strong>2020</strong> in Kraft getreten sind. In einem zweiten Teil werden zu einem<br />
späteren Zeitpunkt in der <strong>ZAP</strong> noch die wichtigsten Änderungen durch das Gesetz hinsichtlich der<br />
Hauptverhandlung vorgestellt.<br />
2. Wesentlicher Inhalt der Neuregelung<br />
Die Neuregelungen gehen im Wesentlichen zurück auf die Eckpunkte der Bundesregierung zur<br />
Modernisierung des Strafverfahrens (abrufbar unter http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/<br />
News/Artikel/051519_Kabinett_Modernisierung_Strafverfahren.pdf;jsessionid=82FBABB77F4AB3E83454AE99B<br />
637AE7D.1_cid297?__blob=publicationFile&v=1). Angestrebtes Ziel der Gesetzesänderungen ist eine<br />
„Beschleunigung“ und Verbesserung“ des Strafverfahrens (BT-Drucks 19/14747, S. 1 ff.).<br />
Folgende Punkte sollten das (Ermittlungs-)Verfahren „moderner“ machen:<br />
• Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung<br />
Mit der Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens über Besetzungsrügen muss ein erhobener<br />
Besetzungseinwand vorschriftswidriger Besetzung des Gerichts schon vor oder zu Beginn<br />
einer Hauptverhandlung abschließend durch ein höheres Gericht beschieden werden (dazu demnächst<br />
Näheres).<br />
• Erweiterung von Ermittlungs- und Datenübertragungsbefugnissen<br />
• Die Ermittlungsbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden sind erweitert worden (vgl. dazu V).<br />
• Um Anhaltspunkte für das Aussehen eines unbekannten Spurenlegers zu gewinnen, sind die<br />
Möglichkeiten der molekulargenetischen Untersuchungen an aufgefundenem, sichergestelltem<br />
und beschlagnahmtem Material erweitert worden (dazu IV).<br />
166 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 999<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
• Stärkung des Opferschutzes<br />
• Zur Stärkung der Opferschutzes im Strafverfahren ist die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung<br />
der (vermeintlichen) Opfer bestimmter schwerer Straftaten auf Vernehmungen von zur<br />
Tatzeit erwachsenen Opfern von Sexualstraftaten ausgedehnt worden (s. dazu III).<br />
• Ferner ist den Opfern von sexuellen Übergriffen in besonders schweren Fällen ein Anspruch auf<br />
privilegierte Bestellung eines Rechtsbeistands eingeräumt worden (§ 397a Abs. 1 Nr. 1 und 1a StPO;<br />
dazu demnächst).<br />
II.<br />
Exkurs: Audiovisuelle Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen (§ 136 Abs. 4 StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Norm: § 136 Abs. 4 StPO<br />
• Sachlicher Geltungsbereich: Vernehmungen<br />
• Verteidigerstrategie: Gegebenenfalls Beweisverwertungsverbot (vgl. II 4)<br />
1. Neuregelung<br />
§ 136 Abs. 4 StPO erweitert die Möglichkeiten der audiovisuellen Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen.<br />
Diese war bislang über § 163a Abs. 1 S. 2 StPO a.F., der auf die §§ 58a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 und 3,<br />
58b StPO verwiesen hat, sowohl bei richterlichen als auch bei staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen<br />
Vernehmungen möglich. Daran hält § 136 Abs. 4 S. 1 StPO zwar fest. In § 136 Abs. 4 S. 2 StPO wird jedoch<br />
nun die Verpflichtung der Ermittlungsbehörden zur audiovisuellen Aufzeichnung in bestimmten Verfahren<br />
oder besonderen Konstellationen geregelt (vgl. dazu II 3). Die frühere Verweisung in § 163a Abs. 2 S. 2 StPO<br />
a.F. konnte damit entfallen (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 32).<br />
Hinweis:<br />
Der Beschuldigte kann aufgrund der aus dem Nemo-Tenetur-Grundsatz folgenden Freiheit, sich nicht<br />
selbst belasten zu müssen, die Aussage verweigern. Über sein Recht zu schweigen kann er sich somit auch<br />
einer audiovisuellen Aufzeichnung entziehen.<br />
Sinn und Zweck/Ziel der Erweiterung der audiovisuellen Dokumentationsmöglichkeiten von Beschuldigtenvernehmungen<br />
ist in erster Linie eine Verbesserung der Wahrheitsfindung. Insoweit zutreffend weist<br />
die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 18/11277, S. 24 f.) darauf hin, dass eine Videoaufzeichnung den Verlauf<br />
einer Vernehmung authentisch(er) wiedergibt und daher dem herkömmlichen schriftlichen Inhaltsprotokoll<br />
überlegen ist.<br />
2. Regelungsinhalt<br />
a) Allgemeines<br />
Die audiovisuelle Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen ist wie folgt geregelt (vgl. auch<br />
MEYER-GOßNER/SCHMITT, StPO, 62. Aufl. 2019, § 136 Rn 19a):<br />
• § 136 Abs. 4 S. 1 StPO enthält die schon früher auf der Grundlage der „Kann-Vorschrift“ der §§ 163a<br />
Abs. 1, 58a Abs. 1 S. 1 StPO a.F. für – polizeiliche und staatsanwaltliche – Beschuldigtenvernehmungen<br />
geltende Ermessensregelung. Danach kann grds. (jede) Vernehmung des Beschuldigten in Bild und<br />
Ton aufgezeichnet werden (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 26).<br />
• Nach § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO muss die Vernehmung aufgezeichnet werden muss, wenn dem<br />
Ermittlungsverfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung<br />
weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen.<br />
• § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO bestimmt darüber hinaus eine generelle Aufzeichnungspflicht, wenn die<br />
schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 167
Fach 22, Seite 1000<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Hinweis:<br />
§ 136 Abs. 4 StPO gilt unmittelbar nur für richterliche Beschuldigtenvernehmungen. Er wird aber über<br />
die Verweise in § 163a Abs. 3 und 4 StPO auf staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Beschuldigtenvernehmungen<br />
entsprechend angewendet.<br />
b) Generalklausel (§ 136 Abs. 4 S. 1 StPO)<br />
§ 136 Abs. 4 S. 1 StPO enthält die „Generalklausel“ für die audiovisuelle Aufzeichnung von (richterlichen)<br />
Beschuldigtenvernehmungen. Danach steht die Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton im<br />
Ermessen –„kann“ –des Vernehmenden. Das entspricht der bisherigen Regelung in § 163a Abs. 1 S. 2<br />
StPO a.F. mit Verweis auf §§ 58a, 58b StPO. Für die Anordnung gelten die für die Anordnung einer<br />
audiovisuellen Zeugenvernehmung nach § 58a Abs. 1 S. 1 StPO geltenden Überlegungen entsprechend<br />
(vgl. dazu BURHOFF, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn 4786 ff. [im<br />
Folgenden kurz: BURHOFF, EV]).<br />
Voraussetzung für die Zulässigkeit der Aufzeichnung ist, dass es sich um eine Vernehmung i.e.S. handelt<br />
(zum Begriff BURHOFF, EV, Rn 4384 ff.). Das schließt die Aufzeichnung von bloß informatorischen<br />
Anhörungen usw. aus (zum Umfang der Aufzeichnung s. unten II 3 b). Die Zulässigkeit der Aufzeichnung<br />
hängt nicht vom Einverständnis des Beschuldigten ab. Dieser muss den Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht<br />
(vgl. oben I) dulden. Er kann eine Bild-Ton-Aufzeichnung grds. nur dadurch vermeiden, dass er sich<br />
weigert, Angaben zur Sache zu machen.<br />
Hinweis:<br />
Zulässig ist es aber, dass sich der Beschuldigte und der Vernehmungsbeamte darüber einigen, dass der<br />
Beschuldigte nicht von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht und dafür der Vernehmungsbeamte<br />
auf die audiovisuelle Dokumentation der Vernehmung verzichtet.<br />
c) Vorsätzliche Tötungsdelikte (§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO)<br />
Nach § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO besteht eine Pflicht zur Aufzeichnung –„Sie ist aufzuzeichnen … “–bei<br />
vorsätzlichen Tötungsdelikten. Grund für die in diesen Fällen vorgesehene Aufzeichnungspflicht ist der<br />
Umstand, dass bei diesen äußerst schwerwiegenden Delikten, bei denen i.d.R. hohe Freiheitsstrafen<br />
drohen, das staatliche Interesse an einer bestmöglichen Wahrheitsfindung ebenso schwer wiegt wie<br />
das Interesse des einer solchen Tat verdächtigten Beschuldigten (BT-Drucks 18/11277, S. 25).<br />
Der Begriff der „vorsätzlichen Tötungsdelikte“ umfasst<br />
• die Delikte der §§ 211 bis 221 StGB im Falle einer vorsätzlichen Begehungsweise sowohl im Stadium<br />
des Versuchs als auch der Vollendung.<br />
• erfolgsqualifizierte Delikte, sofern der Vorsatz auch auf den Eintritt der schweren Folge gerichtet<br />
war; in diesen Fällen wird aber regelmäßig ohnehin ein vollendetes Tötungsdelikt i.S.d. §§ 211, 212<br />
StGB gegeben sein.<br />
Voraussetzung für die Aufzeichnungspflicht ist weiter –„und“–, dass der Aufzeichnung weder die äußeren<br />
Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen. Die Gesetzesmaterialen<br />
(BT-Drucks 18/11277, S. 27) gehen davon aus, dass das der Fall ist und die Pflicht zur Aufzeichnung daher<br />
(regelmäßig) entfällt, wenn die Aufzeichnung der Vernehmung – etwa weil sie im Rahmen einer Nacheile<br />
oder Durchsuchung direkt am Ort des Geschehens vorgenommen wird – aufgrund der äußeren Umstände<br />
nicht möglich ist oder sich die Vernehmung sonst als besonders dringlich erweist und die technischen<br />
Möglichkeiten der audiovisuellen Aufzeichnung aufgrund der Eilsituation am Tatort oder im Umkreis nicht<br />
gegeben sind (vgl. auch MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., § 136 Rn 19d).<br />
168 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1001<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Hinweis:<br />
Stellt sich erst während einer Vernehmung heraus, dass ein vorsätzliches Tötungsdelikt aus dem o.g.<br />
Katalog in Betracht kommen könnte, muss unverzüglich zu einer „Aufzeichnungsvernehmung“ übergegangen<br />
werden (MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., § 136 Rn 19c m.w.N.).<br />
d) Schutzwürdiges Interesse des Beschuldigten (§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO)<br />
§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO regelt ebenfalls einen Fall der obligatorischen Bild-Ton-Aufzeichnung der<br />
Beschuldigtenvernehmung. Angeknüpft wird an die „schutzwürdigen Interessen“ des Beschuldigten. Es<br />
muss nach dem Wortlaut keine besondere Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten die audiovisuelle<br />
Aufzeichnung der Vernehmung gebieten (s. aber BT-Drucks 18/11277, S. 27).<br />
Die Nr. 2 nennt dann zwei Fälle, in denen von „schutzwürdigen Interessen“ des Beschuldigten auszugehen<br />
ist:<br />
