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ZAP-2020-02

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

2 <strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

22. Januar<br />

32. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />

Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />

Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

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AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Wenn „vorbereitende“ Schriftsätze nicht binnen der Wochenfrist eingereicht werden … (S. 65)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Neuregelungen im Januar (S. 67) • Behinderung von Legal‐Tech‐Anbietern durch Ryanair‐AGB (S. 70) •<br />

Neue Düsseldorfer Tabelle (S. 71)<br />

Aufsätze<br />

Deutscher, E-Scooter & Co. – Die neue eKFV (S. 81)<br />

Haas/Wolf, Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft (S. 89)<br />

Hillenbrand, Das neue Recht der Pflichtverteidigung (S. 99)<br />

Rechtsprechung<br />

BGH: Mieterhöhung nach Modernisierungsmaßnahmen (S. 74)<br />

BAG: Anwendbarkeit einer Versorgungsordnung (S. 78)<br />

AGH Hamm: Zulassungswiderruf (S. 79)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 65–66<br />

Anwaltsmagazin – – 67–72<br />

Rechtsprechung 1 7–14 73–80<br />

Deutscher, E‐Scooter & Co. – Die neue eKFV (VO über<br />

die Teilnahme von Elektrokleinstfahrzeugen am Straßenverkehr)<br />

9 1105–1112 81–88<br />

Haas/Wolf, Steuerrecht und Gesellschaftsrecht –<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft 20 667–676 89–98<br />

Hillenbrand, Das neue Recht der Pflichtverteidigung 22 983–996 99–112<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />

Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />

Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • PräsSG a.D. RA<br />

Dr. Klaus Louven, Geldern • Dr. David Markworth, Köln •RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann,<br />

Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt<br />

Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr.<br />

Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: <strong>02</strong>28/91911-62, Telefax: <strong>02</strong>28/91911-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Wenn „vorbereitende“ Schriftsätze nicht binnen der Wochenfrist<br />

eingereicht werden …<br />

Nach § 132 Abs. 1 S. 1 ZPO ist ein vorbereitender<br />

Schriftsatz, der neue Tatsachen oder ein anderes<br />

neues Vorbringen enthält, so rechtzeitig einzureichen,<br />

dass er mindestens eine Woche vor der<br />

mündlichen Verhandlung zugestellt werden kann.<br />

Die Realität gestaltet sich regelmäßig aber anders.<br />

Kürzlich übersendete der Prozessbevollmächtigte<br />

des Gegners am Vortag der mündlichen Verhandlung<br />

einen Replik-Schriftsatz (ohne Anlagen) mit<br />

neuem Sachvortrag und neuen Beweisantritten.<br />

Eine Besprechung dieses Schriftsatzes mit der<br />

eigenen Partei war vor der Verhandlung nicht<br />

mehr möglich. Auch das Gericht hatte den Schriftsatz<br />

nach eigenen Angaben nicht mehr lesen<br />

können. Die Sach- und Rechtslage wurde daher<br />

nicht erörtert, es wurden lediglich die Anträge<br />

gestellt und die eigene Partei erhielt einen Schriftsatznachlass.<br />

Der Verhandlungstermin dauerte<br />

vier Minuten und war damit – inhaltlich betrachtet<br />

–„ergebnislos“.<br />

§ 282 Abs. 2 ZPO bestimmt für das erstinstanzliche<br />

Verfahren (ausgenommen sind Verfahren<br />

des einstweiligen Rechtsschutzes), dass Anträge<br />

sowie Angriffs- und Verteidigungsmittel, auf die<br />

der Gegner voraussichtlich ohne vorhergehende<br />

Erkundigung keine Erklärung abgeben kann, vor<br />

der mündlichen Verhandlung durch vorbereitenden<br />

Schriftsatz so zeitig mitzuteilen sind, dass der<br />

Gegner die erforderliche Erkundigung noch einzuziehen<br />

vermag. Das Merkmal „zeitig“ wird<br />

durch die Vorgaben des § 132 Abs. 1 S. 1 ZPO<br />

„konkretisiert“. Es geht darum, dem Gegner –<br />

nicht dem Gericht (BGH, Urt. v. 28.9.1988 – IVa ZR<br />

88/87, NJW 1989, 716, 717) – die Gewährung<br />

rechtlichen Gehörs zu ermöglichen, so dass dieser<br />

in der mündlichen Verhandlung angemessen auf<br />

den Inhalt des neuen Schriftsatzes erwidern kann.<br />

Rechtliche Ausführungen sind unabhängig von<br />

§ 132 Abs. 1 S. 1 ZPO jederzeit möglich.<br />

Im eingangs geschilderten Sachverhalt war eine<br />

Erwiderung auf den neuen Vortrag infolge der<br />

Nichteinhaltung der Vorgaben des § 132 Abs. 1 S. 1<br />

ZPO ausgeschlossen. Der voraussichtliche Ablauf<br />

der mündlichen Verhandlung war zum Zeitpunkt<br />

des Erhalts des „vorbereitenden“ Schriftsatzes<br />

erkennbar: Außer den Antragstellungen und der<br />

Gewährung einer Schriftsatzfrist waren Weiterungen<br />

eher nicht zu erwarten. Unter ökonomischen<br />

Aspekten hätte man den Termin aufheben<br />

und eine Schriftsatzfrist gewähren können.<br />

Einer solchen Aufhebung dürfte aber (abgesehen<br />

von dem Aspekt der kurzfristigen praktischen<br />

Umsetzbarkeit) § 227 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 ZPO<br />

entgegenstehen.<br />

Gerichte reagieren erfahrungsgemäß auf solche<br />

„vorbereitenden“ Schriftsätze mit der Gewährung<br />

einer Schriftsatzfrist für den Gegner. Es sei aber die<br />

Frage gestattet, ob es nicht auch andere Möglichkeiten<br />

gibt, um der „Unsitte“ (ZÖLLER/GREGER, ZPO,<br />

32. Aufl., § 132 Rn 4) solcher nicht fristgerecht<br />

übersendeten, „vorbereitenden“ Schriftsätze entgegenzuwirken.<br />

Dass Termine im vorbeschriebenen<br />

Sinn beim Gericht, den im Termin erscheinenden<br />

Parteien und deren Prozessbevollmächtigten<br />

einen unverhältnismäßigen Zeit- und vor allem<br />

Kostenaufwand verursachen, ist eindeutig erkennbar.<br />

Die bloße Nichteinhaltung der in § 132 Abs. 1 S. 1<br />

ZPO gesetzten Frist genügt nach ständiger höchstrichterlicher<br />

Rechtsprechung aber nicht, um<br />

Angriffs- und Verteidigungsmittel nach §§ 296<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 65


Kolumne<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Abs. 2, 282 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückzuweisen<br />

(u.a. BGH, Beschl. v. 30.3.2006 – VII ZR<br />

139/05, juris). § 132 Abs. 1 S. 1 ZPO berechtigt<br />

das Gericht auch nicht, einen im mündlichen<br />

Verhandlungstermin übergebenen Schriftsatz<br />

nicht entgegenzunehmen (LG Dessau-Roßlau,<br />

Beschl. v. 29.4.2008 – 6 T 121/08, juris).<br />

Es sind aber Sachverhaltsgestaltungen denkbar,<br />

in denen die Parteien ihre Prozessförderungspflicht<br />

durch verspätete Mitteilungen von Angriffs-<br />

und Verteidigungsmitteln verletzen, so<br />

dass u.a. der Gegner ohne vorherige Erkundigung<br />

keine Erklärung abgeben kann (vgl. LG Kassel, Urt.<br />

v. 10.10.2013 – 6 O 892/13, juris). Dies dürfte vor<br />

allem auf hierdurch verursachte Verzögerungen<br />

des Rechtsstreits zutreffen.<br />

Zum Beispiel hatte in einem vom LG Kassel<br />

(a.a.O.) entschiedenen Sachverhalt das Gericht<br />

am 2.7.2013 einen Beweistermin für den 10.10.2013<br />

anberaumt, in dem der klägerseits benannte Zeuge<br />

vernommen werden sollte. Am 4.10.2013 trug<br />

der Kläger schriftsätzlich neuen Sachvortrag vor<br />

und benannte diesbezüglich eine weitere Person<br />

als Zeugen. Der Termin am 10.10.2013 fand statt;<br />

der Kläger brachte die am 4.10.2013 benannte<br />

Person nicht als präsenten Zeugen mit. Den am<br />

4.10.2013 unter Missachtung der Frist des § 132<br />

ZPO erfolgten Vortrag wertete das Gericht als<br />

verspätet, da bei dessen Berücksichtigung ein<br />

weiterer Termin, in dem der weitere Zeuge hätte<br />

gehört werden müssen, hätte anberaumt werden<br />

müssen. Der Rechtsstreit wäre damit verzögert<br />

worden. Der Kläger habe bei seiner Benennung<br />

des Zeugen außerhalb der Wochenfrist auf „eigenes<br />

Risiko“ gehandelt. Das LG Nürnberg-Fürth<br />

(Urt. v. 11.11.2013 – 6 O 2137/13, juris) entschied in<br />

einem ähnlich gelagerten Sachverhalt ebenso.<br />

Auch das OLG Celle (Urt. v. 7.2.20<strong>02</strong> – 11 U<br />

117/01, juris) hat einen zwei Tage vor der mündlichen<br />

Verhandlung vorgetragenen neuen Sachvortrag<br />

als verspätet zurückgewiesen, da bei<br />

dessen Berücksichtigung der anderen Partei die<br />

Vorlage weiterer Dokumente hätte auferlegt<br />

werden müssen (vgl. auch OLG Stuttgart, Urt. v.<br />

2.6.2016 – 2 U 108/15, juris).<br />

Fehlt es aber an Umständen, die eindeutig eine<br />

Verzögerung begründen, kann auf die Vorgaben<br />

des § 137 Abs. 2 ZPO Rückgriff genommen<br />

werden. Hiernach sind die Vorträge der Parteien<br />

in freier Rede zu halten. Eine Bezugnahme auf<br />

Dokumente (z.B. Schriftsätze) ist zulässig, soweit<br />

keine der Parteien widerspricht und das Gericht<br />

sie für angemessen hält (§ 137 Abs. 3 ZPO). Die<br />

bloße Bezugnahme auf einen Schriftsatz, der<br />

wegen Nichteinhaltung der Frist des § 132 Abs. 1<br />

S. 1 ZPO nicht (mehr) als „vorbereitend“ beurteilt<br />

werden kann (PRÜTTING/GEHRLEIN/PRÜTTING, ZPO,<br />

11. Aufl., § 132 Rn 5), scheint nicht „angemessen“<br />

i.S.d. § 137 Abs. 3 ZPO zu sein (ZÖLLER/GREGER, a.a.O.,<br />

§ 132 Rn 4). Hieraus ergibt sich, dass die betroffene<br />

Partei den Inhalt des Schriftsatzes in<br />

der Verhandlung mündlich vortragen muss (so LG<br />

Dessau-Roßlau, Beschl. v. 29.4.2008 – 6 T 121/08,<br />

juris). Ein Verlesen des Schriftsatzes ist unzulässig<br />

(CEPL/VOß/NIELEN, Prozesskomm. zum Gewerbl.<br />

Rechtsschutz, 2. Aufl., § 132 Rn 7).<br />

Gerichte könnten daher bei Nichteinhaltung der<br />

Wochenfrist zwar den Schriftsatz annehmen,<br />

jedoch gleichzeitig die Partei auf das Mündlichkeitsgebot<br />

hinweisen und ihr Gelegenheit zum<br />

mündlichen Vortrag geben. Entsprechender Vortrag<br />

könnte nachfolgend gerichtlich bewertet<br />

werden, z.B. als verspätet i.S.d § 296 ZPO oder<br />

als Anlass für die Gewährung einer Schriftsatzfrist<br />

für den Gegner (§ 283 ZPO). Nimmt die Partei von<br />

einem mündlichen Vortrag Abstand, sollte der<br />

Inhalt des Schriftsatzes als nicht existent bewertet<br />

werden. Sofern Gerichte von dieser Möglichkeit<br />

Gebrauch machen würden, könnte dies<br />

Parteien veranlassen, neuen Vortrag unter Beachtung<br />

der Wochenfrist einzureichen. Gerichtstermine<br />

wie eingangs geschildert könnten damit<br />

zukünftig vermieden werden.<br />

Rechtsanwalt GUIDO VIERKÖTTER, LL.M. (Gewerblicher<br />

Rechtsschutz), Neunkirchen-Seelscheid<br />

66 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Anwaltsmagazin<br />

Neuregelungen im Januar<br />

Zu Beginn des Jahres <strong>2<strong>02</strong>0</strong> sind wieder zahlreiche<br />

