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ZAP-2020-03

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

3 <strong>2020</strong><br />

5. Februar<br />

32. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />

Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />

Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

„Was ist Ihr Interesse?“ –Zur Struktur einer Mediation (S. 113)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Bundestag entscheidet über Organspenden (S. 115) • Haftungsfragen beim Einsatz von Künstlicher<br />

Intelligenz (S. 119) • Nutzung von Online‐Mediation (S. 120)<br />

Aufsätze<br />

Börstinghaus, Kündigung von Wohnraummietverträgen: Formalien (Teil 1) (S. 127)<br />

Geißinger, Die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen (S. 151)<br />

Burhoff, Modernisierung des Strafverfahrens – Ermittlungsverfahren (S. 165)<br />

Rechtsprechung<br />

OLG Düsseldorf: Richter als Halter eines Dieselfahrzeugs der Abgasnorm Euro 5 (S. 123)<br />

BGH: Beschleunigtes anwaltliches Vorgehen (S. 124)<br />

OLG Bremen: Schlag mit einem Mobiltelefon (S. 125)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 113–114<br />

Anwaltsmagazin – – 115–120<br />

Rechtsprechung 1 15–20 121–126<br />

Börstinghaus, Kündigung von Wohnraummietverträgen:<br />

Die Formalien und Rechtsfolgen (Teil 1) 4 1843–1866 127–150<br />

Geißinger, Die Beschäftigung schwerbehinderter<br />

Menschen – Rechte und Pflichten nach § 164 SGB IX 18 1707–1720 151–164<br />

Burhoff, Modernisierung des Strafverfahrens – Teil 1:<br />

Ermittlungsverfahren 22 997–1008 165–176<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />

Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />

Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • PräsSG a.D. RA<br />

Dr. Klaus Louven, Geldern • Dr. David Markworth, Köln •RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann,<br />

Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt<br />

Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr.<br />

Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

„Was ist Ihr Interesse?“ –Zur Struktur einer Mediation<br />

Viele Kollegen glauben, dass die Mediation, genau<br />

wie die Suche nach Ansprüchen und deren Durchsetzung<br />

im rechtlichen Verfahren, eine intellektuelle<br />

Disziplin ist. Meine Hypothese aus 30 Jahren<br />

Erfahrung mit Konfliktlösungen mit Macht, Recht<br />

und Interessenausgleich ist eine andere: Ob man<br />

Mediation versteht und anwendet, hat nichts mit<br />

intellektueller, sondern hat mit geistiger Intelligenz<br />

zu tun. Wenn noch die Vorstellung dominant ist,<br />

dass sämtliche Konflikte nur mit Gewalt gelöst<br />

werden können, kennt man nur Macht als Konfliktlösungsmittel.<br />

Wenn schon erkannt wurde,<br />

dass allgemeingültige Vereinbarungen helfen können,<br />

glaubt man an Recht und staatliche Macht als<br />

Durchsetzungsmittel. Wer zusätzlich dazu schon<br />

erfahren hat, dass äußere Konflikte die Tendenz<br />

haben, Spiegelbild innerer Konflikte zu sein, gibt<br />

dem Interessenausgleich in der Form der Mediation,<br />

des Coachings oder der Therapie den Vorzug.<br />

Das Mediationsverfahren folgt den von GRAWE/<br />

ROTH (GRAWE, Neuropsychotherapie, Göttingen<br />

2004; ROTH/RYBA, Coaching, Beratung und das<br />

Gehirn: Neurobiologische Grundlagen wirksamer<br />

Veränderungskonzepte, Stuttgart 2016) formulierten<br />

Phasen wirksamer Verhaltensveränderung:<br />

Der Mediator baut zuerst die mediative Allianz<br />

auf, aktiviert das Problem emotional, ermittelt die<br />

motivationale Struktur der Beteiligten, findet Ressourcen,<br />

welche beide motivationalen Strukturen<br />

befriedigen können, und verknüpft das Problem<br />

mit Ressourcen zur Lösung.<br />

Die mediative Allianz (Vertrauen, Rapport) baut<br />

der Mediator in der Opening-Phase auf, genau wie<br />

wir Anwälte beim Erstgespräch: Ich selbst muss<br />

glauben, dass ich dem Mandanten helfen kann und<br />

will. Der Mandant sollte daran glauben, dass ich<br />

ihm helfen kann, und beide sollten wir daran<br />

glauben, dass das Recht das richtige Konfliktlösungsmittel<br />

ist. Was hier v.a. hilft ist, sich einfühlen<br />

zu können. Wir sollten in der Lage sein, die<br />

Erzählung unseres Mandanten emotional nachzuvollziehen.<br />

Können wir das nicht, laufen wir<br />

Gefahr, dass es zu keinem Mandatsverhältnis<br />

kommt oder uns unsere Mandanten nicht vertrauen<br />

und uns deshalb nur benutzen.<br />

In der Positionen-Phase geht es darum, dass die<br />

Parteien erklären, was ihr Problem ist. Das<br />

Problem ist meistens der andere, der nicht das<br />

tut, was „ich“ möchte. Das ist identisch mit der<br />

von uns behaupteten Verletzung des Anspruchs<br />

unseres Mandanten.<br />

In der Interessen-Phase, die im rechtlichen Prozess<br />

etwa der Beweismittelphase entspricht, geht es in<br />

der Mediation nicht darum, Beweismittel für die<br />

richterliche Entscheidungsgrundlage zu bezeichnen,<br />

sondern herauszufinden, aus welchem inneren<br />

Beweggrund (Motiv, Interesse, Wert) die Parteien<br />

ihre Forderungen stellen. Nicht das „äußere Gesetz“<br />

ist die Leitlinie der Konfliktlösung, sondern das<br />

„innere Gesetz“. Die Entwicklungspsychologen gehen<br />

davon aus, dass dies dann möglich ist, wenn die<br />

äußeren Gesetze in die Psyche integriert und<br />

transformiert sind. Solche Leitlinien können das<br />

authentische Interesse nach Freiheit, Sicherheit,<br />

Anerkennung, Macht, Harmonie, Intensität, Integrität,<br />

Fürsorge oder Neugier sein. Es geht um<br />

Wahrhaftigkeit und Würde und nicht mehr unbedingt<br />

um Ehre und Wahrheit.<br />

Hier trennen sich nun die Wege: Im juristischen<br />

Verfahren suchen wir Ansätze zur Lösung in der<br />

Außenwelt (Recht), in der Mediation sucht man<br />

diese in der Innenwelt (Psyche, Geist, Seele). Wer<br />

noch der Meinung ist, dass das alles „irrationaler<br />

Humbug“ sei, hat zur Mediation im Moment noch<br />

keinen Zugang. Wir Anwälte sind in dieser Sicht-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 113


Kolumne<br />

<strong>ZAP</strong><br />

weise übrigens nicht die „Interessenvertreter“ unserer<br />

Mandanten, sondern die „Anspruchsvertreter“.<br />

Der Mediator versucht hier, nicht wie wir Anwälte,<br />

den Richter von der Richtigkeit oder Wahrheit der<br />

Forderungen zu überzeugen, sondern die Medianden<br />

anzuregen, sich in einem Selbstfindungsprozess<br />

gegenseitig von der Wahrhaftigkeit der vorgeschlagenen<br />

Interessen zu überzeugen und diese<br />

miteinander neu zu verknüpfen, sodass Lösungen<br />

entstehen.<br />

Zur Illustration der Interessen-Phase ein prozessual<br />

vereinfachtes Beispiel: In einem arbeitsrechtlichen<br />

Prozess behaupte ich als Anwalt des Arbeitgebers,<br />

dass der Arbeitnehmer Grund zur fristlosen Entlassung<br />

geboten hat, da er sich mit den Untergebenen<br />

gegen die Vorgesetzten solidarisiert und<br />

damit sein Vertrauen verspielt hat. Der Kollege<br />

bestreitet dies. Der Richter bittet uns, unsere<br />

Ansprüche zu beweisen. Der Mediator würde den<br />

Mandanten des Kollegen fragen, was er verlieren<br />

würde, wenn er sich nicht mit den Untergebenen<br />

solidarisiert hätte, und dieser meint, dass dann der<br />

Erfolg des Projekts gefährdet gewesen wäre, da die<br />

Untergebenen über bedeutend mehr Sachverstand<br />

verfügen würden als die Vorgesetzten. Mein Mandant<br />

meint, dass er ein solches Vorgehen nicht<br />

zulassen könne, da dies den Arbeitsfrieden im<br />

Unternehmen gefährden würde.<br />

Der Mediator arbeitet heraus, dass es dem Arbeitnehmer<br />

um den Erfolg des Projekts (Anerkennung)<br />

geht und meinem Mandanten um die<br />

Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens im Unternehmen<br />

(Harmonie und Sicherheit).<br />

In der anschließenden Optionen-Phase werden<br />

zahlreiche Möglichkeiten gesucht, die beiden Interessen<br />

entsprechen und diese noch besser erfüllen<br />

als die jeweils gestellten Forderungen. Ein gemeinsames<br />

höheres Interesse, eine gemeinsame Mission<br />

oder Vision befördern diesen Prozess. Im<br />

soeben dargestellten Fall geht es sowohl meinem<br />

Mandanten als auch dem Arbeitnehmer um den<br />

Erfolg (Anerkennung) des Unternehmens. In der<br />

Lösungs-Phase werden sodann aus den gefundenen<br />

Möglichkeiten diejenigen ausgewählt, welchen<br />

beide zustimmen können.<br />

In unserem Fall könnten die beiden Parteien<br />

beschließen, von der fristlosen Kündigung Abstand<br />

zu nehmen, den Arbeitnehmer stattdessen in<br />

einem Start-up einzusetzen und ihm einen Teil<br />

des Lohns in Aktienoptionen auszuzahlen. Damit<br />

wird das Interesse meines Mandanten nach Frieden<br />

im Unternehmen entsprochen und der Arbeitnehmer<br />

kann seinen hohen Anspruch an Team-work<br />

und Erfolg im Start-up ausleben. Beide tragen sie<br />

so zum Erfolg des Gesamtunternehmens bei.<br />

Im rechtlichen Prozess würde der Richter vielleicht<br />

meinem Mandanten Recht geben und<br />

dieser sieht sich als Gewinner. Der Arbeitnehmer<br />

stellt sein Wissen und Können einer anderen<br />

Firma zur Verfügung und diese übernimmt mit<br />

dem dort entwickelten Produkt fünf Jahre später<br />

die Marktführerschaft. Pech gehabt.<br />

Die Mediation unterscheidet sich von einem<br />

rechtlichen Konfliktlösungsweg v.a. im dritten<br />

und vierten Schritt: Anstatt dass die Lösung des<br />

Konflikts im Gesetz gesucht wird, wird sie in der<br />

Psyche der am Konflikt Beteiligten gefunden. Das<br />

ist ein Paradigmenwechsel wie der Übergang von<br />

der Konfliktlösung durch Macht zu der durch<br />

Recht: Die Lösung des Konflikts besteht im Recht<br />

nicht mehr darin, dass der Stärkere den Schwächeren<br />

körperlich besiegt, sondern darin, dass<br />

sein Vorgehen im Einklang mit dem Recht steht.<br />

Wichtig für uns Anwälte ist daher eine genaue<br />

Analyse unserer Mandantschaft, da nur ca. 20 %<br />

der erwachsenen Bevölkerung, wollen wir Entwicklungspsychologen<br />

Glauben schenken, bereits<br />

in dieser Phase denken, fühlen und handeln.<br />

Die anderen 80 % wollen entweder ihre Macht<br />

durchsetzen, Recht haben oder Erfolg. Für die<br />

Macht-Mandanten sind wir nicht zuständig. Für<br />

die Recht-Haber ist der Rechtsprozess das richtige<br />

Tool, für die Erfolgs-Sucher das Verhandeln oder<br />

aber neue Verfahren, die unter dem Begriff Legal<br />

Tech subsumiert werden. Letzteren ist es wichtiger,<br />

dass der Konflikt erfolgreich, d.h., unter einem<br />

minimalen Einsatz von Geld, Zeit und Manpower,<br />

gelöst wird, als vom Richter Recht zu erhalten.<br />

Zukunft haben wir als Anwälte vermutlich dann,<br />

wenn wir uns entweder in einem dieser Konfliktlösungsgebiete<br />

(Recht, Legal Tech, Mediation)<br />

spezialisieren oder auf allen drei Hochzeiten<br />

einmal Tango, einmal Techno und einmal Freestyle<br />

tanzen können.<br />

Rechtsanwalt und Wirtschaftsmediator<br />

ADRIAN SCHWEIZER, Gersau (Schweiz)<br />

114 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Anwaltsmagazin<br />

Freiberufler sehen optimistisch in<br />

die Zukunft<br />

Das Geschäftsklima in der gewerblichen Wirtschaft<br />

hat sich seit längerem eingetrübt – nicht<br />

so jedoch bei den freien Berufen. Diese blicken<br />

nach wie vor unverzagt in die Zukunft. Dies<br />

meldete kürzlich der Bundesverband der Freien<br />

Berufe e.V. (BFB) nach Auswertung seiner Konjunkturumfrage<br />

Winter 2019. Der BFB hatte im<br />

vierten Quartal 2019 rund 800 Freiberufler zur<br />

Einschätzung ihrer aktuellen wirtschaftlichen Lage,<br />

der voraussichtlichen Geschäftsentwicklung in<br />

den kommenden sechs Monaten, ihrer Personalplanung<br />

und Kapazitätsauslastung befragt.<br />

Danach liegt das Geschäftsklima in den freien<br />

Berufen über vergleichbaren Indizes der gewerblichen<br />

Wirtschaft und hebt sich vom allgemeinen,<br />

eher pessimistischen Trend ab. Ihre aktuelle<br />

Geschäftslage schätzen 45,4 % der befragten<br />

Freiberufler als gut ein, 43,6 % als befriedigend<br />

und 11 % als schlecht. Verglichen mit den Vorjahreswerten<br />

hellt sich die Stimmung damit durchaus<br />

etwas auf: Im Winter 2018 beurteilten 47,7 %<br />

der Befragten ihre Lage als gut, 39,4 % als<br />

befriedigend und 12,9 % als schlecht. Alle Freiberufler-Gruppen<br />

sehen ihre Situation mehrheitlich<br />

als günstig: Die Freiberufler im technisch-naturwissenschaftlichen<br />

Bereich sind am zufriedensten,<br />

verhaltener sind die rechts-, steuer- und wirtschaftsberatenden<br />

Freiberufler, die freien Heilberufe<br />

und die freien Kulturberufe.<br />

„Die Freien Berufe sind auch weiterhin unverzagt. Die<br />

Lageanalyse fällt über alle Berufsgruppen hinweg insgesamt<br />

gut aus. Neun von zehn der befragten Freiberufler<br />

sind mit ihrer aktuellen Situation zufrieden. Auch<br />

der kurzfristige Trend ist positiv, allerdings ist hier eine<br />

gewisse Skepsis abzulesen, was auch darin gründet, dass<br />

die Stimmung in der übrigen Wirtschaft vernehmlich<br />

abflaut“, fasste der Präsident des BFB, Prof. Dr. EWER,<br />

die Ergebnisse der neuesten Umfrage zusammen.<br />

Interessant ist, dass jeder zehnte Befragte damit<br />

rechnet, binnen zwei Jahren noch mehr Mitarbeiter<br />

zu haben als jetzt. Acht von zehn Freiberuflern<br />

wollen ihre Mitarbeiterzahl zumindest halten.<br />

Allerdings gestaltet sich die Personalplanung zusehends<br />

schwieriger. Es zeigt sich damit, dass der<br />

Fachkräftemangel auch bei den Freien Berufen<br />

eindeutige Spuren hinterlässt und die Mitarbeiterbindung<br />

noch dringlicher macht. Die Nachfrage<br />

nach freiberuflichen Dienstleistungen ist jedenfalls<br />

ungebrochen. Für 31,6 % der Befragten ist sie jetzt<br />

schon zu hoch, sie gehen mit ihren Kapazitäten<br />

bereits übers Limit. „Diese Zahlen unterstreichen, dass<br />

die Freien Berufe ein Zukunftssektor sind und ihre<br />

wissensbasierten Dienstleistungen ein hohes Wachstumspotenzial<br />

haben“, erklärte Prof. Dr. EWER.<br />

Bundestag entscheidet über<br />

Organspenden<br />

[Quelle: BFB]<br />

Die Bereitschaft, Organe nach dem eigenen Tod<br />

zu spenden, soll in Zukunft regelmäßiger erfragt<br />

werden. Das hat der Deutsche Bundestag am<br />

16. Januar beschlossen und sich damit für die sog.<br />

Zustimmungslösung entschieden. Künftig soll<br />

eine Erklärung zur Organspende auch in Ausweisstellen<br />

möglich sein. Außerdem sollen Hausärzte<br />

die Patienten ermuntern, eine Entscheidung<br />

zu dokumentieren.<br />

Eine Gruppe von Abgeordneten des Deutschen<br />

Bundestags um ANNALENA BAERBOCK und KATJA<br />

KIPPING hatte den Gesetzentwurf eingebracht.<br />

Auch ein Gesetzentwurf zur sog. Widerspruchslösung,<br />

den eine weitere Gruppe von Abgeordneten<br />

um Bundesgesundheitsminister JENS SPAHN<br />

und Prof. Dr. KARL LAUTERBACH eingebracht hat,<br />

stand zur Abstimmung. Dieser sah vor, jeden zum<br />

potenziellen Organspender zu erklären, der nicht<br />

zuvor widersprochen hatte.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 115


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Nach dem jetzt vom Bundestag beschlossenen<br />

Konzept bleibt die derzeit geltende Rechtslage<br />

(sog. Entscheidungslösung) in ihrem Kern unverändert,<br />

d.h. eine Organspende ist grds. nur dann<br />

möglich, wenn der mögliche Organspender zu<br />

Lebzeiten eingewilligt hat oder sein nächster<br />

Angehöriger zugestimmt hat. Ziel ist es, die persönliche<br />

Entscheidung zu registrieren, verbindliche<br />

Information und bessere Aufklärung zu gewährleisten<br />

und die regelmäßige Auseinandersetzung<br />

mit der Thematik zu fördern.<br />

Das Gesetz hat zudem folgende Eckpunkte:<br />

• Die Einrichtung eines bundesweiten Online-<br />

Registers beim Bundesinstitut für Arzneimittel<br />

und Medizinprodukte.<br />

• Die Ausweisstellen von Bund und Ländern müssen<br />

den Bürgerinnen und Bürgern zukünftig<br />

Aufklärungsmaterial und Organspendeausweise<br />

aushändigen bzw. bei elektronischer Antragsstellung<br />

elektronisch übermitteln. Dabei wird auf<br />

weitere Informations- und Beratungsmöglichkeiten<br />

sowie die Möglichkeit, sich vor Ort oder<br />

später in das Online-Register einzutragen, hingewiesen.<br />

• Hausärzte können künftig bei Bedarf ihre<br />

Patientinnen und Patienten alle zwei Jahre<br />

über die Organ- und Gewebespende ergebnisoffen<br />

beraten. Das Gesetz sieht außerdem vor,<br />

die Organ- und Gewebespende verstärkt in<br />

der ärztlichen Ausbildung zu verankern.<br />

• Grundwissen zur Organspende soll auch in den<br />

Erste-Hilfe-Kursen im Vorfeld des Erwerbs der<br />

Fahrerlaubnis vermittelt werden.<br />

Das Gesetz wird zwei Jahre nach seiner Verkündung<br />

in Kraft treten, voraussichtlich im ersten<br />

Quartal 2022.<br />

[Quelle: BMG]<br />

Strafverschärfung beim sog.<br />

Cybergrooming beschlossen<br />

Der Deutsche Bundestag hat am 17. Januar einen<br />

Gesetzentwurf gegen das sog. Cybergrooming<br />

beschlossen. Täter sollen damit noch effektiver<br />

verfolgt werden können, wenn sie mit dem Ziel<br />

im Netz unterwegs sind, sexuellen Missbrauch<br />

oder die Herstellung von Kinderpornografie anzubahnen.<br />

Künftig ist auch der Versuch strafbar,<br />

d.h., wenn die Täter nur glauben, mit einem Kind<br />

zu kommunizieren, tatsächlich aber mit verdeckten<br />

Ermittlern oder den Eltern Kontakt haben.<br />

Als Cybergrooming wird bezeichnet, wenn Täter<br />

im Internet nach ihren Opfern suchen. Der Begriff<br />

leitet sich ab vom englischen Anbahnen oder<br />

Vorbereiten und steht für unterschiedliche Handlungen,<br />

die einen sexuellen Missbrauch vorbereiten<br />

und durch ein strategisches Vorgehen von<br />

Tätern und Täterinnen gegenüber Mädchen und<br />

Jungen gekennzeichnet sind.<br />

Sexuelle Missbrauchstaten werden oft im Schatten<br />

der Anonymität des Netzes angebahnt. Täter<br />

geben sich in Sozialen Netzwerken wie Snapchat<br />

oder Instagram oder auch in Chatfunktionen von<br />

Online-Spielen oft selbst als Kinder aus und versuchen,<br />

mit Kindern in Kontakt zu kommen. Sie<br />

versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen, manipulieren<br />

ihre Wahrnehmung, verstricken sie in Abhängigkeit<br />

und sorgen dafür, dass sie sich niemandem<br />

anvertrauen. Das vollendete Delikt kann heute<br />

schon nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB bestraft werden.<br />

Künftig werden auch die Fälle strafrechtlich erfasst,<br />

in denen der Täter lediglich glaubt, auf ein Kind<br />

einzuwirken, tatsächlich aber mit einem Erwachsenen<br />

kommuniziert, etwa mit einem Elternteil<br />

oder einem verdeckten Ermittler. Im Laufe des<br />

Gesetzgebungsverfahrens wurde der Entwurf noch<br />

um einen Punkt ergänzt. Danach wird den Strafverfolgungsbehörden<br />

künftig unter engen Voraussetzungen<br />

erlaubt, computergenerierte kinderpornografische<br />

Bilder zu verwenden. Dadurch<br />

sollen sich die Ermittler auch Zugang zu den<br />

geschlossenen Foren verschaffen können. Voraussetzung<br />

dafür ist eine richterliche Genehmigung.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

EuGH-Generalanwalt stärkt Verbot<br />

der Vorratsdatenspeicherung<br />

Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof<br />

(EuGH) MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA hat mit<br />

seinen Schlussanträgen zu mehreren anhängigen<br />

Verfahren, die die Vorratsdatenspeicherung in<br />

Frankreich, Großbritannien und Belgien betreffen,<br />

die Vorbehalte gegen eine anlasslose Datenspeicherung<br />

weiter bekräftigt. In seinen Ausführungen,<br />

die die EuGH-Entscheidung in den Verfahren<br />

C-623/17 C-511/18, C-512/18 und C-520/18 vorbereiten,<br />

vertritt er die Auffassung, dass der Staat auch<br />

zum Zweck der Terrorbekämpfung enge Grenzen<br />

beachten muss. Die Rechtsansicht des Generalanwalts<br />

bindet den EuGH zwar nicht, der Gerichtshof<br />

folgt ihnen jedoch in den meisten Fällen.<br />

116 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Nach Auffassung von CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA<br />

verstoßen die aktuellen Regelungen in Frankreich,<br />

Großbritannien und Belgien gegen die EuGH-<br />

Rechtsprechung, wonach eine anlasslose Speicherung<br />

der Verbindungsdaten nicht mit EU-<br />

Recht vereinbar ist. Für Fälle, in denen es um die<br />

Kriminalitätsbekämpfung oder die nationale Sicherheit<br />

geht, hält er allenfalls eine „begrenzte<br />

und differenzierte“ Speicherung für zulässig; auch<br />

müsse in solchen Fällen der Zugang zu den<br />

gespeicherten Daten der Kontrolle, etwa durch<br />

ein Gericht, unterliegen. Lediglich für außergewöhnliche<br />

Gefahrenlagen, z.B. eine unmittelbar<br />

bevorstehende Bedrohung, die die offizielle Erklärung<br />

des Notstands rechtfertigen könnte, hält<br />

der Generalanwalt eine weitergehende Vorratsdatenspeicherung<br />

für zulässig.<br />

In ersten Kommentaren wird die Stellungnahme<br />

des EuGH-Generalanwalts als Stärkung auch des<br />

Anwaltsgeheimnisses gewertet. Sollte sich der<br />

EuGH der in den Schlussanträgen geäußerten<br />

Rechtsauffassung anschließen, dürfte – so Beobachter<br />

– auch die deutsche Gesetzgebung zur<br />

Vorratsdatenspeicherung, die seinerzeit von der<br />

Anwaltschaft stark bekämpft worden ist, auf der<br />

Kippe stehen. Denn gegen die deutschen Regelungen<br />

zur Vorratsdatenspeicherung in §§ 113a, b<br />

TKG sind derzeit sowohl mehrere Verfassungsbeschwerden<br />

in Karlsruhe als auch – nach<br />

Vorlage durch das BVerwG – ein Verfahren vor<br />

dem EuGH anhängig. Dessen Entscheidung wird<br />

noch im Laufe dieses Jahres erwartet. Wendet<br />

man die vom Generalanwalt dargelegten Rechtsgrundsätze<br />

auf Deutschland an, so die Kommentatoren,<br />

müssten zwangsläufig auch die hiesigen<br />

Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung für EUrechtswidrig<br />

erklärt werden.<br />

[Red.]<br />

E-Mail-Kommunikation mit den<br />

Mandanten<br />

Seit dem 1. Januar gilt der neu gefasste § 2 BORA,<br />

wonach der Rechtsanwalt dem Mandanten – nach<br />

einem Hinweis auf die Risiken – auch unverschlüsselte<br />

E-Mails schicken darf, falls dieser zuvor<br />

ebenfalls unverschlüsselt an den Anwalt gemailt<br />

hatte (vgl. zu dieser Neuregelung auch<br />

Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 2019, 533).<br />

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat nun darauf<br />

aufmerksam gemacht, dass diese rein berufsrechtliche<br />

Regelung nicht die Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung<br />

(DSGVO) außer Kraft<br />

setzt, die ebenfalls Sicherheitsanforderungen an<br />

die EDV in der Kanzlei formuliert und mit empfindlichen<br />

Geldbußen bei Verstößen droht. Die<br />

Vorgaben der DSGVO seien deshalb auch von<br />

jedem Anwalt zu beachten. Auch bei Zustimmung<br />

des Mandanten in eine bestimmte Kommunikationsform<br />

müsse der Anwalt bei seinen E-Mail-<br />

Antworten die „nach dem Datenschutzrecht erforderlichen<br />

Schutzmaßnahmen ergreifen“. Damit seien vor<br />

allem die Schutzstandards der IT-Sicherheit gemeint<br />

(vgl. dazu etwa die Hinweise der BRAK unter<br />

https://www.brak.de/fuer-anwaelte/datenschutz). Ungeklärt,<br />

so die Experten des DAV, sei jedoch die<br />

Frage, ob unverschlüsselte E-Mails „überhaupt<br />

unter der DSGVO zulässig“ sind. Dies sei auch unter<br />

Datenschützern umstritten.<br />

Fazit: Ein Rechtsanwalt, der unverschlüsselte<br />

Mails verschickt, ist zwar ggf. vor berufsrechtlichen<br />

Sanktionen sicher, nicht jedoch vor etwaigen<br />

Bußgeldern nach der DSGVO. So bleibt im<br />

Interesse der Anwälte nur zu hoffen, dass hier<br />

bald eine Klarstellung herbeigeführt wird, notfalls<br />

durch den Gesetzgeber.<br />

[Red.]<br />

EU will gegen den „Gender Pay Gap“<br />

vorgehen<br />

Die EU-Kommission hat angekündigt, demnächst<br />

mit Gesetzgebungsmaßnahmen gezielt gegen die<br />

Lohnungleichheit von Männern und Frauen in den<br />

EU-Mitgliedstaaten vorzugehen. Sie veröffentlichte<br />

Anfang Januar eine erste Folgenabschätzung der<br />

geplanten Maßnahmen („Inception Impact Assessment“)<br />

und kündigt baldige Gesetzgebungsaktivität<br />

zur Stärkung der Lohngleichheit von Frauen und<br />

Männern durch mehr Transparenz bei der Entlohnung<br />

an.<br />

Die EU-Kommission ist überzeugt, dass es sich<br />

positiv auf die Durchsetzung des Grundrechts auf<br />

Gleichbehandlung auch im Entlohnungsbereich<br />

auswirkt, wenn es künftig einen verbesserten<br />

Zugang zu Informationen über das Lohnniveau<br />

sowie ein besseres Verständnis einiger bestehen-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 117


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

der Rechtskonzepte und eine Verbesserung der<br />

Durchsetzungsmechanismen in den EU-Rechtsvorschriften<br />

gibt.<br />

Die neue Initiative geht auf einen schon mehrere<br />

Jahre alten Aktionsplan der EU-Kommission zur<br />

Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles<br />

sowie auf Schlussfolgerungen des Rates<br />

und wiederholte Forderungen des EU-Parlaments<br />

zurück. Auch die neue Kommissionspräsidentin<br />

URSULA VON DER LEYEN hat sich in ihren politischen<br />

Leitlinien verpflichtet, verbindliche Maßnahmen<br />

zur Lohntransparenz einzuführen. Noch bis Anfang<br />

Februar sollen Stellungnahmen von Verbänden<br />

eingeholt werden, bevor weitere gesetzgeberische<br />

Schritte eingeleitet werden.<br />

[Quelle: EU-Kommission]<br />

Neue PKH-Freibeträge zum 1.1.<strong>2020</strong><br />

Mit der Prozesskostenhilfebekanntmachung <strong>2020</strong><br />

(BGBl I, S. 2942) wurden die neuen Einkommensfreibeträge<br />

nach § 115 ZPO zur Berechnung der<br />

Prozesskosten- und Beratungshilfeberechtigung<br />

festgelegt. Diese sind bei allen Entscheidungen<br />

über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe ab<br />

dem 1. Januar maßgeblich, auch wenn der Antrag<br />

bereits 2019 gestellt wurde.<br />

Danach betragen die ab dem 1.1.<strong>2020</strong> maßgebenden<br />

Beträge, die nach § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1<br />

Buchst. b und Nr. 2 ZPO vom Einkommen der<br />

Partei abzusetzen sind,<br />

1. für Parteien, die ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />

erzielen (§ 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 Buchst. b<br />

ZPO): 228 €,<br />

2. für die Partei und ihren Ehegatten oder ihren<br />

Lebenspartner (§ 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 Buchst. a<br />

ZPO): 501 €,<br />

3. für jede weitere Person, der die Partei aufgrund<br />

gesetzlicher Unterhaltspflicht Unterhalt<br />

leistet, in Abhängigkeit von deren Alter (§ 115<br />

Abs. 1 S. 3 Nr. 2 Buchst. b ZPO):<br />

a) Erwachsene: 400 €,<br />

b) Jugendliche vom Beginn des 15. bis zur<br />

Vollendung des 18. Lebensjahrs: 381 €,<br />

c) Kinder vom Beginn des siebten bis zur<br />

Vollendung des 14. Lebensjahrs: 358 €,<br />

d) Kinder bis zur Vollendung des sechsten<br />

Lebensjahrs: 289 €.<br />

[Quelle: BMJV]<br />

Bundesrat will höhere<br />

Haftentschädigung<br />

Seit längerem setzt sich die Anwaltschaft dafür<br />

ein, dass die Haftentschädigung für zu Unrecht<br />

Inhaftierte deutlich angehoben wird. So fordert<br />

etwa der Deutsche Anwaltverein (DAV), dass die<br />

immaterielle Entschädigung für Justizopfer von<br />

derzeit 25 € auf einen Betrag von mindestens<br />

100 € pro Hafttag anzuheben ist.<br />

Anspruch auf eine Entschädigung haben z.B. Untersuchungsgefangene,<br />

deren Verfahren eingestellt<br />

wird oder die freigesprochen werden. Auch<br />

nach einer rechtskräftigen Verurteilung können<br />

Betroffene Haftentschädigung bekommen, wenn<br />

ein Wiederaufnahmeverfahren mit Freispruch<br />

oder Aufhebung der Strafe endet. Die fiskalische<br />

Belastung bei einer Anhebung wie vom DAV<br />

gefordert wäre für den Haushalt bzw. den Steuerzahler<br />

verglichen mit anderen sozialen Ausgaben<br />

eine vernachlässigbare Größe. Der Wert von Freiheit<br />

lasse sich, so der Verein, materiell nicht<br />

quantifizieren. Habe der Staat einem Menschen<br />

diese Freiheit zu Unrecht entzogen, müsse er<br />

versuchen, diesen Verlust zumindest symbolisch<br />

aufzuwiegen. Die derzeitige Entschädigungshöhe<br />

in Deutschland von 25 € sei jedoch deutlich niedriger<br />

als jene in anderen Ländern und bilde im<br />

europäischen Vergleich sogar das Schlusslicht.<br />

Offenbar haben die Appelle der Anwaltschaft in der<br />

Politik Gehör gefunden. Nachdem sich zunächst die<br />

Justizministerkonferenz im Herbst 2017 für eine<br />

Erhöhung der Haftentschädigung ausgesprochen<br />

hatte, ohne sich jedoch auf einen konkreten Betrag<br />

festzulegen, schlugen einige Bundesländer in einer<br />

Länderinitiative eine Erhöhung auf 50 € vor. Dieser<br />

Antrag stand nun am 20.12.2019 in der letzten<br />

Sitzung vor dem Jahresende auf der Tagesordnung<br />

des Bundesrates. Dort einigte man sich auf eine<br />

Anhebung auf 75 €. Dieser Betrag geht noch über<br />

die Länderinitiative hinaus, erreicht jedoch nicht die<br />

Forderung etwa des DAV.<br />

Der Bundesrat begründet seinen Entschluss damit,<br />

dass die letzte Anpassung der Entschädigung<br />

für den immateriellen Schaden einer Freiheitsentziehung<br />

2009 erfolgt sei. Daher sei aus seiner<br />

Sicht jetzt eine Erhöhung dringend geboten, wie<br />

es in dem Beschluss der Länderkammer heißt. Der<br />

Gesetzentwurf ist bereits an die Bundesregierung<br />

gesandt worden, die dazu nun eine Stellung-<br />

118 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

nahme formulieren kann. Anschließend muss<br />

sich noch der Bundestag mit dem Ländervorschlag<br />

befassen.<br />

[Quelle: Bundesrat]<br />

Haftungsfragen beim Einsatz von KI<br />

Künstliche Intelligenz (kurz: KI) hält in immer mehr<br />

Bereichen der Industrie und des Dienstleistungssektors<br />

Einzug. Bereits heute bedienen sich etwa<br />

Banken, Versicherungen und Internet-Dienste diesen<br />

fortgeschrittenen Technologien, ohne dass die<br />

Kunden viel davon merken. Anwendungen der<br />

Zukunft, etwa das autonome Fahren, sind ohne<br />

den Einsatz von KI gar nicht denkbar. Auch der<br />

Rechtsberatungsmarkt wird davon nicht unberührt<br />

bleiben, wie bereits die aktuell angebotenen sog.<br />

Legal-Tech-Dienstleistungen zeigen.<br />

Noch steckt diese Technologie in den Anfängen;<br />

aber bereits jetzt wird ihr Einsatz auch rechtlich<br />

hinterfragt, nicht nur bei der Zulässigkeit der<br />

Angebote – im Rechtsmarkt etwa mit Blick auf<br />

das Rechtsdienstleistungsgesetz –, sondern auch<br />

bei der Haftung. Die einzelnen nationalen Regelungen<br />

zum Haftungsrecht sind lange vor der<br />

Entwicklung der KI entstanden und auch auf der<br />

EU-Ebene gibt es derzeit nur die Produkthaftungsrichtlinie.<br />

Diese Situation war im Sommer 2018 Anlass für die<br />

EU-Kommission, zuoffenen Haftungsfragen beim<br />

Einsatz von KI eine Expertengruppe einzusetzen.<br />

Sie sollte erforschen, ob das derzeit geltende EU-<br />

Recht angesichts der neuen Technologien noch<br />

ausreichend ist, oder ob Handlungsbedarf besteht.<br />

Die Ergebnisse der Expertengruppe wurden von der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer kürzlich vorgestellt.<br />

Danach kommt die Expertengruppe in ihrem<br />

Bericht („Liability for artificial intelligence and other<br />

emerging digital technologies“) zu dem Schluss, dass<br />

Handlungsbedarf besteht. Zwar würden die geltenden<br />

Haftungsregelungen in den Mitgliedstaaten<br />

zumindest für einen Grundschutz für Schäden, die<br />

im Zusammenhang mit neuen Technologien entstanden<br />

sind, sorgen. Allerdings könnten aufgrund<br />

der spezifischen Charakteristika dieser KI-Technologien,<br />

wie etwa der Fähigkeit, selbstständig zu<br />

lernen, oftmals keine angemessenen Ergebnisse bei<br />

Anwendung der bestehenden Regelungen in Schadensfällen<br />

erzielt werden. Ferner hänge es aufgrund<br />

der unterschiedlichen Ausgestaltung der Produkthaftungsregeln<br />

in den Mitgliedstaaten auch davon<br />

ab, in welchem Land ein Opfer Kompensation für<br />

seine Schäden fordere. Es mangele an einer kohärenten<br />

und angemessenen Antwort der Rechtssysteme<br />

auf spezifische Bedrohungen für Individuen.<br />

Insbesondere erhielten die Opfer von Schäden<br />

durch neuen Technologien im Vergleich zu Opfern<br />

von Schäden, die durch Menschen oder herkömmliche<br />

Technologie entstanden sind, weniger oder<br />

keine Kompensation. Schließlich sei ein effektiver<br />

Zugang zum Recht nicht immer gegeben, da<br />

entsprechende Prozesse für die Opfer oftmals<br />

übermäßig mühsam oder teuer würden.<br />

Zur Lösung dieser Probleme haben die Experten<br />

zwei Ansätze verfolgt: Der eine geht in Richtung<br />

einer verschuldensunabhängigen, der andere in<br />

Richtung einer fehlerbasierten Haftung. Die Expertengruppe<br />

schlägt beispielsweise vor, eine<br />

„strict liability“ für Personen einzuführen, die KI-<br />

Anwendungen mit erhöhtem Schadensrisiko führen.<br />

Wenn ein Diensteanbieter ein höheres Maß an<br />

Kontrolle hat, als der Nutzer der Anwendung, soll<br />

dies bei der Zurechnung berücksichtigt werden.<br />

Eine Person, die eine KI-Anwendung mit einem<br />

gewissen Maß an Autonomie führt, soll nicht<br />

anders behandelt werden als wenn der Schaden<br />

durch einen menschlichen Helfer entstanden wäre.<br />

Auch wer eine Anwendung führt, der kein erhöhtes<br />

Risiko innewohnt, sollte dazu verpflichtet sein,<br />

die Technologie sorgfältig auszuwählen, zu überwachen,<br />

zu führen und instand zu halten und<br />

schließlich bei Verstößen dagegen haftbar sein.<br />

Hersteller von Produkten oder digitalen Inhalten<br />

sollen für Fehler haften, auch wenn diese auf<br />

Veränderungen, die nach Inverkehrbringen unter<br />

ihrer Kontrolle durchgeführt wurden, entstanden<br />

sind. Ihre verschuldensunabhängige Haftung soll<br />

einen grundlegenden Bestandteil bei der Kompensation<br />

von Schäden darstellen. Wo Dritte der<br />

Gefahr von Schäden ausgesetzt sind, soll eine<br />

verpflichtende Versicherung eingeführt werden.<br />

Die neuen Technologien sollen weiter mit einer<br />

Protokollierungsmöglichkeit ausgestattet sein, so<br />

dass Informationen zum Ablauf ihrer Funktionen<br />

gespeichert werden. Ein Fehler hierbei soll zu einer<br />

Umkehrung der Beweislast führen. Grundsätzlich<br />

soll zwar weiterhin das Opfer beweisen müssen,<br />

wodurch sein Schaden entstanden ist, davon soll es<br />

aber Ausnahmen und Erleichterungen geben, wo<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 119