• Beschuldigter unter 18 Jahren,<br />
• Beschuldigter mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten (wegen der Einzelheiten BURHOFF, EV,<br />
Rn 3493 ff.).<br />
§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO setzt für die Aufzeichnungspflicht weiter voraus, dass die schutzwürdigen<br />
Interessen des Beschuldigten durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden. Daran kann es im Einzelfall<br />
– auch bei Vorliegen der Voraussetzungen im Übrigen – fehlen. Als Beispiel nennt die Gesetzesbegründung<br />
(vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 28) den Fall, dass der Beschuldigte ersichtlich gehemmt ist, vor der Kamera zu<br />
sprechen.<br />
3. Verfahren<br />
a) Verwendungsbeschränkungen/Akteneinsicht<br />
Nach § 136 Abs. 4 S. 3 StPO gilt § 58a Abs. 2 StPO. Damit sind die für „die bisherigen Aufzeichnungsfälle<br />
bei Zeugenvernehmungen entwickelten Schutzmechanismen“ (BT-Drucks 18, 11277, S. 28) auf die<br />
Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen übertragen worden.<br />
Im Übrigen gilt:<br />
• Verwendungsbeschränkungen: Die Verwendung der Bild-Ton-Aufzeichnung ist nur für Zwecke der<br />
Strafverfolgung und nur insoweit zulässig, als dies zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist (§ 58a<br />
Abs. 2 S. 1 StPO; vgl. dazu BURHOFF, EV, Rn 4813 m.w.N.).Die Aufzeichnung ist unverzüglich zu löschen,<br />
soweit sie für diese Zwecke nicht mehr benötigt wird (§ 58a Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 101 Abs. 8 StPO).<br />
• Akteneinsicht: Nach § 58a Abs. 2 StPO i.V.m. § 147 StPO besteht ein Akteneinsichtsrecht des<br />
Verteidigers. Es handelt sich nicht um Beweisstücke, für die § 147 Abs. 4 StPO gelten würde, sondern um<br />
Ergänzungen der Vernehmungsprotokolle (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 26), die somit Gegenstand der<br />
Sachakten sind und dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers unterliegen (vgl. für die Aufzeichnungen<br />
von audiovisuellen Zeugenvernehmungen BURHOFF, EV, Rn 4209; MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., § 58a<br />
Rn 12 f.). Es müssen ggf. amtliche Kopien gefertigt werden (vgl. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO). Wegen der<br />
Durchführung der Akteneinsicht wird verwiesen auf BURHOFF, EV, Rn 4210 ff.). Nach § 58a Abs. 2 StPO<br />
i.V.m. § 406e StPO haben auch der Nebenklägervertreter und/oder der Verletztenbeistand grds. ein<br />
Akteneinsichtsrecht. Dies unterliegt ggf. Beschränkungen (vgl. dazu BURHOFF, EV, Rn 330 ff.).<br />
Hinweis:<br />
Die Überlassung der Aufzeichnung oder die Herausgabe von Kopien an andere Stellen bedarf nach § 58a<br />
Abs. 2 S. 6 StPO der Einwilligung des Beschuldigten.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 169
Fach 22, Seite 1002<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
b) Umfang/Durchführung der Aufzeichnung<br />
Der Umfang der Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung und deren technische Durchführung sind<br />
in § 136 Abs. 4 StPO – ebenso wie die einer Zeugenvernehmung nach § 58a StPO – nicht geregelt.<br />
Wegen der Einzelheiten kann man m.E. die Ausführungen zur Durchführung der Aufzeichnung einer<br />
Zeugenvernehmung nach § 58a StPO entsprechend heranziehen (vgl. BURHOFF, EV, Rn 4807 ff.).<br />
Im Übrigen gibt auch die Gesetzesbegründung einige Mindeststandards vor (vgl. BT-Drucks 18/11277,<br />
S. 26), und zwar:<br />
• Die Aufzeichnung muss (!) in ihrem Umfang regelmäßig den gesamten Verlauf der Vernehmung<br />
erfassen.<br />
• Der Begriff der Aufzeichnung umfasst nach dem Zweck der Regelung – Wahrheitsfindung und Schutz<br />
der Beschuldigten mit Blick auf die Einhaltung der Vernehmungsförmlichkeiten – alle Verfahrensvorgänge,<br />
die mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich aus ihr entwickeln.<br />
• Eventuell bedeutsame Vorgespräche, die außerhalb der Bild-Ton-Aufzeichnung geführt worden sind,<br />
sollten erwähnt werden, um dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, sich hierzu zu erklären.<br />
Meines Erachtens müssen sie erwähnt werden.<br />
• Zur Vermeidung etwaiger Streitigkeiten über den Inhalt oder die Umstände einer Vernehmung oder<br />
das konkrete Verhalten des Vernehmenden soll es sich anbieten, dass der Vernehmende am Ende der<br />
Vernehmung erklärt, dass die Aufzeichnung die Vernehmung vollständig und richtig wiedergibt.<br />
Nicht (ausdrücklich) geregelt sind in § 136 Abs. 4 StPO Protokollierungsfragen. Es gelten also die<br />
allgemeinen Regeln mit der Folge, dass die §§ 168, 168a StPO gelten und von der Beschuldigtenvernehmung<br />
(selbstverständlich) ein Protokoll zu fertigen ist. An der in der Praxis üblichen (Mit-)<br />
Protokollierung durch den Vernehmungsbeamten ist damit festgehalten worden; die Verschriftlichung<br />
der Vernehmung kann aber auch im Nachhinein mithilfe der Videodokumentation erfolgen, was sich<br />
insb. in eilbedürftigen Verfahren – etwa in Haftsachen – anbieten kann (BT-Drucks 18/11277, S. 26).<br />
c) Rechtsmittel<br />
Für die dem Beschuldigten gegen die Anordnung einer Bild-Ton-Aufzeichnung zustehenden Rechtsmittel<br />