Neuregelungen auf unterschiedlichen Rechtsgebieten<br />

in Kraft getreten. Besonders viele Änderungen<br />

gibt es in den Bereichen Arbeit und Soziales,<br />

daneben gilt es aber auch wichtige Neuerungen<br />

etwa im Zivil- und im Strafprozess. Nachstehend<br />

sind die wichtigsten Änderungen zum 1.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> kurz<br />

zusammengefasst wiedergegeben:<br />

• Arbeit und Soziales<br />

Arbeitslosenversicherung: Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung<br />

ist mit dem 1. Januar um<br />

0,1 % auf jetzt 2,4 % abgesenkt worden. Arbeitgeber<br />

und Beschäftigte tragen den Beitrag jeweils<br />

zur Hälfte. Die Regelung gilt befristet bis zum<br />

31.12.2<strong>02</strong>2. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

sowie Unternehmen sollen damit um rund<br />

600 Mio. Euro jährlich entlastet werden.<br />

Gesetzlicher Mindestlohn: Der gesetzliche Mindestlohn<br />

steigt mit dem Jahresbeginn von bisher<br />

9,19 € auf 9,35 €. Die Anhebung beruht auf dem<br />

Vorschlag der Mindestlohnkommission aus dem<br />

Jahr 2018.<br />

Mindestvergütung in der Ausbildung: Zum 1. Januar<br />

ist das modernisierte Berufsbildungsgesetz in<br />

Kraft getreten. Mit ihm wird auch eine Mindestvergütung<br />

für Auszubildende eingeführt. Sie soll im<br />

ersten Ausbildungsjahr monatlich 515 € betragen.<br />

2<strong>02</strong>1 erhöht sie sich auf 550 €, 2<strong>02</strong>2 auf 585 € und<br />

2<strong>02</strong>3 auf 620 €. Außerdem sollen Ausbildungen in<br />

Teilzeit erleichtert werden.<br />

Beitragsbemessungsgrenzen: Seit dem 1. Januar<br />

gelten neue Einkommensgrenzen für die Beitragsberechnungen<br />

in der gesetzlichen Rentenversicherung<br />

und der gesetzlichen Krankenversicherung.<br />

Zudem ändern sich weitere wichtige<br />

Werte in der Sozialversicherung.<br />

Regelbedarfssätze in der Grundsicherung und<br />

Sozialhilfe: Wer auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld<br />

II angewiesen ist, bekommt ab sofort mehr<br />

Geld: Alleinstehende Erwachsene erhalten jetzt<br />

432 € im Monat – 8 € mehr als bisher. Die Regelsätze<br />

für Kinder und Jugendliche steigen ebenfalls.<br />

Angehörigenentlastung in der Pflege: Erwachsene<br />

Kinder pflegebedürftiger Eltern können seit dem<br />

1. Januar nur noch dann zu Unterhaltszahlungen<br />

herangezogen werden, wenn ihr Jahreseinkommen<br />

100.000 € brutto übersteigt. In gleichem Umfang<br />

werden außerdem Menschen von Zuzahlungen befreit,<br />

deren Angehörige aufgrund einer Behinderung<br />

Anspruch auf Eingliederungshilfe haben. Darunter<br />

fällt beispielsweise die finanzielle Hilfe für<br />

den Umbau einer barrierefreien Wohnung.<br />

Eingliederungshilfe: Seit dem 1. Januar ist die<br />

Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der<br />

Sozialhilfe herausgelöst und als eigenständiges<br />

Leistungsrecht in das Neunte Sozialgesetzbuch<br />

eingebettet worden. Zudem sind weitere wesentliche<br />

Verbesserungen bei der Einkommensund<br />

Vermögensanrechnung in Kraft getreten.<br />

Damit werden für Menschen mit Behinderungen<br />

die Anreize erhöht, eine sozialversicherungspflichtige<br />

Beschäftigung aufzunehmen (Dritte<br />

Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes).<br />

Beschäftigungsduldungsgesetz: Gute Integrationsleistungen<br />

sollen sich künftig auszahlen. Ziel<br />

ist es, mehr Rechtsklarheit und Rechtssicherheit<br />

für Arbeitgeber und Geduldete zu erreichen.<br />

Können Geduldete ihren Lebensunterhalt durch<br />

Erwerbstätigkeit selbst sichern und sind sie gut<br />

integriert, haben sie jetzt klare Kriterien für einen<br />

langfristigen Aufenthaltsstatus. Auch erhalten abgelehnte<br />

Asylbewerber die Möglichkeit, ihre begonnene<br />

Berufsausbildung abzuschließen.<br />

Betriebsrenten: Künftig sollen alle Betriebsrentnerinnen<br />

und -rentner bei der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

entlastet werden. Sie zahlen ab <strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 67


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

nur noch für den Teil ihrer Betriebsrente Beiträge,<br />

der über einem Freibetrag von 159 € liegt.<br />

Wohngeld: Zum 1. Januar ist auch das Wohngeld<br />

angehoben worden. Damit erhalten rund 180.000<br />

Haushalte erstmals oder erneut einen Anspruch<br />

auf Wohngeld. Künftig wird das Wohngeld alle<br />

zwei Jahre an die aktuelle Miet- und Einkommensentwicklung<br />

angepasst.<br />

• Steuern<br />

Kinderfreibetrag und Grundfreibetrag: Der steuerliche<br />

Kinderfreibetrag ist zum 1. Januar auf<br />

7.812 € angehoben worden. Auch für Erwachsene<br />

steigt der Grundfreibetrag auf jetzt 9.408 €. Auf<br />

diesen Teil des Einkommens muss keine Einkommensteuer<br />

gezahlt werden. Familien werden damit<br />

um rund 10 Mrd. € jährlich entlastet. Die<br />

nächste Kindergelderhöhung ist zum 1. Januar<br />

kommenden Jahres angekündigt worden.<br />

Energetische Gebäudesanierung: Energetische Sanierungsmaßnahmen<br />

an selbstgenutztem Wohneigentum<br />

sollen für die Zeit vom 1.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> bis zum<br />

31.12.2<strong>02</strong>9 durch einen Abzug von 20 % der Aufwendungen<br />

von der Steuerschuld gefördert werden.<br />

Abzugsfähig sind z.B. die Dämmung von<br />

Wänden und Dächern oder der Einbau moderner<br />

Heizungen und Fenster. Dadurch soll ein Anreiz<br />

geschaffen werden, das Eigenheim klimafreundlicher<br />

zu gestalten.<br />

Sonderabschreibung für Elektro-Nutzfahrzeuge:<br />

Für die Anschaffung rein elektrischer oder anderer<br />

Nutzfahrzeuge und elektrisch betriebener<br />

Lastenfahrräder wurde zum Jahresbeginn eine<br />

Sonderabschreibung von 50 % im Jahr der Anschaffung<br />

eingeführt. Die Regelung ist bis Ende<br />

2030 befristet.<br />

Mehrwertsteuer auf Bahntickets, Hygieneartikel<br />

und E-Books: Bahnfahren soll im neuen Jahr<br />

günstiger und dadurch attraktiver werden. Dafür<br />

wurde der Mehrwertsteuersatz auf Fahrkarten im<br />

Fernverkehr von 19 % auf 7 % gesenkt. Ab April<br />

<strong>2<strong>02</strong>0</strong> steigt im Gegenzug die Luftverkehrsteuer.<br />

Die Deutsche Bahn hat angekündigt, die Absenkung<br />

eins zu eins an die Fahrgäste weiterzugeben.<br />

Auch für einige Artikel des täglichen Bedarfs gilt ab<br />

sofort ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz von 7 %.<br />

Dies betrifft Hygieneartikel für Frauen, z.B. Binden,<br />

Tampons und Menstruationstassen. Der vom Bundesfinanzministerium<br />

festgesetzten Steuersenkung<br />

von 19 auf 7 % war eine Petition vorausgegangen<br />

mit der Forderung „Die Periode ist kein<br />

Luxus“, die rund 190.000 Unterstützerinnen und<br />

Unterstützer fand.<br />

Ebenfalls zum 1. Januar wurde der ermäßigte<br />

Mehrwertsteuersatz von 7 % auch für E-Books,<br />

digitale Zeitungen und Periodika eingeführt. In<br />

Deutschland galt dieser bisher nur für gedruckte<br />

Presseerzeugnisse.<br />

Elektronische Kassensysteme: Elektronische Kassen<br />

benötigen eine vom Bundesamt für Sicherheit<br />

in der Informationstechnik (BSI) zertifizierte<br />

Sicherheitseinrichtung. Damit soll der Kaufpreis<br />

nicht mehr manipuliert werden können. Zudem<br />

muss bei jedem Kauf ein Bon ausgestellt werden.<br />

Die Kassen können spontan und unangemeldet<br />

durch die Steuerverwaltung mit einer „Kassennachschau“<br />

überprüft werden. Die neuen Regeln<br />

gelten für alle Kaufleute, die elektronische Kassensysteme<br />

nutzen. Die übrige Wirtschaft hat<br />

noch bis zum 30.9.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> eine Übergangsfrist, sich<br />

darauf einzustellen.<br />

Geldwäsche: Ab Januar gelten strengere Meldevorschriften<br />

für Immobilienmakler, Kunstgalerien<br />

und Kunstauktionshäuser. Auch Geschäfte mit<br />

Kryptowährungen werden strenger geregelt. Das<br />

Transparenzregister wird für alle zugänglich gemacht.<br />

Grundlage dafür ist die 4. EU-Geldwäscherichtlinie,<br />

die auch auf die Eindämmung<br />

der Terrorismusfinanzierung abzielt.<br />

• Familienrecht<br />

Starke-Familien-Gesetz: Die zweite Stufe des<br />

Starke-Familien-Gesetzes, das Familien mit kleinem<br />

Einkommen unterstützt, tritt in Kraft: Zum<br />

1.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> ist der Kreis der Anspruchsberechtigten<br />

für den Kinderzuschlag erweitert worden. Die<br />

obere Einkommensgrenze, die sog. Abbruchkante,<br />

fällt jetzt weg. Einkommen der Eltern, das über<br />

ihren eigenen Bedarf hinausgeht, wird nur noch<br />

zu 45 %, statt heute zu 50 %, auf den Kinderzuschlag<br />

angerechnet.<br />

Düsseldorfer Tabelle: Seit dem 1.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> gilt eine<br />