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

die spezifischen Eigenschaften der neuen Technologien<br />

die Beweisführung erschweren würden.<br />

Eine bislang umstrittene Frage haben die Experten<br />

eindeutig beantwortet: Von der Einführung<br />

einer eigenen Rechtspersönlichkeit für Künstliche<br />

Intelligenz raten sie ab.<br />

[Red.]<br />

Rechtssicherheit für WLAN-<br />

Anbieter<br />

Die vor zwei Jahren in Kraft getretenen Änderungen<br />

am Telemediengesetz haben nach Aussagen<br />

von Marktteilnehmern nur bedingt zu mehr<br />

Rechtssicherheit beim Anbieten von WLAN-Verbindungen<br />

geführt. Dies geht aus dem als Unterrichtung<br />

vorgelegten Bericht der Bundesregierung<br />

zum Dritten Gesetz zur Änderung des<br />

Telemediengesetzes hervor. Auch wenn sich die<br />

Rechtslage für WLAN-Betreiber in der Praxis<br />

insgesamt beruhigt habe, sei nur ein „leichtes<br />

Durchatmen“ bei den WLAN-Betreibern zu verspüren,<br />

„da sich die Rechtsunsicherheit lediglich<br />

verlagert habe“, zitiert die Bundesregierung darin<br />

aus Einschätzungen von Zugangsvermittlern.<br />

Die Kritik zielt darauf ab, dass weiterhin unklar<br />

sei, wann eine Haftung entfalle (zweifelnd<br />

bereits seinerzeit LANGE Kolumne <strong>ZAP</strong> 2016,<br />

1151 f.). Der Gesetzgeber, so die Kritiker, habe<br />

nicht hinreichend konkretisiert, welche Sicherheitsmaßnahmen<br />

WLAN-Betreiber ergreifen<br />

müssen. Auch von Seiten der Rechteinhaber<br />

und der Zugangsanbieter gibt es Detailkritik an<br />

der derzeitigen Rechtslage. Verlässliche Zahlen,<br />

wie sich die Zahl der WLAN-Geräte und Hotspots<br />

in Deutschland nach der Gesetzesänderung<br />

entwickelt habe, gebe es nicht, erklärt die<br />

Bundesregierung weiter. Sowohl von den Zugangsvermittlern<br />

als auch von den Rechteinhabern<br />

werde zumindest vorgetragen, dass fast<br />

jedes neu auf den Markt kommende elektronische<br />

Gerät WLAN-fähig und ein Ausbau der<br />

Hotspots in Deutschland zu verzeichnen sei.<br />

Die Bundesregierung will das Gesetz vorerst<br />

nicht ändern. Sie werde die Entwicklung der<br />

Rechtsprechung weiter aufmerksam verfolgen<br />

und mit den beteiligten Kreisen deren praktische<br />

Auswirkungen erörtern, erklärte sie in ihrem<br />

Bericht.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Nutzung von Online-Mediation<br />

Die Bundesregierung geht davon aus, dass die<br />

zunehmende Gewöhnung an Online-Kommunikation<br />

und Entwicklungen wie die Online-Streitschlichtung<br />

für eine zunehmende Akzeptanz und<br />

Nutzung auch von Online-Mediation sorgen<br />

werden. Das teilte sie kürzlich in einer Antwort<br />

auf eine Kleine Anfrage im Bundestag mit (BT-<br />

Drucks 19/14014). Allerdings dürfte es sich hier um<br />

eine langfristige Entwicklung handeln, heißt es<br />

darin weiter. So sei für den Bereich der Mediation<br />

derzeit noch zu konstatieren, dass in den meisten<br />

Fällen nur Teile des Mediationsverfahrens online<br />

durchgeführt würden, während insb. die zentrale<br />

Phase der Mediation im Regelfall bei persönlicher<br />

Anwesenheit der Beteiligten erfolge.<br />

Wie die Bundesregierung weiter ausführt, legt die<br />

Zertifizierte-Mediatoren-Ausbildungsverordnung<br />

lediglich Mindeststandards für die Aus- und Fortbildung<br />

sowie für Aus- und Fortbildungseinrichtungen<br />

fest. Das Bundesministerium der Justiz und<br />

für Verbraucherschutz (BMJV) plane – nicht zuletzt<br />

aus Anlass des Evaluationsberichts zum Mediationsgesetz<br />

– für das Jahr <strong>2020</strong> einen Kongress mit<br />

allen Interessierten, um sich darüber auszutauschen,<br />

wie die Mediation in Deutschland nachhaltig<br />

gefördert werden könne. In diesem Rahmen werde<br />

auch die Frage erörtert werden, ob die Mediationslandschaft<br />

in Deutschland ausreichend auf<br />

die Digitalisierung und den damit einhergehenden<br />

Wandel vorbereitet ist. [Quelle: Bundestag]<br />

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[Red.]<br />

120 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 15<br />

Rechtsprechung<br />

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Allgemeines Zivilrecht<br />

Mietwagenkosten: Arithmetisches Mittel aus Fraunhofer-Liste und Schwacke-Liste<br />

(OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 28.11.2019 – 7 U 39/19) • Mietwagenkosten sind nur im Umfang des<br />

günstigsten Vergleichsangebots auf dem örtlich relevanten Markt erstattungsfähig. Gesondert in<br />

Rechnung gestellte weitere Leistungen wie Winterreifen, Zustellung und Abholung des Ersatzfahrzeugs,<br />

weiterer Fahrer, Anhängerkupplung und Navigationsgerät sind dem arithmetischen Mittel aus den<br />

Tabellen von Fraunhofer und Schwacke nur dann zuzuschlagen, sofern sie i.R.d. streitgegenständlichen<br />

Anmietung auch tatsächlich angefallen sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 48/<strong>2020</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Dieselskandal: Einbau eines Thermofensters<br />

(OLG Koblenz, Urt. v. 9.12.2019 – 12 U 555/19) • Angesichts einer als nicht unzweifelhaft und nicht eindeutig<br />

einzustufenden europarechtlichen Gesetzeslage kann der Einbau eines „Thermofensters“ durch den<br />

Hersteller eines mit einem Dieselmotor ausgestatteten Fahrzeugs nicht als sittenwidrige Schädigung des<br />

Fahrzeugerwerbers bewertet werden. Übersteigt die Laufleistung des Fahrzeugs die durchschnittlich zu<br />

erwartende Gesamtlaufleistung von 250.000 km, zehrt die anzurechnende Nutzungsentschädigung einen<br />

eventuell bestehenden Schadenersatzanspruch des Fahrzeugkäufers in vollem Umfang auf. Hinweis: Das<br />

OLG bestätigt seine bisherige Rechtsprechung; im Verfahren ging es um einen Mercedes-Benz A 180 CDI.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 49/<strong>2020</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Untervermietungserlaubnis: Folgen eines Widerrufs<br />

(LG Berlin, Urt. v. 30.10.2019 – 64 S 36/19) • Der Hauptmieter ist nicht allein deswegen berechtigt, ein mit<br />

Erlaubnis des Hauptvermieters begründetes unbefristetes Untermieterverhältnis nach § 573 Abs. 1 BGB zu<br />

kündigen, weil der Hauptvermieter die Untervermietungserlaubnis wirksam widerrufen hat. Liegen die<br />

Voraussetzungen der §§ 549 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2, 573a Abs. 2 BGB für eine erleichterte Kündigung des<br />

Untermietverhältnisses nicht vor und kann der Hauptmieter sich mangels konkreter Absicht, die Mieträume<br />

wieder selbst zu bewohnen, auch nicht auf berechtigten Eigenbedarf stützen, so bleibt seine Kündigung ohne<br />

Erfolg. Die mit dem wirksamen Widerruf der Untervermietungserlaubnis begründete Pflicht des Hauptmieters,<br />

die Untervermietung zu beenden, vermag auch nicht deswegen ein sonstiges berechtigtes Interesse<br />

an der Beendigung des Untermietverhältnisses i.S.d. § 573 Abs. 1 BGB zu begründen, weil ihm bei Fortsetzung<br />

der Untervermietung die Kündigung des Hauptmietverhältnisses drohte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 50/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 121


Fach 1, Seite 16 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Vereinbarung eines neuen Preises nach der VOB/B: Mengenmehrung<br />

(BGH, Urt. v. 21.11.2019 – VII ZR 10/19) • Der Anspruch auf Vereinbarung eines neuen Preises nach § 2 Abs. 3<br />

Nr. 2 VOB/B setzt nach dem Wortlaut der Klausel nur voraus, dass die ausgeführte Menge den im Vertrag<br />

angegebenen Mengenansatz um mehr als 10 % überschreitet und eine Partei die Vereinbarung eines neuen<br />

Preises verlangt. Dagegen ergibt sich aus § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B nicht, dass eine auf die Mengenmehrung<br />

kausal zurückzuführende Veränderung der im ursprünglichen Einheitspreis veranschlagten Kosten<br />

Voraussetzung für den Anspruch auf Vereinbarung eines neuen Preises ist (Anschluss an BGH, Urt.<br />

v. 8.8.2019 – VII ZR 34/18, BauR 2019, 1766 = NZBau 2019, 706). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 51/<strong>2020</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Grunddienstbarkeit: Erneute Anlage<br />

(BGH, Urt. v. 12.7.2019 – V ZR 288/17) • Die Berechtigung aus einer Grunddienstbarkeit, eine Anlage auf<br />

dem dienenden Grundstück mitzubenutzen, bezieht sich bei nächstliegender Auslegung regelmäßig<br />

nicht nur auf die bei der Bestellung des Rechts vorhandene, sondern auch auf eine erneuerte Anlage.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 52/<strong>2020</strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Kapitalanlageberatung: Zurechnung<br />

(BGH, Urt. v. 21.11.2019 – III ZR 244/18) • Der Schutzzweck einer Auskunfts- oder Beratungspflicht ist<br />

nicht stets auf den ersten Erwerb einer Anlage auf der Grundlage der Empfehlung begrenzt. Es steht den<br />

Vertragsparteien frei, auch größere oder unbestimmte Risiken einzugehen. Insofern kann der<br />

Schutzzweck haftungserweiternd wirken. Deshalb können auch spätere Anlageentscheidungen, die<br />

der Anleger auf der Grundlage der pflichtwidrig erteilten Empfehlung, jedoch ohne erneute Beratung/<br />

Vermittlung trifft, dem Berater oder Vermittler zuzurechnen sein. Hinweis: In diesem Fall legte der<br />

Kläger Geld bei einem Rechtsanwalt an. Nachdem dieser verstorben war, wurde über seinen Nachlass<br />

ein Insolvenzverfahren eröffnet, in welchem einer Masse von rd. 400.000 € Forderungen im Umfang<br />

von über 8 Mio. Euro gegenüberstehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 53/<strong>2020</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Linksabbieger: Überhöhte Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten<br />

(LG Saarbrücken, Urt. v. 30.12.2019 – 13 S 66/19) • Ereignet sich beim Linksabbiegen eines Pkw ein<br />

Verkehrsunfall mit einem sich auf einer bevorrechtigen Straße mit überhöhter Geschwindigkeit von links<br />

nähernden Motorrads, so steht der festgestellte Geschwindigkeitsverstoß der Annahme eines gegen den<br />

Linksabbieger sprechenden Anscheinsbeweises jedenfalls dann nicht entgegen, wenn der Motorradfahrer für<br />

den Abbiegenden in der Annäherung erkennbar war. Hinweis: Vorliegend stand nach gutachterlichen<br />

Darlegungen ein Geschwindigkeitsverstoß des Vorfahrtsberechtigten von mindestens 61 km/h bis zu 75 km/h<br />

fest. Der Geschwindigkeitsverstoß entlastete den Wartepflichtigen aber nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 54/<strong>2020</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Krankenversicherung: Medizinische Notwendigkeit einer In-vitro-Fertilisation<br />

(BGH, Urt. v. 4.12.2019 – IV ZR 323/18) • Für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer Invitro-Fertilisation<br />

(IVF) mit intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) sind deren Erfolgsaussichten<br />

grds. nur am Behandlungsziel der Herbeiführung einer Schwangerschaft zu messen. Hinweis:<br />

Der Kläger des Ausgangsverfahrens leidet an einer Kryptozoospermie und kann auf natürlichem Wege<br />

keine Kinder zeugen; er nahm seinen privaten Krankenversicherer erfolgreich auf Erstattung der Kosten<br />

122 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 17<br />

(ca. 17.500 €) für insgesamt vier Behandlungszyklen einer IVF und anschließenden Embryotransfer in<br />

Anspruch. Grund für die Leistungsablehnung der Krankenversicherung war das Alter der Ehefrau des<br />

Klägers mit 44 Jahren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 55/<strong>2020</strong><br />

Familienrecht<br />

Umgangsverweigerung: Ordnungshaft<br />

(OLG Saarbrücken, Beschl. v. 11.12.2019 – 6 WF 156/19) • Jedenfalls in Fällen nicht ausreichend nachvollziehbarer<br />

und längerer Umgangsverweigerung kann gegen den betreuenden Elternteil zur Durchsetzung<br />

des Umgangs eine Ordnungshaft (hier: fünf Tage) angeordnet werden, wenn die Anordnung eines<br />

Ordnungsgelds keinen Erfolg verspricht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 56/<strong>2020</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Gemeinschaftliches Testament: Fehlende Erbeinsetzung des überlebenden Ehegatten<br />

(OLG München, Beschl. v. 12.11.2019 – 31 Wx 183/19) • Bedenken die Ehegatten in einem gemeinschaftlichen<br />

Testament die gemeinsamen Kinder als Schlusserben und fehlt eine Erbeinsetzung des überlebenden<br />

Ehegatten für den ersten Erbfall, bildet die Verwendung der Begriffe „nach unserem Tod“ und „wir“ keine<br />

hinreichende Andeutung für einen entsprechenden Willen der Ehegatten für eine Erbeinsetzung des<br />

überlebenden Ehegatten (Anschluss an BGH BGHZ 80, 242; OLG München FG Prax 2013, 72). Das<br />

Nachlassgericht kann einen entsprechenden Willen der Ehegatten bei der Errichtung der Verfügung<br />

unterstellen, ohne diesen zuvor im Wege der Beweisaufnahme zu ermitteln, wenn es für den unterstellten<br />

Willen im Testament keine hinreichende Andeutung zu erkennen vermag (Anschluss an BGH NJW 2019,<br />

2317, 2319). Hinweis: Die Ehegatten errichteten ein von ihnen eigenhändig ge- und unterschriebenes<br />

Testament, in dem es auszugsweise heißt: „Wir (Ehemann) und (Ehefrau) wollen, dass nach unserem Tod das<br />

Haus unser Sohn bekommt.“ Angesichts dieser Formulierung ist die Entscheidung des OLG zumindest<br />

diskussionswürdig. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 57/<strong>2020</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Dieselskandal: Richter als Halter eines Dieselfahrzeugs der Abgasnorm Euro 5<br />

(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3.12.2019 – I-3 U 78/18) • Dass der Vorsitzende eines Zivilsenats selbst Halter<br />

eines Dieselfahrzeugs der Abgasnorm Euro 5 ist, er das ihm vom Hersteller angebotene Aufspielen eines<br />

Software-Updates nach Beratung mit dem Anwalt eines Verkehrsclubs wegen zu besorgender<br />

negativer Folgen abgelehnt hat und er aktuell eine Inanspruchnahme des Herstellers prüft, rechtfertigt<br />

weder die Selbstablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit noch ein Befangenheitsgesuch<br />

desselben Herstellers als Beklagter in einem vor dem Senat geführten Rechtsstreit, in dem der<br />

Käufer eines vom sog. Abgasskandal betroffenen Fahrzeugs Ansprüche gegen Verkäufer und Hersteller<br />

geltend macht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 58/<strong>2020</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Insolvenzrechtliche Verwertungsrechte: Garantieansprüche<br />

(BGH, Urt. v. 14.11.2019 – IX ZR 50/17) • Ein Kostenbeitrag setzt voraus, dass der Insolvenzverwalter eine<br />

Verwertung kraft seines Verwertungsrechts aus § 166 InsO vornimmt oder hätte vornehmen können.<br />

Kommt der Insolvenzverwalter mit der Auskehr des Erlöses in Verzug, schuldet er Verzugszinsen. Verzug<br />

mit der Auskehr des Erlöses tritt i.d.R. nicht ohne Mahnung ein. Hinweis: Der BGH ist der Ansicht, dass<br />

eine Aufrechnung mit Ansprüchen aus § 170 Abs. 1 S. 1 InsO auf eine Verwertungskostenpauschale in<br />

diesem Fall ins Leere geht. Die Inanspruchnahme einer Bundesgarantie ist kein Bestandteil der gem. § 166<br />

Abs. 2 InsO vorgenommenen Verwertung der sicherungszedierten Forderungen. Aus dem erzielten Erlös<br />

fällt dementsprechend keine Verwertungskostenpauschale für die Masse an. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 59/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 123


Fach 1, Seite 18 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Zwangsweise Forderungsdurchsetzung: Beschleunigtes anwaltliches Vorgehen<br />

(BGH, Urt. v. 19.9.2019 – IX ZR 22/17) • Ein Rechtsanwalt, der mit der zwangsweisen Durchsetzung einer<br />

Forderung beauftragt worden ist und einen Titel gegen einen Schuldner des Mandanten erwirkt hat, hat<br />

zügig die Zwangsvollstreckung zu betreiben, soweit pfändbares Vermögen bekannt ist oder mit den<br />

Möglichkeiten, welche die Zivilprozessordnung bietet, ermittelt werden kann (Bestätigung von BGH, Urt.<br />

v. 7.9.2017 – IX ZR 71/16, WM 2017, 1938 Rn 11). Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass eine Verzögerung der<br />

Zwangsvollstreckung zum Ausfall des Mandanten führen würde, muss der beauftragte Rechtsanwalt die<br />

Zwangsvollstreckung mit besonderer Beschleunigung betreiben. Er muss dann unter den verfügbaren<br />

Vollstreckungsmöglichkeiten diejenige auswählen, die am schnellsten zu einem Ergebnis führt.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 60/<strong>2020</strong><br />

Handels-/Gesellschaftsrecht<br />

GmbH-Geschäftsführer: Teilnehmer einer Straftat<br />

(BGH, Beschl. v. 3.12.2019 – II ZB 18/19) • Das Registergericht hat die Eintragung eines Geschäftsführers<br />

einer GmbH von Amts wegen im Handelsregister zu löschen, wenn eine persönliche Voraussetzung für<br />

dieses Amt gem. § 6 Abs. 2 GmbHG nach der Eintragung entfällt. Auch wer nicht als Täter (§ 25 StGB),<br />

sondern als Teilnehmer (§§ 26, 27 StGB) wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat nach § 6 Abs. 2 S. 2<br />

Nr. 3 GmbHG rechtskräftig verurteilt worden ist, kann nicht Geschäftsführer einer GmbH sein. Hinweis:<br />

Der Geschäftsführer wurde wegen Beihilfe zum Bankrott (§§ 27, 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und anderer Taten<br />

durch Strafbefehl zu einer Gesamtgeldstrafe i.H.v. 90 Tagessätzen verurteilt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 61/<strong>2020</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Irreführung durch Unterlassen: Sicherheitslücken in einem Betriebssystem<br />

(OLG Köln, Urt. v. 30.10.2019 – 6 U 100/19) • Der Tatbestand der Irreführung durch Unterlassen gem. § 5a<br />

Abs. 2 S. 1 Nr. 1 UWG ist nicht erfüllt, wenn der Verkäufer eines internetfähigen Mobiltelefons den<br />

Verbraucher nicht darauf hinweist, dass das Betriebssystem Sicherheitslücken aufweist und Sicherheitsupdates<br />

für das Betriebssystem nicht zu erwarten sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 62/<strong>2020</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Rechtsmittelverfahren: Anforderungen an eine Revisionsbegründung<br />

(BAG, Beschl. v. 18.11.2019 – 4 AZR 105/19) • Eine Revisionsbegründung muss den angenommenen<br />

Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs<br />

erkennbar sind. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der angefochtenen<br />

Entscheidung. Der Revisionsführer muss darlegen, warum er die Begründung des Berufungsgerichts für<br />

unrichtig hält. Allein die Darstellung anderer Rechtsansichten ohne jede Auseinandersetzung mit den<br />

Gründen des Berufungsurteils genügt den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Revisionsbegründung<br />

ebenso wenig wie die Wiedergabe des bisherigen Vorbringens (st. Rspr., vgl. etwa BAG, Urt. v. 20.3.2019 –<br />

4 AZR 595/17, Rn 10; v. 9.9.2015 – 7 AZR 190/14, Rn 9 m.w.N.). Hinweis: Es reicht nicht aus, wenn der<br />

Revisionsführer die tatsächlichen und/oder rechtlichen Würdigungen des Berufungsgerichts lediglich mit<br />

formelhaften Wendungen rügt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 63/<strong>2020</strong><br />

Sozialrecht<br />

Nichtzulassungsbeschwerde: Bezeichnung einer Abweichung<br />

(BSG, Beschl. v. 25.10.2019 – B 9 SB 40/19) • Die Bezeichnung einer Abweichung i.S.v. § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG<br />

setzt die Darlegung voraus, dass das LSG die Rechtsprechung des BSG im angefochtenen Urteil infrage<br />

stellt, was nicht der Fall ist, wenn es einen höchstrichterlichen Rechtssatz missverstanden oder übersehen<br />

und deshalb das Recht fehlerhaft angewendet haben sollte (st. Rspr., z.B. BSG, Beschl. v. 24.7.2019 – B5R<br />

124 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 19<br />

31/19 B, juris Rn 51; BSG, Beschl. v. 25.9.2002 – B 7 AL 142/02 B, SozR 3-1500 § 160a Nr. 34 S. 73). Hinweis:Im<br />

Rahmen einer Divergenzrüge muss vertieft darauf eingegangen werden, dass das LSG im angefochtenen<br />

Urteil nicht lediglich die Tragweite der höchstrichterlichen Rechtsprechung verkannt, sondern dieser<br />

Rechtsprechung bewusst einen eigenen Rechtssatz entgegengesetzt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 64/<strong>2020</strong><br />

Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />

Dieselskandal: Klagerecht von Umweltverbänden<br />

(VG Schleswig, Vorlagebeschl. v. 20.11.2019 – 3 A 113/18) • Ist Art. 9 Abs. 3 des am 25.6.1998 in Aarhus<br />

unterzeichneten, mit dem Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17.2.2005 im Namen der Europäischen<br />

Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung<br />

an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten i.V.m.<br />

Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahingehend auszulegen, dass es<br />

Umweltvereinigungen grds. möglich sein muss, einen Bescheid vor Gericht anzufechten, mit dem die<br />

Produktion von Diesel-Personenkraftwagen mit Abschalteinrichtungen – möglicherweise unter Verstoß<br />

gegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom<br />

20.6.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten<br />

Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und<br />

Wartungsinformationen gebilligt wird? Hinweis: Das VG hat dem EuGH (unter C-873/19 anhängig) im<br />

Zusammenhang mit dem Dieselskandal u.a. die Frage vorgelegt, ob die Einschränkung des Klagerechts<br />

der Umweltverbände, wenn diese die Rechtswidrigkeit einer Produktzulassung rügen, durch die Änderung<br />

des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes im Jahr 2017 zu Unrecht erfolgte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 65/<strong>2020</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeitenrecht<br />

Schlag mit einem Mobiltelefon: Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeugs?<br />

(OLG Bremen, Urt. v. 27.11.2019 – 1 Ss 44/19) • Ein Schlag mit einem in der flachen Hand gehaltenen<br />

Mobiltelefon in das Gesicht des Opfers ist grds. nicht als eine Körperverletzung mittels eines<br />

gefährlichen Werkzeugs i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu werten, da hiermit nach Beschaffenheit und<br />

der Art seiner Benutzung keine Eignung zur Herbeiführung erheblicher Körperverletzungen festgestellt<br />

werden kann. Eine andere Bewertung kann ggf. dann vorzunehmen sein, wenn der Schlag mit einer<br />

Ecke oder Kante des Telefons ausgeführt wurde. Auch bei einem Schlag mit dem Mobiltelefon, der zu<br />

einer inneren Platzwunde an der Lippe führt, kann für sich genommen nicht davon ausgegangen<br />

werden, dass das Mobiltelefon nach der konkreten Art seines Einsatzes zur Verursachung erheblicher<br />

Verletzungen geeignet war. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 66/<strong>2020</strong><br />

Wiedereinsetzung: Benachrichtigung des Verteidigers<br />

(LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 31.10.2019 – 5/9 Qs OWi 70/19) • Die unterlassene rechtzeitige Benachrichtigung<br />

des Verteidigers von einer Zustellung an den Betroffenen führt dazu, dass ggf. versäumte Frist<br />

schuldlos versäumt worden ist. Denn Zweck der Benachrichtigung ist es, dem Verteidiger die Fristenkontrolle<br />

zu übertragen, worauf sich der Betroffene verlassen darf. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 67/<strong>2020</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Pflichtverteidigervergütung: Nachträgliche Gesamtstrafenbildung<br />

(OLG Bamberg, Beschl. v. 11.6.2019 – 1 Ws 265/19) • Einem Verteidiger steht für seine Tätigkeit im<br />

Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung nach §§ 460, 462 StPO eine Vergütung nach<br />

Nr. 4204, 4205 VV RVG zu. Etwas anderes folgt insb. nicht daraus, dass sich die schon frühere<br />

Beiordnung als Pflichtverteidiger regelmäßig auf das Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung<br />

erstreckt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 68/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 125


Fach 1, Seite 20 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Steuerrecht<br />

Outsourcing von Finanzdienstleistungen: Kein steuerfreier Umsatz<br />

(BFH, Urt. v. 13.11.2019 – V R 30/19) • Es liegt kein nach § 4 Nr. 8 Buchst. d UStG steuerfreier Umsatz vor,<br />

wenn für eine Bank, die Geldausgabeautomaten betreibt, Dienstleistungen erbracht werden, die darin<br />

bestehen, diese Automaten aufzustellen und zu warten, sie mit Bargeld zu befüllen und mit Hard- und<br />

Software zum Einlesen der Geldkartendaten auszustatten, Autorisierungsanfragen wegen Bargeldabhebungen<br />

an die Bank weiterzuleiten, die die verwendete Geldkarte ausgegeben hat, die gewünschte<br />

Bargeldauszahlung vorzunehmen und einen Datensatz über die Auszahlungen zu generieren. Hinweis:<br />

Die Klägerin stellte funktionsfähige Geldausgabeautomaten mit Soft- und Hardware, die mit dem Logo<br />

der Bank versehen waren, an den vorgesehenen Standorten auf und war für den ordnungsgemäßen<br />

Betrieb verantwortlich; sie transportierte das ihr von der Bank zur Verfügung gestellte Bargeld zu den<br />

Geldausgabeautomaten und übernahm die Bargeldbefüllung der Geldausgabeautomaten.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 69/<strong>2020</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Abgeltungsvergleich: Anwaltliche Aufklärungspflichten<br />

(OLG Frankfurt, Urt. v. 3.12.2019 – 8 U 129/18) • Erwägt die Mandantin den Abschluss eines Vergleichs,<br />

muss ihr ihre Rechtsanwältin dessen Vor- und Nachteile darlegen. Dies gilt im besonderen Maße, wenn es<br />

sich um einen Abfindungsvergleich handelt. Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile eines Vergleichsabschlusses<br />

ist der Rechtsanwältin ein Ermessensspielraum zuzubilligen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 70/<strong>2020</strong><br />

Heilung eines Zustellungsmangels: Fax-Zustellung von Anwalt zu Anwalt<br />

(OLG Köln, Urt. v. 15.11.2019 – 6 U 125/19) • Wird eine Ausfertigung einer einstweiligen Verfügung zur<br />

Vollziehung per Telefax an den Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerseite übersandt, kann der<br />

Zustellungsmangel – sollte die Zustellung als fehlerhaft angesehen werden – durch Zugang des gleichen<br />

Telefaxes geheilt sein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 71/<strong>2020</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Außergerichtlich geschlossener Vergleich: Einigungsgebühr<br />

(LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 29.10.2019 – L 7 AS 15/17 B) • Auch außergerichtlich geschlossene<br />

Vergleiche können die Entstehung einer Einigungsgebühr nach Nr. 1006 Abs. 1 i.V.m. Nr. 1005 i.V.m.<br />

Nr. 1000 Abs. 1 S. 1 VV RVG auslösen. Der Entstehung der Einigungsgebühr nach Nr. 1006 Abs. 1 i.V.m.<br />

Nr. 1005 i.V.m. Nr. 1000 Abs. 1 S. 1 VV RVG steht auch nicht entgegen, dass eine außerhalb des gerichtlich<br />

anhängigen Streitgegenstands liegende Streitigkeit in den Vergleich einbezogen worden ist. Es<br />

widerspricht Treu und Glauben nach dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 242 BGB, wenn der<br />

Rechtsanwalt aus der Staatskasse aufgrund der Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter seiner<br />

Beiordnung eine Vergütung (hier: die Einigungsgebühr) fordert, obwohl er ohne hinreichenden<br />

sachlichen Grund den Erstattungsanspruch der Staatskasse nach § 59 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 RVG i.V.m.<br />

§ 126 Abs. 1 ZPO von vornherein unmöglich gemacht hat. Hinweis: Mit dieser Entscheidung bestätigt der<br />

Senat seine Entscheidung vom 3.5.2019 – L 7 AS 12/17 B. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 72/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong>-Service: Die <strong>ZAP</strong> Rechtsprechung kann und soll nur eine stark komprimierte Wiedergabe der Originaltexte sein. Die<br />

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Der Verlag schickt Ihnen bei Bedarf die Volltexte auch zu. Die Kosten hierfür betragen: per Brief 0,50 € je Seite zzgl.<br />

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126 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1843<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Wohnraummietrecht<br />

Kündigung von Wohnraummietverträgen: Die Formalien und Rechtsfolgen<br />

– Teil 1<br />

Von Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Weitere Aufsicht führender RiAG, Gelsenkirchen<br />

Hinweis:<br />

Die Fortsetzung des Beitrags „Kündigung von Wohnraummietverträgen: Die Formalien und Rechtsfolgen<br />

– Teil 2“ lesen Sie demnächst in der <strong>ZAP</strong>!<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Formalien einer Kündigung<br />

1. Absender<br />

2. Adressat<br />

3. Form<br />

4. Zugang<br />

5. Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

Ein Mietverhältnis ist ein Dauerschuldverhältnis, d.h. es ist nicht auf den einmaligen Austausch von<br />

Leistungen gerichtet. Für die Beendigung solcher Verträge gibt es grds. zwei Möglichkeiten: Entweder ist<br />

der Vertrag befristet und endet nach Ablauf der Zeit, für die er eingegangen wurde, oder er wird durch<br />

eine Kündigung beendet. Für Mietverträge ist dies ausdrücklich in § 542 BGB so alternativ bestimmt. Die<br />

Vorschrift gilt für alle Mietverhältnisse und nicht nur für Wohnraummietverträge. Im Wohnraummietrecht<br />

ist der Mietvertrag auf unbestimmte Zeit immer noch die überwiegend vorkommende Vertragsform.<br />

Ein Mietvertrag auf unbestimmte Zeit kann nur durch Kündigung beendet werden. Dabei wird grds.<br />

zwischen drei verschiedenen Kündigungen unterschieden:<br />

• die ordentliche Kündigung, die das Mietverhältnis mit der gesetzlichen oder im Einzelfall auch<br />

vertraglichen Frist beendet;<br />

• die außerordentliche fristlose Kündigung, die das Mietverhältnis regelmäßig nach einem vorwerfbaren<br />

Fehlverhalten mit Zugang der Kündigung beendet;<br />

• die außerordentliche Kündigung mit gesetzlicher Frist, die einer Vertragspartei in bestimmten<br />

Ausnahmefällen eingeräumt wird und das Mietverhältnis regelmäßig mit einer dreimonatigen<br />

Kündigungsfrist beendet.<br />

In diesem Beitrag werden die gemeinsamen formalen Voraussetzungen für die Kündigung und die<br />

Rechtsfolgen einer wirksamen Kündigung dargestellt. Es folgen weitere Beiträge zu den materiellen<br />

Voraussetzungen der außerordentlichen und der ordentlichen Kündigung (zu typischen Fehlern bei der<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 127


Fach 4, Seite 1844<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

Kündigung von Wohnraum s. FLATOW <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 879). Die hier dargestellten Formalien gelten, wenn<br />

nichts anderes vermerkt ist, sowohl für die Kündigung des Vermieters als auch für die Kündigung des<br />

Mieters.<br />

II. Formalien einer Kündigung<br />

Die Kündigung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Um ihre Wirksamkeit entfalten<br />

zu können, muss sie vom richtigen Absender dem richtigen Adressaten in der richtigen Form mit dem<br />

richtigen Inhalt zugehen. Gesetzliche Formvorschriften müssen immer nach ihrem Sinn und Zweck<br />

ausgelegt werden. Sie dürfen nicht zum Selbstzweck verkümmern. Auf der anderen Seite müssen die sich<br />

aus dem Gesetz ergebenden formalen Anforderungen aber in dem Umfang, der für eine sinnvolle und<br />

zweckmäßige Gesetzesanwendung erforderlich ist, auch eingehalten und beachtet werden.<br />

1. Absender<br />

Die Kündigung des Mietverhältnisses kann immer nur durch den Vermieter selbst erfolgen. Der Absender<br />

einer Kündigung muss zum Zeitpunkt der Abgabe (LG Köln WuM 1996, 623; offengelassen von BGH NZM<br />

2015, 487 = NJW 2015, 1749, ob es auf den Zeitpunkt des Zugangs ankommt) der Kündigungserklärung<br />

Vermieter des konkreten Mietvertrags sein. Wenn mehrere Personen Vermieter sind, muss die Kündigung<br />

auch von allen Vermietern erklärt werden. Je nach Art der Kündigung kann das Mietverhältnis dann mit<br />

Zugang der Kündigung beendet sein oder nach Ablauf der gesetzlichen Kündigungsfrist.<br />

a) Person des Vermieters<br />

aa) Einzelperson<br />

Die Parteien eines Mietvertrags werden allein durch den zwischen ihnen geschlossenen Mietvertrag<br />

bestimmt. Ihre Beziehungen zur Mietsache, seien es Eigentums-, Besitz- oder sonstige Nutzungsrechte,<br />

sind unerheblich (KG MDR 1998, 529; LG Berlin GE 1987, 91). Bei Einzelpersonen ist dies verhältnismäßig<br />

leicht festzustellen. Die Kündigung muss deshalb durch den oder die Vermieter oder zumindest im<br />

Namen des Vermieters und nicht im Namen des Grundstückseigentümers abgegeben werden (KG MDR<br />

1998, 529; WuM 1997, 101, 1<strong>03</strong>; LG Berlin ZMR 1997, 358). Stammt die Kündigung nicht vom Vermieter<br />

oder bei Personenmehrheiten von allen Vermietern, ist sie formell unwirksam und löst keine Ansprüche<br />

aus. Eine nachträgliche Genehmigung und damit Heilung des Mangels durch den evtl. Berechtigten ist<br />

nicht möglich.<br />

bb) Personenmehrheiten<br />

Mietvertragspartei sind hier zunächst all die Personen, die im Kopf des Vertrags als Mieter oder<br />

Vermieter aufgeführt sind und die den Vertrag auch unterzeichnet haben. Bei Eheleuten genügt es<br />

dabei, wenn diese im Kopf des Vertrags als „Eheleute“ oder „Herr und Frau“ bezeichnet sind. Die Angabe<br />

des Vornamens ist nicht zwingend erforderlich. Unklarheiten können bei der Vermietung von und an<br />

Eheleute(n) auftreten, wenn die Angaben im Mietvertragskopf nicht identisch sind mit den Personen,<br />

die den Mietvertrag unterschrieben haben. Da dieses Phänomen häufiger auf Mieterseite vorkommt,<br />

s. dazu unten unter II 2 a.<br />

b) BGB-Gesellschaft<br />

Eine im Rechtsverkehr nach außen in Erscheinung tretende Außengesellschaft ist teilrechtsfähig (BGH<br />

NJW 2001, 1056). Sie ist dann Vermieterin und muss selbst als eigene Rechtspersönlichkeit die<br />

Kündigungserklärung abgeben und ihr gegenüber muss auch gekündigt werden. Sind im Mietvertrag<br />

aber die einzelnen Gesellschafter als Mietvertragspartei aufgeführt und fehlt ein Hinweis auf die<br />

gesellschaftsrechtlichen Beziehungen, so muss die Kündigung von allen Personen, die im Mietvertrag als<br />

Vermieter genannt werden, erklärt werden bzw. an alle diese Personen adressiert werden. Wird eine<br />

Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Eigentümerin eines Mehrfamilienhauses und Vermieterin der<br />

Wohnungen dieses Anwesens ist, unter Bildung von Wohnungseigentum und Eintragung der einzelnen<br />

128 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1845<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Gesellschafter als Eigentümer der jeweils zugewiesenen Wohnungen auseinandergesetzt, tritt der neue<br />

Eigentümer in die sich während der Dauer seines Eigentums aus dem Mietverhältnis ergebenden Rechte<br />

und Pflichten ein (BGH WuM 2012, 31 = NZM 2012, 150).<br />

Problematischer ist es bei der reinen Innengesellschaft. Hier sind zunächst die Gesellschafter Absender<br />

und Adressat der Erklärung. Umstritten war lange, welche Auswirkungen in diesem Fall ein Gesellschafterwechsel<br />

hat. Ein Mietvertrag über ein Grundstück, den eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts als<br />