kann auf die dem Zeugen gegen die Anordnung einer Videovernehmung zustehenden<br />
Rechtsmittel verwiesen werden (vgl. dazu BURHOFF, EV, Rn 4798). Dabei kann sich der Beschuldigte<br />
nur gegen die Anordnung der Aufzeichnung, nicht aber gegen die Anordnung/Durchführung der<br />
Vernehmung wehren. Letztere kann er nur dadurch „angreifen“, dass er keine Angaben zur Sache macht.<br />
4. Beweisverwertungsverbote<br />
Für Beweisverwertungsverbote gilt: § 136 Abs. 4 StPO ist eine Ordnungsvorschrift, die der Wahrheitsfindung<br />
und dem Schutz der Beschuldigten dient, indem sie die Dokumentation der Beschuldigtenvernehmungen<br />
insb. im Bereich vorsätzlich begangener Tötungsdelikte und bei Schutzbedürftigkeit der<br />
Beschuldigten verbessert. Ist keine Videoaufzeichnung vorhanden, gelten die hergebrachten Grundsätze<br />
für die Feststellung der Einhaltung der Vernehmungsförmlichkeiten im Freibeweisverfahren; der<br />
Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt grds. nicht (statt aller MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., § 136 Rn 23, § 136a<br />
Rn 32). Aus dem Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung kann also nicht der Schluss gezogen werden,<br />
dass die Vernehmungsförmlichkeiten nicht eingehalten wurden oder ihre Einhaltung nicht mehr<br />
feststellbar sei (BT-Drucks 18/11277, S. 27; MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., Rn 20a).<br />
Hinweis:<br />
Auch im Übrigen führt das Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung grds. nicht zur Unverwertbarkeit<br />
der Aussage im weiteren Verfahren, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Voraussetzungen<br />
für eine Aufzeichnung nach § 136 Abs. 4 StPO vorgelegen haben (BT-Drucks 18/11277, S. 27; MEYER-GOßNER/<br />
SCHMITT, a.a.O., § 136 Rn 20a). Das Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung kann aber ggf. Auswirkungen<br />
auf die Beweiswürdigung und den Beweiswert von Angaben des Beschuldigten haben. In der Literatur<br />
wird vertreten (vgl. SINGELNSTEIN/DERIN NJW 2017, 2646, 2649), dass ein Beweisverwertungsverbot zu bejahen<br />
ist, wenn das Unterlassen einer audiovisuellen Aufzeichnung bewusst willkürlich geschehen ist oder<br />
auf einer generellen Weisung beruht.<br />
170 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 10<strong>03</strong><br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
5. Verwendung in der Hauptverhandlung<br />
Das Vorhandensein einer Videoaufzeichnung der Vernehmung des Beschuldigten erlaubt in einer<br />
späteren Hauptverhandlung nicht, dass die Vernehmung des Angeklagten in Person in der<br />
Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 5 S. 3 StPO) durch das Abspielen der Aufzeichnung (s)einer Vernehmung<br />
aus dem Ermittlungsverfahren ersetzt werden kann. Das wäre ein umfassender Beweistransfer aus dem<br />
Ermittlungsverfahren, den die StPO (derzeit) nicht vorsieht. Er ist zudem auch deshalb abzulehnen, weil<br />
das Gericht selbst oder die anderen Verfahrensbeteiligten, wie Staatsanwalt, Verteidiger, Nebenklägervertreter<br />
möglicherweise weitere oder andere Fragen zur Sachverhaltsaufklärung an den Beschuldigten<br />
richten wollen als die frühere Vernehmungsperson (BT-Drucks 18/11277, S. 26).<br />
In der Hauptverhandlung wird die audiovisuelle Aufzeichnung daher wie auch sonst wie ein Protokoll<br />
einer Vernehmung behandelt –„ein qualitativ besseres – weil authentischeres“ (BT-Drucks 18/11277, S. 26).<br />
Das bedeutet, dass immer dann, wenn nach den Regeln der StPO Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes<br />
(§ 250 StPO) zulässig sind, etwa indem die Verlesung der Niederschrift einer<br />
Vernehmung anstelle der Vernehmung des Beschuldigten selbst gestattet ist (vgl. §§ 231a Abs. 1 S. 2, 233<br />
Abs. 2 S. 2 StPO), an die Stelle der Verlesung des schriftlichen Inhaltsprotokolls das Abspielen der<br />
audiovisuellen Aufzeichnung treten kann. Über § 251 Abs. 1 oder 2 StPO kommt – bei Vorliegen der<br />
Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 oder 2 StPO – ggf. das Abspielen der audiovisuellen Aufzeichnung der<br />
Vernehmung eines (früheren) Mitbeschuldigten in Betracht (vgl. insoweit MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O.,<br />
§ 251 Rn 4 m.w.N.). Auch kann ggf. die Vernehmung eines Zeugen durch das Abspielen seiner<br />
Vernehmung als Beschuldigter ersetzt werden (MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O.).<br />
Schließlich kommt das Abspielen der Aufzeichnung einer Vernehmung nach § 254 StPO in Betracht. In<br />
§ 254 StPO ist das durch eine Anpassung des Wortlauts für die Verlesung eines richterlichen Protokolls<br />
eines Geständnisses des Beschuldigten ausdrücklich klargestellt worden.<br />
Zudem können dem Beschuldigten in der Hauptverhandlung Vorhalte aus der Aufzeichnung wie aus<br />
einem Vernehmungsprotokoll gemacht werden. Insoweit gelten die allgemeinen Regeln (BURHOFF,<br />
Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 3720 ff. [im Folgenden kurz:<br />
BURHOFF, HV]).<br />
III.<br />
Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton (§ 58a StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Norm: § 58a StPO<br />
• Sachlicher Geltungsbereich: Vernehmungen<br />
• Verteidigerstrategie: Überprüfung der Verwertbarkeit (vgl. III 5)<br />
1. Neuregelung<br />
Die Möglichkeit der Bild-Ton-Aufzeichnung von Zeugenvernehmungen ist in § 58a StPO vorgesehen.<br />
Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen enthielt die Vorschrift in § 58a Abs. 1 S. 2 StPO a.F. bislang<br />
eine (nur) als Sollvorschrift ausgestaltete Verpflichtung, die Vernehmung als richterliche durchzuführen<br />
und in Bild und Ton aufzunehmen, wenn die schutzwürdigen Interessen der Zeugen dadurch besser<br />
gewahrt werden können (vgl. zur audiovisuellen Vernehmung BURHOFF, EV, Rn 4778 ff. m.w.N.). Die<br />
Vorschrift verfolgt den Zweck, minderjährigen Opferzeugen Mehrfachvernehmungen wegen ihres<br />
hohen Belastungspotenzials im Strafverfahren zu ersparen. Die Vorschrift gilt seit Inkrafttreten des<br />
Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26.6.2013 (StORMG; BGBl I,<br />
S. 1805, auch für erwachsene Opfer der genannten Straftaten, die zur Tatzeit minderjährig waren<br />
(BURHOFF, EV, Rn 4786 ff.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 171
Fach 22, Seite 1004<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Hier haben die Neuregelungen folgende Änderungen gebracht:<br />
• Eingefügt worden ist die Bestimmung des § 58a Abs. 1 S. 3 StPO. Durch ihn wird der Anwendungsbereich<br />
des § 58a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO auf zur Tatzeit erwachsene Opfer von Straftaten gegen die<br />
sexuelle Selbstbestimmung erweitert (zur Kritik u.a. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2019 vom<br />
November 2019, S. 12 f. unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmendeutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf).<br />
• Zudem ist die Verpflichtung zur richterlichen Vernehmung von Zeugen mit Bild-Ton-Aufzeichnung<br />
unter bestimmten Voraussetzungen als Mussvorschrift ausgestaltet worden.<br />
2. Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 58a StPO<br />
Der neue § 58a Abs. 1 S. 3 StPO erweitert den Anwendungsbereich der audiovisuellen Vernehmung auf<br />
zur Tatzeit erwachsene Opfer von Sexualstraftaten. Genannt werden die §§ 174 bis 184j StGB. Der<br />
Gesetzgeber hat diese Gleichstellung zu den (zur Tatzeit) minderjährigen Zeugen gem. § 58a Abs. 1 S. 2<br />
Nr. 1 StPO (BURHOFF, EV, Rn 4790) für erforderlich gehalten, „weil das Schutzbedürfnis erwachsener Opfer<br />
von Sexualstraftaten im Strafverfahren vergleichbar ist mit dem Schutzbedürfnis der Opfer, die zur Zeit des<br />
Strafverfahrens ebenfalls erwachsen sind, jedoch zur Tatzeit minderjährig waren“ (dazu BT-Drucks 19/14747,<br />
S. 25). Sexualstraftaten seien typischerweise mit erheblichen Eingriffen in den Intimbereich des Opfers<br />
verbunden. Opferzeugen seien in der Vernehmung verpflichtet, über ihre Wahrnehmungen auszusagen,<br />
was häufig mit gravierenden seelischen Belastungen verbunden sein könne. Diese besondere Situation<br />
rechtfertige es, die zusätzlich belastenden Mehrfachvernehmungen den erwachsenen Opfern von<br />
Sexualdelikten in gleicher Weise zu ersparen wie den nach gegenwärtiger Rechtslage (zur Tatzeit)<br />
minderjährigen Zeugen.<br />
Hinweis:<br />
Neben der Bild-Ton-Vernehmung nach § 58a Abs. 1 S. 3 StPO bleiben staatsanwaltliche (§ 161a Abs. 1 S. 2<br />
StPO) und polizeiliche (§ 163 Abs. 3 S. 2 StPO) Vernehmungen von Zeugen in Bild und Ton weiterhin nach<br />
§ 58a Abs. 1 S. 1 StPO möglich.<br />
3. „Mussregelung“ in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO<br />
Bisher war in § 58a Abs. 1 S. 2 StPO nur eine Sollregelung für eine richterliche Vernehmung enthalten für<br />
den Fall, dass durch eine richterliche Vernehmung die schutzwürdigen Interessen der in Nr. 1 genannten<br />
Personen besser gewahrt werden können (dazu BURHOFF, EV, Rn 4794). Dies hat das Gesetz geändert. In<br />
Zukunft muss nach § 58a Abs. 1 S. 3 StPO die Vernehmung aufgezeichnet und als richterliche<br />
Vernehmung durchgeführt werden, wenn dadurch die schutzwürdigen Interessen der Zeugen besser<br />
gewahrt werden können.<br />
Im Einzelnen gilt:<br />
• Die Vorschrift gilt nur beim Vorwurf einer Straftat aus dem Katalog der Taten der §§ 174 bis 184j StGB.<br />
• Erfasst werden von der Vorschrift/Regelung (jetzt) auch Erwachsene.<br />
• Unter den Begriff „Personen“ gem. § 58a Abs. 1 S. 3 StPO fallen neben den (neu erfassten) erwachsenen<br />
Zeugen auch Personen unter 18 Jahren.<br />
• Erforderlich ist, dass durch die richterliche Vernehmung die schutzwürdigen Interessen der<br />
genannten Personen besser gewahrt werden können (zur Abwägung s. BURHOFF, EV, Rn 4794<br />
m.w.N.). Insoweit wird von Bedeutung sein, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung „das nach<br />
Berichten der Praxis feststellbare Vollzugsdefizit der bisher als Sollvorschrift ausgestalteten Regelung in diesen<br />
Fällen“ (dazu BT-Drucks 19/14747, S. 25) beheben und mit der Änderung sicherstellen wollte, dass von<br />
der Bild-Ton-Aufzeichnung bei der Ermittlung von Sexualstraftaten umfassend Gebrauch gemacht<br />