neue Düsseldorfer Tabelle. Sie sieht höhere Bedarfssätze<br />

v.a. für minderjährige Trennungskinder<br />

vor. Daneben steigt erstmals seit 2015 auch der<br />

Selbstbehalt der Unterhaltspflichtigen (vgl. im<br />

Einzelnen unten S. 71).<br />

68 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

• Mietrecht<br />

Ortsübliche Vergleichsmiete: Der Anstieg der<br />

Mietpreise soll mit einem weiteren Schritt gedämpft<br />

werden. Im Fokus steht dabei die ortsübliche<br />

Vergleichsmiete. Dafür wurden bisher die<br />

Mietpreise betrachtet, die in einer Gemeinde für<br />

vergleichbaren Wohnraum in den vorangegangenen<br />

vier Jahren vereinbart wurden. Dieser Zeitraum<br />

wird nun auf sechs Jahre verlängert. Das<br />

Ziel: Kurzfristige Schwankungen des Mietwohnungsmarkts<br />

sollen geringere Auswirkungen auf<br />

die Vergleichsmiete haben. Hintergrund der Regelung<br />

ist, dass insb. in den Ballungsräumen die<br />

Mieten in den vergangenen Jahren stark gestiegen<br />

sind, was auch zu einem Anstieg der ortsüblichen<br />

Vergleichsmiete führte.<br />

• Recht und Justiz<br />

Strafprozess: Erneute Änderungen in der StPO<br />

sollen dafür sorgen, dass etwa nach Vergewaltigungen<br />

mehrfache Vernehmungen der Opfer mit<br />

oftmals gravierender seelischer Belastung vermieden<br />

werden, indem z.B. Aussagen schon im<br />

Ermittlungsverfahren vor einer Richterin oder<br />

einem Richter erfolgen. Das Videomaterial von<br />

diesen Vernehmungen kann jetzt im Hauptverfahren<br />

genutzt werden. Bei umfangreichen Strafverfahren<br />

mit mehreren Nebenklägern soll deren<br />

Vertretung gebündelt werden, wenn ihre Interessen<br />

gleichgelagert sind. Außerdem wird die<br />

Möglichkeit geschaffen, dass bereits vor Beginn<br />

der Hauptverhandlung abschließend geklärt werden<br />

kann, ob Richter befangen sind.<br />

Zivilprozess: Auch im Zivilprozess gibt es einige<br />

Neuerungen, etwa die Festschreibung der Wertgrenze<br />

für Nichtzulassungsbeschwerden mit dem<br />

Ziel, die Funktionsfähigkeit der Zivilsenate des<br />

Bundesgerichtshofs weiterhin zu gewährleisten.<br />

DDR-Opfer: Bereits am 29. November ist das<br />

Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher<br />

Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung<br />

in der ehemaligen DDR in Kraft getreten.<br />

Vor allem ehemalige DDR-Heimkinder erhalten<br />

künftig mehr Unterstützung. Ein Antrag auf strafrechtliche<br />

Rehabilitierung ist an das Landgericht zu<br />

stellen, das heute für die Stadt zuständig ist, in der<br />

die frühere Verurteilung oder die Anordnung der<br />

Unterbringung stattfand.<br />

• Straßenverkehrsrecht<br />

Radfahrer: Radfahren soll sicherer, klimafreundlicher<br />

und moderner werden. Die StVO-Novelle<br />

sieht zum 1. Januar die Einführung eines neuen<br />

Verkehrsschilds vor, das Autos das Überholen von<br />

Zweirädern auf bestimmten Abschnitten verbietet.<br />

Ist das Überholen erlaubt, soll ein Mindestabstand<br />

von 1,5 m innerorts und von 2 m außerorts<br />

eingehalten werden. Auch wird es künftig<br />

einen grünen Pfeil beim Rechtsabbiegen nur für<br />

Radfahrer geben.<br />

Bußgelder im Straßenverkehr: Parallel zu den<br />

Änderungen i.S.d. Radfahrer steigen die Bußgelder<br />

für das Parken in zweiter Reihe, auf Geh- und<br />

Radwegen sowie das Halten auf Schutzstreifen<br />

deutlich. Solche Verkehrsverstöße ziehen künftig<br />

Geldbußen von bis zu 100 € und sogar Punkte in<br />

Flensburg nach sich. Zudem müssen Autofahrer,<br />

die keine Rettungsgasse bilden oder diese unerlaubt<br />

nutzen, mit einer Geldbuße von bis zu 320 €<br />

rechnen – plus einem Monat Fahrverbot sowie<br />

2 Punkten in Flensburg.<br />

• Umwelt und Verbraucher<br />

Universalschlichtungsstelle: Zum 1. Januar hat der<br />

Bund eine bundesweit zuständige Universalschlichtungsstelle<br />

mit Sitz in Kehl eingerichtet. Sie wird<br />

künftig auf Antrag von Verbraucherinnen und Verbrauchern<br />

in bestimmten Fällen Verfahren zur außergerichtlichen<br />

Beilegung von Streitigkeiten führen.<br />

Kassenbons: Seit dem 2. Januar ist die Verwendung<br />

von Bisphenol A (BPA) als Farbentwickler in<br />

Thermopapier z.B. für Kassenbons und Bahntickets<br />

aus Ticketautomaten EU-weit verboten.<br />

BPA wirkt sich schädlich auf die Fortpflanzungsfähigkeit<br />

aus. Der Einsatz der Chemikalie unterliegt<br />

deshalb bereits verschärften Grenzwerten<br />

und Verboten im Lebensmittelbereich.<br />

„Smart Meter“ – Intelligente Stromzähler: Ab<br />

Januar <strong>2<strong>02</strong>0</strong> ist der Einbau eines intelligenten<br />

Strommesssystems, sog. Smart Meter, für private<br />

Haushalte verpflichtend. Das sieht das im September<br />

2016 in Kraft getretene Gesetz zur Digitalisierung<br />

der Energiewende vor. Der Einbau betrifft in<br />

erster Linie Haushalte mit einem jährlichen Stromverbrauch<br />

von 6.000 bis 10.000 Kilowattstunden.<br />

Für Haushalte mit einem Stromverbrauch unter<br />

6.000 Kilowattstunden pro Jahr besteht keine<br />

Einbaupflicht für einen Smart Meter. Lediglich die<br />

alten, analogen Stromzähler müssen bis zum Jahr<br />

2032 nach und nach gegen digitale Stromzähler<br />

ausgetauscht sein. Danach werden Smart Meter<br />

für alle Stromkunden Pflicht.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 69


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Behinderung von Legal-Tech-<br />

Anbietern durch Ryanair-AGB<br />

Darf eine Airline es ihren Kunden per AGB erschweren,<br />

Legal-Tech-Angebote zur Durchsetzung<br />

von Fluggastrechten zu nutzen? Diese Frage<br />

will die Wettbewerbszentrale nun gerichtlich<br />

klären lassen. Zu diesem Zweck haben die Verbraucherschützer<br />

im November vergangenen Jahres<br />

beim LG Frankfurt a.M. Klage gegen die irische<br />

Fluggesellschaft Ryanair eingereicht, um die Verwendung<br />

bestimmter Klauseln in deren Allgemeinen<br />

Geschäftsbedingungen überprüfen zu lassen.<br />

Die betreffenden AGB-Klauseln bewirken aus<br />

Sicht der Wettbewerbszentrale im Ergebnis, dass<br />

Fluggästen die Geltendmachung von gesetzlichen<br />

Entschädigungsansprüchen wegen Verspätung<br />

oder Flugausfall und die Inanspruchnahme<br />

von entsprechenden Legal-Tech-Angeboten erschwert<br />

werden.<br />

Ryanair hatte im Rahmen seiner AGB die Modalitäten<br />

der Geltendmachung von Ausgleichsansprüchen<br />

von Flugreisenden wegen Verspätung<br />

oder Flugausfall geregelt. Dabei war zunächst vorgesehen,<br />

dass der Fluggast seine Ansprüche selbst<br />

gegenüber Ryanair gelten machen muss und die<br />

Ausgleichsansprüche nicht abgetreten werden<br />

dürfen. Die Fluggesellschaft erklärte außerdem in<br />

den AGB, dass Ansprüche, die unmittelbar von<br />

Dritten geltend gemacht werden, durch Ryanair<br />

nicht bearbeitet werden. Nach Angaben der Wettbewerbszentrale<br />

änderte Ryanair kürzlich seine<br />

AGB etwas, behielt jedoch die beanstandeten Regelungen<br />

im Wesentlichen bei.<br />

Die Wettbewerbszentrale beurteilt die AGB als<br />

unangemessene Benachteiligung der Kunden.<br />

Sie ist der Auffassung, dass nach allgemeinem<br />

Schuldrecht sowie der Fluggastrechteverordnung<br />

(EU-Verordnung 261/2004) es dem Verbraucher<br />

freistehe, auf welche Weise er seine Rechte<br />

geltend machen will. Er könne sie entweder<br />

selbst oder durch Dritte wie einen Anwalt oder<br />

einen Legal-Tech-Anbieter geltend machen. Legal-Tech-Anbieter<br />

lassen sich zur Durchsetzung<br />

der Ansprüche des Reisenden diese Ansprüche<br />

i.d.R. abtreten. Dieses Recht dürfe nicht durch<br />

AGB eingeschränkt werden.<br />

„Wir wollen die Frage, ob es Verbrauchern per AGB<br />

erschwert werden darf, Legal-Tech-Angebote zur<br />

Durchsetzung von Ansprüchen zu nutzen, grds. klären<br />

lassen“, kommentierte RA PETER BREUN-GOERKE aus<br />

der Geschäftsführung der Wettbewerbszentrale<br />

das Verfahren. „Bei aller Kritik an der Transparenz der<br />

Werbung für solche Angebote kann es nicht sein, dass<br />

über die Hintertür der zum Teil mehr als 100 Seiten<br />

starken AGB versucht werden soll, Anbieter derartiger<br />

Dienstleistungen gänzlich auszuschalten oder Verbrauchern<br />

die Durchsetzung ihrer Rechte zu erschweren“,<br />

soBREUN-GOERKE.<br />

[Quelle: Wettbewerbszentrale]<br />

Hinweise zur Abwendung der<br />

Gewerbesteuerpflicht<br />

Grundsätzlich ist die anwaltliche Tätigkeit von der<br />

Gewerbesteuer befreit. Bereits kleine Anteile originär<br />

gewerblicher Tätigkeit führen allerdings nach<br />

der sog. Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG<br />

zur Gewerbesteuerpflicht der gesamten Kanzleileistung.<br />

Einige im Kanzleialltag recht gebräuchliche<br />

Konstellationen bergen im Besonderen die<br />

Gefahr der Gewerblichkeit. Hierzu zählen etwa:<br />

• die Beschäftigung angestellter Rechtsanwältinnen<br />

und Rechtsanwälte,<br />

• das Verbleiben von Partnern in der Sozietät,<br />

die nicht mehr als Anwalt aktiv sind,<br />

• die ausschließlich akquisitorische oder geschäftsführende<br />

Tätigkeit eines Partners,<br />

• Tätigkeiten als Datenschutzbeauftragter oder<br />

Insolvenzverwalter.<br />

Der Ausschuss Steuerrecht der Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK) hat nun eine aktualisierte<br />

Fassung seiner sog. Standortbestimmung zur Abfärberegelung<br />

vorgelegt, in der auch zahlreiche<br />

Praxishinweise enthalten sind. Damit wird das<br />

Dokument u.a. an die neueste Rechtsprechung des<br />

BFH angepasst. Die Standortbestimmung schließt<br />

mit einem berufspolitischen Ausblick. Das 6-seitige<br />

Papier des Steuerrechtsausschusses kann unter<br />

https://brak.de/w/files/01_ueber_die_brak/aus-der-ar<br />

beit-der-ausschuesse/2019-11-15-ueberarbeitung-desbeitrag-gewerblichkeit.pdf<br />

eingesehen bzw. heruntergeladen<br />

werden.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

EU plant Einführung von<br />

Sammelklagen in Europa<br />

Die Verbraucher in der EU sollen nach dem Willen<br />

der EU-Kommission und des Rats der EU künftig<br />

70 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

einfacher ihre Rechte gegen große Firmen durchsetzen<br />

können. Ende November stimmte der Rat<br />

einem entsprechenden Vorschlag der Kommission<br />

für eine Richtlinie über Verbandsklagen zum<br />

Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher<br />

zu (vgl. zum Kommissionsentwurf auch Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> 2018, 475). Das Vorhaben geht nun<br />

in das Europaparlament, dessen Zustimmung<br />

ebenfalls erforderlich ist. Stimmt das Parlament<br />

zu, werden Verbraucher ihre Rechte nicht nur<br />

individuell, sondern auch kollektiv geltend machen<br />

können. Der Entwurf sieht vor, dass sog.<br />

qualifizierte Einrichtungen die Möglichkeit erhalten,<br />

Klagen im Namen der Verbraucher einzuleiten.<br />

Hintergrund der geplanten Einführung von Sammelklagen<br />

ist der VW-Abgasskandal. Dieser hatte<br />

die EU-Kommission 2018 bewogen, bei den<br />

Verbraucherrechten in der EU nachzubessern.<br />

Deutschland, das bereits 2018 in einem nationalen<br />

Alleingang die Musterfeststellungsklage eingeführt<br />

hatte (vgl. dazu zuletzt Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> 2018, 1080), enthielt sich bei der Abstimmung<br />

im EU-Rat (zu den Bedenken der Bundesländer<br />

gegen eine europäische Sammelklage s. auch<br />

Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 2018, 708).<br />

Der Erste Vizepräsident der Kommission, FRANS<br />

TIMMERMANS, und die Kommissarin für Justiz, Verbraucher<br />

und Gleichstellung, VĚRA JOUROVÁ, kommentierten<br />

den Vorstoß der EU wie folgt: „Fälle<br />

wie der Diesel-Skandal, die zu massivem und weitreichendem<br />

Schaden geführt haben, verdeutlichen den<br />

dringenden Handlungsbedarf auf europäischer Ebene.<br />

Die Bürgerinnen und Bürger müssen endlich vollständigen<br />

Zugang zur Justiz haben und betrügerische<br />

Unternehmen müssen davon abgehalten werden, die<br />

Verbraucherrechte zu verletzen.“<br />

[Quelle: EU-Kommission]<br />

Neue Düsseldorfer Tabelle zum<br />

1.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Das OLG Düsseldorf hat eine neue Unterhaltstabelle<br />