Vermieterin abgeschlossen hat, wird nach einem Gesellschafterwechsel jedenfalls dann ohne Weiteres<br />

mit der Gesellschaft in der neuen personellen Zusammensetzung fortgeführt, wenn die ursprünglichen<br />

Gesellschafter mit einem ihre gesamthänderische Bindung bezeichnenden Vermerk (§ 47 GBO) als<br />

Eigentümer oder Erbbauberechtigte im Grundbuch eingetragen waren (BGH NZM 1998, 260).<br />

Die Kündigung des Mieters braucht nicht allen Gesellschaftern einer BGB-Gesellschaft zuzugehen.<br />

Vielmehr wird bei Passivvertretung eine gegenüber der BGB-Gesellschaft abzugebende Willenserklärung<br />

nach dem auch hier anwendbaren Rechtsgedanken aus § 125 Abs. 2 S. 3 HGB bei Abgabe gegenüber<br />

einem der zur Mitwirkung bei der Vertretung befugten Gesellschafter wirksam (OLG Hamburg WuM<br />

1978, 120 = ZMR 1980, 84).<br />

c) Rechtsnachfolge<br />

aa) Tod des Vermieters<br />

Für den Fall des Todes des Vermieters gilt die allgemeine erbrechtliche Bestimmung über die<br />

Universalrechtsnachfolge gem. § 1922 BGB. Der oder die Erben treten als Vermieter in den Mietvertrag<br />

ein. Mietrechtliche Sondervorschriften z.B. über ein Kündigungsrecht gibt es nicht. Da die Erbengemeinschaft<br />

nicht rechtsfähig ist (BGH NJW 2006, 3715; NJW-RR 2004, 1006; NJW 2002, 3389),<br />

werden alle Mitglieder der Erbengemeinschaft zu Vermietern und müssen die Kündigungserklärung<br />

abgeben/unterschreiben oder sich vertreten lassen.<br />

bb) Veräußerung des Gebäudes<br />

Nach § 566 BGB tritt der Erwerber anstelle des bisherigen Vermieters in das bestehende Mietverhältnis<br />

und alle sich daraus ergebenden Pflichten ein (ausführlich zum Vermieterwechsel durch Grundstücksveräußerung<br />

GATHER <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 401 ff.; BÖRSTINGHAUS NZM 2004, 481). Voraussetzung für die Anwendung<br />

der Vorschrift ist:<br />

• Veräußerung des Grundstücks nach Überlassung der Wohnung (BGH NJW-RR 1989, 77);<br />

• Identität zwischen Veräußerer und Vermieter.<br />

Die Anwendung des § 566 BGB setzt zunächst voraus, dass der Wohnraum aufgrund eines wirksamen<br />

Mietvertrags bereits überlassen worden ist. § 566 BGB findet zugunsten des Mieters nur Anwendung,<br />

wenn er zum Erwerbszeitpunkt die tatsächliche Sachherrschaft über die Mietsache ausübt. Ein<br />

Besitzerlangungsinteresse rechtfertigt den Eintritt des Erwerbers in das Mietverhältnis dagegen nicht<br />

(BGH NZM 2016, 675). Überlassung verlangt Besitzeinräumung, und zwar i.d.R. des unmittelbaren<br />

Besitzes. Hierdurch soll der Erwerber geschützt werden, der nur den Besitz als tatsächlichen Zustand<br />

feststellen kann, aber nicht die Existenz schuldrechtlicher Verträge. Der Abschluss eines Mietvertrags<br />

reicht also nicht aus. Der Vermieter muss dem Mieter gem. § 535 Abs. 1 BGB den vertragsgemäßen<br />

Gebrauch bereits eingeräumt haben. Bei der Wohnraummiete soll nach ganz herrschender Auffassung<br />

hierzu die Überlassung der Schlüssel an den Mieter ausreichen.<br />

Erforderlich ist eine Identität zwischen Veräußerer und Vermieter. Strittig ist, ob diese Identität bereits<br />

zum Zeitpunkt des Mietvertragsabschlusses (OLG Köln ZMR 2001, 967) oder erst zum Zeitpunkt der<br />

Veräußerung (OLG Rostock NZM 2006, 262; LAMMEL, Wohnraummiete, 3. Aufl., § 566 Rn 23) bestehen<br />

muss. Wird der Vermieter erst nach Abschluss des Mietvertrags als Eigentümer im Grundbuch<br />

eingetragen, bleibt er auch nach späterer Veräußerung des Grundstücks Vermieter (LG Stendal GE 2001,<br />

925). Bei fehlender Identität treten die Rechtsfolgen des § 566 BGB grds. nicht ein (BGH BGHReport<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 129


Fach 4, Seite 1846<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

2004, 287; NZM 1999, 1091; NJW 1974, 1551; OLG Celle ZMR 2000, 284; LG Berlin ZMR 1988, 61). Der<br />

Erwerber kann nur in Rechte eintreten, welche dem Verkäufer als Vermieter zustanden. Hat der<br />

Zwangsverwalter die Wohnung vermietet, so liegt es nahe, dass er für den damaligen Eigentümer der<br />

Immobilie gehandelt hat. Es liegt dann die für die Anwendung des § 566 BGB erforderliche Identität vor<br />

(BGH WuM 2013, 496 = ZMR 2013, 866). Bei fehlender Identität zwischen Vermieter und Veräußerer ist<br />

§ 566 Abs. 1 BGB aber dann entsprechend anwendbar, wenn die Vermietung des veräußerten<br />

Grundstücks mit Zustimmung und im alleinigen wirtschaftlichen Interesse des Eigentümers erfolgt und<br />

der Vermieter kein eigenes Interesse am Fortbestand des Mietverhältnisses hat (BGH NZM 2017, 847).<br />

Bei Vermietung einer Wohnung durch zwei Miteigentümer bleiben beide auch dann Vermieter – und ist<br />

eine Kündigung gegenüber dem Mieter demgemäß von beiden Vermietern auszusprechen –, wenn der<br />

eine seinen Miteigentumsanteil später an den anderen veräußert. Auf einen solchen Eigentumserwerb<br />

findet § 566 Abs. 1 BGB weder direkte noch analoge Anwendung (BGH NZM 2019, 208).<br />

Die Wirkung der Rechtsnachfolge tritt mit Vollzug der Eigentumsänderung, also i.d.R. mit der<br />

Eintragung im Grundbuch, bei der Zwangsversteigerung mit Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses ein.<br />

Allein durch ein Rechtsgeschäft zwischen Grundstücksveräußerer und -erwerber, z.B. eine Regelung im<br />

notariellen Kaufvertrag über den wirtschaftlichen Besitzübergang und die Lastentragung, kann eine<br />

Rechtsnachfolge nicht begründet werden (LG Hamburg WuM 1993, 48). Möglich ist aber ein „dreiseitiger<br />

Vertrag“, also eine Vereinbarung, an der zusätzlich auch der Mieter beteiligt ist (sog. Mieteintrittsvereinbarung;<br />

BGH NZM 2010, 471). Allein die Tatsache, dass der Mieter aufgrund der Mitteilung der<br />

Veräußerung die Miete an den Erwerber zahlt, kann im Einzelfall eine Zustimmung darstellen (BGH<br />

WuM 2013, 496 = ZMR 2013, 866). Möglich ist aber eine Ermächtigung des Erwerbers durch den<br />

Veräußerer zur Kündigung (BGH NJW 1998, 896).<br />

Ist eine juristische Person, z.B. eine GmbH, AG oder Genossenschaft Eigentümerin des Grundstücks,<br />

liegt bei Veränderung auf Gesellschafterseite selbst bei vollständigem Verkauf oder einer Verschmelzung<br />

regelmäßig keine Veräußerung i.S.d. § 566 BGB vor, da kein Eigentümerwechsel stattfindet. Dies gilt<br />

auch bei einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die als Außengesellschaft i.S.d. BGH-Rechtsprechung<br />

tätig ist (s. oben II 1 b). Auch hier gilt für den Gesellschafterwechsel außerhalb des Grundbuchs § 566<br />

BGB nicht (BGH NZM 1998, 260). Der Mietvertrag wird jedenfalls dann ohne Weiteres mit der<br />

Gesellschaft in der neuen personellen Zusammensetzung fortgeführt, wenn die ursprünglichen<br />

Gesellschafter mit einem ihre gesamthänderische Bindung bezeichnenden Vermerk gem. § 47 GBO<br />

als Eigentümer im Grundbuch eingetragen waren. Scheidet der vorletzte Gesellschafter aus der<br />

Gesellschaft aus, so führt dies regelmäßig zu einem Übergang des Mietvertrags auf den letzten<br />

verbliebenen Gesellschafter unter Erlöschen der GbR (BGHZ 32, 307, 317 f.; BGH NJW 1994, 796; KRAEMER<br />

NZM 2002, 465). Erwerben mehrere Personen, die eine Außengesellschaft bilden, ein Grundstück so wird<br />

die BGB-Gesellschaft gem. § 566 BGB Vermieterin. Das gilt auch dann, wenn der Vermieter eine GbR<br />

gründet oder einer solchen beitritt und das Grundstück mit in die Gesellschaft einbringt. Die<br />

formwechselnde Umwandlung von einer KG in eine GbR und wiederum in eine GmbH führt nach<br />

einem negativen Rechtsentscheid des KG (NZM 2001, 520) auch bei einem zwischenzeitlichen<br />

Gesellschafterwechsel nicht dazu, dass die Identität der Gesellschaft als solche verändert wird. Diese<br />

Umwandlungen haben deshalb keinen Einfluss auf bestehende Mietverhältnisse. Zu beachten sind aber<br />

die Nachwirkungsfristen nach dem Umwandlungsgesetz, wenn es um die persönliche Haftung der<br />

ursprünglichen Gesellschafter geht (dazu KANDELHARD NZM 1999,440).<br />

§ 566 BGB ist weder zwingendes noch halbzwingendes Recht. Deshalb sind grds. abweichende<br />

Vereinbarungen möglich, jedoch bestehen Bedenken gegen eine formularvertragliche Regelung.<br />

cc) Umwandlung in Wohnungseigentum<br />

Wird vermieteter Wohnraum in Wohnungseigentum umgewandelt oder wird Wohnungseigentum<br />

vermietet, entstehen im Schnittpunkt von Mietrecht und Wohnungseigentumsrecht (dazu BLANK WuM<br />

2000, 523; 2013, 94; ARTZ/JACOBY WuM 2013, 67; HÄUBLEIN WuM 2013, 68; BECKER WuM 2013, 73; BEYER WuM<br />

130 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1847<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

2013, 77; LEHMANN-RICHTER WuM 2013, 82; SUILMANN WuM 2013, 86; DÖTSCH WuM 2013, 90) häufig Probleme,<br />

weil beide Bereiche nicht ausreichend aufeinander abgestimmt sind. Hier sind die verschiedenen<br />

Fallkonstellationen zu unterscheiden:<br />

Wird ein Mietvertrag über eine bereits in Wohnungseigentum umgewandelte oder neu errichtete<br />

Eigentumswohnung abgeschlossen, dann ergeben sich die Parteien des Mietvertrags aus dem<br />

Mietvertrag. Für den Fall der Veräußerung der Wohnung nach der Vermietung tritt der Erwerber<br />

gem. § 566 BGB an die Stelle des Veräußerers. Die Vorschrift des § 566 BGB ist auf die Veräußerung von<br />

Wohnungseigentum unmittelbar anwendbar (BGHZ 126, 357).<br />

Zu einer „Vermieterfalle“ kann sich die Umwandlung einer vermieteten Wohnung in eine Eigentumswohnung<br />

entwickeln. Wird Wohnungseigentum begründet, gibt es mindestens zwei, manchmal auch drei<br />

Eigentums- bzw. Nutzungsverhältnisse. Es entstehen mindestens Gemeinschafts- und auch Sondereigentum,<br />

manchmal werden auch noch Sondernutzungsrechte begründet. Dies muss sorgfältig<br />

getrennt werden. Das Mietverhältnis selbst wird durch die Aufteilung nicht berührt. Es bleibt selbst<br />

dann ein einheitliches Mietverhältnis, wenn Sonder- und Gemeinschaftseigentum nach der Umwandlung<br />

betroffen sind. Es stellt sich nur die Frage, wer Vermieter dieses einheitlichen Mietverhältnisses geworden<br />

ist, was dann etwa für die Frage, wer die Kündigungserklärung abzugeben hat, von Bedeutung ist.<br />

• Soweit der Mieter lediglich nicht dem ausschließlichen Mietgebrauch unterliegende Teile mitbenutzt,<br />

die im Gemeinschaftseigentum stehen, z.B. das Treppenhaus, wird die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />

nicht Vermieter (LG Hamburg WuM 1997, 47). Vermieter ist der jeweilige Eigentümer<br />

des Sondereigentums.<br />

• Steht dem Mieter an einem dem Gemeinschaftseigentum unterfallenden Grundstücksteil ein ausschließlicher<br />

Mietgebrauch zu, so wird der Erwerber einer vermieteten Eigentumswohnung alleiniger<br />

Vermieter, wenn die Wohnung nach Überlassung an den Mieter in Wohnungseigentum umgewandelt<br />

worden ist und zusammen mit der Wohnung ein Kellerraum vermietet ist, der nach der Teilungserklärung<br />

im Gemeinschaftseigentum aller Wohnungseigentümer steht (BGH WuM 1999, 390).<br />

• Umstritten ist nach wie vor die Frage, wer Vermieter wird, wenn dem Mieter Räume vermietet<br />

wurden, die nach der Umwandlung zwei verschiedenen Eigentümern gehören. Gehört zu der<br />

Wohnung ein mitvermieteter Nebenraum, der nach der wohnungseigentumsrechtlichen Aufteilung<br />

zum Sondereigentum eines anderen Wohnungseigentümers gehört, dann soll nach einem Urteil des<br />

LG Hamburg (ZMR 1999, 765) der o.g. Rechtsentscheid des BGH nicht anwendbar sein. In diesem Fall<br />

sollen beide Erwerber Vermieter werden.<br />

• Wurde bei einem einheitlichen Mietverhältnis über eine Wohnung und eine Garage das Sondereigentum<br />

an der Wohnung und das Teileigentum an der Garage an unterschiedliche Erwerber<br />

veräußert, so werden beide Erwerber gemeinsam Vermieter des einheitlichen Mietverhältnisses über<br />

Wohnung und Garage (BGH NZM 2005, 941; ebenso schon BayObLG WuM 1991, 78).<br />

• Besteht am Gemeinschaftseigentum ein Sondernutzungsrecht (z.B. an Gartenflächen) zugunsten des<br />

Sondereigentümers, dem auch die vom Mieter bewohnte Wohnung gehört, dann neigt das LG<br />

Hamburg (WuM 1997, 47) zu der Annahme, dass dieser Sondernutzungsberechtigte entsprechend<br />

§§ 566, 567 BGB alleiniger Vermieter ist.<br />

• Ist das Gebäude bereits in Wohnungseigentum geteilt, wurde die Wohnung aber noch von der<br />

Bauherrengemeinschaft vermietet, obwohl zu diesem Zeitpunkt das Wohnungsgrundbuch bereits<br />

angelegt war und ein einzelner Bauherr als Eigentümer eingetragen ist, bleibt die Bauherrengemeinschaft<br />

Vermieter, da § 566 BGB nur einschlägig ist, wenn das Eigentum nach Vertragsschluss<br />

übergeht. Der Erwerber kann sich zwar von der Gemeinschaft den Anspruch auf Miete abtreten<br />

lassen, die volle Vermieterstellung kann er jedoch nicht erlangen. Auch hier muss eine Kündigungserklärung<br />

durch die Bauherrengemeinschaft als Vermieter erfolgen. In diesen Fällen der Vorratsteilung<br />

gem. § 8 WEG setzt sich das Bruchteilseigentum am Wohnungseigentum fort.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 131


Fach 4, Seite 1848<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

• Möglich ist auch die Vermietung von im Gemeinschaftseigentum stehenden Flächen (BGHZ 144, 386;<br />

BayObLG NZM 2000, 41; OLG Hamburg NZM 2001, 132). Das betrifft nicht nur Außenflächen zu<br />

Werbezwecken, sondern auch die Vermietung von Räumen z.B. an den Hausmeister. Denkbar ist<br />

auch, dass die Wohnungseigentümergemeinschaft das Sondereigentum eines insolventen Wohnungseigentümers<br />

erwirbt, um es zu vermieten. Nach bisheriger Rechtsauffassung war aber nicht die<br />

Wohnungseigentümergemeinschaft selbst Vermieterin, sondern die einzelnen Wohnungseigentümer<br />

in ihrer personellen Zusammensetzung zum Zeitpunkt der Vermietung. Seit der Entscheidung des<br />

BGH vom 2.6.2005 (NJW 2005, 2061 = NZM 2005, 543) und der anschließenden Reform des WEG ist<br />

die Wohnungseigentümergemeinschaft teilrechtsfähig. Deshalb kann die Wohnungseigentümergemeinschaft<br />

auch Vermieterin sein (KAHLEN ZMR 2005, 767; KREUZER, FS Blank, S. 651; zweifelnd<br />

DRASDO, FS Blank, S. 617).<br />

d) Vertretungsfälle<br />

Von der Frage, ob der Vermieter bei Abschluss des Mietvertrags wirksam vertreten wurde und deshalb<br />

überhaupt Vermieter geworden ist, ist die Frage zu unterscheiden, ob der Vermieter auch bei Abgabe<br />

der Kündigungserklärung wirksam vertreten wurde. Auch dabei ist Vertretung gestattet, sie muss aber<br />

offen erfolgen. Der Vertreter gibt eine eigene Willenserklärung ab. Er muss die Kündigungserklärung<br />

auch eigenhändig unterschreiben. Aus der Erklärung des Vertreters muss sich ergeben, in wessen<br />

Namen sie abgegeben wurde, § 164 BGB. Gibt ein Mitglied einer Personenmehrheit die Erklärung für sich<br />

und zugleich als Vertreter für die übrigen Eigentümer ab, muss dies aus der Kündigungserklärung<br />

deutlich hervorgehen. Die Regeln des „Geschäfts, den es angeht“ sind nicht anwendbar. Ist Vermieter<br />

eine juristische Person, z.B. eine GmbH, eine Aktiengesellschaft, eine Genossenschaft oder ein<br />

eingetragener Verein, muss die Kündigung von einem Vorstandsmitglied der Aktiengesellschaft<br />

unterzeichnet sein. Die organschaftlichen Vertreter können sich aber wiederum selbst vertreten lassen.<br />

Sind Eheleute in Form einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts Eigentümer und Vermieter des<br />

Hausgrundstücks, bedarf die Kündigungserklärung des einen Gesellschafters eines Hinweises auf die<br />

Bevollmächtigung durch den anderen Gesellschafter oder darauf, dass er im Namen der aus ihm und<br />

dem anderen Gesellschafter bestehenden BGB-Gesellschaft handelt (LG Köln WuM 2001, 287). Die<br />

Kündigung des Wohnungsmietvertrags in verdeckter Stellvertretung ist jedoch auf jeden Fall<br />

unzulässig; erforderlich ist zumindest ein konkludentes Handeln in fremdem Namen (BGH NJW 2014,<br />

18<strong>03</strong> = NZM 2014, 431). Der Vertreter muss auch Vertretungsmacht haben. Der zum Abschluss eines<br />

Mietvertrags bevollmächtigte Wohnungseigentumsverwalter ist nicht ohne Weiteres befugt, das<br />

Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs fristlos zu kündigen (LG Berlin ZMR 1986, 439).<br />

Da es sich jedoch bei der Kündigung um eine einseitige Willenserklärung handelt, gelten hier noch<br />

besondere Regelungen, die sich v.a. aus der Vorschrift des § 174 BGB ergeben. Danach kann der<br />

Empfänger eine Kündigung eines Vertreters unverzüglich zurückweisen, wenn der Kündigung keine<br />

Vollmacht beigefügt war. Dies gilt auch für die Fälle der Kündigungsermächtigung (§§ 182 Abs. 3, 111<br />

BGB). Die Vollmachtsurkunde muss im Original von allen Vollmachtgebern unterschrieben und dem<br />

Schreiben beigefügt sein (AG Tempelhof MM 1989, 29). Gegebenenfalls muss eine Vollmachtsurkundenkette<br />

bei mehreren Eigentümern/Beauftragten vorgelegt werden (LG Berlin MM 1988, 25); z.B.<br />

bei Beauftragung einer Hausverwaltungs-GmbH, für die ggf. ein Anwalt tätig wird oder ein nicht<br />

vertretungsberechtigter Sachbearbeiter. Eine namens einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts von<br />

einem alleinvertretungsberechtigten Gesellschafter abgegebene einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung<br />

kann von dem Empfänger gem. § 174 S. 1 BGB zurückgewiesen werden, wenn ihr weder<br />

eine Vollmacht der anderen Gesellschafter noch der Gesellschaftsvertrag oder eine Erklärung der<br />

anderen Gesellschafter beigefügt ist, aus der sich die Befugnis des handelnden Gesellschafters zur<br />

alleinigen Vertretung der Gesellschaft ergibt (BGH MDR 2002, 269). Die Beifügung der Vollmacht kann<br />

nur dann unterbleiben, wenn der Empfänger der Kündigung vom Vertretenen anderweitig von der<br />

Bevollmächtigung in Kenntnis gesetzt wurde, § 174 S. 2 BGB (AG Tempelhof-Kreuzberg GE 2018, 938).<br />

Ob hierfür bereits die Vertretung bei Mietvertragsabschluss ausreicht, ist eine Frage des Einzelfalls<br />

(dagegen AG Neuss DWW 1991, 116; zweifelnd OLG Frankfurt NJW-RR 1996, 10, wenn zumindest eine<br />

Kopie der Vollmacht beigefügt ist).<br />

132 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1849<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Die Vollmacht muss sich auf die konkrete Kündigung beziehen. Liegt einer fristlosen und zugleich<br />

hilfsweise fristgerechten Kündigung nur eine Vollmacht für die fristlose Kündigung bei, kann die<br />

ordentliche Kündigung gem. § 174 BGB zurückgewiesen werden (LG Berlin GE 2002, 331). Eine Kündigung<br />

während des Prozesses durch den Prozessbevollmächtigten kann nicht gem. § 174 BGB zurückgewiesen<br />

werden, da hier die Regeln über die Prozessvollmacht vorrangig sind (BGH NZM 20<strong>03</strong>, 229).<br />

Hinweis:<br />

Die Vorschrift des § 174 BGB dient dem Schutz des Geschäftsgegners bei einseitigen Rechtsgeschäften<br />

und ermöglicht es ihm, im Hinblick auf den Umstand, dass einseitige empfangsbedürftige Rechtsgeschäfte<br />

ohne Vertretungsmacht gem. § 180 BGB nichtig und nicht genehmigungsfähig sind, schnellstmöglich klare<br />

Verhältnisse zu schaffen, sodass für die Anwendung von § 174 BGB neben § 88 Abs. 1 ZPO Raum ist und<br />

es nicht erforderlich ist, neben der Zurückweisung nach § 174 BGB eine Vollmachtsrüge nach § 88 ZPO zu<br />

erheben. Auch die im Berufungsverfahren zugestellte Kündigung kann jedenfalls dann mangels beigefügter<br />

Kündigungsvollmacht unverzüglich zurückgewiesen werden, wenn die Prozessvollmachtsurkunde nicht<br />

zugestellt worden war (LG Bonn WuM 1992, 18). Deshalb sollte unter dem Gesichtspunkt des sichersten<br />

Weges eine Vollmacht beigefügt werden.<br />

Eine dem Erklärungsempfänger per Telefax übermittelte Vollmachtsurkunde zur Vornahme einer<br />

Kündigungserklärung ist nicht der Vorlage einer Vollmachtsurkunde i.S.d. § 174 BGB gleichzustellen<br />

(OLG Hamm NJW 1991, 1185; OLG Köln JMBl. NW 1989, 90). Auch die Beifügung einer Fotokopie genügt<br />

nicht (LG Berlin NJWE-MietR 1996, 220), selbst wenn sie beglaubigt wurde (LG Berlin MM 1993, 184; AG<br />

Wedding MM 1989, 30).<br />

Die Zurückweisung der Kündigung muss unverzüglich erfolgen. Unverzüglich bedeutet ohne<br />

schuldhaftes Zögern. Schuldhaftes Zögern bei der Zurückweisung einer Kündigungserklärung mangels<br />

Vorlage einer Vollmacht setzt neben der objektiven Komponente subjektiv ein schuldhaftes, also<br />

vorwerfbares Handeln voraus (OLG München NJW-RR 1997, 904). Dies kann z.B. bei Krankheit etc.<br />

entfallen. Zur Ausübung des Zurückweisungsrechts gem. § 174 S. 1 BGB steht dem Zurückweisenden<br />

eine angemessene Überlegungsfrist zu, innerhalb derer er von seinem Recht Gebrauch macht. Die<br />

Zurückweisung einer Kündigungserklärung ist ohne das Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalls<br />

nicht mehr unverzüglich i.S.d. § 174 S. 1 BGB, wenn sie später als eine Woche nach der tatsächlichen<br />

Kenntnis des Empfängers von der Kündigung und der fehlenden Vorlegung der Vollmachtsurkunde<br />

erfolgt (BAG BAGE 140, 64; 8 Tage unverzüglich: LG Wiesbaden, Urt. v. 25.5.2012 – 3 S 127/11, juris). Der<br />

Erklärungsempfänger darf insb. zunächst Rechtsrat einholen (LG Hamburg WuM 1998, 725; LG München<br />

WuM 1995, 478). 11 Tage sind nicht mehr unverzüglich, wenn ständiger Kontakt zum Rechtsanwalt<br />

besteht (OLG Hamm NJW 1991, 1185; LG Berlin MM 1993, 184).<br />

Die Zurückweisung muss unter Hinweis auf die fehlende Vollmacht erfolgen. Die Zurückweisung wegen<br />

Negierung eines Kündigungsgrundes reicht nicht (AG Frankenthal ZMR 2018, 42). Erfolgt die Zurückweisung<br />

gem. § 174 BGB wiederum durch einen Vertreter des Kündigungsempfängers, so muss auch der<br />

Zurückweisung eine Vollmacht beigefügt werden; andernfalls kann der Vertreter des Kündigenden die<br />

Zurückweisung wiederum gem. § 174 BGB zurückweisen (dazu NIES NZM 1998, 221 f.). Dies hat zur Folge,<br />

dass die Zurückweisung unwirksam ist und regelmäßig eine wiederholte Zurückweisung unter Beifügung<br />

der Vollmachtsurkunde nicht mehr unverzüglich ist, sodass die Kündigung ohne Beifügung der Vollmacht<br />

wirksam ist.<br />

e) Ermächtigung<br />

Möglich ist auch eine Ermächtigung i.S.d. § 185 Abs. 1 BGB zur Erklärung einer Kündigung (BGH NZM<br />

1998, 146, 147; KG WuM 2008, 153; OLG Celle NZM 2000, 93). Die Norm gilt vom Wortlaut her nur<br />

für Verfügungsgeschäfte, ist aber auf verfügungsähnliche Geschäfte entsprechend anwendbar. Der<br />

Bevollmächtigte gibt eine eigene Willenserklärung im fremden Namen ab, der Ermächtigte gibt<br />

demgegenüber eine eigene Willenserklärung im eigenen Namen ab. Voraussetzung ist, dass der<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 133


Fach 4, Seite 1850<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

Prozessstandschafter (i.d.R. der Erwerber) ein rechtliches Interesse an der gerichtlichen Geltendmachung<br />

eines fremden Rechts im eigenen Namen hat und eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange<br />

des Prozessgegners nicht zu befürchten ist. Diese Voraussetzungen können bei einem Erwerber<br />

vorliegen, bei einem Hausverwalter wohl nicht. Nach Ansicht des BGH (WuM 2014, 286 m. krit. Anm.<br />

BLANK LMK 2014, 357461) ist eine Offenlegung der Ermächtigung nicht zwingend erforderlich.<br />

Problematisch ist die Frage, ob der Ermächtigte nur Kündigungsgründe, die auch dem Ermächtigenden<br />

zustehen, geltend machen kann oder auch solche, die nur in seiner Person bestehen. Bedeutsam ist das<br />

für die Kündigung wegen Eigenbedarfs durch den Erwerber, wenn der Veräußerer und Ermächtigende<br />

gar keinen Eigenbedarf hat. Hier wird durch die Ermächtigung erst ein Kündigungsgrund geschaffen.<br />

Deshalb kann der Ermächtigte eine Eigenbedarfskündigung erst nach Eintragung im Grundbuch<br />

aussprechen (AG Hamburg ZMR 2015, 133). Die Ermächtigung zum Ausspruch einer Eigenbedarfskündigung<br />

durch den Erwerber für den Veräußerer scheitert regelmäßig daran, dass der Veräußerer<br />

gar keinen Eigenbedarf haben kann, wenn er das Grundstück verkauft. Etwas anderes kann ausnahmsweise<br />

dann gelten, wenn der Erwerber und Ermächtigte zum Kreis der Eigenbedarfspersonen des<br />

Kündigenden gehört. Das kann z.B. der Fall sein, wenn das Grundstück an ein Kind des Veräußerers<br />

übertragen wird und dies in die Wohnung einziehen will. Dann hatte der Veräußerer bereits Eigenbedarf,<br />

den das Kind als Ermächtigter auch ausüben kann.<br />

f) Die Abtretung<br />

Der Vermieter kann das Recht zur Kündigung des Wohnraummietvertrages nicht abtreten (LG Berlin<br />

ZMR 1996, 326; LG Hamburg WuM 1993, 48; LG Kiel WuM 1992, 128; LG Augsburg NJW-RR 1992, 520; LG<br />

Osnabrück WuM 1990, 81; LG München I WuM 1989, 282; LG Wiesbaden WuM 1987, 392; STERNEL,<br />

Mietrecht, Rn IV 2; a.A.: MAYER ZMR 1990, 121, 123; offengelassen von BGH NJW 1998, 896; dazu auch OLG<br />

Düsseldorf ZMR 2000, 170). Der Unterschied zur Ermächtigung ist der, dass im Fall einer Abtretung des<br />

Kündigungsrechts der Zessionar anstelle des Zedenten frei entscheiden könnte, ob er die Kündigung<br />

erklärt oder nicht. Bei der Ermächtigung beruht die Befugnis weiterhin auf einer Erlaubnis des eigentlich<br />

Berechtigten. Dieser kann bis zur Vornahme des Rechtsgeschäfts die Ermächtigung nach § 183 BGB<br />

widerrufen. Dem gegenüber ist die isolierte Abtretung von Mietzinsansprüchen ohne gleichzeitige<br />

Übernahme der Pflichten aus einem Mietverhältnis zumindest bei Gewerberaummietverträgen (BGH<br />

NZM 20<strong>03</strong>, 716 = NJW 20<strong>03</strong>, 2987) zulässig. Die Regelung in einem Grundstückskaufvertrag, dass der<br />

Käufer mit dem Tag des Vertragsschlusses in einen bestehenden Mietvertrag des Verkäufers mit einem<br />

Dritten (ohne dessen Zustimmung) eintritt, kann aber weder im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung<br />

noch im Wege der Umdeutung dahin verstanden werden, dass der Käufer ermächtigt werden<br />

soll, den Mietvertrag im eigenen Namen zu kündigen (OLG Celle NZM 2000, 93).<br />

2. Adressat<br />

Die Kündigung ist an alle Mieter zu richten. Es ist deshalb zunächst zu prüfen, wer Mieter der Wohnung<br />

geworden ist und wer es noch ist, und in einer zweiten Stufe ist dann zu prüfen, an wen die Kündigung<br />

adressiert wurde und wem sie tatsächlich zugegangen ist. Die nur gegenüber einem Mitmieter erklärte<br />

Kündigung ist grds. unwirksam (OLGR Braunschweig 1994, 189). Die Auflösung eines mit Eheleuten<br />

abgeschlossenen Vertrags durch Kündigung setzt voraus, dass die Kündigung beiden Eheleuten<br />

gegenüber erklärt worden und beiden zugegangen ist (BGH MDR 1964, 308). Dies gilt auch dann, wenn<br />

die Eheleute getrennt leben und einer der beiden Ehegatten ohne einverständliche Aufhebung des mit<br />

ihm bestehenden Mietverhältnisses aus der Mietwohnung ausgezogen ist. Eine nur an den in der<br />

Wohnung verbliebenen Ehegatten gerichtete Kündigung ist grds. unwirksam (BayObLG WuM 1983, 107;<br />

AG München NZM 20<strong>03</strong>, 394). Ein Ehepartner kann sich auch nicht einseitig aus seiner vertraglichen<br />

Verpflichtung lösen (AG Hamburg NZM 2009, 319; zu den Folgen des Auszugs eines Ehegatten aus der<br />

gemeinsamen Wohnung: KINNE GE 2006, 1450). Haben nämlich Eheleute gemeinsam einen Mietvertrag<br />

auf der Mieterseite abgeschlossen, so bedarf derjenige Ehegatte, der sich allein aus dem Mietverhältnis<br />

lösen will, hierzu nicht nur des Einverständnisses des Vermieters, sondern ebenso des Einverständnisses<br />

seines im selben Schuldverhältnis stehenden Ehegatten (OLG Celle, Beschl. v. 20.1.1982, WuM 1982, 102;<br />

BayObLG WuM 1983, 107). Jedoch steht dem in der Wohnung verbliebenen mietenden Ehegatten<br />

134 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1851<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

aufgrund des Gebots gegenseitiger Rücksichtnahme und der aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB abzuleitenden<br />

Pflicht, die finanziellen Lasten des anderen Teils nach Möglichkeit zu verringern, ein Anspruch auf<br />

Mitwirkung an einer Vertragsentlassung zu angemessenen Bedingungen zu, soweit der Vermieter hierzu<br />

bereit ist (OLG Hamburg NZM 2011, 311). Gemäß § 1568a BGB kann aber ein Ehegatte vom anderen<br />

verlangen, dass ihm die Wohnung nach der Scheidung überlassen wird. Mit Zugang der Erklärung beider<br />

Ehegatten oder mit Rechtskraft der Endentscheidung im Wohnungszuweisungsverfahren tritt dann der<br />

so bestimmte Ehegatte anstelle des ursprünglich mietenden Ehegatten in ein von diesem eingegangenes<br />

Mietverhältnis ein oder setzt ein von beiden eingegangenes Mietverhältnis allein fort. Der Vermieter<br />

kann das Mietverhältnis innerhalb eines Monats, nachdem er von dem endgültigen Eintritt in das<br />

Mietverhältnis Kenntnis erlangt hat, außerordentlich mit der gesetzlichen Frist kündigen, wenn in der<br />

Person des eintretenden oder allein den Vertrag fortsetzenden Ehegatten ein wichtiger Grund vorliegt.<br />

a) Wer waren die ursprünglichen Vertragspartner?<br />

Zum Teil gibt es Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Inhalts der auf den Vertragsschluss gerichteten<br />

Willenserklärungen hinsichtlich der Person der Vertragspartner. Dies gilt insb. dann, wenn Vornamen<br />

abgekürzt wurden oder wenn mehrere Personen mit dem gleichen Namen in der Wohnung wohnen. In<br />

der Praxis kommt es häufig vor, dass im Kopf des Mietvertrags mehrere Personen genannt werden,<br />

dann aber nur eine von mehreren Personen (z.B. ein Ehegatte) den Mietvertrag unterzeichnet hat. In der<br />

Praxis haben sich hierzu verschiedene Auffassungen entwickelt:<br />

• Es spreche eine tatsächliche Vermutung (OLG Düsseldorf ZMR 2000, 210; WuM 1989, 362; OLG<br />

Oldenburg MDR 1991, 969; LG Berlin GE 2002, 189; GE 1999, 1285; GE 1995, 1553; GE 1995, 567; LG<br />

Heidelberg WuM 1997, 547; AG Dortmund MDR 1993, 755; STERNEL, Mietrecht, I 22) oder der erste<br />

Anschein (SCHOLZ WuM 1986, 5) dafür, dass die Unterschrift des einen Ehepartners auch im Namen<br />

der Ehefrau erfolgen soll. § 1357 BGB gilt aber nicht (LG Berlin GE 2002, 189). Der BGH hat es in einer<br />

Entscheidung zum Landpachtvertrag (BGH NJW 1994, 1649 f.) ausdrücklich offengelassen, ob diese<br />

Auffassungen seine Zustimmung finden. Er hat auf die Unterschiede zum Wohnraummietrecht<br />

hingewiesen. Das OLG Schleswig (WuM 1992, 674) hat den Erlass eines Rechtsentscheids zu<br />

dieser Frage abgelehnt, da es sich um kein Problem des Wohnraummietrechts, sondern des allg.<br />

Vertretungsrechts handele, jedoch ausgeführt, dass es auch von einem Anscheinsbeweis für eine<br />

wirksame Vertretung ausgehe, wenn nur ein Ehegatte den Vertrag unterzeichne, obwohl beide im<br />

Mietvertragskopf genannt werden und der andere Ehegatte an den Verhandlungen teilgenommen<br />

hat. In einer neueren Entscheidung hat der BGH (NJW 2005, 2620; so auch LG Berlin GE 2001, 16<strong>03</strong>)<br />

die Frage ausdrücklich offengelassen, da der den Mietvertrag nicht unterzeichnende Mieter später<br />

dem Mietvertrag zumindest konkludent beigetreten war. Dies kann z.B. durch Unterzeichnung<br />

mehrerer Mieterhöhungserklärungen und die Duldung einer Modernisierung geschehen.<br />

• Teilweise wird auch die Auffassung vertreten, dass im Zweifel nicht anzunehmen ist, dass ein Ehepartner<br />

einen Mietvertrag zugleich in Vertretung und mit Vollmacht für seinen Ehepartner unterschrieben hat<br />

(LG Berlin GE 2004, 1096; LG Osnabrück NZM 2002, 943 f.; LG Berlin GE 1995, 1343; ZMR 1988, 1<strong>03</strong>;<br />

LG Mannheim ZMR 1993, 415; LG Ellwangen DGVZ 1993, 10; AG Potsdam WuM 1996, 696).<br />

• Unterzeichnen beide Ehegatten einen Mietvertrag, in dem nur ein Ehegatte als Mieter bezeichnet ist,<br />

wird im Zweifel nur dieser Mieter (LG Berlin GE 2004, 1096; MM 1997, 283; ZMR 1988, 1<strong>03</strong>; LG<br />

Osnabrück WuM 2001, 438; a.A. AG Köln WuM 1980, 85; nach LG Schweinfurt WuM 1989, 362 ist<br />

derjenige Vermieter, der den Mietvertrag als Vermieter unterschreibt, auch wenn er im Kopf nicht als<br />