wird (BT-Drucks 19/14747, a.a.O.). Mit der Ausgestaltung der Norm als Mussvorschrift soll dieses Ziel<br />
erreicht werden.<br />
172 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1005<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
• Auch nach der Neuregelung muss die Bild-Ton-Aufzeichnung zur Wahrung der schutzwürdigen<br />
Interessen des Zeugen geboten sein. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Vorschrift in aller<br />
Regel keine Anwendung in Alltagsfällen findet (BT-Drucks 19/14747, S. 25 a.E.).<br />
4. Zustimmung/Widerspruch des Zeugen<br />
Durch eine Videovernehmung wird das Persönlichkeitsrecht des Zeugen tangiert. Daher hängt die<br />
Zulässigkeit der Bild-Ton-Aufzeichnung einer Vernehmung in den Fällen des § 58a Abs. 1 S. 3 StPO davon<br />
ab, ob der Zeuge zugestimmt hat.<br />
Hinweis:<br />
Dieses Zustimmungserfordernis des Zeugen wird von einem Widerspruchsrecht des Zeugen sofort nach<br />
der Vernehmung flankiert, das in § 255a Abs. 2 S. 1 StPO geregelt ist.<br />
Die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/14747, S. 26) merkt in dem Zusammenhang an, dass der Richter<br />
den Zeugen über den Umfang seines Widerspruchs belehren sollte, und zwar:<br />
• Er sollte darauf hinweisen, dass sich die Zustimmung des Zeugen vor der Vernehmung beziehungsweise<br />
sein sofortiger Widerspruch nach der Vernehmung stets nur auf die Vorführung der Bild-Ton-<br />
Aufzeichnung gem. § 255a StPO in der Hauptverhandlung bezieht.<br />
• Sie bezieht sich nicht auf die Verwertbarkeit der Aufzeichnung oder gar seiner Aussage insgesamt.<br />
• Der Zeuge ist/bleibt auch bei fehlender Zustimmung hinsichtlich der Vorführung der Bild-Ton-<br />
Aufzeichnung auf Ladung des Gerichts verpflichtet, in der Hauptverhandlung persönlich auszusagen.<br />
Hinweis:<br />
Von der Zustimmung beziehungsweise einem Widerspruch des Zeugen hängt also nur ab, ob seine<br />
persönliche Einvernahme in der Hauptverhandlung durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung<br />
gem. § 255a StPO (dazu BURHOFF, HV, Rn 3700 ff. m.w.N.) ersetzt werden kann.<br />
5. Verfahren/Rechtsmittel<br />
Die Neuregelung hat die Vorschriften betreffend das Verfahren und die Anordnung einer Videovernehmung<br />
nicht geändert. Insoweit kann also auf die Ausführungen bei BURHOFF, EV, Rn 4795 ff.<br />
verwiesen werden.<br />
Hinweis:<br />
Für die Anordnung der Aufzeichnung der richterlichen Vernehmung ist nach § 58a Abs. 1 S. 3 StPO eine<br />
„Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände“ erforderlich. Dabei ist der gesetzgeberische<br />
Zweck der Neuregelung von Bedeutung (dazu BT-Drucks 19/14747, S. 25 und oben III 1). Das führt dazu,<br />
dass in den in § 58a Abs. 1 S. 3 StPO genannten Fällen im Zweifel immer aufgezeichnet werden muss.<br />
Entsprechendes gilt für die Frage der Rechtsmittel. Insoweit wird verwiesen auf BURHOFF, EV, Rn 4798 ff.<br />
IV.<br />
Molekulargenetische Untersuchungen (§ 81e StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Norm: § 81e Abs. 1 StPO<br />
• Sachlicher Geltungsbereich: Spurenmaterial/Material<br />
• Verteidigerstrategie: Beweisverwertungsverbot wegen Einwilligungs-/Richtervorbehalt<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 173
Fach 22, Seite 1006<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
1. Neuregelung<br />
§ 81e StPO ist zuletzt durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des<br />
Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 neu gefasst/präzisiert worden (BURHOFF, EV, Rn 1468 ff. m.w.N.). Bislang<br />
war die Zulässigkeit einer molekulargenetischen Untersuchung nach § 81e Abs. 1 S. 1 StPO nur<br />
hinsichtlich der Erstellung eines DNA-Identifizierungsmusters sowie der Bestimmung der Abstammung<br />
und des Geschlechts erlaubt. Das ist nun in § 81e Abs. 2 S. 2 StPO in bestimmten Fällen erweitert<br />
worden.<br />
2. Regelungsinhalt des § 81e Abs. 2 S. 2 StPO<br />
a) Erweiterung der Untersuchungsumfangs<br />
In § 81e Abs. 2 S. 2 StPO ist der zulässige Untersuchungsumfang von DNA-fähigem Material erweitert<br />
worden, wenn nicht bekannt ist, von wem das Spurenmaterial stammt, es also weder dem Beschuldigten,<br />
noch anderen Personen entnommen wurde.<br />
Hinweis:<br />
Durch eine Erweiterung des § 81g Abs. 5 Ziff. 2StPO um den Hinweis auf § 81e Abs. 2 S. 1 StPO ist zudem<br />
sicher-/klargestellt, dass ein Abgleich des DNA-Identifizierungsmusters mit der beim Bundeskriminalamt<br />
geführten Analysedatei erfolgt sein muss, der nicht erfolgreich gewesen sein darf.<br />
Bei diesen „unbekannten Spurenlegern“ darf nun nicht nur nach dem Geschlecht „gesucht“ werden,<br />
sondern auch nach den Merkmalen Augenfarbe, Haarfarbe, Hautfarbe sowie dem Alter.<br />
b) Verhältnismäßigkeit/allgemeines Persönlichkeitsrecht<br />
Die Regelung in § 81e StPO enthält keine Subsidiaritätsklausel. Vielmehr hängt die Zulässigkeit der<br />
Untersuchung nach § 81e Abs. 1 S. 1 StPO nur davon ab, dass die „Untersuchung zur Erforschung des<br />
Sachverhalts erforderlich“ ist. Wegen dieses weiten Anwendungsbereichs stellt sich damit besonders die<br />