herausgegeben, die ab dem 1. Januar gilt.<br />

Sie sieht höhere Bedarfssätze v.a. für minderjährige<br />

Trennungskinder vor. Daneben steigt<br />

erstmals seit 2015 auch der Selbstbehalt der<br />

Unterhaltspflichtigen. Die sog. Düsseldorfer Tabelle<br />

hat keine Gesetzeskraft, dient jedoch bundesweit<br />

als Richtlinie zur Bemessung des angemessenen<br />

Kindesunterhalts. Sie wird seit 1979<br />

herausgegeben und ist jeweils mit dem Deutschen<br />

Familiengerichtstag und den Oberlandesgerichten<br />

abgestimmt.<br />

Nach der neuesten Tabelle beträgt der Mindestunterhalt<br />

ab dem 1.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> für Kinder im Alter bis<br />

fünf Jahre 369 € statt bislang 354 €– ein Plus von<br />

15 €. Das gilt für die niedrigste Einkommensgruppe<br />

der Unterhaltspflichtigen bis 1.900 €<br />

Nettoeinkommen. Kinder zwischen sechs und<br />

elf Jahren haben in dieser Einkommensklasse<br />

Anspruch auf mindestens 424 € statt bislang<br />

406 €. In der dritten Altersgruppe bis zur Volljährigkeit<br />

sind es 497 €–ein Plus von 21 €.<br />

Für volljährige Trennungskinder steigen die Sätze<br />

dagegen nur gering: von 527 auf 530 € in der<br />

niedrigsten Einkommensgruppe. Die Bedarfssätze<br />

volljähriger Kinder waren 2018 und 2019 völlig<br />

unverändert geblieben. Der Bedarfssatz von Studenten,<br />

die nicht bei den Eltern wohnen, steigt<br />

dagegen deutlich von 735 auf 860 € (einschließlich<br />

375 € an Warmmiete).<br />

Erstmals seit 2015 ändert sich der Selbstbehalt,<br />

der den Unterhaltspflichtigen zusteht. Er steigt<br />

bei nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen<br />

von 880 auf 960 €, bei Erwerbstätigen von 1.080<br />

auf 1.160 €; dabei wird eine Warmmiete von 430 €<br />

angenommen. Der Selbstbehalt kann erhöht<br />

werden, wenn die Wohnkosten diesen Betrag<br />

überschreiten und nicht unangemessen sind.<br />

Beim Ehegattenunterhalt beträgt der Eigenbedarf<br />

des erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen ab dem<br />

1. Januar 1.280 € und des nicht erwerbstätigen<br />

Unterhaltspflichtigen 1.180 €. Die Unterscheidung<br />

zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen<br />

Unterhaltspflichtigen war durch den Beschluss<br />

des BGH vom 16.10.2019 (XII ZB 341/17)<br />

notwendig geworden. Der Selbstbehalt gegenüber<br />

Unterhaltsansprüchen von Eltern steigt von<br />

bisher 1.800 € auf 2.000 €.<br />

[Quelle: OLG Düsseldorf]<br />

Personalia<br />

Im III. und im IX. Zivilsenat des BGH gibt es seit<br />

Jahresbeginn zwei neue Richter. Neu im III. Senat,<br />

der u.a. für das Amts-, Staats- und Notarhaftungsrecht<br />

zuständig ist, ist der bisherige Richter<br />

am OLG Karlsruhe Dr. MATHIAS HERR. Dr. HERR war<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 71


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

vor seiner richterlichen Laufbahn zunächst als<br />

Rechtsanwalt tätig und trat 1997 in den höheren<br />

Justizdienst der Landes Baden-Württemberg ein.<br />

2001 wurde er zum Richter am LG ernannt und<br />

2011 zum Richter am OLG befördert. Neu im IX.<br />

Zivilsenat, der vornehmlich für das Zwangsvollstreckungs-<br />

und das Insolvenzrecht sowie für<br />

Schadenersatzansprüche gegen Rechtsanwälte<br />

und steuerliche Berater zuständig ist, ist der<br />

bisherige Richter am Schleswig-Holsteinischen<br />

Oberlandesgericht Dr. SCHULTZ. Er war nach seiner<br />

juristischen Ausbildung ebenfalls zunächst als<br />

Rechtsanwalt tätig, bevor er im Jahr 2005 in<br />

den höheren Justizdienst des Saarlandes eintrat.<br />

2008 wurde er zum Richter am LG ernannt, bevor<br />

er 2015 zum Richter am OLG befördert wurde.<br />

Ende 2019 in den Ruhestand getreten ist der<br />

Richter am BGH Prof. Dr. GERHARD PAPE. Herr Prof.<br />

PAPE war zunächst am OLG Celle tätig, bevor er im<br />

Jahr 2008 an den BGH kam. Dort gehörte er<br />

seitdem dem IX. Zivilsenat an.<br />

Bereits am 5. Dezember vergangenen Jahres ist der<br />

frühere Vizepräsident des BGH Prof. Dr. Dr. h.c.<br />

HORST HAGEN im Alter von 85 Jahren verstorben.<br />

Prof. HAGEN gehörte dem höchsten deutschen<br />

Zivilgericht bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand<br />

Anfang 1999 fast 24 Jahre lang an. Im Jahr 1994<br />

wurde er zum Vizepräsidenten ernannt. Nach<br />

seiner Ernennung zum Richter am BGH im August<br />

1975 gehörte Prof. HAGEN dem im Wesentlichen für<br />

das Grundstücksrecht zuständigen V. Zivilsenat an.<br />

Unter seinem Vorsitz ergingen zahlreiche Grundsatzentscheidungen<br />

zum Grundstücks- und Nachbarrecht.<br />

Große Verdienste erwarb er sich dabei<br />

insb. bei der Bewältigung der wirtschaftlich besonders<br />

bedeutsamen Rechtsfragen im Zusammenhang<br />

mit der Eigentums- und Vermögensordnung<br />

der ehemaligen DDR, mit denen sich der<br />

V. Zivilsenat nach der Wiedervereinigung zu befassen<br />

hatte. Neben seiner richterlichen Tätigkeit<br />

spielte die Juristische Studiengesellschaft, deren<br />

langjähriger Vorsitzender er war, eine herausragende<br />

Rolle in seinem Leben. Das Ziel der Gesellschaft,<br />

einen Gedankenaustausch zwischen Wissenschaftlern<br />

und Praktikern über aktuelle und<br />

grundsätzliche Fragen zu fördern, war ihm stets<br />

ein besonderes Anliegen.<br />

Ebenfalls im Alter von 85 Jahren verstorben ist am<br />

16. Dezember der ehemalige Richter des BVerfG<br />

Dr. JÜRGEN KÜHLING. Herr Dr. KÜHLING war zunächst<br />

am niedersächsischen Justizministerium und später<br />

als Richter am Bundesverwaltungsgericht tätig,<br />

bevor er im Jahre 1989 an das BVerfG berufen<br />

wurde. Bis zu seinem Ausscheiden 2001 war er<br />

Mitglied des Ersten Senats und unter anderem für<br />

das Arbeitsrecht einschließlich der betrieblichen<br />

Altersversorgung sowie das Recht der Arbeitnehmerüberlassung<br />

und das Mutterschutzrecht zuständig.<br />

Als Berichterstatter hat Dr. KÜHLING eine<br />

Reihe von bedeutenden Entscheidungen vorbereitet,<br />

u.a. zur Benachteiligung von Frauen bei<br />

Einstellungen (BVerfGE 89, 276), zum Kurzarbeitergeld<br />

bei Regionalstreiks (BVerfGE 92, 365) und<br />

zur „Benetton-Werbung“ (BVerfGE 1<strong>02</strong>, 347).<br />

Am BSG gibt es seit Jahresbeginn zwei neue<br />

Richter. Neu im 13. Senat ist Frau Dr. MIRIAM<br />

HANNES. Sie kommt von LSG Hamburg, wo sie<br />

neben ihrer richterlichen Tätigkeit auch als Prüferin<br />

und Gleichstellungsbeauftragte für ihr Gericht<br />

tätig war. Neu im 4. sowie zugleich im 11.<br />

Senat ist Herr Dr. CHRISTIAN BURKICZAK, der zuvor am<br />

LSG Baden-Württemberg tätig war. Herr Dr.<br />

BURKICZAK ist der Fachöffentlichkeit zudem als<br />

Mitherausgeber eines Kommentars zum BVerfGG<br />

und als Mitautor zweier Großkommentare zum<br />

GG sowie als Mitautor in Kommentaren zum SGG<br />

und weiterer Gesetze bekannt geworden.<br />

Der Deutsche Richterbund hat seit Jahresbeginn<br />

eine Doppelspitze: Die stellvertretenden Vorsitzenden<br />

BARBARA STOCKINGER und JOACHIM LÜBLING-<br />

HOFF haben als Führungsduo kommissarisch<br />

den Vorsitz der Richtervertretung übernommen,<br />

nachdem der bisherige Vorsitzende JENS GNISA<br />

dem Ruf in die Politik gefolgt ist. GNISA, der erst<br />

im April vergangenen Jahres für eine weitere<br />

Amtszeit wiedergewählt wurde, hat sich entschlossen,<br />

für die CDU als Landrat im Kreis Lippe<br />

zu kandidieren. Es sei ihm schwergefallen, das<br />

Amt beim Richterbund niederzulegen. Die Vertretung<br />

der Interessen der Richter und Staatsanwälte<br />

sei jedoch nicht mit dem von ihm<br />

angestrebten politischen Amt vereinbar, so der<br />

bisherige DRB-Vorsitzende.<br />

[Quellen: BGH/BVerfG/BSG/DRB]<br />

72 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Rechtsprechung <strong>2<strong>02</strong>0</strong> Fach 1, Seite 7<br />

Rechtsprechung<br />

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Allgemeines Zivilrecht<br />

Schadenersatzanspruch: Anspruchsübergang auf Leistungsträger<br />

(BGH, Urt. v. 17.9.2019 – VI ZR 437/18) • Für die Frage, auf wen ein Schadenersatzanspruch gem. § 116<br />

Abs. 1 SGB X übergegangen ist, kommt es darauf an, wer im Außenverhältnis zur Erbringung der<br />

jeweiligen Sozial- oder Beitragsleistung gesetzlich verpflichtet ist, nicht aber darauf, ob Ausgleichs- oder<br />

Erstattungsansprüche im Innenverhältnis bestehen (vgl. Senatsurteil v. 27.1.2015 – VI ZR 54/14, BGHZ<br />

204, 44 Rn 14; BGH, Urt. v. 17.4.1958 – II ZR 198/56, BGHZ 27, 107, 111 ff., juris Rn 7 ff. zu § 1542 RVO).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 19/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz: Nachstellen<br />

(OLG Hamburg, Beschl. v. 26.10.2019 – 2 UF 121/19) • Nachstellen i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 2b GewSchG setzt<br />

Handlungen voraus, die durch unmittelbare oder mittelbare Annäherung an das Opfer darauf gerichtet<br />

sind, in dessen persönlichen Lebensbereich einzugreifen und dadurch seine Handlungs- und Entschließungsfreiheit<br />

zu beeinträchtigen. Daran fehlt es, wenn i.R. eines Nachbarschaftsstreits ein Nachbar<br />

auf seinem Grundstück eine Kamera nebst Scheinwerfer installiert und damit das Grundstück des<br />

anderen Nachbarn filmt und beleuchtet, um sich vor vermeintlichen An- und Übergriffen zu schützen.<br />

Im Verfahren auf den Erlass von Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz muss das Familiengericht<br />

nicht von Amts wegen weitergehend prüfen, ob der Erlass eines rein zivilrechtlichen Unterlassungsgebots<br />

nach den §§ 823, 1004 BGB in Betracht kommt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 20/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Dieselskandal: Mitwirkung bei der Aufklärung<br />

(OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 29.11.2019 – 1 U 32/19) • Ein Vorsatz des ursprünglich sittenwidrig<br />

Handelnden entfällt, wenn dieser zum Zeitpunkt eines späteren Verkaufs eines Gebrauchtfahrzeugs, das<br />

mit einer Manipulationssoftware ausgestattet ist, alles aus seiner Sicht Erforderliche getan hat, um<br />

potenzielle Käufer von der Betroffenheit des konkreten Fahrzeugs zu informieren. Hinweis: Die Klägerin<br />

hatte im Ausgangsverfahren behauptet, sie habe von der Rückrufaktion und von dem „Abgasskandal“ im<br />

Zusammenhang mit dem VW Motor EA 189 erstmals mit der schriftlichen Aufforderung zur Einspielung<br />

des Updates Kenntnis erlangt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 21/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 73


Fach 1, Seite 8 Rechtsprechung <strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Mieterhöhung nach Modernisierungsmaßnahmen: Übermäßige Wohnungsgröße<br />