Vermieter aufgeführt ist). Steht dabei ein Ehegatte in einem Mietvertrag mit einer Genossenschaft im<br />

Mietvertragskopf als „Mitglied“,befindet sich unter seiner Unterschrift aber der Text „Unterschrift des<br />

Ehegatten als selbstschuldnerischer Bürge/Mitglied“, so ist diese Regelung insgesamt unklar. Es gilt in<br />

diesem Fall die für den Unterzeichner günstigste Alternative, also die Bürgschaft (LG Berlin NZM<br />

2000, 1005).<br />

Heiratet der Mieter erst nach Vertragsabschluss, wird der Ehepartner nicht automatisch Mieter. Er hat<br />

noch nicht einmal einen Anspruch darauf, in den Mietvertrag als Mieter mit aufgenommen zu werden.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 135


Fach 4, Seite 1852<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

In den neuen Bundesländern ist weiterhin § 100 Abs. 3 ZGB zu beachten (QUARCH WuM 1993, 224; MITTAG<br />

WuM 1993, 169). Nach dieser Vorschrift wurde der Ehepartner des Mieters ebenfalls Mietvertragspartei,<br />

auch wenn er den Mietvertrag nicht unterschrieben hat oder wenn er erst später eingezogen ist (LG<br />

Cottbus NJW-RR 1995, 524). Die Vorschrift gilt noch immer für alle Mietverhältnisse, die vor dem<br />

3.10.1990 begründet wurden, fort. Das gilt selbst dann, wenn ein Mietverhältnis vor dem 2.10.1990<br />

schlüssig abgeschlossen, aber erst nach dem 3.10.1990 schriftlich fixiert wurde (AG Frankfurt/O. WuM<br />

1996, 265).<br />

Möglich ist aber, dass ein Ehegatte später ausdrücklich oder konkludent aus dem Mietvertrag wieder<br />

ausgeschieden ist. Außerdem kann es gegen das Schikaneverbot oder gegen Treu und Glauben<br />

verstoßen, wenn der in der Wohnung verbliebene Mieter sich auf den formalen Mangel der nicht<br />

ausreichenden Adressierung der Kündigungserklärung beruft.<br />

Das AG Schöneberg und das LG Berlin (MM 1999, 122) haben in einem Fall, in dem die Ehefrau vor<br />

13 Jahren aus der Wohnung ausgezogen ist, der in der Wohnung verbliebene Ehemann im Scheidungsverfahren<br />

dem Auszug seiner Frau zugestimmt hat und in dem der Vermieter, nachdem er hiervon<br />

Kenntnis hatte, alle Willenserklärungen nur noch an den Ehemann gerichtet hatte, den Abschluss eines<br />

konkludenten Mietaufhebungsvertrags angenommen. Das LG Duisburg (NZM 1998, 73) hat die<br />

Klage des Vermieters gegen einen von zwei Mietern abgewiesen, der, ohne dass das Mietverhältnis<br />

gekündigt worden war, aus der Wohnung ausgezogen war. Es hat seine Entscheidung gestützt auf die<br />

Rechtsprechung des BGH zur Haftung eines aus der Personengesellschaft ausgeschiedenen Gesellschafters<br />

für Verbindlichkeiten der Gesellschaft gem. § 736 Abs. 2 BGB und hat diese Grundsätze auf das<br />

Mietrecht übertragen. Dieser Auffassung sind das OLG Düsseldorf (NZM 1999, 558), das LG Berlin (GE<br />

2001, 205; NZM 1999, 758) und das AG Dortmund (NZM 2001, 94) entgegengetreten. In der Literatur ist<br />

die Entscheidung des LG Duisburg von SONNENSCHEIN (NZM 1999, 977) und KLINKHAMMER (NZM 1998, 744;<br />

FamRZ 1999, 262) abgelehnt worden. Solange die Parteien mietvertraglich in diesen Fällen eine<br />

wechselseitige Empfangsvollmacht vereinbart haben, kann der Vermieter auch die für den unbekannt<br />

verzogenen Mieter bestimmte Willenserklärung an den in der Wohnung verbliebenen Mieter als<br />

Empfangsbevollmächtigten richten. Liegt keine Empfangsvollmacht vor oder hat der Mitmieter diese<br />

nach Auszug widerrufen, dann kann nur nach § 242 BGB im Einzelfall die Notwendigkeit entfallen, die<br />

Kündigung auch an den ausgezogenen Mitmieter zu adressieren.<br />

In Ausnahmefällen wurde angenommen, dass ein Mitmieter aus dem Gesichtspunkt von Treu und<br />

Glauben die allein ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung gegen sich gelten lassen muss. Dies<br />

wurde z.B. angenommen, wenn:<br />

• der andere Mieter die Wohnung verlassen hat, keine neue Anschrift angegeben hat und für den<br />

Vermieter nicht mehr erreichbar ist (LG Limburg WuM 1993, 47);<br />

• bei Eheleuten als Mietern die Kündigung nur dem in der Mietwohnung verbliebenen Mitmieter<br />

gegenüber erklärt worden und diesem zugegangen ist (OLG Frankfurt NJW-RR 1991, 459 = WuM<br />

1991, 76 = ZMR 1991, 1<strong>03</strong>). Dementsprechend hat das LG Frankfurt (WuM 1992, 129) eine Ausnahme<br />

zugelassen, wenn einer der Mieter die Wohnung bereits seit zehn Jahren nicht mehr benutzt.<br />

• Auch nach Ansicht des BGH (NJW 2005, 1715 = NZM 2005, 452) kann es gegen Treu und Glauben<br />

verstoßen, wenn der in der Wohnung verbliebene Mieter sich darauf beruft, dass der ausgezogene<br />

Mieter in der Vergangenheit gar nicht hätte einseitig und allein kündigen dürfen. Dies gilt auch dann,<br />

wenn der Vermieter den ausgezogenen Mieter formal fehlerhaft einseitig aus dem Mietvertrag<br />

entlassen hat (BGH NJW 2004, 1797 = NZM 2004, 419).<br />

Soweit eine Kündigung an mehrere Personen zu richten ist, ist es erforderlich, dass zwischen diesen<br />

verschiedenen Erklärungen auch ein gewisser zeitlicher Zusammenhang besteht, also nicht die<br />

Kündigung eines Mitmieters erst später im Prozess nachgeholt wird (OLG Düsseldorf NJW-RR 1987,<br />

1369; LG Cottbus NJW-RR 1995, 524).<br />

136 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1853<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Praxistipp:<br />

Da es regelmäßig unschädlich ist, einer Person zuviel zu kündigen, sollte in Zweifelsfällen die Kündigungserklärung<br />

an alle in Betracht kommenden Personen adressiert werden. Dies ist i.d.R. weniger risikoreich,<br />

als eine Person zu vergessen.<br />

Nach dem Tod eines Mieters (hierzu: BUTENBERG ZMR 2015, 189; HORST DWW 2013, 362; STERNEL ZMR 2004,<br />

713) müssen die verschiedenen Fallkonstellationen auseinandergehalten werden:<br />

• Hat nur eine Person den Mietvertrag auf Mieterseite abgeschlossen, bildet sie aber mit anderen<br />

Personen einen gemeinsamen Haushalt, so richten sich die Rechtsfolgen nach § 563 BGB:<br />

• Lebt der Ehepartner oder Lebenspartner nach dem LPartG des verstorbenen Mieters mit in der<br />

Wohnung, tritt dieser in den Mietvertrag ein und verdrängt auch alle anderen Personen als Mieter,<br />

die ggf. noch im Haushalt wohnen.<br />

• Andere Personen wie Kinder, Eltern, Geschwister, Großeltern, aber auch Freund und Freundin<br />

werden alle zusammen Mieter, wenn sie mit dem verstorbenen Mieter einen gemeinsamen<br />

Haushalt gebildet haben und wenn kein Ehepartner oder Lebenspartner in der Wohnung wohnt.<br />

• Haben mehrere Personen den Mietvertrag auf Mieterseite abgeschlossen, dann richten sich die<br />

Rechtsfolgen nach § 563a BGB. Unabhängig von der Frage, wer Erbe des verstorbenen Mieters ist,<br />

wird das Mietverhältnis mit dem oder den überlebenden Mietern fortgesetzt, egal wo diese wohnen,<br />

also ob sie mit dem verstorbenen Mieter einen gemeinsamen Haushalt geführt haben oder nicht. Die<br />

Haftung für Mietschulden richtet sich im Innenverhältnis zum Erben nach § 563b BGB.<br />

• Hat der verstorbene (Einzel-)Mieter allein in der Wohnung gelebt, so tritt der Erbe oder treten die<br />

Erben an seine Stelle. Sie können jedoch das Mietverhältnis erleichtert nach § 564 S. 2 BGB mit der<br />

Frist des § 573d BGB kündigen. Zur Haftung für Verbindlichkeiten und den Möglichkeiten der<br />

Beschränkung BGH (DWW 2019, 329).<br />

b) Kündigungsadressat<br />

Die Kündigung ist an alle Personen zu richten, die zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung – noch –<br />

Mieter sind. Die Bezeichnung „Familie“ mit dem nachfolgenden Namen eines von zwei Mietern, die<br />

miteinander verheiratet sind und die Wohnung gemeinsam gemietet haben, macht nicht hinreichend<br />

deutlich, dass in dem Kündigungsschreiben mehrere selbstständige Willenserklärungen zusammengefasst<br />

sind, die gleichzeitig an beide Mieter gerichtet werden sollen. Eine solche Kündigung ist unwirksam<br />

(AG Greifswald WuM 1994, 268; AG Neukölln MM 1993, 219). Wenn in der Adressatenangabe im<br />

Anschriftenfeld zwar nur der Vorname des Ehemanns genannt wird, die Anrede aber mit „Herrn und<br />

Frau“ beginnt, soll die Erklärung aber wirksam sein (AG Hamburg WuM 1999, 484). Die formelhafte<br />

alternative Adressierung „Herr/Frau X“ ist demgegenüber unwirksam (BVerfG WuM 1992, 685).<br />

Zulässig ist bei Personenmehrheiten auf Mieterseite die wechselseitige Bevollmächtigung. Individualvertraglich<br />

stellt sie kein Problem dar. Problematisch können formularvertragliche Vollmachtsklauseln<br />

sein. Sie sind immer dann bedeutsam, wenn auf einer Vertragsseite mehrere Personen vorhanden sind.<br />

In diesem Fall müssen Willenserklärungen gegenüber allen Vertragspartnern erklärt werden und allen<br />

Vertragspartnern zugehen (MILGER MDR 2015, 256, 258). Man muss bei solchen Klauseln unterscheiden<br />

zwischen solchen, die den Empfang einer Willenserklärung, wie z.B. einer Kündigung betreffen und<br />

solchen, die die Abgabe einer solchen Erklärung betreffen.<br />

Empfangsvollmachten in Wohnraummietverträgen sind grds. möglich. Sie verstoßen nicht gegen ein<br />

gesetzliches Verbot und stellen regelmäßig auch keine unangemessene Benachteiligung des Mieters<br />

dar. Der BGH (BGHZ 136, 314 = NJW 1997, 3437) hat schon 1997 in einem Rechtsentscheid entschieden,<br />

dass die gegenseitige Bevollmächtigung der Mieter zur Entgegennahme von Erklärungen durch die<br />

in einem formularmäßigen Wohnraummietvertrag enthaltene Klausel: „Erklärungen, deren Wirkung die<br />

Mieter berührt, müssen von oder gegenüber allen Mietern abgegeben werden. Die Mieter bevollmächtigen sich<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 137


Fach 4, Seite 1854<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

jedoch gegenseitig zur Entgegennahme und Abgabe solcher Erklärungen. Diese Vollmacht gilt auch für die<br />

Entgegennahme von Kündigungen, jedoch nicht für […] Mietaufhebungsverträge“ – zumindest was den Teil der<br />

Empfangsvollmacht angeht wirksam ist.<br />

Soweit die Klausel auch eine Bevollmächtigung zur Abgabe von Willenserklärungen enthält, ist die<br />

Klausel unwirksam, da sie auch vertragsbeendende Willenserklärungen und wesentliche Änderungen<br />

umfasst. Solche Risiken muss der Mieter nicht tragen (KG, Urt. v. 15.1.2018 – 8 U 169/16, juris; CHRISTENSEN<br />

in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB, (22) Mietverträge Rn 6). Die Unwirksamkeit des die Abgabe von<br />

Erklärungen betreffenden Teils der Klausel hat aber keine Auswirkungen auf den Teil, der den Empfang<br />

von Willenserklärungen betrifft. Die Klauselteile sind nach der BGH-Rechtsprechung (BGHZ 136, 314 =<br />

NJW 1997, 3437) teilbar, sodass auch kein Verstoß gegen das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion<br />

vorliegt.<br />

Eine Empfangsklausel ist auch dann wirksam, wenn sie auch für den Empfang vertragsbeendender<br />

(Kündigung) Willenserklärungen gilt. Eine solche Klausel benachteiligt die Mieter nicht unangemessen<br />

i.S.d. § 307 BGB. Das gemeinsame Anmieten und Wohnen ist Ausdruck eines Näheverhältnisses, welches<br />

annehmen lässt, dass ein Mieter Erklärungen des Vermieters, die das Mietverhältnis betreffen, den<br />

Mitmietern weitergibt. Solange die Mieter in der Wohnung zusammenleben, gibt es keine größeren<br />

praktischen Probleme mit einer solchen Empfangsvollmacht. In diesem Fall werden Erklärungen, die an<br />

alle Mieter gerichtet sind, schon dann wirksam, wenn sie in den Briefkasten geworfen werden oder<br />

einem Mitmieter übergeben werden, da die Mitmieter füreinander Empfangsboten sind. Mit Auszug<br />

eines Mitmieters aus der Wohnung endet aber diese Empfangsbotenstellung der übrigen Mitmieter für<br />

den ausgezogenen Mitmieter. Deshalb wird die Empfangsvollmacht erst mit dem Auszug eines Mieters<br />

praktisch bedeutsam, da sie nun die zuvor bestehende Empfangsbotenschaft fortsetzt. Hier besteht ein<br />

schutzwürdiges Interesse des Vermieters, besonders wenn der Auszug eines Mieters ihm nicht<br />

angezeigt wurde. Der ausziehende Mieter ist auch in den Fällen der mietvertraglich erteilten<br />

Empfangsvollmacht ausreichend geschützt. Er kann die Empfangsvollmacht dem Vermieter gegenüber<br />

jederzeit widerrufen (BayObLG NJWE-MietR 1997, 193, 195). Dieses Widerrufsrecht aus wichtigem Grund<br />

kann auch nicht wirksam abbedungen werden. Ein solcher Widerruf kann auch konkludent erfolgen, z.B.<br />

durch den Auszug aus der Wohnung und Mitteilung darüber an den Vermieter unter Angabe der neuen<br />

Anschrift. Die Widerruflichkeit muss dabei in der Klausel nicht ausdrücklich erwähnt werden, sie darf nur<br />

nicht ausgeschlossen sein.<br />

3. Form<br />

a) Allgemeines<br />

Hinsichtlich der erforderlichen Form, die eine Kündigung einhalten muss, ist zwischen den verschiedenen<br />

Mietverhältnissen zu unterscheiden:<br />

• Für Wohnraummietverhältnisse ist gem. § 568 Abs. 1 BGB die Schriftform vorgeschrieben.<br />

• Das gilt auch für die ungeschützten Mietverhältnisse gem. § 549 Abs. 2 und 3 BGB.<br />

• Für Gewerberaummietverhältnisse ist kraft Gesetzes keine Form vorgeschrieben.<br />

Soweit Schriftform für die Kündigung vorgeschrieben ist, handelt es sich um eine Wirksamkeitsvoraussetzung.<br />

Auf die Form kann nicht verzichtet werden. Sie gilt sowohl für die Vermieter- wie auch für<br />

die Mieterkündigung. Der Kündigende muss ggf. beweisen, dass die Unterschrift von ihm stammt<br />

(AG Schöneberg GE 2013, 215; AG Hamburg-Wandsbek ZMR 2012, 785).<br />

b) Die Kündigung von Wohnraummietverhältnissen<br />

Die Tatbestandsvoraussetzung der Schriftform ergibt sich aus § 126 Abs. 1 BGB. Erforderlich ist danach eine<br />

Erklärung, die vom Kündigenden eigenhändig durch Namensunterschrift oder mit notariell beglaubigtem<br />

Handzeichen unterzeichnet ist. Unter Name ist grds. der Vor- und Nachname zu verstehen. Es genügt<br />

aber i.d.R. die Unterzeichnung mit dem Nachnamen. Das ist aber die Mindestvoraussetzung, sodass<br />

andere Bezeichnungen, wie Familienbezeichnung („Dein Vater“) oder Funktionen („Die Geschäftsleitung“<br />

138 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1855<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

pp.) nicht ausreichen. Bei Doppelnamen muss grds. mit beiden Namensteilen unterschrieben werden. Die<br />

willkürliche Abkürzung führt zur Unwirksamkeit der Unterschrift (LAG Köln NZA 1987; a.A. BGH NJW 1988,<br />

2822: Abkürzung des zweiten Namens mit den beiden Anfangsbuchstaben reicht aus). Nur wenn keine<br />

Zweifel an der Identität des Unterzeichners bestehen, reicht die Unterzeichnung mit dem ersten Teil des<br />

Doppelnamens aus (BGH NJW 1996, 997; OLG Frankfurt NJW 1989, 3<strong>03</strong>0) z.B., weil sich die Identität<br />

eindeutig aus dem Briefkopf ergibt.<br />

Eine Unterschrift erfordert nach dem Sprachgebrauch und dem Zweck der Formvorschrift (BGH NJW<br />

1997, 3380, 3381; 1985, 1227; 1975, 1704; MDR 1964, 747), dass es sich tatsächlich um eine Schrift handeln<br />

muss. Eine Namensunterschrift setzt ein aus Buchstaben einer üblichen Schrift (BGH NJW 1992, 243;<br />

NJW-RR 1992, 1150; NJW 1989, 588; 1987, 1333; 1985, 1227; 1985, 2651; 1975, 1704) bestehendes Gebilde<br />

voraus, das nicht lesbar (BFH NJW 2000, 607; BGH NJW 1997, 3380, 3381; 1982, 1467; 1959, 734) zu sein<br />

braucht. Erforderlich, aber auch genügend, ist das Vorliegen eines die Identität des Unterschreibenden<br />

ausreichend kennzeichnenden Schriftzuges, der individuelle und entsprechend charakteristische<br />

Merkmale aufweist, die die Nachahmung erschweren (BGH NJW 1959, 734; 1985, 1227; OLG Frankfurt<br />

a.M. NJW 1993, 3079; OLG Düsseldorf NJW-RR 1992, 946, 947), sich als Wiedergabe eines Namens<br />

darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt (BFH NJW 2000, 607, 608;<br />

BGH NJW-RR 2017, 445; NJW 1994, 55), selbst wenn er nur flüchtig niedergelegt ist und von einem<br />

starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist (BGH NJW-RR 2017, 445; 1997, 760; NJW 1997, 3380,<br />

3381). Unter diesen Voraussetzungen ist selbst ein vereinfachter und nicht lesbarer Namenszug als<br />

Unterschrift anzuerkennen, wobei insbes. von Bedeutung ist, ob der Unterzeichner auch sonst in<br />

gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt. Deshalb wird von der Rspr. zunehmend ein großzügiger<br />

Maßstab angelegt, wenn an der Autorenschaft keine Zweifel bestehen und zwar auch in Anbetracht<br />

der Variationsbreite, die selbst Unterschriften ein und derselben Person aufweisen (BGH NJW 1997, 3380,<br />

3381; 1987, 1333; BVerfG NJW 1998, 1853; SCHNEIDER NJW 1998, 1844). Zum Teil wird mit Rücksicht auf die<br />

modernen Kommunikationsmittel, die häufig eine eigenhändige Unterschrift nicht mehr zulassen und<br />

deshalb auch nicht erfordern (GemS-OGB NJW 2000, 2340), eine noch weitere Lockerung bzgl. des<br />

Unterschriftserfordernisses gefordert. Nach Ansicht des BGH genügt aber weder eine eingescannte<br />

(BGH NJW 2006, 3784) noch eine zuvor blanko erteilte und dann ausgeschnittene und aufgeklebte<br />

Unterschrift (BGH NJW 2015, 3246 m. Anm. EINSELE LMK 2015, 373985) den Anforderungen an eine<br />

wirksame Unterschriftsleistung. Bloße Striche oder geometrische Figuren genügen als Unterschrift<br />

ebenso wenig wie die bloße Wiedergabe von Anfangsbuchstaben (LAG Berlin NJW 2002, 989). Es ist<br />

i.d.R. erforderlich, dass man bei wohlwollendster Betrachtung bei Kenntnis des Namens des Unterzeichners<br />

diesen in der Unterschrift wiedererkennen kann (BGH NJW 1988, 713; KG NJW 1988, 2807).<br />

Dabei darf eine dem Schriftzug beigefügte Namenswiedergabe in Maschinenschrift zur Deutung<br />

vergleichend herangezogen werden (BGH NJW-RR 1997, 760; NJW 1992, 243; OLG Düsseldorf NJW-RR<br />

1992, 946). Handzeichen, die allenfalls einen Buchstaben erkennen lassen, sowie Unterschriften mit<br />

einer Buchstabenfolge, die als bewusste und gewollte Unterzeichnung mit einer Namensabkürzung<br />

(Paraphe) (GemS-OGB NJW 2000, 2340; BGH NJW 1998, 762; 1997, 3380, 3381; 1994, 55; 1985, 1227; 1982,<br />

1467; 1967, 2310; OLG Hamm NJW 1989, 3289; OLG Köln RPfleger 1991, 198; OLG Düsseldorf NJW-RR 1992,<br />

946, 947) erscheinen, sowie Faksimile-Stempel (BGH NJW 1989, 838), erfüllen nicht die Voraussetzung<br />

einer formgültigen Unterschrift. Ob ein Schriftzug eine Unterschrift oder lediglich eine Abkürzung<br />

darstellt, beurteilt sich dabei nach dem äußeren Erscheinungsbild (BGH NJW 1997, 3380, 3381; 1994, 55;<br />

1987, 957; 1982, 1467).<br />

Wenn die Kündigung durch eine Personenmehrheit zu erfolgen hat, weil der Mietvertrag auf Vermieteroder<br />

Mieterseite von oder mit mehreren Personen geschlossen wurde, muss die Unterschrift jedes<br />

einzelnen Mitglieds der Personenmehrheit diesen Anforderungen entsprechen. Da aber, wie oben<br />

dargestellt, eine Stellvertretung zulässig ist, ist die Kündigung formal ordnungsgemäß, wenn die<br />

Unterschrift des Vertreters den Anforderungen des § 126 Abs. 1 BGB entspricht. Allein die Tatsache, dass<br />

die beigefügte Vollmacht unterschrieben ist, reicht nicht aus (AG Friedberg WuM 1993, 48). Demgegen-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 139


Fach 4, Seite 1856<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

über gelten für die Vollmachtserteilung die Formvorschriften der §§ 126, 568 BGB nicht. Gemäß § 167 Abs. 2<br />

BGB gilt für die Vollmachtserteilung nicht die Form, welche für das Rechtsgeschäft bestimmt ist, auf das<br />

sich die Vollmacht bezieht.<br />

Die Kündigung kann auch im laufenden Rechtsstreit durch oder in einem Schriftsatz während eines<br />

anhängigen Rechtsstreits erfolgen. In der bloßen Erhebung einer Räumungsklage ist grds. aber noch<br />

keine Kündigungserklärung zu sehen. Erfolgt ausdrücklich eine Kündigung in einem an das Gericht<br />

gerichteten Schriftsatz, so ist der Schriftform des § 568 Abs. 1 BGB genüge getan, wenn dem<br />

Kündigungsadressaten bzw. seinem Bevollmächtigten eine vom Prozessbevollmächtigten der Gegenseite<br />

selbst beglaubigte Abschrift des die Kündigung aussprechenden Schriftsatzes zugeht. Eine<br />

Unterschrift des Prozessbevollmächtigten unter der Abschrift ist neben oder statt der Unterschrift unter<br />

dem Beglaubigungsvermerk nicht erforderlich. Ist die Kündigung in einem prozessualen Schriftsatz<br />

enthalten, so ist der Zugang einer vom Erklärenden unterzeichneten Abschrift des Schriftsatzes beim<br />

Gegner erforderlich; die Zustellung nur einer beglaubigten Abschrift von Anwalt zu Anwalt oder von<br />

Amts wegen nach § 198 oder §§ 208 ff. ZPO genügt auch im Hinblick auf § 132 Abs. 1 BGB nicht (BGH<br />

WuM 1987, 209). Etwas anderes soll ausnahmsweise nur dann gelten, wenn der Prozessbevollmächtigte<br />

des Vermieters die Kündigung selbst ausgesprochen und anschließend als Prozessbevollmächtigter des<br />

Vermieters im Prozess auftritt. In diesem Fall wird dem Formerfordernis des § 568 BGB im Allgemeinen<br />

auch dann Genüge getan, wenn der Anwalt den Beglaubigungsvermerk auf der der anderen Partei<br />

zugestellten Abschrift des Schriftsatzes unterschrieben hat (BGH WuM 1987, 209; OLG Zweibrücken<br />

OLGZ 1981, 350; BayObLG München NJW 1981, 2197; OLG Hamm NJW 1982, 452). Entscheidend ist also,<br />

dass zwischen Schriftsatzverfasser und dem Beglaubigenden Personenidentität besteht. Erfolgt die<br />

Beglaubigung also durch die Geschäftsstellenbeamtin ist die gesetzliche Schriftform gem. §§ 568, 126<br />

BGB nicht gewahrt. Durch eine ins gerichtliche Protokoll erklärte Kündigung wird die Schriftform<br />

ebenfalls nicht gewahrt (AG Braunschweig WuM 1990, 153; AG Münster WuM 1987, 273; LG Berlin MDR<br />

1982, 321). § 127a BGB gilt nur für gerichtliche Vergleiche. In Betracht kommen kann aber die Auslegung<br />

der Erklärung in ein Angebot auf Vertragsaufhebung, dass die andere Seite ausdrücklich oder konkludent<br />

annehmen kann.<br />

Das bedeutet, dass in der Wohnraummiete einschließlich der ungeschützten Mietverhältnisse des<br />

§ 549 Abs. 2 und 3 BGB eine Kündigung in Textform, also per Fax, SMS, E-Mail oder Messenger-Dienst<br />

ebenso unwirksam ist, wie eine mündlich erklärte Kündigung, insb. sind die für die Zulässigkeit der<br />

Vorabübersendung eines gerichtlichen Schriftsatzes per Telefax entwickelten Grundsätze nicht<br />

entsprechend anwendbar (GmS-OGB BGHZ 144, 160 = NJW 2000, 2340). Deshalb wahrt ein sog.<br />

Vorab-Telefax, auch wenn später das Originalschreiben zugeht, die Frist nicht. Auch eine E-Mail mit<br />

eingescannter Unterschrift erfüllt nicht die Schriftform. Hat der Vermieter das Kündigungsschreiben<br />

nicht unterschrieben ist die Kündigung unwirksam und dem Mieter können Schadenersatzansprüche<br />

i.H.d. zur Abwehr der Kündigung aufgewandten Kosten zustehen (LG Hamburg ZMR 2011, 211).<br />

Zulässig ist aber eine Kündigung in elektronischer Form gem. § 126a BGB. Das ergibt sich aus § 126<br />

Abs. 3 BGB, wonach die schriftliche Form durch die elektronische Form ersetzt werden kann. In diesem<br />

Fall muss der Aussteller der Erklärung gem. § 126a Abs. 1 BGB dieser seinen Namen hinzufügen und das<br />

elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Die Anforderungen<br />

an eine solche elektronische Signatur sind in Abschnitt 4 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des<br />

Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.7.2014 über elektronische Identifizierung und<br />

Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie<br />

1999/93/EG geregelt (ABl Nr. L 257 v. 28.8.2014, S. 73; berichtigt in ABl 2015, Nr. L 23, S. 19). Danach<br />

hat eine solche qualifizierte Signatur gem. Art. 25 Abs. 2 VO die gleiche Rechtswirkung wie eine<br />

handschriftliche Unterschrift. Nach Art 27 ff. VO erfordert dies eine Signaturkarte sowie ein qualifiziertes<br />

Zertifikat eines Dienstanbieters und die Nutzung einer sicheren Signaturerstellungseinheit. Hierzu zählt<br />

das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) nicht (DÖTSCH MietRB 2018, 30, 31). Ist in einem mit<br />

qualifizierter elektronischer Signatur versehenen Schriftsatz an das Gericht eine Kündigung eines<br />

Wohnraummietverhältnisses enthalten, ist diese nur wirksam, wenn das Gericht diesen Schriftsatz<br />

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Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1857<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

elektronisch an den Adressaten weiterleitet. Wird der Schriftsatz, wie bisher noch üblich, erst bei<br />

Gericht ausgedruckt, von der Geschäftsstelle beglaubigt und dann an den Adressaten weitergeleitet, ist<br />

die Schriftform des §§ 126, 126a BGB nicht eingehalten. Die Kündigung ist formunwirksam. Etwas<br />

anderes gilt dann, wenn der Anwalt selbst den Schriftsatz mit qualifizierter elektronischer Signatur von<br />

Anwalt zu Anwalt gem. § 195 ZPO zustellt. Zu beachten ist aber, dass § 130a Abs. 3 ZPO neben der<br />

qualifizierten elektronischen Signatur auch die einfache Signatur durch die Absendenden unter<br />

Verwendung eines sichereren Übermittlungsweges vorsieht. Zu den sicheren Übermittlungswegen<br />

gehört gem. § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO die Verwendung des beA nach § 31a BRAO. In diesem Fall fehlt es<br />

an einer qualifizierten elektronischen Signatur gem. § 126a BGB: Eine in einem solchen Schriftsatz<br />

übermittelte Kündigung erfüllt deshalb nicht die Schriftform des §§ 126, 568 BGB. § 130a ZPO hat nur<br />

Bedeutung für die prozessuale Schriftform und für die materielle Schriftform.<br />

c) Kündigung von Gewerberaummietverhältnissen<br />

§ 568 Abs. 1 BGB gilt für Gewerberaummietverhältnisse nicht. Es fehlt in § 578 BGB eine Verweisung auf<br />

die Vorschrift. Deshalb kann dort eine Kündigung in Textform oder auch mündlich erfolgen, soweit<br />

nichts anderes vereinbart ist.<br />

d) Die Textform<br />

Was unter Textform i.S.d. Gesetzes zu verstehen ist, ergibt sich aus der Legaldefinition in § 126b BGB.<br />

Danach muss eine lesbare Erklärung, in der die Person des Erklärenden genannt ist, auf einem<br />

dauerhaften Datenträger abgegeben werden. Ein dauerhafter Datenträger ist jedes Medium, das es dem<br />

Empfänger ermöglicht, eine auf dem Datenträger befindliche, an ihn persönlich gerichtete Erklärung so<br />

aufzubewahren oder zu speichern, dass sie ihm während eines für ihren Zweck angemessenen Zeitraums<br />

zugänglich ist, und geeignet ist, die Erklärung unverändert wiederzugeben.<br />

Ein Hinweis darauf, dass die Erklärung nicht unterschrieben ist und auch nicht unterschrieben werden<br />

muss, ist für die Wirksamkeit der Erklärung unerheblich (BGH WuM 2014, 612). Bei einer Erklärung, die in<br />

Textform abgegeben wird, ist nicht erforderlich, den für die juristische Person tätig gewordenen<br />

Mitarbeiter namentlich zu benennen; vielmehr genügt die Angabe des Namens der juristischen Person<br />

(BGH WuM 2014, 612).<br />

Möglich ist hier also die Kündigung mittels Telefax oder per E-Mail.<br />

e) Vereinbarte Schriftform<br />

Ist im Mietvertrag vereinbart, dass die Kündigung schriftlich zu erfolgen hat, so handelt es sich um<br />

gewillkürte Schriftform gem. § 127 BGB. Anders als bei der Schriftform gem. § 126 BGB ist hier aber<br />

eine Kündigung mittels Telefax zulässig (BGH NZM 2004, 258), da gem. § 127 Abs. 2 BGB die<br />

telekommunikative Übermittlung ausreicht. Das gilt auch, wenn im Mietvertrag vereinbart ist, dass die<br />

Kündigung durch eingeschriebenen Brief zu erfolgen hat. Bei einer solchen Klausel handelt es sich um die<br />

Vereinbarung der gewillkürten Schriftform i.S.d. § 127 Abs. 2 BGB (BGH NJW-RR 1996, 866, 867; BAG NJW<br />

1980, 1304; OLG Frankfurt NJW-RR 1999, 955). Die Versendung als Einschreibebrief soll nur den Zugang<br />

der Kündigungserklärung sichern (BGH NZM 2004, 258). Deswegen ist bei einer solchen Klausel<br />

regelmäßig nur die Schriftform als Wirksamkeitserfordernis für die Kündigungserklärung vereinbart,<br />

dagegen kann ihr Zugang auch in anderer Weise als durch einen Einschreibebrief wirksam erfolgen.<br />

Seit 1.10.2016 ist in § 309 Nr. 13 BGB durch das Gesetz zur Verbesserung der zivilrechtlichen Durchsetzung<br />

von verbraucherschützenden Vorschriften des Datenschutzrechts vom 17.2.2016 (BGBl I, S. 233) dahingehend<br />

geändert worden, dass in Verträgen für Gestaltungserklärungen keine strengere Form als<br />

Textform vereinbart werden darf. Die Regelung gilt für Verträge, die nach dem 1.10.2016 abgeschlossen<br />

wurden. Die Vorschrift gilt gem. § 310 Abs. 1 BGB nicht für Allgemeine Geschäftsbedingungen, die gegenüber<br />

Unternehmern oder gleichgestellten Rechtssubjekten verwendet werden. Auch eine Indizwirkung<br />

besteht nicht (DAMMANN in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, § 309 Nr. 13 Rn 70).<br />

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Fach 4, Seite 1858<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

4. Zugang<br />

a) Allgemein<br />

Eine Kündigung ist unabhängig davon, in welcher Form sie abgegeben werden muss und tatsächlich<br />

abgegeben wird, eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die erst mit ihrem Zugang gem. § 130 BGB<br />

wirksam wird. Bei einer Mehrheit von Mietern ist die Erklärung erst mit Zugang beim letzten Mieter<br />

wirksam zugegangen. Zugang bedeutet, dass die Erklärung so in den Machtbereich des Empfängers<br />

gelangt sein muss, dass unter normalem Lauf der Dinge mit der Kenntnisnahme gerechnet werden kann<br />

(BGH BGHZ 67, 271, 275; NJW 1999, 1093; KG GE 2002, 1559; AG Schöneberg MM 1991, 131 m.w.N.; Palandt/<br />

ELLENBERGER § 130 BGB Rn 5; HOSENFELD NZM 2002, 93). Hierzu zählt auch der Einwurf in einen Briefkasten<br />

oder das Postfach des Empfängers. Wird das Kündigungsschreiben persönlich übergeben, so gilt der<br />

Zeitpunkt der Übergabe. Die Beweislast trifft denjenigen, der die Erklärung abgibt. Der BGH (NJW 1957,<br />

1230) lehnt zu Recht einen Beweis des ersten Anscheins dafür ab, dass tatsächlich nachgewiesen aufgegebene<br />

Briefe auch zugegangen sind. Die Vernehmung des Mieters als Partei über den behaupteten<br />

Zugang der Kündigung soll einen unzulässigen Ausforschungsbeweis darstellen (AG Schöneberg GE<br />

2009, 271). Die Übersendung einer Kopie der Kündigung durch das Gericht bedeutet noch nicht, dass<br />

diese zugegangen ist (LG Berlin GE 2010, 63). Im Übrigen erfüllt die Kopie auch nicht die zumindest in der<br />

Wohnraummiete erforderliche Schriftform. Erfolgt die Kündigung zwar während eines Räumungsprozesses,<br />

aber außerhalb des Verfahrens durch selbstständige Kündigungserklärung und wird diese<br />

dann schriftsätzlich zur Akte gereicht, so kann der Adressat den Zugang immer noch bestreiten (ZEHELEIN<br />

NJW 2017, 41, 42). Bei einer Erklärung gegenüber einer Außengesellschaft genügt es, wenn sich aus der<br />

Kündigung entnehmen lässt, dass sie an die GbR gerichtet ist und dass sie einem vertretungsberechtigten<br />

Gesellschafter zugeht. Das gilt auch dann, wenn den Gesellschaftern die Vertretungsbefugnis<br />

gemeinschaftlich zusteht (BGH ZMR 2012, 261). Soweit die Übergabe durch einen Boten erfolgt,<br />

ist es sinnvoll, dass der Bote Kenntnis vom Inhalt des Schreibens hat, damit er später ggf. im Prozess den<br />

Zugang der bestimmten Willenserklärung bekunden kann.<br />

Nach der ständigen Rechtsprechung (BGH NJW 2019, 1151; NJW 2008, 843; BAG NJW 2018, 2684; NZA<br />

2019, 1490; NZA 2015, 1183) geht eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden i.S.v. § 130 Abs. 1<br />

S. 1 BGB zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers<br />

gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die – abstrakte – Möglichkeit besteht, von<br />

ihr Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen<br />

wie ein Briefkasten. Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist nach den<br />

„gewöhnlichen Verhältnissen“ und den „Gepflogenheiten des Verkehrs“ zu beurteilen. So bewirkt der<br />

Einwurf in einen Briefkasten den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten<br />

Entnahme zu rechnen ist. Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen.<br />

Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten (BAG NZA<br />

2019, 1490). Wenn für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme<br />

bestand, ist es unerheblich, ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder<br />

andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war. Auch konkrete Umstände in der Sphäre des<br />

Empfängers, z.B. Unkenntnis der Sprache oder Analphabetentum fallen in die Risikosphäre des<br />

Empfängers und hindern den Zugang nicht (LAG Köln NJW 1988, 1870). Den Mieter trifft die Obliegenheit,<br />

die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Unterlässt er dies, wird der<br />

Zugang durch solche – allein in seiner Person liegenden – Gründe nicht ausgeschlossen.<br />

Das bedeutet, dass bei Einwurf in den Briefkasten des Mieters der Zugang der Kündigung zu dem<br />

Zeitpunkt erfolgte, zu dem nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme von Schreiben<br />

aus dem Briefkasten zu rechnen war (BAG NZA 2019, 1490; AG Lahr WuM 1987, 85). Höchstrichterlich<br />

wurde bisher die Annahme einer Verkehrsanschauung, wonach bei Hausbriefkästen im Allgemeinen<br />

mit einer Leerung unmittelbar nach Abschluss der üblichen Postzustellzeiten zu rechnen sei, die<br />

allerdings stark variieren können, nicht beanstandet (BGH NJW 2004, 1320). Die örtlichen Zeiten<br />

der Postzustellung stellen gerade keine unbeachtlichen individuelle Verhältnisse des Empfängers<br />

dar. Hierzu zählen z.B. eine Vereinbarung mit dem Postboten über persönliche Zustellzeiten (BGH<br />