Frage der Verhältnismäßigkeit.<br />
Dazu nimmt die Gesetzesbegründung eingehend Stellung (BT-Drucks 19/14747, S. 26). Die Erweiterung<br />
stelle einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar, der aber in der konkreten Ausgestaltung<br />
verhältnismäßig sei. Das BVerfG habe in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass die Aufklärung<br />
schwerer Straftaten eine wesentliche Aufgabe des Gemeinwesens sei. Dabei gebiete es die<br />
Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege, Straftaten in einem justizförmigen Verfahren zu verfolgen. Der<br />
Verhinderung, Verfolgung und Aufklärung von Straftaten kommt nach dem Grundgesetz eine hohe<br />
Bedeutung zu (s. nur BVerfGE 129, 208, 260). Durch die Erweiterung der Möglichkeiten der DNA-Analyse<br />
wolle man neue Ermittlungsansätze bei bislang ungeklärten Straftaten schaffen und die Wahrheit<br />
möglichst umfassend ermitteln können. Dieses Anliegen liege im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit<br />
und stelle damit einen legitimen Zweck dar (wegen weiterer Einzelheiten der Begründung<br />
zur Verhältnismäßigkeit s. BT-Drucks 19/14747, a.a.O.).<br />
Hinweis:<br />
Untersuchungen einer DNA-Tatort-Spur zur Ermittlung äußerlich erkennbarer Merkmale eines<br />
Spurenlegers, dessen Identität nicht durch einen Treffer beim Abgleich des DNA-Identifizierungsmusters<br />
ermittelt werden konnte, sind zwar grds. geeignet, die Ermittlungen ggf. voranzubringen<br />
und den (wahren) Sachverhalt aufzuklären. Das bedeutet aber nicht, dass diese Maßnahmen nun<br />
in allen Fällen zulässig wären. Sofern die Maßnahme im konkreten Einzelfall gleichwohl unverhältnismäßig<br />
wäre, darf sie auch künftig – wie schon nach früherem Recht – nicht durchgeführt werden.<br />
Darauf weist die Gesetzesbegründung ausdrücklich hin (BT-Drucks 19/14747, a.a.O.).<br />
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Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1007<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
3. Verfahren/Rechtsmittel/Beweisverwertungsverbote<br />
Das Gesetz hat weitere Änderungen in den §§ 81a ff. StPO nicht vorgenommen. Das bedeutet, dass sich<br />
hinsichtlich des Verfahrens zur Entnahme des Vergleichsmaterials, der Anordnung der Untersuchung,<br />
der Vernichtung und der Verwendung des Untersuchungsergebnisses nichts geändert hat. Es gelten<br />
daher nach wie vor die Ausführungen bei BURHOFF, EV, Rn 1468 ff., insb. Rn 1490 ff.<br />
Hinweis:<br />
Auch die Ausführungen zu sich ggf. ergebenden Beweisverwertungsverboten gelten entsprechend<br />
(BURHOFF, EV, Rn 1518 m.w.N.).<br />
V. Telefonüberwachung (§ 100a StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Norm: § 100a Abs. 1 StPO<br />
• Sachlicher Geltungsbereich: Telefonüberwachung/Ermittlungsmaßnahmen<br />
• Verteidigerstrategie: Beweisverwertungsverbote<br />
1. Neuregelung<br />
Bisher konnte eine Telefonüberwachung nach § 100a StPO in Diebstahlsfällen nur angeordnet werden,<br />
wenn es um einen Bandendiebstahl nach § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB und schweren Bandendiebstahl nach<br />
§ 244a StGB ging. Dies ist nun in § 100a Abs. 2 Nr. 1 Buchst. j um die Fälle des Wohnungseinbruchdiebstahls<br />
nach § 244 Abs. 4 StGB erweitert worden (zur Kritik u.a. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/<br />
2019 vom November 2019, S. 13 unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellung<br />
nahmen-deutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf).<br />
Begründet wird diese Verschärfung mit einem Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG (vgl. u.a.<br />
BVerfG NJW 2012, 833, 836; allgemein zur Telefonüberwachung BURHOFF, EV, Rn 3919 ff., zu den<br />
Voraussetzungen Rn 4045 ff.). Danach verfüge der Gesetzgeber „über einen Beurteilungsspielraum bei der<br />
Bestimmung des Unrechtsgehalts eines Delikts und bei der Entscheidung darüber, welche Straftaten er zum Anlass<br />
für bestimmte strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen machen möchte“ (BVerfG, a.a.O.). Der Gesetzgeber<br />
habe sich aber in der vergangenen Legislaturperiode 2017 bewusst dazu entschieden, den Wohnungseinbruchdiebstahl<br />
in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung wegen der mit dem Delikt verbundenen<br />
Verletzung der höchstpersönlichen Privatsphäre als ganz besonders gravierend einzustufen und ihn<br />
dadurch beispielsweise dem Raub gleichgestellt (vgl. 55. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs –<br />
Wohnungseinbruchdiebstahl v. 17.7.2017 – BGBl I, S. 2442). Der Strafrahmen des Wohnungseinbruchdiebstahls<br />
sei aus diesem Grund erheblich angehoben und der Wohnungseinbruchdiebstahl in eine<br />
dauerhaft genutzte Privatwohnung zum Verbrechenstatbestand ausgestaltet worden (wegen der Einzelheiten<br />
zu § 244 Abs. 4 StGB FISCHER, StGB, 66. Aufl. 2019, § 244 Rn 52).<br />
Hinweis:<br />
Der Gesetzgeber sieht das als eine ausreichende Begründung für eine weitere Verschärfung des Rechts<br />
der Telefonüberwachung an. Aber: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verzeichnet für 2017 einen<br />