(BGH, Urt. v. 9.10.2019 – VIII ZR 21/19) • Der Umstand, dass der Mieter gemessen an seinen wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen und seinen Bedürfnissen eine deutlich zu große Wohnung nutzt, ist zwar in<br />

die nach § 559 Abs. 4 S. 1 BGB vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Interessen zulasten des<br />

Mieters einzubeziehen. Hierfür darf als Maßstab jedoch nicht die nach den Ausführungsvorschriften<br />

zur Gewährung von staatlichen Transferleistungen oder den Vorschriften für die Bemessung von<br />

Zuschüssen für den öffentlich geförderten Wohnungsbau vorgesehene Wohnfläche zugrunde gelegt<br />

werden. Zudem ist die einer Berufung auf einen Härtefall nach § 559 Abs. 4 S. 1 BGB im Einzelfall<br />

entgegenstehende Unangemessenheit ohnehin nicht isoliert nach einer bestimmten Größe für die<br />

jeweilige Anzahl der Bewohner zu beurteilen. Vielmehr kommt es darauf an, ob die vom Mieter<br />

genutzte Wohnung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls für seine Bedürfnisse<br />

deutlich zu groß ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 22/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Öffentlich geförderter Wohnraum: Kautionsrückzahlung<br />

(AG Bremen, Urt. v. 8.11.2019 – 3 C 52/18) • Der Vermieter von öffentlich gefördertem Wohnraum darf<br />

nicht mit Mietrückständen die Aufrechnung gegenüber der vom Mieter begehrten Kautionsrückzahlung<br />

erklären. Denn es besteht insoweit ein gesetzliches Aufrechnungsverbot nach § 9 Abs. 5<br />

WoBindG, wonach die Kaution nur für Ersatzansprüche des Vermieters gegen den Mieter wegen<br />

Beschädigung der Mietsache oder unterlassener Schönheitsreparaturen in Anspruch genommen<br />

werden darf. Der Mieter einer öffentlich geförderten Wohnung kann vom Vermieter aus § 9 Abs. 7<br />

WoBindG die Rückzahlung des Kautionsguthabens verlangen, soweit dieses unter Verstoß gegen<br />

§ 9 Abs. 5 WoBindG erlangt worden ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 23/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Lizenzvertrag: Außerordentliche Kündigung<br />

(BGH, Urt. v. 17.10.2019 – I ZR 34/18) • Für eine schriftliche Dokumentation des Abschlusses eines<br />

Lizenzvertrags genügt eine schriftliche Vereinbarung, der sich im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung<br />

der Abschluss eines Gestattungs- oder Lizenzvertrags entnehmen lässt. Hält sich der Lizenznehmer<br />

nicht an ein dem Lizenzgeber gegenüber abgegebenes Versprechen, nach dem Lizenzvertrag<br />

nicht gestattete Verwendungen der lizenzierten Marke zu unterlassen, kann dies den Lizenzgeber zu einer<br />

außerordentlichen Kündigung des Lizenzvertrags berechtigen. Das Recht zur Kündigung eines Lizenzvertrags<br />

kann jedenfalls dann isoliert durch eine Vereinbarung an den Erwerber der Marke abgetreten<br />

werden, wenn das Markenrecht nach § 27 Abs. 1 MarkenG übertragen wird und derjenige, dem vor der<br />

Übertragung eine Lizenz erteilt worden ist, sich auf den Sukzessionsschutz des § 30 Abs. 5 MarkenG<br />

berufen kann. Die Frage, ob das Kündigungsrecht auf den Zessionar übergehen soll, ist im Wege der –<br />

ergänzenden – Vertragsauslegung zu beantworten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 24/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Sondereigentümer: Antragsbefugnis<br />

(VGH Bayern, Beschl. v. 30.9.2019 – 9 CS 19.967) • Das Sondereigentum nach dem Wohnungseigentumsgesetz<br />

schließt öffentlich-rechtliche Nachbarschutzansprüche innerhalb der Gemeinschaft der<br />

Miteigentümer ein und desselben Grundstücks (grds.) aus. Hinweis: In diesem Fall ging es um eine<br />

notwegeerhebliche Rechtswidrigkeit einer Baugenehmigung. Der Sondereigentümer ist insoweit in die<br />

Gemeinschaft der Wohnungseigentümer eingebunden, deren Konflikte nach besonderen Regeln zu<br />

lösen sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 25/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

74 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Rechtsprechung <strong>2<strong>02</strong>0</strong> Fach 1, Seite 9<br />

Rückbau eines Treppenlifts: 87-jähriger Miteigentümer<br />

(AG Kassel, Urt. v. 24.10.2019 – 800 C 2005/19) • Der Beschluss einer Eigentümerversammlung, dass ein<br />

87-jähriger Miteigentümer zum Rückbau eines Treppenlifts im gemeinschaftlichen Treppenhaus<br />

verpflichtet wird, dessen Einbau gestattet worden war, um der mittlerweile verstorbenen Ehefrau<br />

dieses Miteigentümers den notwendigen barrierefreien Zugang zur Eigentumswohnung zu ermöglichen,<br />

verstößt gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB, dolo agit qui petit quod statit redditurus est).<br />

Hinweis: In Ansehung des hohen Lebensalters des Klägers muss nach Ansicht des Gerichts jederzeit<br />

damit gerechnet werden, dass in seiner Person ein Bedarf für die Nutzung eines Treppenlifts erneut<br />

entsteht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 26/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Verbraucherdarlehensvertrag: Information über den Verzugszinssatz<br />

(BGH, Urt. v. 5.11.2019 – XI ZR 650/18) • Die Information über den Verzugszinssatz und die Art und Weise<br />

seiner etwaigen Anpassung nach Art. 247 § 3 Abs. 1 Nr. 11 EGBGB erfordert nicht die Angabe des zum<br />

Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden konkreten Prozentsatzes. Zu den Angaben über das<br />

einzuhaltende Verfahren bei der Kündigung des Vertrags nach Art. 247 § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EGBGB gehört<br />

nicht die Information über das außerordentliche Kündigungsrecht des § 314 BGB, sondern nur – soweit<br />

einschlägig – die Information über das Kündigungsrecht gem. § 500 Abs. 1 BGB. Wird der nach Art. 247<br />

§ 6 Abs. 2 S. 2 EGBGB mitzuteilende pro Tag zu zahlende Zinsbetrag mit 0 € angegeben, ist die<br />

Widerrufsinformation für den normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Verbraucher<br />

klar und verständlich. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 27/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Fahrzeugreparatur: Großkundenrabatte<br />

(BGH, Urt. v. 29.10.2019 – VI ZR 45/19) • Sind dem Geschädigten von markengebundenen Fachwerkstätten<br />

auf dem allgemeinen regionalen Markt Großkundenrabatte für Fahrzeugreparaturen<br />

eingeräumt worden, die er ohne Weiteres auch für die Reparatur des Unfallfahrzeugs in Anspruch<br />

nehmen könnte, so ist dies ein Umstand, der i.R.d. subjektbezogenen Schadensbetrachtung auch bei<br />

fiktiver Schadensabrechnung grds. zu berücksichtigen ist. Hinweis: Geschädigte war hier ein großes,<br />

international tätiges Autovermietungsunternehmen. Auch einem mit Schadensabwicklungen<br />

vertrauten Unternehmen kann nicht verwehrt werden, einen Rechtsanwalt zu beauftragen, sofern<br />

nicht zweifelsfrei ist, dass und inwieweit der Haftpflichtversicherer des Unfallgegners den Schaden<br />

regulieren wird. Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Beauftragung des Rechtsanwalts, also die Sicht ex<br />

ante. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 28/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Unfallversicherung: Erhöhte Kraftanstrengung<br />

(BGH, Urt. v. 20.11.2019 – IV ZR 159/18) • Die Formulierung „erhöhte“ Kraftanstrengung in Ziffer 1.4 der<br />

Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen 2010 ist nicht intransparent. Hinweis: Die einschlägige<br />

Bedingung lautet: Als Unfall gilt auch, wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen oder<br />

Wirbelsäule ein Gelenk verrenkt wird oder Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln gezerrt oder zerrissen werden.<br />

Die Entscheidung des Berufungsgerichts, der der BGH inhaltlich gefolgt ist, wurde bereits in VersR 2019,<br />

611 veröffentlicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 29/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 75


Fach 1, Seite 10 Rechtsprechung <strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Lebensversicherungsvertrag: Verwirkung eines Widerspruchs bei unwirksamer Belehrung<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 6.8.2019 – 4 U 1084/19) • Die Verwirkung eines Lebensversicherungsvertrags<br />

kann auch bei unwirksamer Belehrung dann anzunehmen sein, wenn der Vertrag über 23 Jahre Bestand<br />

hatte, mehrfach der Ablaufzeitraum vom Versicherungsnehmer vorverlegt und anlässlich einer dem<br />

Widerspruch vorausgegangenen Kündigung einer Zusatzversicherung ausdrücklich der Vertrag im Übrigen<br />

bestätigt wurde. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 30/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Familienrecht<br />

Entlassung als Vormund: Schwerwiegende Gefährdung des Mündels<br />

(OLG Braunschweig, Beschl. v. 25.10.2019 – 2 UF 117/19) • Ein Verfahren nach § 1886 BGB kann nicht<br />

allein aufgrund eines Antrags auf Wechsel der Vormundschaft des Jugendamts ohne Anhörung der<br />

weiteren Beteiligten mit einem Beschluss beendet werden, der weder ein Rubrum noch eine Begründung<br />

aufweist. Die Entscheidung über die Entlassung des Vormunds trifft nach § 3 Nr. 2a RPflG<br />

i.V.m. § 151 Ziff. 4 FamFG der funktionell zuständige Rechtspfleger des Familiengerichts, nachdem<br />

zuvor gem. §§ 159 ff. FamFG das Mündel, die Eltern, der Vormund und das Jugendamt angehört<br />

worden sind. § 1847 BGB sieht vor, dass ggf. auch weitere Verwandte und Verschwägerte anzuhören<br />

sind. Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn der Rechtspfleger von einer Eilbedürftigkeit ausgeht.<br />

Liegt eine schwerwiegende Gefährdung des Mündels vor, die ein sofortiges Handeln erfordert, muss<br />

der Rechtspfleger das Verfahren dem insoweit funktionell gem. § 14 Nr. 2 RPflG zuständigen<br />

Familienrichter mit der Anregung zur Einleitung eines einstweiligen Anordnungsverfahrens gem.<br />

§§ 1837 Abs. 4, 1666 BGB, §§ 49 ff. FamFG vorlegen. Hinweis: Einen Entlassungsgrund i.S.d. § 1886 BGB<br />

hat das OLG darin gesehen, dass der Einzelvormund (hier: die Halbschwester eines iranischen<br />

Flüchtlings) trotz zunehmender massiver Verhaltensauffälligkeiten des Mündels bei eigener Untätigkeit<br />

die ihr wiederholt angebotenen öffentlichen Hilfen nicht annimmt. Statthaftes Rechtsmittel des<br />

(Einzel-)Vormunds gegen die Entscheidung, ihn zu entlassen, ist die Beschwerde gem. § 11 Abs. 1<br />

RPflG i.V.m. § 58 Abs. 1 FamFG. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 31/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Ehegattenunterhalt: Eheangemessener Selbstbehalt<br />

(BGH, Beschl. v. 16.10.2019 – XII ZB 341/17) • Die Bemessung des eheangemessenen Selbstbehalts ist<br />

Aufgabe des Tatrichters. Dabei ist es diesem nicht verwehrt, sich an Erfahrungs- und Richtwerte anzulehnen,<br />

sofern nicht im Einzelfall besondere Umstände eine Abweichung gebieten. Die Erfahrungsund<br />

Richtwerte können dabei auch eine Differenzierung zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen<br />

Unterhaltspflichtigen vorsehen (Fortführung von Senatsurteil v. 17.3.2010 – XII ZR 204/08,<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 350/2010 = FamRZ 2010, 8<strong>02</strong>). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 32/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Schenkungsversprechen eines Betreuers: Schenkungsverbot<br />

(BGH, Beschl. v. 2.10.2019 – XII ZB 164/19) • Ein von einem Betreuer abgegebenes Schenkungsversprechen,<br />

durch das eine unter Betreuung stehende Person ihren gesamten zum Todestag bestehenden<br />

Nachlass einer Stiftung verspricht, unterliegt dem Schenkungsverbot der §§ 1908i Abs. 2 S. 1, 1804 BGB<br />