142 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1859<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

NJW 2004, 1320), konkrete eigene Leerungsgewohnheiten oder auch die krankheits- oder urlaubsbedingte<br />

Abwesenheit. Die allgemeinen örtlichen Postzustellungszeiten gehören dagegen nicht<br />

zu den individuellen Verhältnissen, sondern sind vielmehr dazu geeignet, die regionale Verkehrsauffassung<br />

über die übliche Leerung des Hausbriefkastens zu beeinflussen. Die Entscheidungen über<br />

die Frage, bis wieviel Uhr ein Mieter seinen Briefkasten kontrollieren muss, schwanken deshalb<br />

erheblich:<br />

• Bei einem Einwurf bis 13.45 Uhr soll der Zugang noch am gleichen Tag erfolgt sein (LG Berlin WuM<br />

2006, 220).<br />

• Das OLG Hamm (NJW-RR 1995, 1187) spricht davon, dass eine Erklärung, die am späten Nachmittag<br />

in den Briefkasten geworfen wird, erst am nächsten Tag zugegangen ist.<br />

• Bei einem Einwurf bis 18 Uhr soll grds. noch am gleichen Tag ein Zugang erfolgt sein, nur Silvester<br />

müsse der Mieter um diese Zeit nicht mehr mit dem Zugang rechtserheblicher Erklärungen rechnen<br />

(AG Ribnitz-Damgarten WuM 2007, 18; a.A. LG Hamburg NZM 2017, 597).<br />

• Nach einer Entscheidung des BayVerfGH (NJW 1993, 518, 519; auch LG München II WuM 1993, 331) ist<br />

die Rspr., die einen Einwurf um 18.05 Uhr noch als am gleichen Tag als zugegangen betrachtet, nicht<br />

willkürlich.<br />

• Das AG Schöneberg (WuM 1991, 131) hat zu alten „Bundespost-Zeiten“ bei einem Einwurf nach 17 Uhr<br />

einen Zugang erst am nächsten Werktag angenommen.<br />

• Noch strenger war damals das LG Berlin (GE 2002, 193; nach LG Berlin WuM 2006, 220 ist aber ein<br />

Einwurf um 13.45 Uhr noch rechtzeitig). Danach muss eine Privatperson nach 16 Uhr nicht mehr in<br />

ihren Briefkasten schauen, da üblicherweise die Post, aber auch private Zustelldienste, bis zu diesem<br />

Termin ihre Auslieferungen vorgenommen hätten.<br />

• Entscheidend sind deshalb die örtlichen Gegebenheiten (BAG NZA 2019, 1490). Dort, wo üblicherweise<br />

die Post vormittags ausgetragen wird, muss ein Mieter wegen der abstrakten Möglichkeit, dass<br />

irgendwann irgendwer ihm nachmittags irgendetwas in den Briefkasten werfen könnte, nicht täglich<br />

nachmittags nochmals in den Briefkasten schauen. Sonntags muss der Mieter den Briefkasten nicht<br />

leeren (LAG Schleswig-Holstein BB 2015, 2868 m. Anm. BOEMKE jurisPR-ArbR 12/2016 Anm. 3).<br />

Willenserklärungen des Vermieters gelten dem Mieter auch dann als zugegangen, wenn sie an die im<br />

Vertrag angegebene Anschrift gerichtet sind, der Mieter aber inzwischen seinen Wohnsitz an einem<br />

unbekannten Ort begründet hat (AG Tiergarten GE 1992, 391). Aber auch für den Mieter besteht die<br />

Pflicht, im Rahmen des Üblichen dafür Sorge zu tragen, dass ihm Kündigungserklärungen rechtzeitig<br />

zugehen können; wird diese Obliegenheit verletzt, so ist der die Kündigungserklärung Abgebende im<br />

Wege des Schadenersatzes so zu stellen, als wäre die Erklärung rechtzeitig zugegangen (LG Berlin GE<br />

1991, 151). Dies gilt z.B. bei längeren Krankenhausaufenthalten und ggf. auch längerem Urlaub.<br />

Hinweis:<br />

Das an den Prozessbevollmächtigten des Mieters gerichtete Kündigungsschreiben ist dem Mieter<br />

nur zugegangen, wenn sein Prozessbevollmächtigter insoweit Empfangsvollmacht hatte. Die erteilte<br />

Prozessvollmacht reicht dafür nicht aus (LG Berlin WuM 1987, 25). Jedoch ist die Kündigungserklärung<br />

zugegangen, sobald der Rechtsanwalt den Auftrag des Mieters annimmt, gegen die Kündigung nicht nur<br />

wegen Fehlens einer Empfangsvollmacht, sondern auch wegen Fehlens eines Kündigungsgrundes vorzugehen<br />

(BGH WuM 1980, 195).<br />

b) Einschreibebrief<br />

Kann ein Einschreibebrief wegen Abwesenheit des Empfängers nicht zugestellt werden, muss differenziert<br />

werden (HOSENFELD NZM 2002, 93; DÜBBERS NJW 1997, 25<strong>03</strong>):<br />

• Bei einem Einwurf-Einschreiben wirft der Postmitarbeiter den Brief in den Briefkasten und dokumentiert<br />

dies. Hier ist das Schreiben in dem Augenblick zugegangen, in dem nach dem gewöhnlichen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 143


Fach 4, Seite 1860<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

Lauf der Dinge mit der Kenntnisnahme gerechnet werden muss. Problematisch ist hier die Beweislast<br />

bezüglich des Zugangs. Während das LG Berlin (GE 2001, 770) ein einfaches Bestreiten des Zugangs<br />

bei einem Einwurfeinschreiben nicht als zulässig erachtet, ist die wohl überwiegende Auffassung<br />

in Literatur und Rechtsprechung anderer Auffassung. Erörtert wird nur, ob der Erklärende mittels<br />

Einwurf-Einschreiben den Zugang und inbs. den Zeitpunkt kraft Anscheinsbeweises nachweisen<br />

kann. Dies würde voraussetzen, dass die von der Post herausgegebenen Belege Urkundsqualität<br />

haben. Gegen Gebühr erhält der Absender nämlich nur einen Datenauszug. Dies ist eine technische<br />

Aufzeichnung und keine Urkunde (HOSENFELD NZM 2002, 93, 95 m.w.N.). Das LG Potsdam (NJW 2000,<br />

3722; dazu REICHERT NJW 2001, 2523) lehnt deshalb auch einen Anscheinsbeweis ab.<br />

• Bei Übergabe-Einschreiben muss der Mieter die Übergabe selbst quittieren. Wird er nicht angetroffen,<br />

wird eine Benachrichtigungskarte in den Briefkasten geworfen. In diesem Fall ist durch den<br />

Einwurf des Benachrichtigungsscheins das Schreiben noch nicht zugegangen (BGH VersR 1971, 262;<br />

BAG NJW 1986, 1374; LG Göttingen WuM 1989, 183; LG Berlin MM 1988, Nr. 1, 25; Palandt/HEINRICHS,<br />

BGB, § 130 Rn 7 m.w.N.; DÜBBERS NJW 1997, 25<strong>03</strong> f.). Dieser Benachrichtigungsschein unterrichtet den<br />

Empfänger nur darüber, dass für ihn eine Einschreibesendung bei der Post zur Abholung bereit liegt.<br />

Er enthält aber keinen Hinweis auf den Absender des Einschreibebriefs und lässt den Empfänger im<br />

Ungewissen darüber, welche Angelegenheit die Einschreibesendung zum Gegenstand hat (BGH NJW<br />

1998, 976 m. Anm. SINGER LM § 130 Nr. 27). Ob das Einschreiben mit oder ohne Rückschein versandt<br />

wurde, ist für den Zugang unerheblich und kann allenfalls den Beweis des Zugangs erleichtern.<br />

Das bedeutet aber nicht, dass grds. im Fall der Abwesenheit des Empfängers und der dadurch bedingten<br />

Nichtzustellbarkeit von Übergabe-Einschreibesendungen ein wirksamer Zugang i.S.v. § 130 BGB<br />

ausgeschlossen ist (a.A. LG Freiburg NZM 2004, 617: Zugang wird fingiert zu dem Zeitpunkt, zu dem<br />

unter normalen Bedingungen mit der Abholung zu rechnen war). Musste der Mieter oder Vermieter mit<br />

dem Zugang einer Kündigung rechnen, muss er durch geeignete Vorkehrungen sicherstellen, dass ihn<br />

die zu erwartenden Erklärungen auch erreichen; andernfalls muss er sich gem. § 242 BGB so behandeln<br />

lassen, als ob ihm die Kündigungserklärung zugegangen wäre (OLG Düsseldorf WuM 2004, 270;<br />

LG Berlin NJW-RR 1994, 850). Das bedeutet u.U., dass der Mieter dem Vermieter eine defekte<br />

Hausbriefkastenanlage anzeigen muss, andernfalls wird er so behandelt, als ob ihm eine Nachricht<br />

zugegangen ist, auch wenn sie nach Einwurf in den Briefkasten abhandengekommen ist (LG Berlin GE<br />

1994, 1383). Wer aufgrund der vertraglichen Beziehungen konkret mit dem Zugang einer Willenserklärung<br />

rechnen muss, hat auch bei Urlaubsabwesenheit dafür Sorge zu tragen, dass ihn Erklärungen<br />

erreichen (AG Rendsburg WuM 2001, 240; LG Saarbrücken WuM 1993, 339). Die Rechtsprechung<br />

verlangt aber zusätzlich, dass der Absender der Erklärung i.d.R. nach Kenntnis von dem nicht erfolgten<br />

Zugang unverzüglich einen neuen Versuch unternimmt, seine Erklärung derart in den Machtbereich des<br />

Empfängers zu bringen, dass diesem ohne Weiteres eine Kenntnisnahme ihres Inhalts möglich ist (BGH<br />

NJW 1952, 1169; VersR 1971, 262 f.; BAG NJW 1987, 1508). Ein wiederholter Zustellungsversuch des<br />

Erklärenden ist allerdings dann nicht mehr sinnvoll und deshalb entbehrlich, wenn der Empfänger die<br />

Annahme einer an ihn gerichteten schriftlichen Mitteilung grundlos verweigert, obwohl er mit dem<br />

Eingang rechtserheblicher Mitteilungen seines Vertrags- oder Verhandlungspartners rechnen muss<br />

(BGH NJW 1998, 976, 977 m. Anm. SINGER LM § 130 Nr. 27; BGH NJW 1983, 929 f.). Gleiches gilt, wenn der<br />

Adressat den Zugang arglistig vereitelt.<br />

c) Zustellung durch Gerichtsvollzieher<br />

Gemäß § 132 Abs. 1 BGB gilt eine Kündigung auch dann als zugegangen, wenn sie durch Vermittlung<br />

eines Gerichtsvollziehers zugestellt wurde. Dabei kann der Erklärende gem. §§ 166 ff. ZPO jeden<br />

Gerichtsvollzieher beauftragen, es kommt also nicht nur der Gerichtsvollzieher in Betracht, in dessen<br />

Bezirk der Empfänger wohnt. Die Zustellung erfolgt nach den Vorschriften der ZPO, i.d.R. gem. § 193 ZPO<br />

durch die Post. Zustellung bedeutet dabei nach der Legaldefinition des § 166 ZPO die Bekanntgabe eines<br />

Schriftstückes an den Adressaten, die in einer besonderen gesetzlichen Form bewirkt wird. Die<br />

Beurkundung der Zustellung ist nach neuem Recht keine Wirksamkeitsvoraussetzung mehr, sondern<br />

dient nur noch dem Nachweis der erfolgten Zustellung. Die Zustellung auf Betreiben einer Partei ist<br />

jetzt geregelt im Untertitel: „Zustellungen auf Betreiben einer Partei“. Auf die Zustellung auf Betreiben<br />

144 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1861<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

einer Partei sind die Vorschriften der Zustellung von Amts wegen entsprechend anzuwenden, es sei<br />

denn, aus den §§ 192 ff. ZPO ergibt sich etwas anderes. Die von der Partei zu betreibende Zustellung<br />

erfolgt durch den Gerichtsvollzieher. Der Absender muss dem Gerichtsvollzieher das zuzustellende<br />

Schriftstück mit den erforderlichen Abschriften übergeben. Der Gerichtsvollzieher beglaubigt die<br />

Abschriften. Er kann die Zustellung gem. § 193 ZPO selbst vornehmen oder die Post damit beauftragen<br />

(§ 194 ZPO). Eine Zustellung mittels Übergabe-Einschreiben mit Rückschein ist hierbei anders als bei der<br />

Zustellung von Amts wegen nicht möglich. Besonders interessant ist die Zustellung durch den<br />

Gerichtsvollzieher nicht nur wegen des besonderen Nachweises des Zugangs, sondern v.a. auch wegen<br />

der großzügigen Möglichkeiten der Ersatzzustellung. Möglich ist zum einen eine Ersatzzustellung gem.<br />

§ 178 ZPO an Familienangehörige und Mitbewohner und zum anderen auch eine Zustellung durch<br />

schlichtes Zurücklassen des zuzustellenden Schriftstücks bei Annahmeverweigerung, § 179 ZPO sowie<br />

die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gem. § 180 ZPO. Nur wenn die Ersatzzustellung<br />

durch Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten nicht möglich ist, ist die Kündigung durch<br />

Niederlegung gem. § 181 ZPO zuzustellen. In diesem Fall wird das Schreiben bei der Post niedergelegt<br />

und zur Abholung bereitgehalten. Der Adressat wird durch eine Benachrichtigungskarte informiert. Die<br />

Zustellung gilt mit dem Einwurf in den Briefkasten, § 180 ZPO bzw. dem Einwurf der Benachrichtigungskarte,<br />

§ 181 ZPO, als bewirkt (LG Berlin GE 1983, 77). Dies gilt aber dann nicht, wenn der<br />

Vermieter weiß, dass der Mieter die Wohnung (vorübergehend) durch Verlagerung seines Lebensmittelpunktes<br />

verlassen hat (AG Hamburg WuM 1993, 463).<br />

d) Öffentliche Zustellung<br />

Gemäß § 132 Abs. 2 BGB kann eine Kündigung ggf. auch durch öffentliche Zustellung zugestellt werden.<br />

Soweit die Vorschrift danach unterscheidet, dass der Erklärende entweder über die Person, der<br />

gegenüber die Erklärung abzugeben ist, oder über deren Aufenthalt im Unklaren ist, kommt hier wohl<br />

nur die zweite Alternative in Betracht. In diesem Fall ist für die Bewilligung der öffentlichen Zustellung<br />

das AG zuständig, in dessen Bezirk der Erklärungsempfänger seinen letzten Wohnsitz/Aufenthalt hatte.<br />

Das Verfahren richtet sich nach den Vorschriften der ZPO über die öffentliche Zustellung.<br />

e) Zustellung an beschränkt Geschäftsfähige<br />

Ist der Mieter zwar wegen Geisteskrankheit schuldunfähig, aber nicht partiell geschäftsunfähig,<br />

geht ihm das Kündigungsschreiben des Vermieters unmittelbar zu. Ist jedoch für den Mieter ein<br />

Betreuer (umfassend zur Wohnraummiete und Betreuung: SCHUMACHER NZM 20<strong>03</strong>, 257) bestellt, ist die<br />

Kündigung an den Betreuer als gesetzlichen Vertreter zu richten (AG Hamburg ZMR 2001, 898). Für die<br />

Wirksamkeit der Kündigung reicht es nicht aus, dass der Betreuer von dem Inhalt der an den Mieter<br />

gerichteten Kündigung Kenntnis nimmt (LG Dresden WuM 1994, 377; LG Berlin MDR 1982, 321 = GE 1982,<br />

45). Eine gegenüber dem vom Vormundschaftsgericht für den Mieter bestellten Prozesspfleger<br />

abgegebene Kündigungserklärung ist dem Mieter nicht i.S.d. § 130 Abs. 1 S. 1 BGB zugegangen, wenn der<br />

Prozesspfleger (lediglich) zur Vornahme von Prozesshandlungen (also zur aktiven Vertretung), nicht<br />

aber auch zum Empfang von Willenserklärungen (also zur passiven Vertretung) bevollmächtigt ist<br />

(LG Hamburg WuM 1993, 44).<br />

Der Betreuer bedarf für eine Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses gem. § 1907 Abs. 1 BGB der<br />

Zustimmung des Vormundschaftsgerichts. Maßgebend für die Genehmigung sind gemäß dem auch hier<br />

geltenden § 1907 Abs. 2 BGB das Wohl und die Wünsche des Betreuten. Insoweit ist wegen des<br />

Selbstbestimmungsrechtes und des Schutzes der Wohnung des Betreuten selbst irrationalen Wünschen<br />

wie objektiv unsinnigen Mietausgaben zu folgen, solange nicht höherrangige Rechtsgüter gefährdet<br />

sind (OLG Oldenburg NZM 20<strong>03</strong>, 232). Im Genehmigungsverfahren muss wegen der Bedeutung der<br />

Wohnraumkündigung für den Betreuten regelmäßig ein Verfahrenspfleger bestellt und ein Sachverständigengutachten<br />

(zu den Auswirkungen der Wohnungsaufgabe, zum Krankheitsverlauf und den<br />

verbliebenen Möglichkeiten selbstständiger Lebensführung) eingeholt werden. Eine ohne die Zustimmung<br />

erklärte Kündigung ist nichtig (LG Berlin NZM 2001, 807). Umstritten ist, ob die Zustimmung des<br />

Vormundschaftsgerichts auch erforderlich ist, wenn der Betreute die Räume nicht selbst gemietet hat,<br />

aber in ihnen lebt.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 145


Fach 4, Seite 1862<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

f) Sonderfälle<br />

Ist über das Vermögen des Mieters das (Verbraucher-)Insolvenzverfahren eröffnet worden, ist der<br />

Insolvenzverwalter allein richtiger Adressat der Kündigungserklärung. Hat der Insolvenzverwalter/<br />

Treuhänder die Wohnung gem. § 109 Abs. 1 InsO freigegeben (Enthaftungserklärung), erhält der Mieter<br />

mit Wirksamwerden der Erklärung die volle Verwaltungsbefugnis zurück und ist alleiniger Adressat der<br />

Kündigung (BGH NJW 2014, 1954; NJW 2014, 2585; HINZ ZMR 2014, 949).<br />

Soweit in einem Formularmietvertrag vom Vermieter Zugangserleichterungen vereinbart werden, ist<br />

§ 308 Nr. 6 BGB zu beachten. Danach ist eine Zugangsfiktion bezüglich einer Erklärung des Vermieters<br />

unwirksam. Dies gilt z.B. für den Zugang unter Einschaltung von Empfangsboten und Klauseln, die die<br />

Absendung der Erklärung an den letzten bekannten Aufenthaltsort für ausreichend erklären.<br />

5. Inhalt<br />

a) Allgemein<br />

Aus der Kündigungserklärung muss eindeutig zum Ausdruck kommen, dass der Kündigende das<br />

Mietverhältnis beenden will. Das Wort „Kündigung“ muss er hierfür nicht unbedingt gebrauchen. Im<br />

Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ist an dem Grundsatz festzuhalten, dass sich aus der<br />

Kündigungserklärung der übereinstimmende Kündigungswille aller Kündigenden ergibt und dieser<br />

Kündigungswille allen Kündigungsempfängern zuverlässig zur Kenntnis gebracht wird (AG Leipzig<br />

WuM 1998, 752; AG Friedberg WuM 1980, 63). Keine Kündigung liegt vor, wenn die Vertragsbeendigung<br />

lediglich in Aussicht gestellt, angedroht oder vorgeschlagen wird. Aus der Kündigungserklärung<br />

muss sich ergeben, wer die Kündigung ausgesprochen hat, welcher Mietgegenstand<br />

gekündigt wird und gegen wen sich die Kündigung richtet. Irrtümliche Falschbezeichnungen schaden<br />

nicht, wenn der Empfänger den Irrtum ohne Weiteres erkennen kann. Hat der Empfänger mehrere<br />

Wohnungen gemietet und ist unklar, welche Wohnung gekündigt werden soll, ist die Kündigung<br />

unwirksam (LG Berlin ZMR 1992, 346). Den Empfänger einer Kündigung trifft keine Aufklärungs- oder<br />

Nachforschungspflicht.<br />

Im Austausch des Schlosses durch den Gerichtsvollzieher liegt keine Kündigungserklärung des<br />

Mietverhältnisses durch den Vermieter (OLG Koblenz ZMR 1993, 68), denn eine solche Maßnahme des<br />

Gerichtsvollziehers lässt sich jedenfalls so lange, wie sie nicht von bestimmten Erklärungen begleitet<br />

war, grds. nicht als Willensäußerung des Vermieters verstehen; der Gerichtsvollzieher handelt nämlich<br />

von seinem äußeren Erscheinungsbild her entsprechend seiner gesetzlichen Aufgabe nicht als<br />

Parteivertreter, sondern als selbstständiges Organ der Rechtspflege unter eigener Verantwortung.<br />

Als einseitige Willenserklärung ist eine Kündigung bedingungsfeindlich. Dies gilt nach h.M. allerdings<br />

nur für die echte Bedingung, nicht für die Potestativbedingung (BGH NJW 1986, 2245). Eine echte<br />

Bedingung liegt vor, wenn die Wirksamkeit der Kündigung von einem künftigen ungewissen Ereignis<br />

abhängen soll. Bei der Potestativbedingung soll der Eintritt der Kündigungswirkung an das willkürliche<br />

Verhalten der Gegenpartei geknüpft werden, das sich nicht auf die Kündigung selbst bezieht (z.B. eine<br />

Mieterkündigung, falls der Vermieter Mängel nicht beseitigt). Rechtsbedingungen sind unschädlich.<br />

Das ist z.B. der Fall, wenn zunächst die Nichtigkeit des Mietvertrags, dann seine Anfechtung und<br />

schließlich die Kündigung behauptet wird. Eine hilfsweise ausgesprochene Kündigung ist ebenfalls<br />

wirksam, weil sie unter der Rechtsbedingung der Wirksamkeit des Vertrags und/oder der Unwirksamkeit<br />

zuvor ausgesprochener Kündigungen erfolgt. Das gilt inbs. für den Fall der „hilfsweise“<br />

erklärten ordentlichen Zahlungsverzugskündigung neben einer außerordentlichen fristlosen Kündigung<br />

(BGH BGHZ 220, 1 = NJW 2018, 3517 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 19/2018 Anm. 1;<br />

BÖRSTINGHAUS LMK 2018, 411605; KAPPUS NJW 2018, 3522; BEYER jurisPR-MietR 24/2018 Anm. 3; SINGBARTL/<br />

KRAUS NZM 2018, 946; MEIER ZMR 2019, 175).<br />

146 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1863<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Bei der Befristung einer Kündigung muss unterschieden werden:<br />

• Eine echte Befristung ist zulässig. Damit ist die Kündigung zu einem bestimmten Termin gemeint.<br />

Das gilt sowohl für die ordentliche Kündigung als auch für die außerordentliche Kündigung mit und<br />

ohne Frist.<br />

• Demgegenüber ist eine unechte Befristung unzulässig (BGH NJW 2004, 284). Damit ist z.B. eine<br />

Mieterkündigung „zu dem Zeitpunkt zu dem eine neue Wohnung gefunden wurde“ gemeint.<br />

b) Umdeutung<br />

Nicht immer ist die Erklärung, die eine Mietvertragspartei abgibt, ganz eindeutig. In diesem Fall muss<br />

zunächst eine Auslegung der Erklärung nach dem objektiven Empfängerhorizont erfolgen. Die Auslegung<br />

geht der Umdeutung vor.<br />

Kommt man durch Auslegung zu dem Ergebnis, dass keine Kündigung, sondern eine andere Erklärung<br />

abgegeben wurde oder hat die Partei tatsächlich ausdrücklich eine solche andere Erklärung abgegeben,<br />

so stellt sich die Frage, ob diese Erklärung in eine Kündigung umgedeutet werden kann. Die Umdeutung<br />

dient dem Ziel, den von den Parteien erstrebten wirtschaftlichen Erfolg zu verwirklichen, wenn zwar das<br />

von ihnen gewählte rechtliche Mittel unzulässig ist, aber ein anderer, rechtlich gangbarer Weg zur<br />

Verfügung steht (BGH ZIP 2009, 264; BGHZ 19, 269, 273; 68, 204, 206). Maßstab ist auch hier allein der<br />

objektive Empfängerhorizont. Eine Umdeutung kommt nur dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen<br />

einer anderen, dem gleichen Zweck dienenden Handlung erfüllt sind (BGH NJW 2013, 2361).<br />

Entscheidend ist die Frage, ob, der Empfänger den Beendigungswillen der anderen Partei hinsichtlich des<br />

Vertragsverhältnisses unzweifelhaft erkennen konnte. Deshalb kann eine unwirksame Anfechtungserklärung<br />

in eine außerordentliche Kündigung umgedeutet werden. Voraussetzung ist, dass die<br />

formellen und materiellen Voraussetzungen einer solchen Kündigung erfüllt sind und das Mietverhältnis<br />

auf jeden Fall beendet werden soll (BGH NJW 2006, 2696). Demgegenüber kann ein Angebot auf<br />

Abschluss eines Mietaufhebungsvertrags ebenso wenig in eine Kündigungserklärung umgedeutet<br />

werden – da hier für den Adressaten gerade nicht erkennbar ist, dass ein einseitiges Gestaltungsrecht<br />

ausgeübt werden soll – wie das Angebot eines unwirksamen Zeitmietvertrags (LG Fulda 2016, 2<strong>03</strong>;<br />

allenfalls kann im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ein Kündigungsverzicht vereinbart sein:<br />

BGH NJW 2013, 2820; NZM 2014, 235). Während eine unwirksame Kündigung durchaus in eine<br />

Abmahnung umgedeutet werden kann (BGH WuM 2011, 676; KG GE 2005, 236; AG Berlin-Mitte MM<br />

2014, 28), gilt das für den umgekehrten Fall nicht. Die Umdeutung einer Rücktrittserklärung in eine<br />

Kündigung ist demgegenüber möglich, da hier der Beendigungswille deutlich zum Ausdruck kommt<br />

(BGH ZMR 1987, 143, 144).<br />

Die Umdeutung einer unwirksamen außerordentlichen fristlosen Kündigung in eine ordentliche<br />

Kündigung ist in der Wohnraummiete nur in Ausnahmefällen möglich (BGH WuM 2005, 585; NJW 1981,<br />

976; LG Saarbrücken NZM 2015, 692; LG Berlin GE 1991, 1<strong>03</strong>3). Erforderlich ist auf jeden Fall, dass der<br />

Kündigungsadressat erkennen kann, dass das Mietverhältnis auf jeden Fall, wenn auch zu einem<br />

späteren Termin, beendet werden soll (BGH NZM 2018, 515). Hier ist ein äußerst strenger Maßstab<br />

anzulegen (AG Köln WuM 2016, 249), weshalb eine Umdeutung einer ohne Begründung abgegebenen<br />

und deshalb gem. § 569 Abs. 4 BGB unwirksamen außerordentlichen Kündigung in eine ordentliche<br />

Kündigung ausgeschlossen ist (AG Köln WuM 2016, 249). Erforderlich ist in einem solchen Fall<br />

regelmäßig die hilfsweise Erklärung einer ordentlichen Kündigung. Umgedreht ist auch die Umdeutung<br />

einer fristgerechten Kündigung in eine außerordentlich fristlose Kündigung im Regelfall nicht möglich<br />

(OLG Saarbrücken NZM 2011, 720; FLATOW WuM 2004, 316). Insbesondere scheidet eine solche<br />

Umdeutung aus, wenn das Kündigungsschreiben mit „Fristgerechte Kündigung“ überschrieben ist. Das<br />

Gleiche gilt, wenn der Mieter mit ordentlicher Frist gem. § 573c BGB kündigt, obwohl ihm auch ein<br />

außerordentlicher fristloser Kündigungsgrund zur Verfügung stand (FLATOW WuM 2004, 316). Haben sich<br />

Mieter oder Vermieter bei der Berechnung der Kündigungsfrist verrechnet, muss unterschieden werden,<br />

ob es sich um einen erkennbaren Fehler für die Gegenseite handelt, dann gilt das tatsächlich Gewollte,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 147


Fach 4, Seite 1864<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

oder ob es sich um eine falsche rechtliche Bewertung handelt, die ggf. auch für die Gegenseite nicht<br />

erkennbar war. Im letzten Fall kommt eine Umdeutung nur dann in Betracht, wenn für den Kündigungsadressaten<br />

erkennbar ist, dass das Mietverhältnis auf jeden Fall beendet werden soll, also z.B. im<br />

Kündigungsschreiben auch steht „frühestmöglich“, „so schnell wie möglich“ o.Ä. Dann kommt eine<br />

Umdeutung zum früheren Termin in Betracht.<br />

c) Angabe von Gründen<br />

Hinsichtlich der Angabe von Gründen in der Kündigungserklärung muss nach den verschiedenen<br />

Kündigungstatbeständen unterschieden werden:<br />

Art der Kündigung Mieterkündigung Vermieterkündigung<br />

ordentliche Kündigung ohne Gründe möglich Angabe von Gründen gem. § 573 Abs. 3<br />

BGB<br />

außerordentliche Kündigung<br />

mit gesetzlicher Frist<br />

keine Angabe von Gründen erforderlich,<br />

insb. auch nicht bei der Kündigung gem.<br />

§ 561 BGB nach einer Mieterhöhung<br />

Gründe gem. § 573d Abs. 1 i.V.m. § 573<br />

Abs. 3 BGB notwendig. Ausnahme: Kündigung<br />

ggü. dem Erben, der nicht in der<br />

Wohnung wohnte, gem. § 564 BGB<br />

außerordentliche fristlose<br />

Kündigung<br />

Begründung gem. § 569 Abs. 4 BGB<br />

erforderlich<br />

Begründung gem. § 569 Abs. 4 BGB<br />

erforderlich<br />

Da der Mieter für die ordentliche Kündigung keine Gründe oder ein berechtigtes Interesse benötigt,<br />

muss er konsequenterweise dazu auch im Kündigungsschreiben keine Angaben machen. Anders sieht es<br />

bei der ordentlichen Kündigung des Vermieters aus. Dieser kann ein Wohnraummietverhältnis nur dann<br />

kündigen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat. Nach § 573<br />

Abs. 3 BGB werden als berechtigte Interessen des Vermieters nur Gründe berücksichtigt, die in dem<br />

Kündigungsschreiben angegeben sind, soweit sie nicht nachträglich entstanden sind. Die Kündigungsgründe<br />

müssen dabei identifizierbar sein (BayObLG WuM 1981, 200; 1985, 50). Erforderlich ist, dass der<br />

Kündigungsgrund von anderen Gründen unterschieden werden kann. Hieran sind keine hohen<br />

Anforderungen zu stellen (LG Münster NJW-RR 1990, 398; LG Detmold WuM 1990, 301). Erforderlich<br />

ist aber, dass sich die Schlüssigkeit des Kündigungsgrunds aus ihnen ergibt (LG Freiburg WuM 1990,<br />

300; AG Kenzingen WuM 1990, 433). Zu beachten ist dabei die verfassungsrechtliche Rechtsprechung,<br />

wonach die Instanzgerichte nicht durch übermäßige formale Anforderungen die Durchsetzung eines<br />

materiell-rechtlichen Anspruchs verhindern dürfen.<br />

Das Begründungserfordernis gilt nur sehr eingeschränkt für die sog. Zweifamilienhauskündigung<br />

gem. § 573a BGB (zur Frage, wann ein Zweifamilienhaus vorliegt: BGH NZM 2008, 682; NZM 2011, 71;<br />

2015, 452). Gemäß Abs. 3 muss der Vermieter nur angeben, dass er die Kündigung auf Abs. 1 oder 2<br />

stützen will. Einer Angabe von weiteren Gründen bedarf es nicht. Das ergibt sich auch daraus,<br />

dass bei einer eventuellen Interessenabwägung in den Fällen, in denen sich der Mieter auf die<br />

Sozialklausel beruft, gem. § 574 Abs. 3 BGB nur die Gründe im Kündigungsschreiben gem. § 573 Abs. 3<br />

BGB Berücksichtigung finden. Bei der Teilkündigung gem. § 573b BGB ist nach dem Gesetzeswortlaut<br />

ebenfalls keine Begründung (mehr) erforderlich. Sie kann deshalb im Prozess nachgeschoben werden.<br />

Das ist aber strittig. Nach BEUERMANN (BEUERMANN/BLÜMMEL, Das neue Mietrecht 2001, S. 400) handelt es<br />

sich insofern um ein Redaktionsversehen in § 573b BGB. Das ist aber nicht zwingend, da auch<br />

bezüglich der Teilkündigung bei der Anwendung der Sozialklausel gem. § 574 Abs. 3 BGB nunmehr<br />

auch hier nur auf § 573 Abs. 3 BGB verwiesen wird.<br />

Für die außerordentlichen Kündigungen mit gesetzlicher Frist z.B. nach §§ 540 Abs. 1, 544, 554 Abs. 3,<br />

563 Abs. 4, 563a Abs. 2, 580, 1056 Abs. 2, 2135 BGB, § 30 Abs. 2 ErbbauRVO, § 109 InsO, § 57a ZVG ordnet<br />

§ 573d Abs. 1 die entsprechende Anwendung des § 573 BGB an und damit auch den Begründungszwang<br />

gem. § 573 Abs. 3 BGB. Dies hängt damit zusammen, dass zumindest der Vermieter bei diesen<br />

Gründen auch ein berechtigtes Interesse benötigt (BGH NJW 1997, 1695). Da der Mieter aber ein solches<br />

148 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1865<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

berechtigtes Interesse gerade nicht benötigt, muss er natürlich auch die Gründe nicht angeben. Etwas<br />

anderes gilt jetzt aber für die Kündigung gegenüber dem nicht in der Wohnung lebenden Erben des<br />

Mieters. Diesem gegenüber kann jetzt ohne ein berechtigtes Interesse gem. § 564 BGB gekündigt<br />

werden, sodass auch keine Gründe im Kündigungsschreiben angegeben werden müssen.<br />

Hinweis:<br />

Für die außerordentliche fristlose Kündigung sieht § 569 Abs. 4 BGB sowohl für den Mieter wie auch den<br />

Vermieter vor, dass die Gründe im Kündigungsschreiben angegeben werden müssen.<br />

Die Vorschrift lehnt sich an die Begründungspflicht in § 573 Abs. 3 BGB an, sodass die dortige<br />

Rechtsprechung auch des BVerfG zu den Anforderungen an die Begründung übernommen werden<br />

kann. Auch hier müssen die Kündigungsgründe identifizierbar sein, d.h. der Kündigungsgrund muss von<br />

anderen Gründen unterschieden werden können. Hieran sind keine hohen Anforderungen zu stellen.<br />

Erforderlich ist aber, dass sich die Schlüssigkeit des Kündigungsgrunds aus ihnen ergibt. Eine ohne<br />

Angabe von ausreichenden Gründen abgegebene Kündigung ist unwirksam. Kündigt der Vermieter das<br />

Wohnungsmietverhältnis fristlos wegen Zahlungsverzugs des Mieters (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB), so<br />

genügt er jedenfalls bei klarer und einfacher Sachlage seiner Pflicht zur Angabe des Kündigungsgrundes,<br />

wenn er in dem Kündigungsschreiben den Zahlungsverzug als Grund benennt und den Gesamtbetrag<br />

der rückständigen Miete beziffert. Die Angabe weiterer Einzelheiten wie Datum des Verzugseintritts<br />

oder Aufgliederung des Mietrückstands für einzelne Monate ist entbehrlich (BGH NZM 2004, 187 = NJW<br />

2004, 850; NZM 2004, 699). Es genügt zur formellen Wirksamkeit einer auf Mietzahlungsverzug<br />

gestützten Kündigung des Vermieters, dass der Mieter anhand der Begründung des Kündigungsschreibens<br />

erkennen kann, von welchem Mietrückstand der Vermieter ausgeht, und dass er diesen<br />

Rückstand als gesetzlichen Grund für die fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzugs heranzieht.<br />

Darüber hinausgehende Angaben sind auch dann nicht erforderlich, wenn es sich nicht um eine klare<br />

und einfache Sachlage handelt (BGH NZM 2010, 548 = NJW 2010, 3015).<br />

d) Teilkündigung<br />

Ein Mietverhältnis kann grds. nur einheitlich gekündigt werden (LG Mainz WuM 2001, 489). Mit<br />

Ausnahme der unter § 573b BGB fallenden Fälle können deshalb grds. bei einem einheitlichen<br />

Mietvertrag weder Nebenräume noch Garagen, Keller oder einzelne Räume gekündigt werden. Hat der<br />

Vermieter von Wohnraum lediglich Bedarf an einem Teil der Räume, so kann das Mietverhältnis nicht<br />

wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 573 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB gekündigt werden. Beeinträchtigt<br />

im Einzelfall die den Belangen des Kündigenden entsprechende Teilkündigung die Interessen des Mieters<br />

nicht oder jedenfalls nicht unzumutbar, so ist gem. § 573 Abs. 1 BGB eine Teilkündigung des<br />

Wohnraummietverhältnisses in extremen Ausnahmefällen möglich (OLG Karlsruhe NJW-RR 1997, 711).<br />

Ob ein einheitlicher Mietvertrag über diese Räume und die Wohnung vorliegt, richtet sich zunächst<br />

nach dem Willen der Parteien. Soll eine einheitliche Vermietung erfolgen oder sollen getrennte Verträge<br />

geschlossen werden? Ein Indiz hierfür ist die Tatsache, ob eine oder mehrere Vertragsurkunden<br />

vorliegen. In der Regel tauchen die Probleme bei der Vermietung von Wohnung und Garage auf.<br />

Ist über die Vermietung einheitlich eine Urkunde errichtet worden, spricht der Anscheinsbeweis der<br />

Vollständigkeit und Richtigkeit der Urkunde dafür, davon auszugehen, dass der Wille der Parteien<br />

darauf gerichtet war, einen einheitlichen Vertrag abzuschließen (OLG Düsseldorf WuM 2007, 65). Diese<br />

Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Argumente hierfür sind z.B.:<br />

• nur äußerliche Verbindung zweier ansonsten leicht trennbarer Verträge;<br />

• getrennt ausgewiesene Miete für gewerblich genutzte Räume und Wohnräume (LG Berlin GE 1994,<br />

809);<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 149


Fach 4, Seite 1866<br />

Mietvertrag: Kündigung – Formalien<br />

Miete/Nutzungen<br />

• Identität der Vertragsparteien (LG Köln NZM 2001, 285);<br />

• Vereinbarung verschiedener Kündigungsfristen;<br />

• Möglichkeit, die verschiedenen Räumlichkeiten tatsächlich völlig getrennt zu nutzen.<br />