deutlichen Rückgang der Wohnungseinbrüche. Demnach sank deren Zahl um 23 % auf 116.450 Taten.<br />
Die Aufklärungsquote erhöhte sich zugleich leicht von 16,9 auf 17,8 %. 2015 war mit 167.136 registrierten<br />
Wohnungseinbrüchen ein Höchststand der vergangenen Jahre erreicht worden. Jahrelang hatte die Zahl<br />
der Einbrüche in Deutschland bis dahin zugenommen (https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kriminal<br />
statistik-2018-so-sind-die-sinkenden-einbruchszahlen-zu-erklaeren-a-1206764.html.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 175
Fach 22, Seite 1008<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
2. Verfahren/Rechtsmittel/Beweisverwertungsverbot<br />
a) Allgemeines<br />
Die Verfahrensvorschriften bzw. die Regelungen zu Rechtsmitteln usw. sind nicht geändert worden.<br />
Es kann daher insoweit grds. auf BURHOFF, EV, Rn 3927 ff. verwiesen werden.<br />
Entsprechendes gilt für Beweisverwertungsverbote. Insoweit wird verwiesen auf BURHOFF, EV, 3978 ff.<br />
b) Schwere der Tat im konkreten Einzelfall<br />
Anknüpfungspunkt für die Anordnung einer Telefonüberwachung ist u.a. der Verdacht auf eine der in<br />
§ 100a Abs. 2 StPO genannten Katalogtaten. Es muss sich also um eine der dort bezeichneten „schweren<br />
Straftaten“ handeln. Die Gesetzesbegründung (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 29) weist (zutreffend)<br />
darauf hin, dass die abstrakte Schwere der Straftat jedoch nicht alleiniger Anknüpfungspunkt für die<br />
Prüfung der Rechtmäßigkeit der zu beurteilenden Ermittlungsmaßnahme sein darf. Vielmehr ist die<br />
Rechtmäßigkeit jeder Ermittlungsmaßnahme auch an der Beschränkung des § 100a Abs. 1 Ziff. 2 und 3<br />
StPO zu messen, wonach eine Telekommunikationsüberwachung nur in Fällen angeordnet werden darf, in<br />
denen bei Verdacht einer Katalogtat die Tat auch im Einzelfall besonders schwer wiegt und die Erforschung<br />
des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschuldigten – ohne die Überwachung der<br />
Telekommunikation – wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre (BURHOFF, EV, Rn 4054 ff.).<br />
Die somit erforderliche Einzelfallüberprüfung ist Aufgabe des die Telefonüberwachung anordnenden<br />
Gerichts. Dies muss insb. auch feststellen, dass die Anlasstat auch im Einzelfall schwer wiegt (BURHOFF,<br />
EV, Rn 4055). Dazu gibt die Gesetzesbegründung betreffend die Neuregelung in § 100a Abs. 2 Nr. 1<br />
Buchst. j StPO Folgendes vor (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 28): Insbesondere in Fällen, die im<br />
Schuldgehalt hinter dem Durchschnitt gewöhnlicher Fälle des Wohnungseinbruchsdiebstahls in<br />
Privatwohnungen i.S.d. § 244 Abs. 4 StGB zurückbleiben, z.B. weil die Privatsphäre der Geschädigten<br />
nicht intensiv beeinträchtigt wurde, soll dies regelmäßig nicht der Fall sein (BT-Drucks 19/14747, a.a.O.).<br />
Anders soll dies aber nach Auffassung der Gesetzesbegründung insb. dann der Fall sein, wenn weitere<br />
bestimmte Indizien darauf hinweisen, dass sich der Beschuldigte nicht nur im Einzelfall, sondern in einer<br />
Mehrzahl von Fällen serienmäßig nach § 244 Abs. 4 StGB strafbar gemacht haben könnte. Anknüpfend<br />
an die serienmäßige Begehungsweise stehe – so die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/14747, a.a.O.) –<br />
zu erwarten, dass in diesen Fällen der Täter vermehrt Absatz für sein wiederholt anfallendes Diebesgut<br />
suchen wird. Die Kontaktanbahnung mit etwaigen Käufern wie auch die Abwicklung dieser Geschäfte<br />
mittels Telekommunikation könnten hierbei Ansatzpunkte für die Aufklärung der Einbruchstaten und<br />
die Überführung des Täters sein, auch wenn keine Anhaltspunkte für eine gewerbsmäßige Hehlerei oder<br />
eine bandenmäßige Begehungsweise vorliegen.<br />
Hinweis:<br />
Letzteres ist m.E. nur insoweit überzeugend, als sicherlich eine serienmäßige Begehungsweise die „Schwere“<br />
der Tat erhöhen kann, aber: § 244 Abs. 4 StGB will gerade den Eingriff in die persönliche Privatsphäre des<br />
Betroffenen besonders sanktionieren. Damit hat eine serienmäßige Begehungsweise nichts tun.<br />
3. Befristung der Änderung<br />
Für die Neuregelung ist in Art. 2 und Art. 10 S. 2 des Gesetzes eine Befristung vorgesehen. Nach Art. 2 des<br />
Gesetzes wird nämlich die Einfügung bzw. die Erweiterung des Straftatenkatalogs um „Wohnungseinbruchdiebstahl<br />
nach § 244 Abs. 4“ gem. Art. 10 S. 2 des Gesetzes am 12.12.2024 wieder gestrichen.<br />
Begründet wird das damit, dass die Ausweitung des Katalogs in § 100a Abs. 2 StPO auf eine Tat, die von<br />
einem Einzeltäter begangen werden kann und die nicht notwendig in einem Zusammenhang mit<br />
Telekommunikation steht, unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Verhältnismäßigkeit des Eingriffs<br />
in das Grundrecht aus Art. 10 GG sensibel sei (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 42). Sie soll daher zunächst<br />
befristet werden, um dem Gesetzgeber Gelegenheit zu geben, ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Vielleicht<br />
wäre es besser gewesen, dies vorab zu tun.<br />
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