(im Anschluss an Senatsbeschluss v. 25.1.2012 – XII ZB 479/11, FamRZ 2012, 967). Hinweis: Der BGH<br />

befasst sich mit der Abgrenzung der Schenkung unter Lebenden (deren Erfüllung bis zum Tode des<br />

Schenkers aufgeschoben ist) von der Schenkung von Todes wegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 33/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Antrag auf Erweiterung eines Musterverfahrens: Unanfechtbare Entscheidung<br />

(BGH, Beschl. v. 1.10.2019 – II ZB 23/18) • Die einen Antrag auf Erweiterung des Musterverfahrens<br />

zurückweisende Entscheidung des OLG ist unanfechtbar und unterliegt daher nicht der Überprüfung<br />

76 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Rechtsprechung <strong>2<strong>02</strong>0</strong> Fach 1, Seite 11<br />

durch das Rechtsbeschwerdegericht (Festhalten an BGH, Beschl. v. 10.7.2018 – II ZB 24/14). Hinweis: Der<br />

Senat ließ die Argumentation gegen seine Rechtsprechung, er unterlaufe die grundlegende Intention des<br />

Gesetzgebers, der mit dem ZPO-Reformgesetz dem Rechtsbeschwerdegericht die Aufgabe zugewiesen<br />

habe, außer Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auch Fragen der Fortbildung des Rechts zu klären und<br />

die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern und einer Rechtszersplitterung entgegenzuwirken, nicht<br />

gelten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 34/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Gravierender Rubrumsmangel: Fehlen der Bezeichnung der Beteiligten<br />

(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4.4.2019 – II-3 UF 4/19) • Ein Hauptsachenbeschluss ist nichtig, wenn er<br />

entgegen § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, § 313 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ohne Rubrum, also die Bezeichnung der<br />

Beteiligten, verkündet wurde (Abgrenzung zu BGH, Beschl. v. 27.6.2003 – IXa ZB 72/03, juris Rn 16). Ein<br />

Schein- oder Nichtbeschluss kann mit denjenigen Rechtsmitteln angefochten werden, welche gegen<br />

eine rechtlich existente Entscheidung gleichen Inhalts statthaft wären. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 35/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Zwangsverwaltungsverfahren: Pfändungsschutzvorschrift<br />

(BGH, Beschl. v. 10.10.2019 – V ZB 154/18) • Die Pfändungsschutzvorschrift des § 850i ZPO findet<br />

im Zwangsverwaltungsverfahren keine entsprechende Anwendung. Dem Schuldner sind im Zwangsverwaltungsverfahren<br />

Mittel für seinen Unterhalt nur nach Maßgabe von § 149 Abs. 3 ZVG und unter<br />

den dort genannten Voraussetzungen zur Verfügung zu stellen. Hinweis: Der Schuldner war<br />

Eigentümer einer Wohnung. Die Gläubigerin betrieb die Zwangsvollstreckung aus drei Grundschulden.<br />

Auf Antrag des Schuldners hatte das Amtsgericht den Zwangsverwalter angewiesen, an den Schuldner<br />

aus den Erträgen der Immobilie vorrangig zu zahlen. Dem ist der BGH nicht gefolgt.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 36/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Handels-/Gesellschaftsrecht<br />

Konzessionsvertrag: Ausbau und Betrieb eines Autobahnteilstücks<br />

(OLG Celle, Urt. v. 26.11.2019 – 13 U 127/18) • Für eine Berücksichtigung von Störungen der Geschäftsgrundlage<br />

gem. § 313 BGB ist grds. insoweit kein Raum, als es sich dabei um Erwartungen und<br />

Umstände handelt, die nach den vertraglichen Vereinbarungen in den Risikobereich einer der Parteien<br />

fallen sollten. Eine solche vertragliche Risikoverteilung bzw. Risikoübernahme – sei es ausdrücklich,<br />

konkludent oder aufgrund ergänzender Vertragsauslegung – schließt für den Betroffenen regelmäßig<br />

die Möglichkeit aus, sich bei Verwirklichung des Risikos auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage zu<br />

berufen (BGH, Urt. v. 21.9.2005 – XII ZR 66/03). Hinweis: Ein Konzessionsnehmer für den Ausbau und<br />

Betrieb eines Autobahnteilstücks kann keine Vertragsanpassung bei Rückgang des mautpflichtigen<br />

Verkehrs auf dem von ihm ausgebauten und betriebenen Autobahnteilstück (BAB 1) verlangen, wenn<br />

er im Konzessionsvertrag das „Verkehrsmengenrisiko“ in dem Umfang übernommen hat, wie es sich<br />

nach Vertragsschluss verwirklicht hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 37/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Besichtigungsanspruch nach „Düsseldorfer Praxis“: Glaubhaftmachung<br />

(OLG Braunschweig, Beschl. v. 22.10.2019 – 2 W 76/19) • Der Erlass einer einstweiligen Verfügung gem.<br />

§ 101a Abs. 1 S 1 u. Abs. 3 S. 1 UrhG setzt die Glaubhaftmachung sowohl eines Verfügungsanspruchs als<br />

auch eines Verfügungsgrunds voraus. Die anwaltliche Versicherung des Prozessvertreters des An-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 77


Fach 1, Seite 12 Rechtsprechung <strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

tragstellers über das Vorliegen einer eidesstattlichen Versicherung eines anonymen Hinweisgebers<br />

genügt ohne das Hinzutreten weiterer Indizien nicht zur Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs.<br />

Hinweis: Mit anwaltlichen Versicherungen ist zunehmend Vorsicht geboten, wie diese<br />

Entscheidung zeigt; das Vertrauen der Gerichte in die Anwaltschaft ist überschaubar.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 38/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Ärztebewertungsportal: Prüfungsumfang bei Beanstandungen<br />

(OLG Braunschweig, Urt. v. 18.6.2019 – 2 U 97/18) • Für eine gewissenhafte Prüfung der Beanstandungen<br />

betroffener Ärzte durch den Portalbetreiber genügt es nicht, wenn sich dieser mit inhaltsleeren<br />

Erklärungen des Verfassers der Bewertung zufrieden gibt (Anschluss an BGH, Urt. v. 1.3.2016 – VI ZR 34/<br />

15 – jameda.de II, <strong>ZAP</strong> EN-NR. 453/2016). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 39/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Anwendbarkeit einer Versorgungsordnung: Gebührenstreitwert<br />

(BAG, Beschl. v. 29.10.2019 – 3 AZR 251/17) • Besteht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Streit<br />

darüber, nach welcher Versorgungsordnung sich die betriebliche Altersversorgung des Arbeitnehmers<br />

richtet, so ist der wirtschaftliche Wert der streitigen Anwartschaft maßgeblich. In Anlehnung an § 42<br />

Abs. 1 S. 1 GKG kann zunächst vom 36-fachen Wert der monatlichen Betriebsrentendifferenz ausgegangen<br />

werden, also von deren dreifachem Jahresbetrag. Jedoch ist danach ein pauschaler Abschlag<br />

von 30 v.H. zu machen. In der Anwartschaftssituation steht noch nicht fest, ob der Arbeitnehmer<br />

tatsächlich eine Betriebsrente beziehen wird. Zudem besteht typischerweise wegen des zeitlichen<br />

Abstands zum Versorgungsfall auch ein Prognoserisiko hinsichtlich der genauen Berechnung der<br />

genauen Höhe der Betriebsrente. Hinweis: Allerdings hat der Senat zwischenzeitlich für Klagen auf<br />

Zahlung künftiger Leistungen, mit denen die volle Rente und nicht nur die Rentendifferenz geltend<br />

gemacht wird, entschieden, dass für die Streitwertberechnung das 36-Fache der vollen monatlichen<br />

Rente anzusetzen ist. Diese – weiter zutreffenden – Überlegungen sind aber nach Ansicht des Senats<br />

auf eine Klage, mit der die Feststellung der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Anwendung einer<br />

bestimmten Versorgungsordnung erreicht werden soll, nicht übertragbar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 40/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Sozialrecht<br />

„Heraufholen“ von Prozessresten: Zustimmung der Beteiligten<br />

(BSG, Beschl. v. 18.9.2019 – B 14 AS 317/18 B) • Nach der Rechtsprechung des BSG kann ein Verfahrensgegenstand<br />

zwar „üblicherweise“ nur – über ein Rechtsmittel des durch die Nichteinbeziehung<br />

Beschwerten – in die nächste Instanz „heraufgeholt“ werden, wenn alle Beteiligten zugestimmt haben.<br />

Diese Zustimmung kann aber auch konkludent erfolgen (BSG, Urt. v. 7.11.2006 – B 7b AS 8/06 R, BSGE<br />

97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 1, Rn 27; BSG, Urt. v. 21.7.2009 – B 7 AL 49/07 R, BSGE 104, 76 = SozR<br />

4-4300 § 22 Nr. 2, Rn 19). Hinweis: Der Kläger rügte mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde, das LSG<br />

habe über die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Meldeaufforderung entschieden, ohne hierzu<br />

berufen gewesen zu sein, weil das SG hierüber keine Entscheidung getroffen habe, sondern nur über<br />

die Aufhebung des Minderungsbescheids. Das Urteilsergänzungsverfahren nach § 140 SGG sei<br />

vorrangig gewesen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 41/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />

Verkehrsfähigkeit von Pflanzenschutzmitteln: Brexit<br />

(OVG Lüneburg, Beschl. v. 6.12.2019 – 10 ME 225/19) • Antragsänderungen sind im Beschwerdeverfahren<br />

betreffend die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes grds. nicht zulässig. Nach dem Austritt eines<br />

78 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Rechtsprechung <strong>2<strong>02</strong>0</strong> Fach 1, Seite 13<br />

Mitgliedstaats aus der Europäischen Union ist der Parallelhandel mit in diesem Mitgliedstaat zugelassenen<br />

Pflanzenschutzmitteln nicht mehr zulässig. Hinweis: Nach Ansicht des Senats ist zum gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt völlig ungewiss, ob es überhaupt zum Brexit kommt, ob ein sog. geregelter oder<br />

ungeregelter Brexit eintritt, welche Regelungen im Fall eines geregelten Brexits vereinbart werden,<br />

welche begleitenden Regelungen im Fall eines ungeregelten Brexits getroffen werden und ob diese auch<br />

die verfahrensgegenständlichen Fragen betreffen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 42/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Steuerrecht<br />

Verzinsung einer Umsatzsteuerforderung: Richtiger Steuerschuldner<br />

(BFH, Beschl. v. 8.10.2019 – V R 15/18) • Für die Bestimmung des Steuerschuldners bei Bauleistungen<br />

kommt es ausschließlich auf die Voraussetzungen von § 13b UStG, nicht aber darauf an, ob der Leistungsempfänger<br />

geltend macht, dass er nicht Steuerschuldner nach dieser Vorschrift sei, dass er einen<br />

Steuerbetrag an den leistenden Bauunternehmer nachzahlt oder dass das FA gegen einen Erstattungsanspruch,<br />

der sich aus einer unzutreffenden Anwendung von § 13b UStG ergibt, aufrechnen kann, so<br />

dass hierin kein rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 233a Abs. 2a AO liegt. Ist ein Zinserlass gem. § 239 Abs. 1<br />

AO i.V.m. § 163 AO in der Weise geboten, dass jede andere Entscheidung ermessensfehlerhaft ist,<br />

handelt es sich bei den in dieser Weise erlassenen Zinsen nicht um festzusetzende Zinsen i.S.v. § 233a<br />

Abs. 5 S. 3 AO. Hinweis: Eine Zinspflicht nach § 233a AO ist nach Ansicht des BFH sachlich unbillig, wenn<br />

der Leistende bei der Ausführung seines Umsatzes in Übereinstimmung mit den zu diesem Zeitpunkt<br />

geltenden Verwaltungsanweisungen davon ausgehen konnte und musste, dass nicht er, sondern der<br />

Leistungsempfänger Steuerschuldner sei. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 43/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Strafverfahrensrecht<br />

Urteilsgründe: Anforderungen<br />

(BGH, Beschl. v. 22.10.2019 – 4 StR 37/19) • Die Urteilsgründe müssen die für erwiesen erachteten<br />

Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Für die revisionsrichterliche<br />

Überprüfbarkeit ist eine geschlossene und nachvollziehbare Darstellung des strafbaren<br />

Verhaltens erforderlich; diese Darstellung muss erkennen lassen, welche Tatsachen der Tatrichter<br />

als seine Feststellungen über die Tat seiner rechtlichen Bewertung zugrunde gelegt hat. Die<br />

Sachverhaltsschilderung soll kurz, klar und bestimmt sein und alles Unwesentliche fortlassen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 44/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Zulassungswiderruf: Steuerschulden<br />