Ist die Vermietung in zwei getrennten Urkunden dokumentiert, spricht ebenfalls zunächst ein<br />

Anscheinsbeweis dafür, dass die Parteien kein einheitliches Mischmietverhältnis vereinbaren wollten,<br />

sondern dass zwei getrennte Verträge geschlossen werden sollten, deren Schicksal auch völlig<br />

unterschiedlich sein kann (BGH WuM 2013, 421; NZM 2013, 726; GE 2013, 1454; 2013, 1650). Auch diese<br />

Vermutung kann jedoch widerlegt werden; Gesichtspunkte hierfür sind z.B.:<br />

• Verträge wurden zum gleichen Zeitpunkt abgeschlossen;<br />

• Verträge haben die gleiche Laufzeit;<br />

• die räumlichen Verhältnisse sind so, dass nur eine einheitliche Vermietung an einen Mieter erfolgen<br />

kann;<br />

• eine getrennte Herausgabe der Räumlichkeiten ist nicht möglich;<br />

• es liegen keine wesentlich unterschiedlichen Vertragsbedingungen zu grunde;<br />

• es werden unterschiedliche Kündigungsfristen vereinbart (AG Neukölln GE 2000, 131).<br />

Maßgeblich ist zunächst die Feststellung des Parteiwillens. Gerade bei der Garagenmiete kommt es<br />

jedoch häufiger vor, dass für Wohnung und Garage zwei getrennte Vertragsformulare unterzeichnet<br />

werden. Dies liegt zum Teil daran, dass eine Garage im Haus erst später frei wurde, die Garage erst<br />

später errichtet wurde oder der Mieter sich, z.B. aufgrund der immer stärker um sich greifenden<br />

Parkraumbewirtschaftung, erst später entschließt, eine Garage anzumieten.<br />

Hinweis:<br />

Vermietet der Vermieter einer Wohnung seinem Mieter später auch eine auf dem Hausgrundstück gelegene<br />

Garage, so liegt darin selbst dann, wenn dies erst nach Jahren geschieht und eine ausdrückliche<br />

Einbeziehung in den bisherigen Mietvertrag nicht erfolgt, i.d.R. nur eine Ergänzung des bisherigen Vertrags<br />

(OLG Köln OLGR Köln 1993, 272; LG Wuppertal WuM 1996, 621; LG Braunschweig ZMR 1986, 165;<br />

AG Dortmund NJW-RR 1987, 207; AG Augsburg WuM 1987, 25).<br />

Eine neue selbstständige Vereinbarung kommt nur zustande, sofern ein entsprechender Parteiwille<br />

hinreichend deutlich erkennbar geworden ist (OLG Karlsruhe NJW 1983, 1499). Dies ist z.B. der Fall,<br />

wenn die Parteien insofern eine ausdrückliche vertragliche Abrede getroffen haben oder wenn<br />

ausdrücklich verschiedene Kündigungsfristen vereinbart wurden (AG Lichtenberg, Urt. v. 3.3.1994 – 2C<br />

447/93). Ein einheitlicher Mietvertrag ist von vornherein zu verneinen, wenn der Mieter einer<br />

Wohnung zwar in derselben Wohnanlage, aber nicht vom selben Vermieter eine Garage anmietet. Ein<br />

einheitliches Mietverhältnis setzt nämlich die Identität der Vertragsparteien voraus (LG Hamburg<br />

WuM 1986, 338; BayObLG WuM 1991, 78; a.A. AG Köln WuM 1993, 611, wenn zumindest der gleiche<br />

Verwalter handelt). Liegt ein einheitliches Mietverhältnis vor, ist eine Formularklausel, die eine<br />

Teilkündigung zulässt, unwirksam (AG Menden WuM 1999, 573).<br />

150 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1707<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Sozialrecht<br />

Schwerbehindertenrecht<br />

Die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen – Rechte und Pflichten<br />

nach § 164 SGB IX<br />

Von Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht PETRA GEIßINGER, Aßling/Oberbayern<br />

Inhalt<br />

I. Einführung und Ziele des § 164 SGB IX<br />

II. Anwendungsbereich für Arbeitgeber und<br />

Arbeitnehmer<br />

III. Arbeitgeberperspektive<br />

1. Organisationspflicht, § 164 Abs. 1 SGB IX<br />

2. Benachteiligungsverbot, § 164 Abs. 2 SGB IX<br />

3. Beschäftigungspflicht, § 164 Abs. 3 SGB IX<br />

4. Förderung von Teilzeitarbeit, § 164 Abs. 5<br />

SGB IX<br />

5. Unzumutbarkeit und Abwägung<br />

6. Rechtsfolgen bei Verstößen<br />

IV. Arbeitnehmerperspektive<br />

1. Anspruch auf Beschäftigung, § 164 Abs. 4<br />

SGB IX<br />

2. Bevorzugte Berücksichtigung der beruflichen<br />

Bildung<br />

3. Behinderungsgerechte Einrichtung und<br />

Unterhaltung von Arbeitsstätten sowie<br />

Ausstattung mit technischen Arbeitshilfen<br />

4. Anspruch auf Teilzeit, § 164 Abs. 5 SGB IX<br />

5. Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung<br />

V. Perspektive von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung<br />

1. Beteiligungsrechte des Betriebsrats<br />

2. Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung<br />

(SBV)<br />

VI. Verfahrensrechtliche Fragen<br />

1. Klageantrag bei behinderungsbedingter<br />

Beschäftigung<br />

2. Darlegungs- und Beweislast<br />

VII. Schlussbemerkung<br />

I. Einführung und Ziele des § 164 SGB IX<br />

Die Norm des § 164 SGB IX ist eine der wichtigsten im SGB IX, da sie die Chancen und die Teilhabe<br />

schwerbehinderter Menschen im Erwerbsleben regelt. Die Norm wirkt auf den ersten Blick recht<br />

unübersichtlich, sodass hier jeweils aus der Perspektive des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers, aber<br />

auch der Schwerbehindertenvertretung (SBV) und des Betriebsrats (BRs) nicht nur die Pflichten,<br />

sondern auch die Handlungsmöglichkeiten dargestellt werden sollen.<br />

Durch das BTHG (Bundesteilhabegesetz) vom 23.12.2016 wurde die Struktur des SGB IX geändert. Die<br />

Ansprüche auf Beschäftigung und das Benachteiligungsverbot sind nun im Teil 3, §§ 154 ff. SGB IX unter<br />

„Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen“ geregelt. Den Anspruch gibt es in<br />

dieser Form seit dem 1.1.2008. Er entspricht dem früheren § 81 SGB IX, auf den sich noch viele der<br />

zitierten Fundstellen, insb. der Rechtsprechung, beziehen. Inhaltlich existiert die Regelung bereits seit<br />

dem 1.7.2001.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 151


Fach 18, Seite 1708<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Sozialrecht<br />

In der anwaltlichen Beratungspraxis wird sie entweder gar nicht oder nur am Rande berücksichtigt.<br />

Auch ist die detaillierte Kenntnis insb. im Arbeitnehmer- bzw. SBV-/Betriebsratsmandat von Vorteil,<br />

wenn es um die prozessuale Durchsetzung geht. Erst in letzter Zeit hat das Thema der Beschäftigung<br />

schwerbehinderter Menschen an Bedeutung zugenommen, auch im Hinblick auf die gestärkten<br />

Teilhaberechte und die Antidiskriminierung von behinderten Menschen sowie als Mittel gegen den<br />

vielfach beklagten Facharbeitermangel (eingehend dazu DÜWELL, LPK-SGB IX zu § 164, Rn 4–8).<br />

Die Kernziele des § 164 SGB IX sind sowohl die Beschäftigungsförderung, die Beschäftigungssicherung<br />

als auch die Durchsetzung des Benachteiligungsverbots von schwerbehinderten Menschen. Diese Ziele<br />

werden verstärkt sowohl durch Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen, insb. nach § 164<br />

Abs. 4 und 5 SGB IX, als auch durch Beteiligungsrechte der SBV, des BR und der Bundesagentur für Arbeit<br />

(BA für Arbeit).<br />

Kerninhalt/Struktur des § 164 SGB IX:<br />

Abs. 1 • Organisationspflicht für Arbeitgeber bei Stellenbesetzung,<br />

• Kooperation mit der BA für Arbeit,<br />

• Beteiligung von SBV und Anhörung von BR/Personalrat<br />

Abs. 2 • Benachteiligungsverbot für Arbeitgeber,<br />

• Verweis auf AGG<br />

Abs. 3 • Pflicht für Arbeitgeber, die Mindestquote schwerbehinderter Menschen (dauerhaft) zu erfüllen<br />

Abs. 4 • Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen gegenüber dem Arbeitgeber,<br />

• behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten,<br />

• behinderungsgerechte Gestaltung der Arbeitsplätze/Umfeld,<br />

• behinderungsgerechte Arbeitsorganisation/Arbeitszeit,<br />

• Ausstattung des Arbeitsplatzes mit erforderlichen technischen Arbeitshilfen,<br />

• Unterstützung des Arbeitgebers durch BA für Arbeit und Integrationsamt,<br />

• Grenze für Arbeitgeber, Zumutbarkeit und Aufwand<br />

Abs. 5 • Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen sowie Anspruch des schwerbehinderten<br />

Menschen auf Teilzeitbeschäftigung, wenn wegen Art der Behinderung notwendig<br />

Für öffentliche Arbeitgeber gelten nicht nur die Pflichten des § 154 i.V.m. § 164 SGB IX, sondern<br />

weitergehende Pflichten, wie die Meldepflicht an die BA für Arbeit und die Pflicht zur Einladung eines<br />

schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch (vgl. § 165 SGB IX).<br />

II. Anwendungsbereich für Arbeitgeber und Arbeitnehmer<br />

Die Pflichten des § 164 SGB IX gelten grds. für alle Arbeitgeber, also auch diejenigen, die nicht unter das<br />

KSchG fallen, soweit sich aus dem Wortlaut nicht etwas anderes ergibt.<br />

Umgekehrt gilt die Vorschrift für alle schwerbehinderten Menschen. Es findet keine Begrenzung auf<br />

Arbeitnehmer im klassischen Sinne nach § 611a BGB statt. Denn der Maßstab ist hier allein § 2 Abs. 2<br />

SGB IX. Dieser setzt zumindestens einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 oder höher voraus.<br />

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Behindertenbegriff europarechtskonform (RL 2000/78/EG)<br />

weit auszulegen ist, sodass auch behinderte Menschen mit einem GdB von mindestens 30 (gleichgestellt<br />

i.S.v. § 2 Abs. 3 SGB IX) darunterfallen (vgl. FABRICIUS in juris-PK, 3. Aufl. zu § 164 Rn 9; DÜWELL in LPK SGB IX<br />

zu § 164 Rn 20; BAG, Urt. v. 3.4.2017 – 9 AZR 823/06; BAG, Urt. v. 18.11.2008 – 9 AZR 643/07).<br />

III.<br />

Arbeitgeberperspektive<br />

1. Organisationspflicht, § 164 Abs. 1 SGB IX<br />

§ 164 Abs. 1 ist als Organisationspflicht für den Arbeitgeber ausgestaltet. Danach ist der Arbeitgeber<br />

verpflichtet, vor jeder Stellenbesetzung zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten<br />

Menschen besetzt werden können. Dabei ist die BA für Arbeit einzubinden, diese kann als arbeitslos<br />

152 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1709<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

oder als arbeitssuchend gemeldete schwerbehinderte Menschen dem Arbeitgeber vorschlagen.<br />

Weiter hat der Arbeitgeber die SBV bzw. die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen, insb. den BR,<br />

einzubeziehen.<br />

Hieraus lässt sich aber keine unmittelbare Einstellungspflicht eines schwerbehinderten Menschen für<br />

den Arbeitgeber ableiten, sondern lediglich eine mittelbare Pflicht, indem der Arbeitgeber Maßnahmen<br />

ergreifen muss, um wenigstens die Mindestbeschäftigungsquote zu erreichen (vgl. DÜWELL, LPK SGB IX<br />

zu § 164 Rn 1<strong>03</strong>/104).<br />

Prüfungsreihenfolge für den Arbeitgeber:<br />

1. Liegt eine freie Stelle vor?<br />

2. Erstellen eines konkreten Anforderungsprofils<br />

3. Besetzungs-/Auswahlverfahren<br />

Es stellt sich die Frage, wann der Arbeitgeber i.S.d. § 164 Abs. 1 aktiv werden muss. Dies ist dann der Fall,<br />

wenn ein freier Arbeitsplatz vorhanden ist. Dabei wird der freie Arbeitsplatz sehr weit definiert, es<br />

betrifft nicht nur neu geschaffene oder extern zu vergebende Stellen, sondern ist auch anzunehmen bei<br />

der Wiederbesetzung oder nur interner Vergabe von Arbeitsstellen bzw. demnächst frei werdenden<br />

Stellen. (vgl. DÜWELL, LPK SGB IX zu § 164 Rn 110, 113, 114). Eine freie Stelle liegt auch dann vor, wenn der<br />

Arbeitgeber plant, diese mit einem Leiharbeitnehmer zu besetzen (vgl. BAG, Urt. v. 23.6.2010 – 7 ABR 3/09;<br />

BAG, Urt. v. 15.10.2013 – 1 ABR 25/12).<br />

Im nächsten Schritt hat der Arbeitgeber dann noch vor der eigentlichen Stellenausschreibung ein<br />

konkretes Anforderungsprofil zu erstellen. Mit dem konkreten Anforderungsprofil soll das Ziel der<br />

Beschäftigungsförderung von schwerbehinderten Menschen besser erreicht werden, denn es ist<br />

davon auszugehen, dass kein Arbeitsplatz von vornherein für schwerbehinderte Menschen ungeeignet<br />

ist. Neben dem Anforderungsprofil sind auch Angaben über die zu erwartende Arbeitsbelastung<br />

anzuführen sowie eine Gefährdungsbeurteilung nach §§ 5,6 ArbSchG zu erstellen. Im Hinblick auf<br />

mögliche negative Folgen für den Arbeitgeber, insb. auf Schadenersatzansprüche wegen Diskriminierung<br />

schwerbehinderter Menschen, sollte auf die Erstellung des Anforderungsprofils allergrößte<br />

Sorgfalt verwendet werden.<br />

Hilfreich ist hierbei die Orientierung an einem Kriterienkatalog:<br />

• Welche beruflichen Qualifikationen sind erforderlich?<br />

• Handelt es sich um eine körperlich leichte oder schwere Tätigkeit?<br />

• Bestehen besondere Anforderungen an die Gebrauchsfähigkeit von Fingern/Händen?<br />

• Erfordert die Tätigkeit ständiges Gehen, Stehen oder Sitzen oder wechselnde Körperhaltungen bzw.<br />

Zwangshaltungen?<br />

• Ist die Tätigkeit mit Heben oder Tragen verbunden? Wenn ja, um welche Lasten geht es?<br />

• Erfordert die Tätigkeit häufiges Bücken oder das Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten?<br />

• Ist die Tätigkeit mit besonderen Anforderungen an Konzentrations-, Reaktions-, Umstellungs- und<br />

Anpassungsvermögen verbunden?<br />

• Besteht eine Verantwortung für Personen und Maschinen?<br />

• Ist der Arbeitnehmer mit der Überwachung und/oder der Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge<br />

betraut?<br />

• Ist die Tätigkeit mit Publikumsverkehr verbunden?<br />

• Ist der Arbeitsplatz besonderen Belastungsfaktoren ausgesetzt?<br />

• Handelt es sich um Schichtarbeit oder eine Tätigkeit mit häufig wechselnden Arbeitszeiten?<br />

• Gibt es weitere besondere Belastungsfaktoren (Arbeit bei Nässe, Kälte, Zugluft, Lärm, Vibration etc.)?<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 153


Fach 18, Seite 1710<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Sozialrecht<br />

Literaturhinweis:<br />

Vgl. SCHMIDT, BETTINA Schwerbehindertenarbeitsrecht, 3. Aufl. 2019, Rn 138; DÜWELL LPK SGB IX zu § 164<br />

Rn 129–130; FABRICIUS juris-PK zu § 164 Rn 20.<br />

Allein schon aus Transparenzgründen sollte der Kriterienkatalog für alle Anforderungsprofile nach einem<br />

einheitlichen festgelegten Verfahren ermittelt werden. Grundsätzlich ist der Arbeitgeber in der<br />

Gestaltung des Anforderungsprofils zwar frei, aber es ist auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber<br />

hier die Beteiligung der SBV vorgesehen hat, ebenso wie das Anforderungsprofil Grundlage für den<br />

Vermittlungsprozess der BA für Arbeit ist. Vereinzelt wird an der Unterstützung der BA für Arbeit Kritik<br />

laut. Die Unterstützung der Arbeitgeber zur Erfüllung ihrer Pflicht nach § 164 Abs. 1 SGB IX ist nicht<br />

immer zufriedenstellend, oftmals erhält der Arbeitgeber lediglich die Auskunft, man möge die<br />

vorgesehene Stelle doch allgemein als freie Stelle der BA für Arbeit melden. Dies wird den besonderen<br />

Vorgaben nicht gerecht, die Schaffung eines eigenständigen Portals für Arbeitgeber zur Erfüllung ihrer<br />

Pflicht nach § 164 Abs. 1 SGB IX wäre sinnvoll und würde auch die Betreuung von schwerbehinderten<br />

Arbeitslosen verbessern (vgl. FABRICIUS in juris-PK, 3. Aufl. 2018, zu § 164 Rn 19 unter Bezugnahme auf LAG<br />

Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 12.12.2013 – 26 TaBv 1164/13, ZB 2014, Nr. 2, 13).<br />

Im nächsten Schritt findet dann die eigentliche Personalauswahl statt. Diese hat sich an § 164 Abs. 1<br />

S. 3–5 und 10 SGB IX zu orientieren. Danach schlägt die BA für Arbeit oder der Integrationsfachdienst<br />

(IFD) entsprechende Bewerber vor. Der Arbeitgeber unterrichtet die SBV und den BR unmittelbar<br />

nach Eingang der Bewerbungen schwerbehinderter Menschen oder gleichgestellter behinderter<br />

Menschen, und zwar unabhängig davon, ob diese auf Vorschlag der BA für Arbeit oder als<br />

Initiativbewerbung beim Arbeitgeber eingegangen sind. Dabei hat der Arbeitgeber die SBV und den<br />

BR über den Eingang einer jeden einzelnen Bewerbung sofort zu unterrichten. Ein Ansammeln von<br />

mehreren Bewerbungen und späteres Weiterleiten ist mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbar<br />

(vgl. DÜWELL LPK SGB IX zu § 164 Rn 144 unter Hinweis auf eine Entscheidung des ArbG Marburg, Urt.<br />

v. 29.7.2005 – 2 Ca 65/05, DB 2005, 1860).<br />

Sind die Bewerbungen nicht auf Vorschlag der BA für Arbeit eingegangen, so trifft den Arbeitgeber die<br />

Pflicht, die Bewerbungsunterlagen daraufhin sorgfältig zu prüfen, ob es sich um einen schwerbehinderten<br />

Menschen als Bewerber handelt. Dies verlangt, dass der Arbeitgeber zumindestens das<br />

Anschreiben, den Lebenslauf und das letzte Zeugnis gelesen hat, um herauszufinden, ob möglicherweise<br />

eine Schwerbehinderung des Bewerbers vorliegt. Gerade im Hinblick auf die Erfüllung der gesetzlichen<br />

Pflicht ebenso wie der Beteiligungsrechte von SBV und BR sollte der Arbeitgeber diesen Prüfungsschritt<br />

ernst nehmen. Auf der anderen Seite werden dem Arbeitgeber aber keine übertriebenen Nachforschungsaktivitäten,<br />

z.B. bei Vorlage eines abgelaufenen Schwerbehindertenausweises abverlangt<br />

(vgl. FABRICIUS juris-PK zu § 164 Rn 23/24; DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 142–146; ArbG Ulm, Urt.<br />

v. 17.12.2009 – 5 Ca 316/09, ZMV 2010, 56 f.; BAG, Urt. v. 13.10.2011 – 8 AZR 608/10, Behindertenrecht<br />

2012, 169 ff.; LAG Köln, Urt. v. 2.11.2012 – 4 Sa 248/12, Behindertenrecht 2014, 56).<br />

Eine Verschärfung der Organisationspflicht trifft diejenigen Arbeitgeber, die ihrer Mindestbeschäftigungspflicht<br />

nicht nachkommen, § 164 Abs. 1 S. 7–9 SGB IX. Trifft der Arbeitgeber eine Entscheidung, mit<br />

der die SBV oder der BR nicht einverstanden sind, so ist der Arbeitgeber verpflichtet, unter Darlegung<br />

seiner Gründe diese mit der SBV und dem BR zu erörtern. Hervorzuheben ist hierbei, dass das BAG<br />

ausdrücklich klargestellt hat, dass diese Erörterungspflicht nicht diejenigen Arbeitgeber trifft, die ihrer<br />

Beschäftigungspflicht nachkommen (vgl. BAG, Urt. v. 21.2.2013 – 8 AZR 180/12, BAGE 144, 275; FABRICIUS<br />

in juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 30; DÜWELL LPK SGB IX zu § 164 Rn 155).<br />

Gleichzeitig ist der schwerbehinderte Mensch anzuhören, § 164 Abs. 1 S. 8 SGB IX. Die Pflicht zur<br />

Erörterung geht dabei über ein bloßes Informieren von SBV und BR deutlich hinaus, es wird verlangt,<br />

dass Argumente ausgetauscht werden (vgl. FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 28).<br />

154 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1711<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Nach der Erörterung hat der Arbeitgeber dann alle Beteiligten über die Entscheidung zu unterrichten.<br />

Streitig ist dabei, in welcher Form dies zu geschehen hat. In der Literatur wird die Auffassung vertreten,<br />

dass dies in Schriftform zu erfolgen hat. Zur Begründung wird angeführt, dass diese die gerichtliche<br />

Überprüfung erleichtert und ein Nachschieben von weiteren Gründen dem Arbeitgeber verwehrt<br />

würde. Die Rechtsprechung ist dieser Auffassung nicht gefolgt. Der Arbeitgeber hat die freie Wahl,<br />

welche Art der Unterrichtung er wählen will (vgl. BAG, Urt. v. 18.11.2008 – 9 AZR 643/07, NZA 2009,<br />

728 ff., DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 107 und 50).<br />

2. Benachteiligungsverbot, § 164 Abs. 2 SGB IX<br />

Arbeitgeber sind verpflichtet, schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung zu<br />

benachteiligen. Hinsichtlich der Details enthält Satz 2 eine Verweisung auf das AGG, insb. die §§ 1, 2, 7<br />

und 15 AGG. Wie bereits dargelegt, ist vom weiten europarechtlichen Behindertenbegriff i.S.d.<br />

EU-Richtlinie 2000/78/EG auszugehen. Adressat ist in erster Linie der Arbeitgeber, das Benachteiligungsverbot<br />

bindet jedoch auch die Vertrags- und Tarifparteien.<br />

Der Umfang des Benachteiligungsverbots erstreckt sich dabei vom Einstellungsverfahren (Zugang<br />

zu Erwerbstätigkeit nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG), über die Beschäftigungsbedingungen im laufenden<br />

Beschäftigungsverhältnis sowie den beruflichen Aufstieg (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 AGG) und bis hin zum<br />

Sozialschutz bei Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen.<br />

Zu beachten ist der weite Beschäftigungsbegriff des § 6 Abs. 1 S. 2 AGG, der auch diejenigen<br />

schwerbehinderten Menschen umfasst, die sich erst um eine Arbeitsstelle bewerben. Auch solche<br />

Personen genießen damit den Schutz nach § 164 Abs. 2 SGB IX (vgl. BAG, Urt. v. 19.8.2010 – 8 AZR 370/09,<br />

NZA 2011, 200). Das BAG hat entschieden, dass schon die Nichteinbeziehung in die Auswahl zur Einstellung<br />

eine Verletzung des Benachteiligungsverbots darstellt, denn in diesem Nachteil liegt die Versagung einer<br />

Chance (vgl. BAG, Urt. v. 17.8.2010 – 9 AZR 839/08, NZA 2011, 153).<br />

Aber allein aus der Nichterfüllung der Pflichtquote kann allerdings nicht schon per se eine Verletzung<br />

des Benachteiligungsverbots begründet werden.<br />

Es entspricht der herrschenden Meinung, dass die Frage nach einer Schwerbehinderung oder einer<br />

Gleichstellung im Einstellungsverfahren oder Personalfragebogen unzulässig ist. Hieraus folgt, dass<br />

ein schwerbehinderter Bewerber diesbezüglich ein Recht zur Lüge hat. In engen Grenzen ist es dem<br />

Arbeitgeber aber erlaubt, danach zu fragen, ob der Bewerber die konkreten Leistungsanforderungen<br />

erbringen kann. Das Risiko für den Arbeitgeber, wenn dieser sich im Bewerbungsgespräch nach<br />

bestimmten Erkrankungen erkundigt, die Rückschlüsse auf eine Behinderung ermöglichen, ist sehr<br />

hoch mit der Folge, dass der Arbeitgeber zu Entschädigungszahlungen an den Bewerber verurteilt<br />

werden kann.<br />

Auch Fragen bzw. Angaben in der Stellenausschreibung zur Flexibilität und Belastbarkeit eines<br />

Bewerbers beinhalten ein hohes Risiko der Benachteiligung eines schwerbehinderten Menschen. Die<br />

Rechtsprechung stellt hierbei auf die Umstände des Einzelfalls ab, sodass es in solchen Fällen auf eine<br />

besonders sorgfältige Dokumentation sowie Recherche des Sachverhalts ankommt.<br />

Ein Arbeitgeber sollte auch darauf achten, dass einzelne Formulierungen im Arbeitsvertrag nicht<br />

gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen. So kann eine Klausel, wonach der Mitarbeiter erklärt,<br />

dass er zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses den Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes<br />

nicht unterliegt, einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot begründen (vgl. LAG Hamburg, Urt.<br />

v. 30.11.2017 – 7 Sa 90/17).<br />

Im laufenden Beschäftigungsverhältnis wird das Benachteiligungsverbot gem. § 164 Abs. 2 SGB IX<br />

durch den Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 164 Abs. 4 und 5 SGB IX<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 155


Fach 18, Seite 1712<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Sozialrecht<br />

konkretisiert (vgl. die Ausführungen dazu unter III 3 bzw. IV). Weiter ist auf die Möglichkeiten der<br />

betrieblichen Prävention, insb. auf das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX und das<br />

betriebliche Wiedereingliederungsmanagement (BEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX zu verweisen (vgl.<br />

hierzu auch GEIßINGER <strong>ZAP</strong> F. 17, S. 1313 ff.).<br />

In Fällen der Diskriminierung bei Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses ist zu differenzieren<br />

zwischen Kündigungen, die dem KSchG unterliegen, und Kündigungen während der Wartezeit und in<br />

Kleinbetrieben. Bei Kündigungen, die dem KSchG unterliegen, sind die Diskriminierungsverbote des<br />

AGG und deren mögliche Rechtfertigungen im Rahmen der Konkretisierung der Sozialwidrigkeit zu<br />

berücksichtigen (vgl. BAG, Urt. v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, BAGE 128, 238; BAG, Urt. v. 20.6.2013 –<br />

2 AZR 295/12, BAGE 145, 296). Sofern das KSchG keine Anwendung findet, also bei Kündigungen<br />

während der Wartezeit und in kleinen Betrieben, gelten die Vorgaben des AGG unmittelbar gem. § 2<br />

Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 AGG i.V.m. § 134 BGB.<br />

3. Beschäftigungspflicht, § 164 Abs. 3 SGB IX<br />

Diese Pflicht trifft nur Arbeitgeber, die nach § 154 Abs. 1 SGB IX der Beschäftigungspflicht unterliegen.<br />

Dies sind alle Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich mindestens 20 Arbeitsplätzen.<br />

Auch wenn der Wortlaut von schwerbehinderten Menschen spricht, so ist auch hier im Wege der<br />

richtlinienkonformen Auslegung, RL 2000/78/EG, der weite europarechtliche Behinderungsbegriff zu<br />

verwenden, wonach diese Norm auf alle behinderte Menschen ab einem GdB von 30 anzuwenden ist.<br />

Durch die Formulierung in Abs. 3, wonach durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen ist, dass<br />

wenigstens der vorgeschriebenen Zahl der schwerbehinderten Menschen eine möglichst dauerhafte<br />

behinderungsgerechte Beschäftigung ermöglicht wird, beinhaltet die Pflicht für den Arbeitgeber, nicht<br />

nur vorhandene Arbeitsplätze hierfür zu nutzen, sondern auch neue behinderungsgerechte Arbeitsplätze<br />

einzurichten, um die Pflichtquote zu erfüllen.<br />

Dieser Eingriff in die unternehmerische Freiheit ist gerechtfertigt, soweit die Grenzen der Zumutbarkeit<br />

und und der Verhältnismäßigkeit der Aufwendungen in Übereinstimmung mit den Arbeitsschutzvorschriften<br />

gewahrt sind (vgl. DÜWELL LPK SGB IX zu § 164 Rn 175; FABRICIUS juris-PK zu § 164<br />

Rn 64).<br />

In einer aktuellen Entscheidung hat das BAG die unternehmerische Entscheidungsfreiheit gestärkt<br />

und nun klargestellt, dass der Anwendungsbereich des § 164 Abs. 3 SGB IX ebenso wie des Abs. 4 S. 1<br />

Nr. 1 nur die schwerbehinderten Beschäftigten im ungekündigten Arbeitsverhältnis erfasst. Weiter<br />

geht das BAG davon aus, dass die Beschäftigungspflicht in Abs. 3 lediglich eine Organisationspflicht<br />

des Arbeitgebers begründet, ohne Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen zu schaffen.<br />

Das BAG verweist zur Begründung darauf, dass das SGB IX durch das Erfordernis der Zustimmung<br />

durch das Integrationsamt und der Beteiligung der SBV in Kombination mit der Berücksichtigung der<br />

Schwerbehinderung im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ein abschließendes<br />

Schutzsystem bereits enthalte. Folglich ist der Arbeitgeber nicht daran gehindert, eine Unternehmerentscheidung<br />

dahingehend zu treffen, die zum Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses für den<br />

schwerbehinderten Menschen führe (BAG, Urt. v. 16.5.2019 – 6 AZR 329/18, NZA 2019, 1198).<br />

4. Förderung von Teilzeitarbeit, § 164 Abs. 5 SGB IX<br />

Nach Abs. 5 ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen zu fördern.<br />

Umgekehrt haben schwerbehinderte Menschen einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung, wenn die<br />

kürzere Arbeitszeit wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist.<br />

§ 164 Abs. 5 SGB IX stellt eine Spezialvorschrift zu § 8 TzBfG dar. Der Teilzeitanspruch nach SGB IX ist<br />

umfassender als der des TzBfG. Dies wird daran deutlich, dass der Teilzeitanspruch nach SGB IX auch in<br />

156 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1713<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Kleinunternehmen mit bis zu 15 Beschäftigten besteht und zeitlich bereits auch in den ersten 6 Monaten<br />

des Arbeitsverhältnisses Anwendung findet. Es muss allerdings ein kausaler Zusammenhang zwischen<br />

dem Verlangen auf Arbeitszeitverkürzung und der Art und Schwere der Behinderung gegeben sein. In<br />

Zweifelsfällen kann der Arbeitgeber bestreiten, dass ein kausaler Zusammenhang besteht. Es liegt dann<br />

am schwerbehinderten Menschen, den kausalen Zusammenhang zwischen Verlangen nach Arbeitszeitverkürzung<br />

und seiner Behinderung darzulegen und zu beweisen.<br />

Weiter hat der Arbeitgeber darauf zu achten, dass er den Teilzeitanspruch eines schwerbehinderten<br />

Menschen nicht aus betrieblichen Gründen i.S.d. § 8 TzBfG ablehnen kann, sondern nur, soweit die<br />

Teilzeitbeschäftigung für ihn unzumutbar oder mit unverhältnismäßigem Aufwand i.S.d. § 164 Abs. 4 S. 3<br />

SGB IX verbunden ist.<br />

Sofern die genannten Voraussetzungen vorliegen, entsteht der Anspruch auf Teilzeit unmittelbar<br />

und mit sofortiger Wirkung; einer Vertragsänderung bedarf es nicht (vgl. BAG, Urt. v. 14.10.20<strong>03</strong> –<br />

9 AZR 100/<strong>03</strong>, BAGE 108,77). Es ist allerdings empfehlenswert, diese im Hinblick auf die Anforderungen<br />

des § 3 NachwG zu dokumentieren.<br />

5. Unzumutbarkeit und Abwägung<br />

Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, den Ansprüchen des schwerbehinderten Menschen entgegen zu<br />

halten, dass diese für ihn unzumutbar sind oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden<br />

wären bzw. staatliche oder berufsgenossenschaftliche Arbeitsschutzvorschriften dem entgegenstehen,<br />

§ 164 Abs. 4 S. 3 SGB IX. Es sind also die Interessen des schwerbehinderten Menschen auf<br />

behinderungsgerechte Beschäftigung mit denen des Arbeitgebers sorgsam abzuwägen (vgl. DÜWELL in<br />

LPK-SGB IX zu § 164 Rn 205; FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 76). Den Arbeitgeber trifft hier eine<br />

hohe Darlegungs- und Beweislast (vgl. BAG, Urt. v. 14.3.2006 – 9 AZR 411/05), weil andernfalls Sinn<br />

und Zweck des Gesetzes, insb. die der Beschäftigungsförderung und Beschäftigungssicherung nicht<br />

erreicht werden könnten.<br />

Es ist also nicht ausreichend, wenn der Arbeitgeber pauschal einwendet, er habe alle Möglichkeiten<br />

geprüft und die Schaffung bzw. Einrichtung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes sei ihm daher<br />

unzumutbar. Es sind immer konkret die Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Er hat konkret darzulegen,<br />

welche Möglichkeiten zur Schaffung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes er in Betracht gezogen<br />

hat, und aus welchem Grund er diese nicht realisieren wird.<br />

Der Arbeitgeber hat in seine Erwägungen einzubeziehen, dass es die Möglichkeit gibt, finanzielle<br />

Zuschüsse des Integrationsamts (z.B. den Beschäftigungssicherungszuschuss nach § 185 Abs. 3 Nr. 2<br />

SGB IX, früher Minderleistungsausgleich genannt, oder Zuschüsse zur behinderungsgerechten Einrichtung<br />

von Arbeitsplätzen) und der BA für Arbeit zu erhalten. Nimmt der Arbeitgeber solche<br />

finanziellen Leistungen, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Anspruch, kann er sich nicht auf<br />

die Unzumutbarkeit berufen (vgl. DÜWELL in LPK-SGB IX zu § 164 Rn 204).<br />

Wendet der Arbeitgeber die Unzumutbarkeit einer Umorganisation ein, dann hat er konkret darzulegen,<br />

ob und in welcher Form andere Arbeitsplätze gefährdet sind bzw. für andere Arbeitnehmer Nachteile<br />

drohen.<br />

Wird erst durch bestimmte Maßnahmen des Arbeitgebers ein arbeitsschutzrechtskonformer Zustand<br />

hergestellt, kann der Arbeitgeber sich nicht darauf berufen, dass eine behinderungsgerechte Beschäftigung<br />

für ihn unzumutbar oder unverhältnismäßig wäre. Die Einhaltung arbeitsschutzrechtlicher<br />

Vorschriften ist für den Arbeitgeber zwingend und Ausdruck der allgemeinen Fürsorgepflicht.<br />

6. Rechtsfolgen bei Verstößen<br />

Die Verletzung der Beschäftigungspflicht durch den Arbeitgeber kann unterschiedliche Sanktionen nach<br />

sich ziehen. Zum einen sind dies die Bußgeldvorschriften nach § 238 Abs. 1 SGB IX. Dies betrifft insb. die<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 157


Fach 18, Seite 1714<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Sozialrecht<br />

Verletzung der Beschäftigungspflicht. Zuständig für die Verfolgung der Bußgeldtatbestände sind die<br />

jeweiligen Landesdirektionen der BA für Arbeit (Verwaltungsbehörde nach § 238 Abs. 3 SGB IX i.V.m. § 47<br />

OWiG). Nach § 238 Abs. 2 SGB IX beträgt die Geldbuße bis zu 10.000 €.<br />

Arbeitgeber, die die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigen, haben für<br />

jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte Menschen eine Ausgleichsabgabe nach<br />

§ 160 SGB IX zu zahlen. Die Höhe ergibt sich aus § 160 Abs. 2 SGB IX, derzeit zwischen 125 € und 320 € je<br />

unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. Die Ausgleichsabgabe hat der Arbeitgeber jährlich an das für seinen<br />

Sitz zuständige Integrationsamt zu zahlen (vgl. § 160 Abs. 4 SGB IX).<br />

Hinweis:<br />

Zu den innerbetrieblichen Sanktionen durch den BR, insb. nach § 99 BetrVG vgl. die Ausführungen unter V<br />

(Perspektive des BR).<br />

Die Verletzung des Benachteiligungsverbots gem. § 164 Abs. 2 SGB IX kann i.V.m. § 15 Abs. 1 AGG<br />

Schadenersatzansprüche des schwerbehinderten Menschen nach sich ziehen. Eine Haftungshöchstgrenze<br />

ist nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehen und auch vom BAG bislang abgelehnt<br />

worden (vgl. FABRICIUS juris-LPK SGB IX zu § 164 Rn 54; DÜWELL LPK-SGB IX zu § 104 Rn 60/78). Lediglich<br />

für den immateriellen Schaden ist nach § 15 Abs. 2 S. 2 AGG die summenmäßige Begrenzung auf<br />

höchstens drei Monatsverdienste vorgesehen.<br />

Im laufenden Beschäftigungsverhältnis können Konstellationen vorkommen, in denen der Arbeitgeber in<br />

Annahmeverzug nach § 615 BGB gerät und so dem schwerbehinderten Menschen Annahmeverzugslohn<br />

schuldet. Dies ist insb. dann der Fall, wenn der Arbeitgeber sein Direktionsrecht gem. § 106 GewO nicht<br />

oder nicht ordnungsgemäß ausübt und dem schwerbehinderten Menschen eine seiner eingeschränkten<br />

Leistungsfähigkeit entsprechende Tätigkeit nicht zuweist (vgl. SCHMIDT, a.a.O., Rn 278–281).<br />

Auch die Verletzung der Beschäftigungspflicht nach § 164 Abs. 4 SGB IX kann Schadenersatzansprüche<br />

nach § 280 BGB des schwerbehinderten Menschen zur Folge haben. Der Schadenersatz besteht in der<br />

dem schwerbehinderten Menschen entgangenen Vergütung durch die Verletzung der Beschäftigungspflicht.<br />