(AGH Hamm, Urt. v. 11.10.2019 – 1 AGH 22/19) • Dass eine Oberfinanzdirektion einer Rechtsanwaltskammer<br />

Mitteilung über Steuerrückstände eines Rechtsanwalts macht, stellt keinen Verstoß gegen das<br />

Steuergeheimnis dar. Nach § 36 Abs. 2 BRAO haben Behörden personenbezogene Daten, deren<br />

Kenntnis aus Sicht der übermittelnden Stelle für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft bedeutsam sind,<br />

der Rechtsanwaltskammer zu übermitteln. Hinweis: Nach § 36 Abs. 2 S. 3 BRAO können Informationen<br />

über die Höhe rückständiger Steuerschulden entgegen § 30 AO zum Zweck der Vorbereitung des<br />

Zulassungswiderrufs wegen Vermögensverfalls übermittelt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 45/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Streit über Zuweisung eines anderen Aufgabenbereichs: Gegenstandswert<br />

(LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 31.10.2019 – 26 Ta [Kost] 6100/19) • Wehrt sich ein Arbeitnehmer<br />

gegen eine Änderung des Aufgabenbereichs, beträgt der Gegenstandswert i.d.R. eine Bruttomonats-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 79


Fach 1, Seite 14 Rechtsprechung <strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

vergütung bis zu einem Vierteljahresentgelt, abhängig vom Grad der Belastungen aus der Änderung<br />

der Arbeitsbedingungen für die klagende Partei. Bei wirtschaftlichen Auswirkungen ist der dreijährige<br />

Differenzbetrag in Ansatz zu bringen, maximal aber drei Bruttoeinkommen (vgl. LAG Berlin-<br />

Brandenburg v. 9.7.2019 – 26 Ta [Kost] 6064/18). Bei Klageanträgen, die auf Feststellung der Unwirksamkeit<br />

einer Aufgabenübertragung und auf Beschäftigung mit den bisherigen Aufgaben gerichtet<br />

sind, besteht regelmäßig wirtschaftliche Identität, die zu einer Anrechnung der Werte führt. Die einzelnen<br />

Anträge sind daher nicht zusammenzurechnen, wenn die Parteien nicht unabhängig davon<br />

über den Beschäftigungsanspruch gestritten haben (vgl. dazu auch LAG Berlin-Brandenburg v.<br />

3.1.2012 – 17 Ta [Kost] 6119/11). Geht es in einem Rechtsstreit um die Frage, ob ein Belegschaftsmitglied<br />

verpflichtet ist, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, z.B. nach einer Versetzung, und besteht kein<br />

Streit über die Frage, ob eine Freistellung von der Arbeitsleistung unabhängig davon beansprucht<br />

werden kann, führt eine Freistellungsvereinbarung in einem Vergleich, in dem die Beendigung des<br />

Arbeitsverhältnisses vereinbart wird, i.d.R. nicht zu einem Vergleichsmehrwert.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 46/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

EU-Recht/IPR<br />

Verkehrsordnungswidrigkeit: Voraussetzungen einer Halterhaftung<br />

(EuGH, Urt. v. 5.12.2019 – C-671/18) • Die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats kann die<br />

Anerkennung und Vollstreckung einer wegen eines Verkehrsdelikts gegen den Halter des Fahrzeugs<br />

verhängten Geldbuße nicht verweigern, sofern die entsprechende Haftungsvermutung widerleglich ist.<br />

Der Betreffende muss jedoch ordnungsgemäß von der Entscheidung über die Verhängung eines Bußgelds<br />

informiert werden und ausreichend Zeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs und Vorbereitung<br />

seiner Verteidigung haben. Hinweis: Im Ausgangsfall ging es um eine Geldbuße in Höhe von 232 €<br />

wegen eines Verkehrsdelikts in den Niederlanden, das vom Fahrer eines in Polen auf den Namen eines<br />

Dritten zugelassenen Fahrzeugs begangen worden war. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 47/<strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

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80 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1105<br />

Die neue eKFV<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

E-Scooter & Co – Die neue eKFV (VO über die Teilnahme von Elektrokleinstfahrzeugen<br />

am Straßenverkehr)<br />

Von Richter am Amtsgericht DR. AXEL DEUTSCHER, Bochum<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Was ist ein Elektrokleinstfahrzeug?<br />

III. Welche Anforderungen bestehen an das<br />

Inbetriebsetzen eines eKF?<br />

1. Betriebserlaubnis<br />

2. Versicherungspflicht<br />

3. Fahrzeug-Identifizierungsnummer und<br />

Fabrikschild<br />

4. Erforderliche technische Ausstattung<br />

IV. Wer darf ein eKF führen?<br />

V. Welche Verhaltensregeln müssen beachtet<br />

werden?<br />

1. Spezifische Regeln für eKF<br />

2. Allgemeine Regeln<br />

VI. Welche Rechtsfolgen haben Verstöße mit eKF?<br />

1. Zivilrecht<br />

2. Strafrecht<br />

3. Bußgeldrecht<br />

I. Einleitung<br />

Das Erscheinungsbild von Innenstädten hat sich seit der Nutzbarkeit von sog. E-Scootern stark verändert.<br />

Möglich wurde das durch die VO über die Teilnahme von Elektrokleinstfahrzeugen am Straßenverkehr<br />

(eKFV) vom 6.6.2019 (BGBl I, S. 756), in Kraft getreten am 15.6.2019 (zur Historie HUPPERTZ NZV<br />

2019, 387). Zugleich wurde die zuvor einschlägige MobHV aufgehoben. Die eKFV erfasst nicht nur, aber<br />

in erster Linie E-Scooter. In anderen Staaten (etwa den USA oder Frankreich) ist das Führen solcher<br />

Fahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr schon seit Längerem erlaubt. Wie dort hat sich auch hier in<br />

der kurzen Zeit der Geltung der eKFV eine Vielzahl von Problemen ergeben (zum „Wilden Westen auf<br />

deutschen Straßen“ GRIM Versicherungswirtschaft 9/2019, 86). Zu nennen sind hier das behindernde<br />

„wilde“ Parken von E-Scootern auf Gehwegen, aber auch Unfälle mit Radfahrern und Fußgängern<br />

aufgrund von unvorsichtiger Fahrweise und unsachgemäßer Bedienung dieser Fahrzeuge sowie das<br />

Führen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss (dazu TERNIG DAR 2019, 597). Aus diesem Grund wird das<br />

Thema „Elektrokleinstfahrzeuge“ im Arbeitskreis V des Verkehrsgerichtstags in Goslar im Januar <strong>2<strong>02</strong>0</strong><br />

erörtert. Auch sollen Unfälle mit E-Scootern zukünftig gesondert in der Unfallstatistik des Statistischen<br />

Bundesamts erfasst werden (https://www.spiegel.de/auto/aktuell/e-scooter-unfaelle-sollen-vom-statis<br />

tischen-bundesamt-extra-erhoben-werden-a-1300174.html).<br />

Für diesen Befund sind mehrere Gründe maßgeblich: Zum einen erfordern diese Fahrzeuge keine<br />

Fahrerlaubnis und erwecken aufgrund ihres Erscheinungsbilds den Eindruck, leicht beherrschbar zu sein.<br />

Das verführt dazu, die Auswirkungen des elektrischen Antriebs zu verdrängen oder jedenfalls zu unterschätzen<br />

(„Ist doch bloß ein Roller“). Insbesondere bei winterlichen Straßenverhältnissen kann es leicht zu<br />

einer Fehleinschätzung der hieraus resultierenden Gefahren kommen. Auch die Anforderungen an die<br />

technische Ausstattung (§§ 4 ff. eKFV) weisen Lücken auf. So wird der Einbau eines Blinkers nicht<br />

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Fach 9, Seite 1106<br />

Die neue eKFV<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

verlangt. Das Fahrverhalten wird dadurch für andere Verkehrsteilnehmer weniger berechenbar, der<br />

Einsatz von Handzeichen verringert wiederum die Beherrschbarkeit des Fahrzeugs. Auch die verbotene<br />

(§ 10 eKFV) Nutzung von reinen Gehwegen stellt ein erhebliches Gefahrenpotenzial dar. Zum anderen<br />

wird das Fahren von E-Scootern nahezu ausschließlich mit Mietfahrzeugen betrieben. Das steigert<br />

häufig die Risikobereitschaft und mindert das Verantwortungsgefühl („Ist ja nicht meiner“, „Kann ich<br />

einfach irgendwo abstellen“), zumal die Anmietung und Abgabe der Fahrzeuge ausschließlich digital erfolgt<br />

und keiner unmittelbaren menschlichen Kontrolle unterliegt.<br />

II. Was ist ein Elektrokleinstfahrzeug?<br />

§ 1 eKFV enthält eine Legaldefinition derjenigen Elektrokleinstfahrzeuge (eKF), auf welche die VO<br />

Anwendung findet. Hiernach müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:<br />

• Kraftfahrzeuge (Kfz) mit elektrischem Antrieb und einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit<br />

(bbH) von nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr als 20 km/h,<br />

• Fahrzeug ohne Sitz oder selbstbalancierendes Fahrzeug mit oder ohne Sitz,<br />

• eine Lenk- oder Haltestange von mindestens 500 mm für Kfz mit Sitz und von mindestens 700 mm<br />

für Kfz ohne Sitz,<br />

• eine Nenndauerleistung von nicht mehr als 500 Watt oder von nicht mehr als 1.400 Watt, wenn<br />

mindestens 60 % der Leistung zur Selbstbalancierung verwendet werden,<br />

• eine Gesamtbreite von nicht mehr als 700 mm, eine Gesamthöhe von nicht mehr als 1.400 mm und<br />

eine Gesamtlänge von nicht mehr als 2.000 mm und<br />

• eine maximale Fahrzeugmasse ohne Fahrer von nicht mehr als 55 kg.<br />

Die Untergrenze der bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit (bbH) entspricht der Zulassungsregelung<br />

für nicht motorbetriebene oder mit einem Hilfsantrieb ausgerüstete Fahrzeuge in § 16 Abs. 2<br />

StVZO, der Regelung für Pedelecs in § 1 Abs. 3 S. 2 StVG und ungefähr den Vorgaben der Rechtsprechung<br />

zur Schrittgeschwindigkeit (bis zu 7 km/h: OLG Brandenburg DAR 2005, 570; OLG Karlsruhe zfs 2018,<br />

353; bis zu 10 km/h: OLG Naumburg zfs 2017, 654 = VRR 12/2017, 16 [DEUTSCHER]). Die Obergrenze wurde<br />

mit Blick auf die Helmpflicht für schnellere Fahrzeuge in § 21a Abs. 2 S. 1 StVO gezogen (näher TERNIG<br />

DAR 2019, 285). Erfasst von der Legaldefinition werden insb. E-Scooter, ebenso aber auch Segways<br />

(zum Segway als Kfz OLG Hamburg DAR 2017, 157 = NZV 2017, 193 [KERKMANN]). Nicht erfasst sind<br />

mangels Lenk- oder Haltestange hingegen Hoverboards oder elektrische Einräder (HEß/FIGGENER NJW-<br />

Spezial 2019, 585), ebenso wenig E-Fahrräder (§ 1 Abs. 3 StVG).<br />

Hinweis:<br />

Zur rechtlichen Bewertung von eKF, die nicht oder nicht mehr den Vorgaben des § 1 eKFV entsprechen,<br />

sowie zu älteren Modelle eingehend HUPPERTZ NZV 2019, 560 ff.<br />

III. Welche Anforderungen bestehen an das Inbetriebsetzen eines eKF?<br />

Den rechtlichen Rahmen für das Inbetriebsetzen eines eKF auf öffentlichen Straßen schafft § 2 eKFV.<br />

1. Betriebserlaubnis<br />

Das eKF muss einem Typ entsprechen, für den eine Allgemeine Betriebserlaubnis erteilt worden ist, oder<br />

es muss eine Einzelbetriebserlaubnis erteilt worden sein (§§ 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1 eKFV, 20, 21<br />

StVZO; näher hierzu HUPPERTZ NZV 2019, 388; TERNIG DAR 2019, 285). Einer förmlichen Zulassung bedarf<br />

es nicht (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1g FZV).<br />

2. Versicherungspflicht<br />

Es besteht gem. § 1 PflVG für den Halter eines Kfz die Pflicht zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung.<br />

Das eKF muss mit einer gültigen Versicherungsplakette für eKF nach § 29a FZV versehen<br />

sein (§ 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 eKFV), wobei nach dessen Abs. 2 im Wesentlichen die Vorgaben für<br />

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Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1107<br />