Beispiel:<br />

Wird ein schwerbehinderter Mensch von der Erbringung seiner Arbeitsleistung widerruflich freigestellt<br />

und erhält während der Freistellungsphase lediglich eine Grundvergütung und verliert dabei regelmäßig<br />

sonst gezahlte Schichtzulagen, besteht ein Schadenersatzanspruch i.H.d. nicht gezahlten Schichtzulagen.<br />

Des Weiteren ist auch ein Schadenersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 164 Abs. 4 SGB IX<br />

denkbar, da letzterer ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB darstellt (vgl. BAG, Urt. v. 4.10.2005 – 9 AZR<br />

632/04, BAGE 116, 121). Befindet sich der Arbeitgeber mit der behinderungsgerechten Einrichtung und<br />

Unterhaltung der Arbeitsstätten oder des Arbeitsplatzes mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen<br />

der Ausstattung nach § 164 Abs. 4 Nr. 4 und 5 SGB IX in Verzug, kommt auch eine Verurteilung auf<br />

Vornahme einer bestimmten Handlung (z.B. den Einbau von elektrischen Türöffner oder die Anschaffung<br />

eines höhenverstellbaren Schreibtisches) in Betracht, denn auch diese Regelung ist als Individualanspruch<br />

des schwerbehinderten Menschen ausgestaltet (vgl. dazu die Ausführungen unter IV 3).<br />

IV.<br />

Arbeitnehmerperspektive<br />

1. Anspruch auf Beschäftigung, § 164 Abs. 4 SGB IX<br />

§ 164 Abs. 4 gewährt dem schwerbehinderten Menschen einen Rechtsanspruch gegenüber seinem<br />

Arbeitgeber auf Beschäftigung, bei der er seine Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten<br />

und weiter entwickeln kann und zwar unter Berücksichtigung der Behinderung und ihrer Auswirkungen<br />

auf die Beschäftigung.<br />

158 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1715<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Damit gewährt der Gesetzgeber dem schwerbehinderten Menschen einen individuell einklagbaren<br />

Rechtsanspruch auf Beschäftigung, der dadurch begrenzt wird, dass er dem Arbeitgeber unzumutbar<br />

bzw. mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden ist (vgl. DÜWELL LPK SGB IX zu § 164<br />

Rn 178; FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 69). Die Grenze der Unzumutbarkeit ist dabei eher hoch<br />

anzusetzen, denn der Arbeitgeber hat eine gesteigerte Fürsorgepflicht gegenüber dem schwerbehinderten<br />

Menschen. Daraus folgt, dass der Arbeitgeber besonders intensiv prüfen muss, welche<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Während der Prüfphase ist der Arbeitgeber gehalten, dem<br />

schwerbehinderten Menschen eine vorübergehende behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen.<br />

Zunächst erfüllt der Arbeitgeber den Anspruch i.d.R. dadurch, dass er dem Arbeitnehmer die im<br />

Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeit zuweist (Ausübung des Direktionsrechts). Ist der schwerbehinderte<br />

Mensch nicht mehr in der Lage, die vertraglich geschuldete Tätigkeit zu erbringen, hat dies nicht zur<br />

Folge, dass der Beschäftigungsanspruch entfällt, sondern der schwerbehinderte Mensch hat einen<br />

Rechtsanspruch auf Vertragsänderung (vgl. BAG, Urt. v. 4.10.2005 – 9 AZR 632/04).<br />

Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers:<br />

• Zuweisung eines freien Arbeitsplatzes,<br />

• Maßnahmen der Umorganisation (z.B. Arbeitsplatztausch, Änderung des Raums, des Teams),<br />

• Kündigung eines anderen Mitarbeiters zur Besetzung mit dem schwerbehinderten Menschen<br />

(Freikündigung) (str.; BVerwG, BAG zurückhaltend),<br />

• Versetzung auf einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz,<br />

• Zuweisung eines mit einem Leiharbeitnehmer besetzten Arbeitsplatzes.<br />

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Arbeitnehmer nicht verpflichtet ist, den Arbeitgeber<br />

vorab auf Zustimmung zur Vertragsänderung zu verklagen, denn der Beschäftigungsanspruch nach<br />

§ 164 Abs. 4 SGB IX entsteht unmittelbar kraft Gesetz (vgl. BAG, Urt. v. 10.5.2005 – 9 AZR 230/04, NZA<br />

2006, 155). Der Arbeitnehmer muss allerdings den Anspruch auf behinderungsgerechte bzw. leidensgerechte<br />

Beschäftigung unter Angabe der behinderungsbedingten bzw. krankheitsbedingten Beeinträchtigungen<br />

geltend machen (LAG Nürnberg, Urt. v. 18.4.2018 – 2 Sa 408/17, BB 2018, 1977–1984). Dabei<br />

ist auch möglich, dass der Arbeitnehmer im Rahmen einer Wiedereingliederung eine anderweitige,<br />

behinderungsgerechte Beschäftigung verlangt (BAG, Urt. v. 13.6.2006 – 9 AZR 229/05, NZW 2007, 91;<br />

LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 23.5.2018 – 15 Sa 1700/17).<br />

Allerdings hat der Arbeitnehmer bereits nach dem Wortlaut keinen Anspruch auf einen ganz<br />

bestimmten Arbeitsplatz; der Anspruch beschränkt sich darauf, dass der Arbeitnehmer verlangen<br />

kann, dass er nach seinen Fähigkeiten und Kenntnissen unter Berücksichtigung seiner Behinderung<br />

beschäftigt wird. Dies wird konkretisiert durch § 164 Abs. 4 S. Nr. 4, 5 SGB IX, also die behinderungsgerechte<br />

Einrichtung, Ausstattung oder Umgestaltung des Arbeitsplatzes. Dies bedeutet auch, dass<br />

er keinen Anspruch auf Beförderung hat, wenngleich auch eine Beförderung an sich nicht von<br />

vornherein ausgeschlossen ist. Umgekehrt gilt das Verbot der unterwertigen Beschäftigung (FABRICIUS<br />

juris-PK SGB IX zur § 164 Rn 66; DÜWELL SGB IX zu § 164 Rn 181).<br />

2. Bevorzugte Berücksichtigung der beruflichen Bildung<br />

Der unmittelbare Beschäftigungsanspruch wird flankiert durch Maßnahmen nach § 164 Abs. 4 Nr. 2–5<br />

SGB IX. Im Einzelnen:<br />

Die Beschäftigungssicherung von schwerbehinderten Menschen findet auch dadurch statt, dass diese<br />

bei der beruflichen Aus- und Fortbildung bevorzugt berücksichtigt werden. Dabei ist zwischen der<br />

innerbetrieblichen und außerbetrieblichen Fortbildung zu unterscheiden. Eine Pflicht des Arbeitgebers<br />

innerbetriebliche Fortbildungen anzubieten, besteht nicht, werden diese aber angeboten, so<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 159


Fach 18, Seite 1716<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Sozialrecht<br />

sind schwerbehinderte Menschen bevorzugt zu berücksichtigen. Bei außerbetrieblichen Maßnahmen<br />

ist dies schwächer ausgestaltet, hier hat der Arbeitgeber dem schwerbehinderten Menschen nur den<br />

Zugang dazu zu erleichtern (FABRICIUS juris-PK SGB IX zur § 164 Rn 70/71; DÜWELL SGB IX zu § 164<br />

Rn 193–198).<br />

3. Behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung von Arbeitsstätten sowie Ausstattung<br />

mit technischen Arbeitshilfen<br />

Die behindertengerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten nach § 164 Abs. 4 Nr. 4<br />

SGB IX (i.V.m. § 3a ArbStättV barrierefreie Gestaltung) und Ausstattung mit den erforderlichen<br />

technischen Arbeitshilfen betrifft nicht nur den jeweiligen Einzelarbeitsplatz des schwerbehinderten<br />

Menschen, sondern das gesamte Arbeitsumfeld wie Zugänge zu Gebäuden, Türen und Fenster,<br />

Aufzüge, Toiletten, Duschen und Umkleideräume, Pausen- und andere Sozialräume, Fluchtwege und<br />

Notausgänge, Parkplätze, Zugang zur Kantine etc. (FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 73/74).<br />

Beispiele:<br />

• Handlauf (beidseits) an Treppen,<br />

• blindengerechte Beschriftung und Markierung,<br />

• Errichtung von stufenlosen Rampen an Zugängen<br />

• automatische Türöffner,<br />

• höhenverstellbare Schreibtische,<br />

• Bürostühle für mobiles Sitzen/Stehhilfen,<br />

• Hebe- und Greifhilfen,<br />

• angepasste IT-Hard- und Software z.B. für Sehbehinderte und bewegungseingeschränkte Menschen,<br />

• Einrichtung und Zuweisung von Parkflächen in Eingangsnähe.<br />

Die behinderungsgerechte Gestaltung eines Arbeitsplatzes bezieht sich auch auf die Arbeitsorganisation<br />

und die Gestaltung von Arbeitszeit und Schichtmodellen.<br />

Beispiele:<br />

• Herausnahme aus der Nachtschicht (attestierte Nachtschichtuntauglichkeit),<br />

• Begrenzung der Schichtzeiten (z.B. Arbeiten nur im Korridor von 8 Uhr bis 20 Uhr),<br />

• abweichende Pausenregelung (längere, häufigere Pausen),<br />

• keine Akkordarbeit,<br />

• keine Arbeit in Reinräumen,<br />

• keine Arbeit an Maschinen mit erhöhter Unfallgefahr für schwerbehinderte Menschen,<br />

• Stellung eines Gebärdendolmetschers für Meetings.<br />

Die genannten Ansprüche sind ebenfalls Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen und damit<br />

einklagbar. Zur Begründung empfiehlt sich für den schwerbehinderten Menschen ein entsprechendes<br />

Attest des behandelnden Facharztes oder des Betriebsarztes.<br />

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass bei der Umsetzung der o.g. Maßnahmen die Integrationsämter<br />

und die BA f. Arbeit unterstützen durch Beratung und finanzielle Hilfen.<br />

4. Anspruch auf Teilzeit, § 164 Abs. 5 SGB IX<br />

Nach § 164 Abs. 5 S. 2 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung,<br />

wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Art und Schwere der Behinderung notwendig ist. Als Spezialregelung<br />

zu § 8 TzBfG bedarf es hier weder einer bestimmten Form noch Frist für die Antrag auf<br />

Teilzeit durch den schwerbehinderten Menschen. Der Anspruch kann also mit sofortiger Wirkung<br />

160 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1717<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

geltend gemacht werden (DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 206–207). Auch eine Vertragsänderung ist<br />

nicht notwendig (FABRICIUS juris-PK SGB IX zur § 164 Rn 77–79). Der Anspruch kann je nach Art und<br />

Schwere der Behinderung auch befristet sein. Eine Rückkehr zur vorherigen Arbeitszeit ist damit<br />

möglich.<br />

Der Anspruch auf Teilzeit beinhaltet jedoch nicht einen Anspruch auf Wechsel in die Altersteilzeit und<br />

die damit verbundenen Vorteile einer gleitenden Übergangs vom Erwerbsleben in die Altersrente (BAG,<br />

Urt. v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114). Ob dies auch auf das relativ neue Flexirenten-Modell<br />

übertragen werden kann, ist noch offen. Im Übrigen wird auf die Ausführungen unter III 4 verwiesen.<br />

5. Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung<br />

Nach längeren Phasen der Arbeitsunfähigkeit ist ein Arbeitnehmer oftmals nur in der Lage, seine<br />

Arbeitsleistung unter geänderten Arbeitsbedingungen zu erbringen. Bei einer stufenweisen Wiedereingliederung<br />

nach § 74 SGB V/§ 44 SGB IX wird der Arbeitnehmer langsam wieder an sein volles<br />

Leistungsvermögen herangeführt, indem die Arbeitsbelastung i.d.R. über mehrere Wochen hinweg<br />

stundenweise gesteigert wird. Während der stufenweisen Wiedereingliederung erhält ein gesetzlich<br />

krankenversicherter Arbeitnehmer i.d.R. weiter Krankengeld. Ein solches Wiedereingliederungsverhältnis<br />

hat nichts mit dem eigentlichen Arbeitsverhältnis zu tun, sondern stellt nach herrschender<br />

Meinung ein Vertragsverhältnis sui generis dar. Dabei muss sich der Arbeitgeber nicht auf ein solches<br />

Wiedereingliederungsverhältnis einlassen; er kann die Zustimmung verweigern, denn es gilt das<br />

Prinzip der Freiwilligkeit.<br />

Anders ist dies jedoch bei schwerbehinderten und gleichgestellten Arbeitnehmern. Hier hat das BAG<br />

entschieden, dass ein Beschäftigungsanspruch i.S.d. Wiedereingliederung besteht, wenn ein solcher<br />

Arbeitnehmer zuvor arbeitsunfähig erkrankt war und nach ärztlicher Empfehlung stufenweise seine<br />

berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen kann und soll (vgl. BAG, Urt. v. 13.6.2006 – 9 AZR 229/05, NZA<br />

2007, 91). In solchen Fällen besteht eine Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers dahingehend, dem<br />

schwerbehinderten Menschen erneut die Teilhabe am Arbeitsleben durch stufenweise Wiedereingliederung<br />

zu ermöglichen.<br />

V. Perspektive von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung<br />

1. Beteiligungsrechte des Betriebsrats<br />

§ 164 Abs. 1 S. 6 SGB IX verpflichtet den Arbeitgeber die genannten Vertretungen nach § 176 SGB IX, also<br />

insb. den Betriebsrat (BR), ebenso wie Personalrat im öffentlichen Dienst und Mitarbeitervertretung in<br />

kirchlichen Einrichtungen bei der Prüfung der Beschäftigungsmöglichkeiten von schwerbehinderten<br />

Menschen zu beteiligen.<br />

Die Prüfung von Beschäftigungsmöglichkeiten von schwerbehinderten Menschen stellt eine personelle<br />

Einzelmaßnahme nach § 99 BetrVG dar. Dem BR ist jedenfalls das vollständige Anforderungsprofil,<br />

Angaben zur Arbeitsbelastung sowie die Gefährdungsbeurteilung nach §§ 5, 6 ArbSchG mitzuteilen.<br />

Erfüllt der Arbeitgeber diese Pflicht nicht oder nicht vollständig, besteht für den BR nach § 99 Abs. 2 Nr. 1<br />

BetrVG ein Zustimmungsverweigerungsrecht (vgl. DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 165; FABRICIUS juris-PK<br />

SGB IX zu § 164 Rn 17).<br />

Bei der Organisation der Personalauswahl im engeren Sinne ist der Arbeitgeber verpflichtet nach § 164<br />

Abs. 1 S. 4 SGB IX den BR umfassend und sofort über den Eingang von Vermittlungsvorschlägen durch<br />

die BA für Arbeit und eingehende Bewerbungen schwerbehinderter Menschen zu unterrichten. Ein<br />

Sammeln mehrerer Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen und eine gemeinsame Weiterleitung<br />

an den BR „im Paket“ ist nicht zulässig (vgl. DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 144).<br />

Nach § 164 Abs. 1 S. 7–9 SGB IX besteht eine umfassende Erörterungspflicht für diejenigen Arbeitgeber<br />

mit dem BR, die die Mindestbeschäftigungspflicht nicht erfüllen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 161


Fach 18, Seite 1718<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Sozialrecht<br />

Nach § 93 BetrVG kann der BR eine betriebsinterne Ausschreibung verlangen. Allerdings besteht kein<br />

erzwingbares Recht hinsichtlich Form und Inhalt von Stellenausschreibungen, sodass es empfehlenswert<br />

ist, hinsichtlich Ausschreibungsmodalitäten eine freiwillige Betriebsvereinbarung zu schließen.<br />

Ergänzend sei noch auf das Recht zur Unterrichtung bei Maßnahmen der allgemeinen Personalplanung<br />

nach § 92 BetrVG hingewiesen. In diesem Zusammenhang kann der BR darauf hinwirken, dass u.a.<br />

Maßnahmen zur Förderung der Eingliederung von schwerbehinderten Menschen ergriffen werden.<br />

Bei Maßnahmen zur beruflichen Bildung sowie Erleichterungen zur Teilnahme an außerbetrieblichen<br />

Maßnahmen der beruflichen Bildung nach § 164 Abs. 4 Nr. 2 und 3 SGB IX hat der BR gem. § 98 Abs. 3<br />

BetrVG ein qualifiziertes Mitbestimmungsrecht dergestalt, dass er konkret ein namentliches Vorschlagsrecht<br />

für Teilnehmer an einer Bildungsmaßnahme besitzt (vgl. DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 196). Gemäß<br />

§ 98 Abs. 6 BetrVG gilt dies auch für sonstige innerbetriebliche Maßnahmen.<br />

2. Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung (SBV)<br />

Hinsichtlich der Beteiligung der SBV kann auf die Ausführungen unter 5 a verwiesen werden mit der<br />

Maßgabe, dass die Beteiligung der SBV unmittelbar über die Regelung des § 178 Abs. 2 SGB IX stattfindet<br />

(vgl. BAG, Urt. v. 15.2.2005 – 9 AZR 635/<strong>03</strong>; FABRICIUS juris-PK SGB IX zu § 164 Rn 16). Bei Verstößen gegen<br />

die umfassende Unterrichtungspflicht hat die SBV die Möglichkeit, die Durchführung oder Vollziehung der<br />

betreffenden Maßnahme aussetzen zu lassen, um die Beteiligung innerhalb von sieben Tagen nachholen<br />

zu können.<br />

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass es auch zu den Aufgaben der SBV gem. § 178 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX<br />

gehört, Teilhaberechte von schwerbehinderten Menschen zu realisieren, insb. Anträge zu stellen. Zu den<br />

Aufgaben der SBV gehört es auch allgemein, Beschäftigte darin zu unterstützen, Anträge zur Feststellung<br />

einer Schwerbehinderung beim zuständigen Versorgungsamt zu stellen ebenso wie Anträge auf Gleichstellung<br />

bei der zuständigen BA für Arbeit.<br />

VI.<br />

Verfahrensrechtliche Fragen<br />

1. Klageantrag bei behinderungsbedingter Beschäftigung<br />

Nicht immer gelingt es, den Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen gem. § 164<br />

Abs. 4 Nr. 1 SGB IX außergerichtlich, ggf. auch im BEM-Verfahren erfolgreich durchzusetzen, sodass dann<br />

Klage beim Arbeitsgericht eingereicht werden muss. Vielfach stellt sich dann die Frage unter Berücksichtigung<br />

des Bestimmtheitsgrundsatzes, wie der Klageantrag zu formulieren ist.<br />

Formulierungsvorschlag:<br />

Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger, ggf. nach entsprechender Vertragsänderung, vorbehaltlich der<br />

Zustimmung des Betriebsrats und ggf. nach Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens, in<br />

einem Arbeitsbereich einzusetzen, in dem der Kläger noch leichte körperliche Tätigkeiten, bevorzugt im<br />

Sitzen in geschlossenen und temperierten Räumen ausüben kann.<br />

hilfsweise den Beklagten zu verurteilen, den Kläger ggf. nach entsprechender Vertragsänderung, vorbehaltlich<br />

der Zustimmung des Betriebsrats und ggf. nach Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens,<br />

als Verwaltungsangestellten (Einkauf), alternativ Sachbearbeiter Telekommunikation, alternativ<br />

Angestellter Materialverwaltung, alternativ Telefonist/Verwaltungsangestellter (Bürokommunikation),<br />

alternativ Lagerangestellter (Material- und Gütebestimmung) zu beschäftigen.<br />

(vgl. Vorschlag nach SCHMIDT, a.a.O. Rn 241 unter Hinweis auf BAG, Urt. v. 10.5.2005 – 9 AZR 230/04,<br />

NZA 2006, 155, 158; DÜWELL LPK-SGB IX zu § 164 Rn 219).<br />

Bei eingeschränkter Schichttauglichkeit sollten zur Klarstellung auch noch die wöchentliche Arbeitszeit<br />

und die möglichen Schichtzeiten in den Antrag aufgenommen werden.<br />

162 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Sozialrecht Fach 18, Seite 1719<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Es sollte auch darauf geachtet werden, dass mehrere unterschiedliche Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

genannt werden, da dem schwerbehinderten Menschen kein Anspruch auf Zuweisung eines bestimmten<br />

Arbeitsplatzes zusteht. So kann sichergestellt werden, dass die Beschäftigungsklage nicht<br />

als unbegründet abgewiesen wird, denn dem Arbeitgeber bleibt die Entscheidung, mit welcher der<br />

genannten Tätigkeitsvorschläge er den Arbeitnehmer beschäftigen will (vgl. BAG, Urt. v. 10.5.2005 –<br />

9 AZR 230/04, NZA 2006, 155,158, m.w.N.).<br />

Gleiches gilt auch für den Antrag auf behindertengerechte Ausstattung der Arbeitsstätte, wenn der<br />

Arbeitgeber zu einer bestimmten Handlung verurteilt werden soll.<br />

Formulierungsvorschlag:<br />

Der Beklagte wird verurteilt, die Zugänge zum Büro der Beklagten einschließlich Umkleideraum, Pausenraum<br />

und Toilette im Gebäude (Adresse, Stockwerk genaue Bezeichnung ggf. unter Beifügung einer<br />

Skizze bzw. eines Plans) jeweils mit elektrischen Türöffnern auszustatten.<br />

2. Darlegungs- und Beweislast<br />

Bei einer Beschäftigungsklage nach § 164 Abs. 4 SGB IX gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast<br />

(vgl. BAG, Urt. v. 10.5.2005 – 9 AZR 230/04, NZA 2006, 155 ff.): Der schwerbehinderte oder gleichgestellte<br />

Arbeitnehmer als Kläger sollte folgende Punkte darlegen und beweisen:<br />

• eingeschränktes Leistungsvermögen, ggf. unter Vorlage eines fachärztlichen bzw. betriebsärztlichen<br />

Attestes,<br />

• Geltendmachung des Weiterbeschäftigungsanspruchs,<br />

• Darlegung, welche Beschäftigungsmöglichkeiten aus seiner Sicht noch bestehen, bei denen die<br />

vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten verwertet werden können,<br />

• Darlegung, wie der Arbeitsplatz ggf. umgestaltet werden muss, damit eine Weiterbeschäftigung<br />

möglich ist.<br />

Sodann muss der beklagte Arbeitgeber substanziiert auf folgende Punkte eingehen und unter Beweis<br />

stellen:<br />

• konkrete Begründung, warum keine behinderungsgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen,<br />

• Darlegung, dass die im Antrag genannten Zuweisungen an Beschäftigungsmöglichkeiten für ihn unzumutbar/unverhältnismäßig<br />

sind,<br />

• Darlegung, dass kein entsprechender Arbeitsplatz vorhanden ist und auch nicht in naher Zukunft frei<br />

wird,<br />

• Darlegung, dass auch kein entsprechender Arbeitsplatz durch Versetzung besteht,<br />

• Darlegung, dass der Arbeitnehmer nicht über die notwendige Qualifikation verfügt,<br />

• Darlegung, warum eine Umgestaltung mit technischen Arbeitshilfen nicht möglich ist,<br />

• die behinderungsgerechte Beschäftigung verstößt u.U. gegen Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften,<br />

• erfolglose Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX.<br />

Literaturhinweis:<br />

Vgl. zum Vorgehenden auch SCHMIDT, a.a.O., Rn 243–252).<br />

Aus den vorgenannten Ausführungen wird sehr deutlich, dass der größere Aufwand für die Darlegungsund<br />

Beweislast beim Arbeitgeber liegt, will dieser nicht riskieren, zur behindertengerechten Beschäftigung<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 163


Fach 18, Seite 1720<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen<br />

Sozialrecht<br />

nach § 164 Abs. 4 SGB IX verurteilt zu werden. Dies ist nur konsequent, wenn man sich vor Augen hält, dass<br />

das Ziel des § 164 SGB IX in erster Linie die Beschäftigungsförderung und Beschäftigungssicherung von<br />

schwerbehinderten Menschen ist.<br />

VII. Schlussbemerkung<br />

In der anwaltlichen Beratung und Vertretung bieten sich sowohl im Arbeitgeber- als auch im<br />

Arbeitnehmer bzw. BR-/SBV-Mandat vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, die es zu nutzen gilt.<br />

Im Arbeitgebermandat sollte besonderes Augenmerk auf die Dokumentation des Anforderungsprofils, der<br />

Stellenbeschreibung und der Recherche von Beschäftigungsmöglichkeiten gelegt werden. Die Pflichten<br />

nach § 164 SGB IX sollten auch als Chance begriffen werden, nicht nur die Mindestbeschäftigungsquote an<br />

schwerbehinderten Menschen zu erfüllen bzw. Sanktionen wie Schadenersatzansprüche und Bußgelder<br />

zu vermeiden, sondern durch die Ausnutzung aller Möglichkeiten einschließlich technischer und finanzieller<br />

Förderung durch die Integrationsämter/BA für Arbeit auch als ein Mittel gegen den vielfach beklagten<br />

Fachkräftemangel zu betrachten.<br />

Im Arbeitnehmermandat sollten schwerbehinderte Menschen dazu ermutigt werden, ihre Ansprüche<br />

frühzeitig und konsequent, z.B. auch im BEM-Verfahren oder in der stufenweisen Wiedereingliederung<br />

geltend zu machen und durchzusetzen. Der Verzicht auf diese Ansprüche oder ein überstürztes<br />

Nachgeben und Ausscheiden durch Aufhebungsvertrag mit anschließender (längerer) Arbeitslosigkeit<br />

oder gar dem Bezug von befristeter Erwerbsminderungsrente sind keine echten Alternativen zur<br />

dauerhaften Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen.<br />

Auch die Betriebsräte und die SBV sollten aktiv und selbstbewusst die gesetzlichen Möglichkeiten der<br />

Mitbestimmung nutzen, um die Ziele von Beschäftigungsförderung und -sicherung von schwerbehinderten<br />

Menschen zu erreichen bzw. zu verbessern.<br />

Letztendlich bietet sich für Rechtsanwälte die Möglichkeit, neben der allgemeinen Beratung und<br />

Vertretung im Arbeitsrecht ihr Mandatsspektrum zu erweitern und alle Akteure im Arbeitsrecht bei der<br />

Umsetzung der gesetzlichen Ziele im Schwerbehindertenrecht kompetent zu vertreten.<br />

Hinweis:<br />

Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag die maskuline Form verwendet, gemeint ist jedoch die<br />

sprachliche Gleichbehandlung aller Geschlechter [Anm. des Verf.].<br />

164 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 997<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Strafverfahren<br />

Ermittlungsverfahren – StPO-Änderungen 2019<br />

Modernisierung des Strafverfahrens – Teil 1: Ermittlungsverfahren<br />

Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Leer/Augsburg<br />

Inhalt<br />

I. Vorbemerkung<br />

1. Gesetzgebungsverfahren<br />

2. Wesentlicher Inhalt der Neuregelung<br />

II. Exkurs: Audiovisuelle Aufzeichnung von<br />

Beschuldigtenvernehmungen (§ 136<br />

Abs. 4 StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Regelungsinhalt<br />

3. Verfahren<br />

4. Beweisverwertungsverbote<br />

5. Verwendung in der Hauptverhandlung<br />

III. Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und<br />

Ton (§ 58a StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Erweiterung des Anwendungsbereichs<br />

des § 58a StPO<br />

3. „Mussregelung“ in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO<br />

4. Zustimmung/Widerspruch des Zeugen<br />

5. Verfahren/Rechtsmittel<br />

IV. Molekulargenetische Untersuchungen<br />

(§ 81e StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Regelungsinhalt des § 81e Abs. 2 S. 2 StPO<br />

3. Verfahren/Rechtsmittel/Beweisverwertungsverbote<br />

V. Telefonüberwachung (§ 100a StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Verfahren/Rechtsmittel/Beweisverwertungsverbot<br />

3. Befristung der Änderung<br />

I. Vorbemerkung<br />

1. Gesetzgebungsverfahren<br />

Immer wieder ist in den vergangenen Jahren eine „Reform“ der StPO angemahnt worden (vgl. dazu<br />

z.B. LÖFFELMANN StV 2018, 536; s. aber auch zur Kritik u.a. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2019 vom<br />

November 2019, S. 1 ff. unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmendeutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf).<br />

Besonders laut sind die Rufe aus der<br />

Justiz, wie z.B. vom sog. Strafkammertag, gewesen, die meist unter der Überschrift: „Verteidiger<br />

verzögern durch unnötige Anträge“ für eine Beschleunigung der Verfahren plädiert haben (vgl. dazu<br />

nur die Pressemitteilung des OLG Bamberg Nr. 15/2017 v. 26.9.2019 und SANDHERR DRiZ 2017, 338, 341;<br />

dazu DALLMEYER StV 2018, 533). Auch der Koalitionsvertrag der GroKo vom 7.2.2018 hatte sich die<br />

Modernisierung der StPO und eine Beschleunigung des Strafverfahrens auf die Fahnen geschrieben,<br />

Stichwort: „Pakt für den Rechtsstaat“.<br />

Diese Rufe – vornehmlich aus der Justiz – sind nicht ungehört geblieben. Die Bundesregierung hat am<br />

14.5.2019 sog. Eckpunkte zur Modernisierung des Strafverfahrens vorgelegt, dem ist dann im Juni 2019<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 165


Fach 22, Seite 998<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

der Referentenentwurf des BMJV zum „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens“<br />

gefolgt. Dieser ist dann übergegangen in den Regierungsentwurf zum „Entwurf eines<br />

Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens“. Der hat Zustimmung, aber auch harsche Kritik<br />

erfahren, auf die hier im Einzelnen aber nicht eingegangen werden soll (vgl. dazu die unter https://<br />

www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Modernisierung_Strafverfahren.html zusammengestellten<br />

Stellungnahmen verschiedener Verbände/Gerichte).<br />

Das anschließende Gesetzgebungsverfahren war von beispielloser Eile geprägt: Die BT-Drucksache 19/<br />

14747 vom 5.11.2019 ist im Bundestag bereits am 7.11.2019 in erster Lesung gelesen und an die Ausschüsse<br />

überwiesen worden (BT-Plenarprotokoll 19/124, S. 15293D–15306B). Bereits am 11.11.2019 hat im<br />

federführenden Rechtsausschuss eine Sachverständigenanhörung stattgefunden (wegen der Einzelheiten<br />

s. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw46-pa-recht-modernisierung-strafverfahren-<br />

665548). Aufgrund der Beschlussvorlage des Rechtsausschusses 19/15161 ist der Gesetzentwurf dann<br />

bereits am 15.11.2019 in zweiter und dritter Lesung im Bundestag gelesen und in der Ausschussfassung<br />

angenommen worden (vgl. BT-Drucks 19/14747 und 19/15161). Der Bundestag hat den Bundesrat von der<br />

Annahme des Gesetzes unterrichtet. Dieser hat in seiner Sitzung vom 29.11.2019 den Vermittlungsausschuss<br />

nicht angerufen.<br />

Hinweis:<br />

Das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ (im Folgenden kurz: Gesetz) ist<br />

am 12.12.2019 im BGBl verkündet worden (vgl. BGBl I, S. 2121). Nach Art. 10 S. 1 des Gesetzes sind die<br />

Neuregelungen damit am Tag nach der Verkündung, also am 13.12.2019, in Kraft getreten.<br />

Da es sich um Verfahrensrecht handelt, sind/waren sie ohne Einschränkung auch in bereits laufenden<br />

Straf- und Bußgeldverfahren anzuwenden.<br />

Der Beitrag gibt im vorliegenden ersten Teil einen Überblick über die wichtigsten Änderungen im<br />

Ermittlungsverfahren (vgl. im Übrigen BURHOFF, StPO 2019, Rn 14 ff.). Vorgestellt werden außerdem in<br />

einem Exkurs (vgl. II) Änderungen, die schon durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren<br />

Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) in § 136 Abs. 4 StPO vorgenommen<br />

worden sind, die aber erst am 1.1.<strong>2020</strong> in Kraft getreten sind. In einem zweiten Teil werden zu einem<br />

späteren Zeitpunkt in der <strong>ZAP</strong> noch die wichtigsten Änderungen durch das Gesetz hinsichtlich der<br />

Hauptverhandlung vorgestellt.<br />

2. Wesentlicher Inhalt der Neuregelung<br />

Die Neuregelungen gehen im Wesentlichen zurück auf die Eckpunkte der Bundesregierung zur<br />

Modernisierung des Strafverfahrens (abrufbar unter http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/<br />

News/Artikel/051519_Kabinett_Modernisierung_Strafverfahren.pdf;jsessionid=82FBABB77F4AB3E83454AE99B<br />

637AE7D.1_cid297?__blob=publicationFile&v=1). Angestrebtes Ziel der Gesetzesänderungen ist eine<br />

„Beschleunigung“ und Verbesserung“ des Strafverfahrens (BT-Drucks 19/14747, S. 1 ff.).<br />

Folgende Punkte sollten das (Ermittlungs-)Verfahren „moderner“ machen:<br />

• Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung<br />

Mit der Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens über Besetzungsrügen muss ein erhobener<br />

Besetzungseinwand vorschriftswidriger Besetzung des Gerichts schon vor oder zu Beginn<br />

einer Hauptverhandlung abschließend durch ein höheres Gericht beschieden werden (dazu demnächst<br />

Näheres).<br />

• Erweiterung von Ermittlungs- und Datenübertragungsbefugnissen<br />

• Die Ermittlungsbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden sind erweitert worden (vgl. dazu V).<br />

• Um Anhaltspunkte für das Aussehen eines unbekannten Spurenlegers zu gewinnen, sind die<br />

Möglichkeiten der molekulargenetischen Untersuchungen an aufgefundenem, sichergestelltem<br />

und beschlagnahmtem Material erweitert worden (dazu IV).<br />

166 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 999<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

• Stärkung des Opferschutzes<br />

• Zur Stärkung der Opferschutzes im Strafverfahren ist die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung<br />

der (vermeintlichen) Opfer bestimmter schwerer Straftaten auf Vernehmungen von zur<br />

Tatzeit erwachsenen Opfern von Sexualstraftaten ausgedehnt worden (s. dazu III).<br />

• Ferner ist den Opfern von sexuellen Übergriffen in besonders schweren Fällen ein Anspruch auf<br />

privilegierte Bestellung eines Rechtsbeistands eingeräumt worden (§ 397a Abs. 1 Nr. 1 und 1a StPO;<br />

dazu demnächst).<br />

II.<br />

Exkurs: Audiovisuelle Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen (§ 136 Abs. 4 StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Norm: § 136 Abs. 4 StPO<br />

• Sachlicher Geltungsbereich: Vernehmungen<br />

• Verteidigerstrategie: Gegebenenfalls Beweisverwertungsverbot (vgl. II 4)<br />

1. Neuregelung<br />

§ 136 Abs. 4 StPO erweitert die Möglichkeiten der audiovisuellen Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen.<br />

Diese war bislang über § 163a Abs. 1 S. 2 StPO a.F., der auf die §§ 58a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 und 3,<br />

58b StPO verwiesen hat, sowohl bei richterlichen als auch bei staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen<br />

Vernehmungen möglich. Daran hält § 136 Abs. 4 S. 1 StPO zwar fest. In § 136 Abs. 4 S. 2 StPO wird jedoch<br />

nun die Verpflichtung der Ermittlungsbehörden zur audiovisuellen Aufzeichnung in bestimmten Verfahren<br />

oder besonderen Konstellationen geregelt (vgl. dazu II 3). Die frühere Verweisung in § 163a Abs. 2 S. 2 StPO<br />

a.F. konnte damit entfallen (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 32).<br />

Hinweis:<br />

Der Beschuldigte kann aufgrund der aus dem Nemo-Tenetur-Grundsatz folgenden Freiheit, sich nicht<br />

selbst belasten zu müssen, die Aussage verweigern. Über sein Recht zu schweigen kann er sich somit auch<br />

einer audiovisuellen Aufzeichnung entziehen.<br />

Sinn und Zweck/Ziel der Erweiterung der audiovisuellen Dokumentationsmöglichkeiten von Beschuldigtenvernehmungen<br />

ist in erster Linie eine Verbesserung der Wahrheitsfindung. Insoweit zutreffend weist<br />

die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 18/11277, S. 24 f.) darauf hin, dass eine Videoaufzeichnung den Verlauf<br />

einer Vernehmung authentisch(er) wiedergibt und daher dem herkömmlichen schriftlichen Inhaltsprotokoll<br />

überlegen ist.<br />

2. Regelungsinhalt<br />

a) Allgemeines<br />

Die audiovisuelle Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen ist wie folgt geregelt (vgl. auch<br />

MEYER-GOßNER/SCHMITT, StPO, 62. Aufl. 2019, § 136 Rn 19a):<br />

• § 136 Abs. 4 S. 1 StPO enthält die schon früher auf der Grundlage der „Kann-Vorschrift“ der §§ 163a<br />

Abs. 1, 58a Abs. 1 S. 1 StPO a.F. für – polizeiliche und staatsanwaltliche – Beschuldigtenvernehmungen<br />

geltende Ermessensregelung. Danach kann grds. (jede) Vernehmung des Beschuldigten in Bild und<br />

Ton aufgezeichnet werden (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 26).<br />

• Nach § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO muss die Vernehmung aufgezeichnet werden muss, wenn dem<br />

Ermittlungsverfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung<br />

weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen.<br />

• § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO bestimmt darüber hinaus eine generelle Aufzeichnungspflicht, wenn die<br />

schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 167


Fach 22, Seite 1000<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Hinweis:<br />

§ 136 Abs. 4 StPO gilt unmittelbar nur für richterliche Beschuldigtenvernehmungen. Er wird aber über<br />

die Verweise in § 163a Abs. 3 und 4 StPO auf staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Beschuldigtenvernehmungen<br />

entsprechend angewendet.<br />

b) Generalklausel (§ 136 Abs. 4 S. 1 StPO)<br />

§ 136 Abs. 4 S. 1 StPO enthält die „Generalklausel“ für die audiovisuelle Aufzeichnung von (richterlichen)<br />

Beschuldigtenvernehmungen. Danach steht die Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton im<br />

Ermessen –„kann“ –des Vernehmenden. Das entspricht der bisherigen Regelung in § 163a Abs. 1 S. 2<br />

StPO a.F. mit Verweis auf §§ 58a, 58b StPO. Für die Anordnung gelten die für die Anordnung einer<br />

audiovisuellen Zeugenvernehmung nach § 58a Abs. 1 S. 1 StPO geltenden Überlegungen entsprechend<br />

(vgl. dazu BURHOFF, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn 4786 ff. [im<br />

Folgenden kurz: BURHOFF, EV]).<br />

Voraussetzung für die Zulässigkeit der Aufzeichnung ist, dass es sich um eine Vernehmung i.e.S. handelt<br />

(zum Begriff BURHOFF, EV, Rn 4384 ff.). Das schließt die Aufzeichnung von bloß informatorischen<br />

Anhörungen usw. aus (zum Umfang der Aufzeichnung s. unten II 3 b). Die Zulässigkeit der Aufzeichnung<br />

hängt nicht vom Einverständnis des Beschuldigten ab. Dieser muss den Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht<br />

(vgl. oben I) dulden. Er kann eine Bild-Ton-Aufzeichnung grds. nur dadurch vermeiden, dass er sich<br />

weigert, Angaben zur Sache zu machen.<br />

Hinweis:<br />

Zulässig ist es aber, dass sich der Beschuldigte und der Vernehmungsbeamte darüber einigen, dass der<br />

Beschuldigte nicht von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht und dafür der Vernehmungsbeamte<br />

auf die audiovisuelle Dokumentation der Vernehmung verzichtet.<br />

c) Vorsätzliche Tötungsdelikte (§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO)<br />

Nach § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO besteht eine Pflicht zur Aufzeichnung –„Sie ist aufzuzeichnen … “–bei<br />

vorsätzlichen Tötungsdelikten. Grund für die in diesen Fällen vorgesehene Aufzeichnungspflicht ist der<br />

Umstand, dass bei diesen äußerst schwerwiegenden Delikten, bei denen i.d.R. hohe Freiheitsstrafen<br />

drohen, das staatliche Interesse an einer bestmöglichen Wahrheitsfindung ebenso schwer wiegt wie<br />

das Interesse des einer solchen Tat verdächtigten Beschuldigten (BT-Drucks 18/11277, S. 25).<br />

Der Begriff der „vorsätzlichen Tötungsdelikte“ umfasst<br />

• die Delikte der §§ 211 bis 221 StGB im Falle einer vorsätzlichen Begehungsweise sowohl im Stadium<br />

des Versuchs als auch der Vollendung.<br />

• erfolgsqualifizierte Delikte, sofern der Vorsatz auch auf den Eintritt der schweren Folge gerichtet<br />

war; in diesen Fällen wird aber regelmäßig ohnehin ein vollendetes Tötungsdelikt i.S.d. §§ 211, 212<br />

StGB gegeben sein.<br />

Voraussetzung für die Aufzeichnungspflicht ist weiter –„und“–, dass der Aufzeichnung weder die äußeren<br />

Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen. Die Gesetzesmaterialen<br />

(BT-Drucks 18/11277, S. 27) gehen davon aus, dass das der Fall ist und die Pflicht zur Aufzeichnung daher<br />

(regelmäßig) entfällt, wenn die Aufzeichnung der Vernehmung – etwa weil sie im Rahmen einer Nacheile<br />

oder Durchsuchung direkt am Ort des Geschehens vorgenommen wird – aufgrund der äußeren Umstände<br />

nicht möglich ist oder sich die Vernehmung sonst als besonders dringlich erweist und die technischen<br />

Möglichkeiten der audiovisuellen Aufzeichnung aufgrund der Eilsituation am Tatort oder im Umkreis nicht<br />

gegeben sind (vgl. auch MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., § 136 Rn 19d).<br />

168 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1001<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Hinweis:<br />

Stellt sich erst während einer Vernehmung heraus, dass ein vorsätzliches Tötungsdelikt aus dem o.g.<br />

Katalog in Betracht kommen könnte, muss unverzüglich zu einer „Aufzeichnungsvernehmung“ übergegangen<br />

werden (MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., § 136 Rn 19c m.w.N.).<br />

d) Schutzwürdiges Interesse des Beschuldigten (§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO)<br />

§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO regelt ebenfalls einen Fall der obligatorischen Bild-Ton-Aufzeichnung der<br />

Beschuldigtenvernehmung. Angeknüpft wird an die „schutzwürdigen Interessen“ des Beschuldigten. Es<br />

muss nach dem Wortlaut keine besondere Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten die audiovisuelle<br />

Aufzeichnung der Vernehmung gebieten (s. aber BT-Drucks 18/11277, S. 27).<br />

Die Nr. 2 nennt dann zwei Fälle, in denen von „schutzwürdigen Interessen“ des Beschuldigten auszugehen<br />

ist:<br />

• Beschuldigter unter 18 Jahren,<br />

• Beschuldigter mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten (wegen der Einzelheiten BURHOFF, EV,<br />

Rn 3493 ff.).<br />

§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO setzt für die Aufzeichnungspflicht weiter voraus, dass die schutzwürdigen<br />

Interessen des Beschuldigten durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden. Daran kann es im Einzelfall<br />

– auch bei Vorliegen der Voraussetzungen im Übrigen – fehlen. Als Beispiel nennt die Gesetzesbegründung<br />

(vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 28) den Fall, dass der Beschuldigte ersichtlich gehemmt ist, vor der Kamera zu<br />

sprechen.<br />

3. Verfahren<br />

a) Verwendungsbeschränkungen/Akteneinsicht<br />

Nach § 136 Abs. 4 S. 3 StPO gilt § 58a Abs. 2 StPO. Damit sind die für „die bisherigen Aufzeichnungsfälle<br />

bei Zeugenvernehmungen entwickelten Schutzmechanismen“ (BT-Drucks 18, 11277, S. 28) auf die<br />

Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen übertragen worden.<br />

Im Übrigen gilt:<br />

• Verwendungsbeschränkungen: Die Verwendung der Bild-Ton-Aufzeichnung ist nur für Zwecke der<br />

Strafverfolgung und nur insoweit zulässig, als dies zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist (§ 58a<br />

Abs. 2 S. 1 StPO; vgl. dazu BURHOFF, EV, Rn 4813 m.w.N.).Die Aufzeichnung ist unverzüglich zu löschen,<br />

soweit sie für diese Zwecke nicht mehr benötigt wird (§ 58a Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 101 Abs. 8 StPO).<br />

• Akteneinsicht: Nach § 58a Abs. 2 StPO i.V.m. § 147 StPO besteht ein Akteneinsichtsrecht des<br />

Verteidigers. Es handelt sich nicht um Beweisstücke, für die § 147 Abs. 4 StPO gelten würde, sondern um<br />

Ergänzungen der Vernehmungsprotokolle (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 26), die somit Gegenstand der<br />

Sachakten sind und dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers unterliegen (vgl. für die Aufzeichnungen<br />

von audiovisuellen Zeugenvernehmungen BURHOFF, EV, Rn 4209; MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., § 58a<br />

Rn 12 f.). Es müssen ggf. amtliche Kopien gefertigt werden (vgl. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO). Wegen der<br />

Durchführung der Akteneinsicht wird verwiesen auf BURHOFF, EV, Rn 4210 ff.). Nach § 58a Abs. 2 StPO<br />

i.V.m. § 406e StPO haben auch der Nebenklägervertreter und/oder der Verletztenbeistand grds. ein<br />

Akteneinsichtsrecht. Dies unterliegt ggf. Beschränkungen (vgl. dazu BURHOFF, EV, Rn 330 ff.).<br />

Hinweis:<br />

Die Überlassung der Aufzeichnung oder die Herausgabe von Kopien an andere Stellen bedarf nach § 58a<br />

Abs. 2 S. 6 StPO der Einwilligung des Beschuldigten.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 169


Fach 22, Seite 1002<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

b) Umfang/Durchführung der Aufzeichnung<br />

Der Umfang der Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung und deren technische Durchführung sind<br />

in § 136 Abs. 4 StPO – ebenso wie die einer Zeugenvernehmung nach § 58a StPO – nicht geregelt.<br />

Wegen der Einzelheiten kann man m.E. die Ausführungen zur Durchführung der Aufzeichnung einer<br />

Zeugenvernehmung nach § 58a StPO entsprechend heranziehen (vgl. BURHOFF, EV, Rn 4807 ff.).<br />

Im Übrigen gibt auch die Gesetzesbegründung einige Mindeststandards vor (vgl. BT-Drucks 18/11277,<br />

S. 26), und zwar:<br />

• Die Aufzeichnung muss (!) in ihrem Umfang regelmäßig den gesamten Verlauf der Vernehmung<br />

erfassen.<br />

• Der Begriff der Aufzeichnung umfasst nach dem Zweck der Regelung – Wahrheitsfindung und Schutz<br />

der Beschuldigten mit Blick auf die Einhaltung der Vernehmungsförmlichkeiten – alle Verfahrensvorgänge,<br />

die mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich aus ihr entwickeln.<br />

• Eventuell bedeutsame Vorgespräche, die außerhalb der Bild-Ton-Aufzeichnung geführt worden sind,<br />

sollten erwähnt werden, um dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, sich hierzu zu erklären.<br />

Meines Erachtens müssen sie erwähnt werden.<br />

• Zur Vermeidung etwaiger Streitigkeiten über den Inhalt oder die Umstände einer Vernehmung oder<br />

das konkrete Verhalten des Vernehmenden soll es sich anbieten, dass der Vernehmende am Ende der<br />

Vernehmung erklärt, dass die Aufzeichnung die Vernehmung vollständig und richtig wiedergibt.<br />

Nicht (ausdrücklich) geregelt sind in § 136 Abs. 4 StPO Protokollierungsfragen. Es gelten also die<br />

allgemeinen Regeln mit der Folge, dass die §§ 168, 168a StPO gelten und von der Beschuldigtenvernehmung<br />

(selbstverständlich) ein Protokoll zu fertigen ist. An der in der Praxis üblichen (Mit-)<br />

Protokollierung durch den Vernehmungsbeamten ist damit festgehalten worden; die Verschriftlichung<br />

der Vernehmung kann aber auch im Nachhinein mithilfe der Videodokumentation erfolgen, was sich<br />

insb. in eilbedürftigen Verfahren – etwa in Haftsachen – anbieten kann (BT-Drucks 18/11277, S. 26).<br />

c) Rechtsmittel<br />

Für die dem Beschuldigten gegen die Anordnung einer Bild-Ton-Aufzeichnung zustehenden Rechtsmittel<br />

kann auf die dem Zeugen gegen die Anordnung einer Videovernehmung zustehenden<br />

Rechtsmittel verwiesen werden (vgl. dazu BURHOFF, EV, Rn 4798). Dabei kann sich der Beschuldigte<br />

nur gegen die Anordnung der Aufzeichnung, nicht aber gegen die Anordnung/Durchführung der<br />

Vernehmung wehren. Letztere kann er nur dadurch „angreifen“, dass er keine Angaben zur Sache macht.<br />

4. Beweisverwertungsverbote<br />

Für Beweisverwertungsverbote gilt: § 136 Abs. 4 StPO ist eine Ordnungsvorschrift, die der Wahrheitsfindung<br />

und dem Schutz der Beschuldigten dient, indem sie die Dokumentation der Beschuldigtenvernehmungen<br />

insb. im Bereich vorsätzlich begangener Tötungsdelikte und bei Schutzbedürftigkeit der<br />

Beschuldigten verbessert. Ist keine Videoaufzeichnung vorhanden, gelten die hergebrachten Grundsätze<br />

für die Feststellung der Einhaltung der Vernehmungsförmlichkeiten im Freibeweisverfahren; der<br />

Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt grds. nicht (statt aller MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., § 136 Rn 23, § 136a<br />

Rn 32). Aus dem Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung kann also nicht der Schluss gezogen werden,<br />

dass die Vernehmungsförmlichkeiten nicht eingehalten wurden oder ihre Einhaltung nicht mehr<br />

feststellbar sei (BT-Drucks 18/11277, S. 27; MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O., Rn 20a).<br />

Hinweis:<br />

Auch im Übrigen führt das Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung grds. nicht zur Unverwertbarkeit<br />

der Aussage im weiteren Verfahren, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Voraussetzungen<br />

für eine Aufzeichnung nach § 136 Abs. 4 StPO vorgelegen haben (BT-Drucks 18/11277, S. 27; MEYER-GOßNER/<br />

SCHMITT, a.a.O., § 136 Rn 20a). Das Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung kann aber ggf. Auswirkungen<br />

auf die Beweiswürdigung und den Beweiswert von Angaben des Beschuldigten haben. In der Literatur<br />

wird vertreten (vgl. SINGELNSTEIN/DERIN NJW 2017, 2646, 2649), dass ein Beweisverwertungsverbot zu bejahen<br />

ist, wenn das Unterlassen einer audiovisuellen Aufzeichnung bewusst willkürlich geschehen ist oder<br />

auf einer generellen Weisung beruht.<br />

170 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 10<strong>03</strong><br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

5. Verwendung in der Hauptverhandlung<br />

Das Vorhandensein einer Videoaufzeichnung der Vernehmung des Beschuldigten erlaubt in einer<br />

späteren Hauptverhandlung nicht, dass die Vernehmung des Angeklagten in Person in der<br />

Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 5 S. 3 StPO) durch das Abspielen der Aufzeichnung (s)einer Vernehmung<br />

aus dem Ermittlungsverfahren ersetzt werden kann. Das wäre ein umfassender Beweistransfer aus dem<br />

Ermittlungsverfahren, den die StPO (derzeit) nicht vorsieht. Er ist zudem auch deshalb abzulehnen, weil<br />

das Gericht selbst oder die anderen Verfahrensbeteiligten, wie Staatsanwalt, Verteidiger, Nebenklägervertreter<br />

möglicherweise weitere oder andere Fragen zur Sachverhaltsaufklärung an den Beschuldigten<br />

richten wollen als die frühere Vernehmungsperson (BT-Drucks 18/11277, S. 26).<br />

In der Hauptverhandlung wird die audiovisuelle Aufzeichnung daher wie auch sonst wie ein Protokoll<br />

einer Vernehmung behandelt –„ein qualitativ besseres – weil authentischeres“ (BT-Drucks 18/11277, S. 26).<br />

Das bedeutet, dass immer dann, wenn nach den Regeln der StPO Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes<br />

(§ 250 StPO) zulässig sind, etwa indem die Verlesung der Niederschrift einer<br />

Vernehmung anstelle der Vernehmung des Beschuldigten selbst gestattet ist (vgl. §§ 231a Abs. 1 S. 2, 233<br />

Abs. 2 S. 2 StPO), an die Stelle der Verlesung des schriftlichen Inhaltsprotokolls das Abspielen der<br />

audiovisuellen Aufzeichnung treten kann. Über § 251 Abs. 1 oder 2 StPO kommt – bei Vorliegen der<br />

Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 oder 2 StPO – ggf. das Abspielen der audiovisuellen Aufzeichnung der<br />

Vernehmung eines (früheren) Mitbeschuldigten in Betracht (vgl. insoweit MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O.,<br />

§ 251 Rn 4 m.w.N.). Auch kann ggf. die Vernehmung eines Zeugen durch das Abspielen seiner<br />

Vernehmung als Beschuldigter ersetzt werden (MEYER-GOßNER/SCHMITT, a.a.O.).<br />

Schließlich kommt das Abspielen der Aufzeichnung einer Vernehmung nach § 254 StPO in Betracht. In<br />

§ 254 StPO ist das durch eine Anpassung des Wortlauts für die Verlesung eines richterlichen Protokolls<br />

eines Geständnisses des Beschuldigten ausdrücklich klargestellt worden.<br />

Zudem können dem Beschuldigten in der Hauptverhandlung Vorhalte aus der Aufzeichnung wie aus<br />

einem Vernehmungsprotokoll gemacht werden. Insoweit gelten die allgemeinen Regeln (BURHOFF,<br />

Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 3720 ff. [im Folgenden kurz:<br />

BURHOFF, HV]).<br />

III.<br />

Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton (§ 58a StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Norm: § 58a StPO<br />

• Sachlicher Geltungsbereich: Vernehmungen<br />

• Verteidigerstrategie: Überprüfung der Verwertbarkeit (vgl. III 5)<br />

1. Neuregelung<br />

Die Möglichkeit der Bild-Ton-Aufzeichnung von Zeugenvernehmungen ist in § 58a StPO vorgesehen.<br />

Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen enthielt die Vorschrift in § 58a Abs. 1 S. 2 StPO a.F. bislang<br />

eine (nur) als Sollvorschrift ausgestaltete Verpflichtung, die Vernehmung als richterliche durchzuführen<br />

und in Bild und Ton aufzunehmen, wenn die schutzwürdigen Interessen der Zeugen dadurch besser<br />

gewahrt werden können (vgl. zur audiovisuellen Vernehmung BURHOFF, EV, Rn 4778 ff. m.w.N.). Die<br />

Vorschrift verfolgt den Zweck, minderjährigen Opferzeugen Mehrfachvernehmungen wegen ihres<br />

hohen Belastungspotenzials im Strafverfahren zu ersparen. Die Vorschrift gilt seit Inkrafttreten des<br />

Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26.6.2013 (StORMG; BGBl I,<br />

S. 1805, auch für erwachsene Opfer der genannten Straftaten, die zur Tatzeit minderjährig waren<br />

(BURHOFF, EV, Rn 4786 ff.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 171


Fach 22, Seite 1004<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Hier haben die Neuregelungen folgende Änderungen gebracht:<br />

• Eingefügt worden ist die Bestimmung des § 58a Abs. 1 S. 3 StPO. Durch ihn wird der Anwendungsbereich<br />

des § 58a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO auf zur Tatzeit erwachsene Opfer von Straftaten gegen die<br />

sexuelle Selbstbestimmung erweitert (zur Kritik u.a. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2019 vom<br />

November 2019, S. 12 f. unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmendeutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf).<br />

• Zudem ist die Verpflichtung zur richterlichen Vernehmung von Zeugen mit Bild-Ton-Aufzeichnung<br />

unter bestimmten Voraussetzungen als Mussvorschrift ausgestaltet worden.<br />

2. Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 58a StPO<br />

Der neue § 58a Abs. 1 S. 3 StPO erweitert den Anwendungsbereich der audiovisuellen Vernehmung auf<br />

zur Tatzeit erwachsene Opfer von Sexualstraftaten. Genannt werden die §§ 174 bis 184j StGB. Der<br />

Gesetzgeber hat diese Gleichstellung zu den (zur Tatzeit) minderjährigen Zeugen gem. § 58a Abs. 1 S. 2<br />

Nr. 1 StPO (BURHOFF, EV, Rn 4790) für erforderlich gehalten, „weil das Schutzbedürfnis erwachsener Opfer<br />

von Sexualstraftaten im Strafverfahren vergleichbar ist mit dem Schutzbedürfnis der Opfer, die zur Zeit des<br />

Strafverfahrens ebenfalls erwachsen sind, jedoch zur Tatzeit minderjährig waren“ (dazu BT-Drucks 19/14747,<br />

S. 25). Sexualstraftaten seien typischerweise mit erheblichen Eingriffen in den Intimbereich des Opfers<br />

verbunden. Opferzeugen seien in der Vernehmung verpflichtet, über ihre Wahrnehmungen auszusagen,<br />

was häufig mit gravierenden seelischen Belastungen verbunden sein könne. Diese besondere Situation<br />

rechtfertige es, die zusätzlich belastenden Mehrfachvernehmungen den erwachsenen Opfern von<br />

Sexualdelikten in gleicher Weise zu ersparen wie den nach gegenwärtiger Rechtslage (zur Tatzeit)<br />

minderjährigen Zeugen.<br />

Hinweis:<br />

Neben der Bild-Ton-Vernehmung nach § 58a Abs. 1 S. 3 StPO bleiben staatsanwaltliche (§ 161a Abs. 1 S. 2<br />

StPO) und polizeiliche (§ 163 Abs. 3 S. 2 StPO) Vernehmungen von Zeugen in Bild und Ton weiterhin nach<br />

§ 58a Abs. 1 S. 1 StPO möglich.<br />

3. „Mussregelung“ in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO<br />

Bisher war in § 58a Abs. 1 S. 2 StPO nur eine Sollregelung für eine richterliche Vernehmung enthalten für<br />

den Fall, dass durch eine richterliche Vernehmung die schutzwürdigen Interessen der in Nr. 1 genannten<br />

Personen besser gewahrt werden können (dazu BURHOFF, EV, Rn 4794). Dies hat das Gesetz geändert. In<br />

Zukunft muss nach § 58a Abs. 1 S. 3 StPO die Vernehmung aufgezeichnet und als richterliche<br />

Vernehmung durchgeführt werden, wenn dadurch die schutzwürdigen Interessen der Zeugen besser<br />

gewahrt werden können.<br />

Im Einzelnen gilt:<br />

• Die Vorschrift gilt nur beim Vorwurf einer Straftat aus dem Katalog der Taten der §§ 174 bis 184j StGB.<br />

• Erfasst werden von der Vorschrift/Regelung (jetzt) auch Erwachsene.<br />

• Unter den Begriff „Personen“ gem. § 58a Abs. 1 S. 3 StPO fallen neben den (neu erfassten) erwachsenen<br />

Zeugen auch Personen unter 18 Jahren.<br />

• Erforderlich ist, dass durch die richterliche Vernehmung die schutzwürdigen Interessen der<br />

genannten Personen besser gewahrt werden können (zur Abwägung s. BURHOFF, EV, Rn 4794<br />

m.w.N.). Insoweit wird von Bedeutung sein, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung „das nach<br />

Berichten der Praxis feststellbare Vollzugsdefizit der bisher als Sollvorschrift ausgestalteten Regelung in diesen<br />

Fällen“ (dazu BT-Drucks 19/14747, S. 25) beheben und mit der Änderung sicherstellen wollte, dass von<br />

der Bild-Ton-Aufzeichnung bei der Ermittlung von Sexualstraftaten umfassend Gebrauch gemacht<br />

wird (BT-Drucks 19/14747, a.a.O.). Mit der Ausgestaltung der Norm als Mussvorschrift soll dieses Ziel<br />

erreicht werden.<br />

172 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1005<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

• Auch nach der Neuregelung muss die Bild-Ton-Aufzeichnung zur Wahrung der schutzwürdigen<br />

Interessen des Zeugen geboten sein. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Vorschrift in aller<br />

Regel keine Anwendung in Alltagsfällen findet (BT-Drucks 19/14747, S. 25 a.E.).<br />

4. Zustimmung/Widerspruch des Zeugen<br />

Durch eine Videovernehmung wird das Persönlichkeitsrecht des Zeugen tangiert. Daher hängt die<br />

Zulässigkeit der Bild-Ton-Aufzeichnung einer Vernehmung in den Fällen des § 58a Abs. 1 S. 3 StPO davon<br />

ab, ob der Zeuge zugestimmt hat.<br />

Hinweis:<br />

Dieses Zustimmungserfordernis des Zeugen wird von einem Widerspruchsrecht des Zeugen sofort nach<br />

der Vernehmung flankiert, das in § 255a Abs. 2 S. 1 StPO geregelt ist.<br />

Die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/14747, S. 26) merkt in dem Zusammenhang an, dass der Richter<br />

den Zeugen über den Umfang seines Widerspruchs belehren sollte, und zwar:<br />

• Er sollte darauf hinweisen, dass sich die Zustimmung des Zeugen vor der Vernehmung beziehungsweise<br />

sein sofortiger Widerspruch nach der Vernehmung stets nur auf die Vorführung der Bild-Ton-<br />

Aufzeichnung gem. § 255a StPO in der Hauptverhandlung bezieht.<br />

• Sie bezieht sich nicht auf die Verwertbarkeit der Aufzeichnung oder gar seiner Aussage insgesamt.<br />

• Der Zeuge ist/bleibt auch bei fehlender Zustimmung hinsichtlich der Vorführung der Bild-Ton-<br />

Aufzeichnung auf Ladung des Gerichts verpflichtet, in der Hauptverhandlung persönlich auszusagen.<br />

Hinweis:<br />

Von der Zustimmung beziehungsweise einem Widerspruch des Zeugen hängt also nur ab, ob seine<br />

persönliche Einvernahme in der Hauptverhandlung durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung<br />

gem. § 255a StPO (dazu BURHOFF, HV, Rn 3700 ff. m.w.N.) ersetzt werden kann.<br />

5. Verfahren/Rechtsmittel<br />

Die Neuregelung hat die Vorschriften betreffend das Verfahren und die Anordnung einer Videovernehmung<br />

nicht geändert. Insoweit kann also auf die Ausführungen bei BURHOFF, EV, Rn 4795 ff.<br />

verwiesen werden.<br />

Hinweis:<br />

Für die Anordnung der Aufzeichnung der richterlichen Vernehmung ist nach § 58a Abs. 1 S. 3 StPO eine<br />

„Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände“ erforderlich. Dabei ist der gesetzgeberische<br />

Zweck der Neuregelung von Bedeutung (dazu BT-Drucks 19/14747, S. 25 und oben III 1). Das führt dazu,<br />

dass in den in § 58a Abs. 1 S. 3 StPO genannten Fällen im Zweifel immer aufgezeichnet werden muss.<br />

Entsprechendes gilt für die Frage der Rechtsmittel. Insoweit wird verwiesen auf BURHOFF, EV, Rn 4798 ff.<br />

IV.<br />

Molekulargenetische Untersuchungen (§ 81e StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Norm: § 81e Abs. 1 StPO<br />

• Sachlicher Geltungsbereich: Spurenmaterial/Material<br />

• Verteidigerstrategie: Beweisverwertungsverbot wegen Einwilligungs-/Richtervorbehalt<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 173


Fach 22, Seite 1006<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

1. Neuregelung<br />

§ 81e StPO ist zuletzt durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des<br />

Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 neu gefasst/präzisiert worden (BURHOFF, EV, Rn 1468 ff. m.w.N.). Bislang<br />

war die Zulässigkeit einer molekulargenetischen Untersuchung nach § 81e Abs. 1 S. 1 StPO nur<br />

hinsichtlich der Erstellung eines DNA-Identifizierungsmusters sowie der Bestimmung der Abstammung<br />

und des Geschlechts erlaubt. Das ist nun in § 81e Abs. 2 S. 2 StPO in bestimmten Fällen erweitert<br />

worden.<br />

2. Regelungsinhalt des § 81e Abs. 2 S. 2 StPO<br />

a) Erweiterung der Untersuchungsumfangs<br />

In § 81e Abs. 2 S. 2 StPO ist der zulässige Untersuchungsumfang von DNA-fähigem Material erweitert<br />

worden, wenn nicht bekannt ist, von wem das Spurenmaterial stammt, es also weder dem Beschuldigten,<br />

noch anderen Personen entnommen wurde.<br />

Hinweis:<br />

Durch eine Erweiterung des § 81g Abs. 5 Ziff. 2StPO um den Hinweis auf § 81e Abs. 2 S. 1 StPO ist zudem<br />

sicher-/klargestellt, dass ein Abgleich des DNA-Identifizierungsmusters mit der beim Bundeskriminalamt<br />

geführten Analysedatei erfolgt sein muss, der nicht erfolgreich gewesen sein darf.<br />

Bei diesen „unbekannten Spurenlegern“ darf nun nicht nur nach dem Geschlecht „gesucht“ werden,<br />

sondern auch nach den Merkmalen Augenfarbe, Haarfarbe, Hautfarbe sowie dem Alter.<br />

b) Verhältnismäßigkeit/allgemeines Persönlichkeitsrecht<br />

Die Regelung in § 81e StPO enthält keine Subsidiaritätsklausel. Vielmehr hängt die Zulässigkeit der<br />

Untersuchung nach § 81e Abs. 1 S. 1 StPO nur davon ab, dass die „Untersuchung zur Erforschung des<br />

Sachverhalts erforderlich“ ist. Wegen dieses weiten Anwendungsbereichs stellt sich damit besonders die<br />

Frage der Verhältnismäßigkeit.<br />

Dazu nimmt die Gesetzesbegründung eingehend Stellung (BT-Drucks 19/14747, S. 26). Die Erweiterung<br />

stelle einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar, der aber in der konkreten Ausgestaltung<br />

verhältnismäßig sei. Das BVerfG habe in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass die Aufklärung<br />

schwerer Straftaten eine wesentliche Aufgabe des Gemeinwesens sei. Dabei gebiete es die<br />

Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege, Straftaten in einem justizförmigen Verfahren zu verfolgen. Der<br />

Verhinderung, Verfolgung und Aufklärung von Straftaten kommt nach dem Grundgesetz eine hohe<br />

Bedeutung zu (s. nur BVerfGE 129, 208, 260). Durch die Erweiterung der Möglichkeiten der DNA-Analyse<br />

wolle man neue Ermittlungsansätze bei bislang ungeklärten Straftaten schaffen und die Wahrheit<br />

möglichst umfassend ermitteln können. Dieses Anliegen liege im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit<br />

und stelle damit einen legitimen Zweck dar (wegen weiterer Einzelheiten der Begründung<br />

zur Verhältnismäßigkeit s. BT-Drucks 19/14747, a.a.O.).<br />

Hinweis:<br />

Untersuchungen einer DNA-Tatort-Spur zur Ermittlung äußerlich erkennbarer Merkmale eines<br />

Spurenlegers, dessen Identität nicht durch einen Treffer beim Abgleich des DNA-Identifizierungsmusters<br />

ermittelt werden konnte, sind zwar grds. geeignet, die Ermittlungen ggf. voranzubringen<br />

und den (wahren) Sachverhalt aufzuklären. Das bedeutet aber nicht, dass diese Maßnahmen nun<br />

in allen Fällen zulässig wären. Sofern die Maßnahme im konkreten Einzelfall gleichwohl unverhältnismäßig<br />

wäre, darf sie auch künftig – wie schon nach früherem Recht – nicht durchgeführt werden.<br />

Darauf weist die Gesetzesbegründung ausdrücklich hin (BT-Drucks 19/14747, a.a.O.).<br />

174 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1007<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

3. Verfahren/Rechtsmittel/Beweisverwertungsverbote<br />

Das Gesetz hat weitere Änderungen in den §§ 81a ff. StPO nicht vorgenommen. Das bedeutet, dass sich<br />

hinsichtlich des Verfahrens zur Entnahme des Vergleichsmaterials, der Anordnung der Untersuchung,<br />

der Vernichtung und der Verwendung des Untersuchungsergebnisses nichts geändert hat. Es gelten<br />

daher nach wie vor die Ausführungen bei BURHOFF, EV, Rn 1468 ff., insb. Rn 1490 ff.<br />

Hinweis:<br />

Auch die Ausführungen zu sich ggf. ergebenden Beweisverwertungsverboten gelten entsprechend<br />

(BURHOFF, EV, Rn 1518 m.w.N.).<br />

V. Telefonüberwachung (§ 100a StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Norm: § 100a Abs. 1 StPO<br />

• Sachlicher Geltungsbereich: Telefonüberwachung/Ermittlungsmaßnahmen<br />

• Verteidigerstrategie: Beweisverwertungsverbote<br />

1. Neuregelung<br />

Bisher konnte eine Telefonüberwachung nach § 100a StPO in Diebstahlsfällen nur angeordnet werden,<br />

wenn es um einen Bandendiebstahl nach § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB und schweren Bandendiebstahl nach<br />

§ 244a StGB ging. Dies ist nun in § 100a Abs. 2 Nr. 1 Buchst. j um die Fälle des Wohnungseinbruchdiebstahls<br />

nach § 244 Abs. 4 StGB erweitert worden (zur Kritik u.a. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/<br />

2019 vom November 2019, S. 13 unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellung<br />

nahmen-deutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf).<br />

Begründet wird diese Verschärfung mit einem Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG (vgl. u.a.<br />

BVerfG NJW 2012, 833, 836; allgemein zur Telefonüberwachung BURHOFF, EV, Rn 3919 ff., zu den<br />

Voraussetzungen Rn 4045 ff.). Danach verfüge der Gesetzgeber „über einen Beurteilungsspielraum bei der<br />

Bestimmung des Unrechtsgehalts eines Delikts und bei der Entscheidung darüber, welche Straftaten er zum Anlass<br />

für bestimmte strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen machen möchte“ (BVerfG, a.a.O.). Der Gesetzgeber<br />

habe sich aber in der vergangenen Legislaturperiode 2017 bewusst dazu entschieden, den Wohnungseinbruchdiebstahl<br />

in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung wegen der mit dem Delikt verbundenen<br />

Verletzung der höchstpersönlichen Privatsphäre als ganz besonders gravierend einzustufen und ihn<br />

dadurch beispielsweise dem Raub gleichgestellt (vgl. 55. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs –<br />

Wohnungseinbruchdiebstahl v. 17.7.2017 – BGBl I, S. 2442). Der Strafrahmen des Wohnungseinbruchdiebstahls<br />

sei aus diesem Grund erheblich angehoben und der Wohnungseinbruchdiebstahl in eine<br />

dauerhaft genutzte Privatwohnung zum Verbrechenstatbestand ausgestaltet worden (wegen der Einzelheiten<br />

zu § 244 Abs. 4 StGB FISCHER, StGB, 66. Aufl. 2019, § 244 Rn 52).<br />

Hinweis:<br />

Der Gesetzgeber sieht das als eine ausreichende Begründung für eine weitere Verschärfung des Rechts<br />

der Telefonüberwachung an. Aber: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verzeichnet für 2017 einen<br />

deutlichen Rückgang der Wohnungseinbrüche. Demnach sank deren Zahl um 23 % auf 116.450 Taten.<br />

Die Aufklärungsquote erhöhte sich zugleich leicht von 16,9 auf 17,8 %. 2015 war mit 167.136 registrierten<br />

Wohnungseinbrüchen ein Höchststand der vergangenen Jahre erreicht worden. Jahrelang hatte die Zahl<br />

der Einbrüche in Deutschland bis dahin zugenommen (https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kriminal<br />

statistik-2018-so-sind-die-sinkenden-einbruchszahlen-zu-erklaeren-a-1206764.html.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong> 175


Fach 22, Seite 1008<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

2. Verfahren/Rechtsmittel/Beweisverwertungsverbot<br />

a) Allgemeines<br />

Die Verfahrensvorschriften bzw. die Regelungen zu Rechtsmitteln usw. sind nicht geändert worden.<br />

Es kann daher insoweit grds. auf BURHOFF, EV, Rn 3927 ff. verwiesen werden.<br />

Entsprechendes gilt für Beweisverwertungsverbote. Insoweit wird verwiesen auf BURHOFF, EV, 3978 ff.<br />

b) Schwere der Tat im konkreten Einzelfall<br />

Anknüpfungspunkt für die Anordnung einer Telefonüberwachung ist u.a. der Verdacht auf eine der in<br />

§ 100a Abs. 2 StPO genannten Katalogtaten. Es muss sich also um eine der dort bezeichneten „schweren<br />

Straftaten“ handeln. Die Gesetzesbegründung (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 29) weist (zutreffend)<br />

darauf hin, dass die abstrakte Schwere der Straftat jedoch nicht alleiniger Anknüpfungspunkt für die<br />

Prüfung der Rechtmäßigkeit der zu beurteilenden Ermittlungsmaßnahme sein darf. Vielmehr ist die<br />

Rechtmäßigkeit jeder Ermittlungsmaßnahme auch an der Beschränkung des § 100a Abs. 1 Ziff. 2 und 3<br />

StPO zu messen, wonach eine Telekommunikationsüberwachung nur in Fällen angeordnet werden darf, in<br />

denen bei Verdacht einer Katalogtat die Tat auch im Einzelfall besonders schwer wiegt und die Erforschung<br />

des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschuldigten – ohne die Überwachung der<br />

Telekommunikation – wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre (BURHOFF, EV, Rn 4054 ff.).<br />

Die somit erforderliche Einzelfallüberprüfung ist Aufgabe des die Telefonüberwachung anordnenden<br />

Gerichts. Dies muss insb. auch feststellen, dass die Anlasstat auch im Einzelfall schwer wiegt (BURHOFF,<br />

EV, Rn 4055). Dazu gibt die Gesetzesbegründung betreffend die Neuregelung in § 100a Abs. 2 Nr. 1<br />

Buchst. j StPO Folgendes vor (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 28): Insbesondere in Fällen, die im<br />

Schuldgehalt hinter dem Durchschnitt gewöhnlicher Fälle des Wohnungseinbruchsdiebstahls in<br />

Privatwohnungen i.S.d. § 244 Abs. 4 StGB zurückbleiben, z.B. weil die Privatsphäre der Geschädigten<br />

nicht intensiv beeinträchtigt wurde, soll dies regelmäßig nicht der Fall sein (BT-Drucks 19/14747, a.a.O.).<br />

Anders soll dies aber nach Auffassung der Gesetzesbegründung insb. dann der Fall sein, wenn weitere<br />

bestimmte Indizien darauf hinweisen, dass sich der Beschuldigte nicht nur im Einzelfall, sondern in einer<br />

Mehrzahl von Fällen serienmäßig nach § 244 Abs. 4 StGB strafbar gemacht haben könnte. Anknüpfend<br />

an die serienmäßige Begehungsweise stehe – so die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/14747, a.a.O.) –<br />

zu erwarten, dass in diesen Fällen der Täter vermehrt Absatz für sein wiederholt anfallendes Diebesgut<br />

suchen wird. Die Kontaktanbahnung mit etwaigen Käufern wie auch die Abwicklung dieser Geschäfte<br />

mittels Telekommunikation könnten hierbei Ansatzpunkte für die Aufklärung der Einbruchstaten und<br />

die Überführung des Täters sein, auch wenn keine Anhaltspunkte für eine gewerbsmäßige Hehlerei oder<br />

eine bandenmäßige Begehungsweise vorliegen.<br />

Hinweis:<br />

Letzteres ist m.E. nur insoweit überzeugend, als sicherlich eine serienmäßige Begehungsweise die „Schwere“<br />

der Tat erhöhen kann, aber: § 244 Abs. 4 StGB will gerade den Eingriff in die persönliche Privatsphäre des<br />

Betroffenen besonders sanktionieren. Damit hat eine serienmäßige Begehungsweise nichts tun.<br />

3. Befristung der Änderung<br />

Für die Neuregelung ist in Art. 2 und Art. 10 S. 2 des Gesetzes eine Befristung vorgesehen. Nach Art. 2 des<br />

Gesetzes wird nämlich die Einfügung bzw. die Erweiterung des Straftatenkatalogs um „Wohnungseinbruchdiebstahl<br />

nach § 244 Abs. 4“ gem. Art. 10 S. 2 des Gesetzes am 12.12.2024 wieder gestrichen.<br />

Begründet wird das damit, dass die Ausweitung des Katalogs in § 100a Abs. 2 StPO auf eine Tat, die von<br />

einem Einzeltäter begangen werden kann und die nicht notwendig in einem Zusammenhang mit<br />

Telekommunikation steht, unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Verhältnismäßigkeit des Eingriffs<br />

in das Grundrecht aus Art. 10 GG sensibel sei (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 42). Sie soll daher zunächst<br />

befristet werden, um dem Gesetzgeber Gelegenheit zu geben, ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Vielleicht<br />

wäre es besser gewesen, dies vorab zu tun.<br />

176 <strong>ZAP</strong> Nr. 3 5.2.<strong>2020</strong>

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