Die neue eKFV<br />

Versicherungskennzeichen und deren Ausgestaltung und Anbringung in §§ 26, 27 FZV erfüllt sein<br />

müssen. Gegen den Haftpflichtversicherer des eKF besteht ein Direktanspruch nach § 115 VVG. Die<br />

Mindestdeckung beträgt gegenwärtig 7,5 Mio. € für Personenschäden und 1,22 Mio. € für Sachschäden.<br />

Aktuell werden solche Versicherungen je nach Alter des jüngsten Fahrers online bereits im einstelligen<br />

Euro-Bereich angeboten.<br />

3. Fahrzeug-Identifizierungsnummer und Fabrikschild<br />

Das eKF muss entsprechend § 59 Abs. 1 S. 1, Abs. 1a Hs. 1, Abs. 1b oder 2 StVZO mit einer Fahrzeug-<br />

Identifizierungsnummer sowie einem Fabrikschild mit den in § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 eKFV genannten<br />

Maßgaben gekennzeichnet sein.<br />

4. Erforderliche technische Ausstattung<br />

Schließlich muss das eKF den in § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 eKFV aufgeführten Anforderungen an die technische<br />

Ausstattung genügen (eingehend TERNIG DAR 2019, 287, 595). Die Verzögerungseinrichtung muss den<br />

Vorgaben des § 4 eKFV entsprechen. Insbesondere müssen zwei voneinander unabhängige Bremsen<br />

vorhanden sein. Die Anforderungen an die lichttechnischen Einrichtungen beschreibt § 4 eKFV, der im<br />

Kern auf die Regelung in § 67 StVZO für Fahrräder verweist. Die Anforderungen an die Einrichtung für<br />

Schallzeichen ergeben sich aus § 6 eKFV, sonstige Sicherheitsanforderungen aus § 7 eKFV.<br />

Hinweis:<br />

Eine Pflicht zum Anbringen von Fahrtrichtungsanzeigern (Blinker) besteht nicht (§§ 5 Abs. 4, 11 Abs. 3 eKFV).<br />

Das begründet eine erhöhte Unfallgefahr bei Abbiegevorgängen (zu Elektrotretrollern im Praxistest,<br />

s. SIEMER/HOGER DAR 2019, 715). Eine entsprechende Ergänzung des § 4 eKFV i.R.d. Evaluierung nach<br />

§ 15 Abs. 4 S. 1 eKFV liegt nahe.<br />

Ein Verstoß gegen diese Vorgaben kann zu einer Beschränkung oder Untersagung des Betriebs des<br />

eKFV führen (§ 5 Abs. 1 FZV).<br />

Hinweis:<br />

Eine Steuerpflicht oder Pflicht zur Durchführung einer Hauptuntersuchung wie bei einem Pkw besteht<br />

mangels Zulassungspflicht nicht (§§ 3 Nr. 1 KraftStG, 29 Abs. 1 StVZO).<br />

IV. Wer darf ein eKF führen?<br />

Nach §§ 3 eKFV, 10 Abs. 3 S. 2a FeV sind Personen zum Führen eines eKFV berechtigt, die das 14.<br />

Lebensjahr vollendet haben. Eine Fahrerlaubnis ist nicht erforderlich. Die grundsätzliche Pflicht, für das<br />

Führen eines Kfz auf öffentlichen Straßen eine Fahrerlaubnis zu besitzen (§ 4 Abs. 1 S. 1 FeV), gilt nach § 4<br />

Abs. 1 S. 2 Nr. 1a FeV nicht für eKF nach § 1 Abs. 1 eKFV. Eine sog. Mofa-Prüfbescheinigung nach § 5 FeV<br />

ist ebenfalls nicht erforderlich. Die Personenbeförderung und der Anhängerbetrieb sind nicht gestattet<br />

(§ 8 eKFV).<br />

V. Welche Verhaltensregeln müssen beachtet werden?<br />

Nach § 9 efKV unterliegt der Führer eines eKF im Straßenverkehr den Vorschriften der StVO nach<br />

Maßgabe der §§ 10-13 eKFV.<br />

1. Spezifische Regeln für eKF<br />

a) Zulässige Verkehrsflächen (§ 10 eKFV)<br />

Noch im Referentenentwurf war vorgesehen, dass eKF mit einer bbH von weniger als 12 km/h innerhalb<br />

geschlossener Ortschaften nur auf Gehwegen, gemeinsamen Geh- und Radwegen und in Fußgängerzonen<br />

gefahren werden dürfen. Nunmehr schreibt § 10 Abs. 1 eKFV (detailliert hierzu HUPPERTZ NZV 2019,<br />

390 f.) vor, dass eKF innerhalb geschlossener Ortschaften nur geführt werden dürfen auf<br />

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Fach 9, Seite 1108<br />

Die neue eKFV<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

• baulich angelegten Radwegen einschließlich gemeinsamer Geh- und Radwege (Zeichen 240 Anl. 2<br />

zur StVO),<br />

• der dem Radverkehr zugeteilten Verkehrsfläche getrennter Rad- und Gehwege (Zeichen 241 Anl. 2<br />

zur StVO),<br />

• Radfahrstreifen (Zeichen 237, 295 Anl. 2 zur StVO) und<br />

• Fahrradstraßen (Zeichen 244.1 Anl. 2 zur StVO).<br />

Nur wenn solche Einrichtungen nicht vorhanden sind, darf auf Fahrbahnen oder in verkehrsberuhigten<br />

Bereichen (Zeichen 325.1 Anl. 3 StVO) gefahren werden. Außerhalb dessen ist die Benutzung von<br />

Fahrbahnen sowie insgesamt von Gehwegen untersagt.<br />

Außerhalb geschlossener Ortschaften dürfen nur die in der obigen Liste aufgeführten Verkehrsflächen<br />

sowie Seitenstreifen befahren werden (§ 10 Abs. 2 eKFV). Wenn solche nicht vorhanden sind, darf auf<br />

Fahrbahnen gefahren werden.<br />

Für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Nutzer kann die Straßenverkehrsbehörde<br />

abweichend das Befahren anderer Verkehrsflächen zulassen und durch ein entsprechendes Zusatzzeichen<br />

(„Elektrokleinstfahrzeuge frei“) bekannt machen (§ 10 Abs. 3 eKFV).<br />

Hinweis:<br />

Der deutlich vermehrte Verkehr mit eKF wird Auswirkungen auf das kommunale Anlegen, Ausgestalten<br />

und Instandhalten (Verkehrssicherungspflichten!) von Radwegen haben (zu „E-Scooter in deutschen<br />

Großstädten – Erlaubnispflichtige Sondernutzung oder bloßer Gemeingebrauch?“ s. JOHANNISBAUER NJW<br />

2019, 3614).<br />

b) Verhaltensregeln (§ 11 eKFV)<br />

§ 11 eKFV legt allgemeine Verhaltensregeln für die Führer von eKF fest:<br />

• Art des Fahrens: Es muss einzeln hintereinander, nicht an fahrende Fahrzeuge angehängt und nicht<br />

freihändig gefahren werden (Abs. 1).<br />

• Rechtsfahrgebot: Es darf nicht von dem Gebot, auf Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen möglichst<br />

weit rechts zu fahren, abgewichen werden (Abs. 2).<br />

• Richtungsänderung: Sind an einem Elektrokleinstfahrzeug keine Fahrtrichtungsanzeiger vorhanden,<br />

so muss die Richtungsänderung so rechtzeitig und deutlich durch Handzeichen angekündigt werden,<br />

dass andere Verkehrsteilnehmer ihr Verhalten daran ausrichten können (Abs. 3; zur gesteigerten<br />

Unfallgefahr bei fehlenden Fahrtrichtungsanzeigern s.o. I, III 4).<br />

• Fußgänger und Radfahrer: Auf Radverkehrsflächen muss auf den Radverkehr Rücksicht genommen<br />

und erforderlichenfalls die Geschwindigkeit an den Radverkehr angepasst werden. Schnellerem Radverkehr<br />

muss das Überholen ohne Behinderung ermöglicht werden. Auf gemeinsamen Geh- und<br />

Radwegen haben Fußgänger Vorrang und dürfen weder behindert noch gefährdet werden. Erforderlichenfalls<br />

muss die Geschwindigkeit an den Fußgängerverkehr angepasst werden (Abs. 4).<br />

• Abstellen des eKF: Für das Abstellen von Elektrokleinstfahrzeugen gelten die für Fahrräder geltenden<br />

Parkvorschriften entsprechend (Abs. 5; zur insoweit bislang unzureichenden Verkehrsdisziplin s.o. I).<br />

c) Verkehrsverbote (§ 12 eKFV)<br />

Bei einem Verbot für Fahrzeuge aller Art (Zeichen 250 Anl. 2 StVO) dürfen eKF geschoben werden<br />

(Abs. 1). Ist ein Verbot für Kraftwagen (Zeichen 251 Anl. 2 StVO), Krafträder (Zeichen 255 Anl. 2 StVO),<br />

Kraftfahrzeuge (Zeichen 260 Anl. 2 StVO) oder ein Verbot der Einfahrt (Zeichen 267 Anl. 2 StVO)<br />

angeordnet, dürfen eKF dort nur fahren oder einfahren, wenn dies durch das Zusatzzeichen „Elektrokleinstfahrzeuge<br />

frei“ erlaubt ist (Abs. 2). Ist ein Verbot für den Radverkehr (Zeichen 254 Anl. 2 StVO)<br />

angeordnet, so gilt dies auch für eKF.<br />

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Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1109<br />

Die neue eKFV<br />

d) Lichtzeichen (§ 13 eKFV)<br />

Die eKF unterfallen der Lichtzeichenregelung für Radfahrer in § 37 Abs. 2 Nr. 5 und 6 StVO. Dabei<br />

kommt das Sinnbild „Radverkehr“ zur Anwendung.<br />

Hinweis:<br />

Eine Helmpflicht existiert nicht (s. VI 1 a).<br />

2. Allgemeine Regeln<br />

Soweit die §§ 10–13 eKFV keine Sonderregelungen aufweisen, gelten die allgemeinen Regeln der StVO<br />

(§ 9 eKFV).<br />

VI.<br />

Welche Rechtsfolgen haben Verstöße mit eKF?<br />

1. Zivilrecht<br />

a) Haftung des eKF-Fahrers<br />

Auch wenn es sich bei eKF um Kfz gem. § 1 Abs. 2 StVG handelt und eine der Ausnahmen in § 1 Abs. 3<br />

StVG nicht eingreift, besteht keine Gefährdungshaftung des Halters nach § 7 StVG und des Fahrers nach<br />

§ 18 StVG. Diese Haftung ist nach § 8 Nr. 1 StVG ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein Kfz<br />

verursacht wurde, das auf ebener Bahn mit keiner höheren Geschwindigkeit als 20 km/h fahren kann<br />

(dazu OLG Hamm NZV 2014, 213: Mähdrescher). Das ist bei eKF nach § 1 Abs. 1 eKFV der Fall. Mangels<br />

Betriebsgefahr ist auch eine Haftungsabwägung nach § 17 StVG ausgeschlossen. Der Fahrer eines eKF<br />

unterliegt einer Verschuldenshaftung nach § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem<br />

Schutzgesetz. Das können die Verhaltensregeln nach § 11 eKFV oder allgemeine Regeln der StVO sein<br />

(s.o. unter V). Eine Abwägung des Mitverschuldens nach § 254 BGB ist möglich. Eine gesetzliche<br />

Helmpflicht für eKF-Fahrer besteht nicht. Für eine Anrechnung als Mitverschulden ist das allgemeine<br />

Verkehrsbewusstsein maßgeblich, das in dieser Hinsicht wie beim Fahrradfahren ohne Helm (dazu BGH<br />

NJW 2014, 2403 = DAR 2014, 520 = VRR 2014, 342 [TÜRPE]) bislang nicht bestehen dürfte.<br />

b) Unfall eines eKF mit einem Kfz<br />

Der Halter und der Fahrer des Kfz haften nach den allgemeinen Grundsätzen gem. §§ 7, 18 StVG. Ein<br />

Ausschluss der Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 2 StVG wegen höherer Gewalt kommt nur bei grob<br />

verkehrswidrigem Verhalten des eKF-Fahrers in Betracht (TOMSON/WIELAND NZV 2019, 447). Auch hier<br />

kann ein Mitverschulden des eKF-Fahrers nach § 254 BGB angerechnet werden, etwa bei einem<br />

plötzlichen Wechsel von der Rad- auf die Fahrspur (OLG Hamm NJW-RR 2018, 1117: Pedelec) oder der<br />

verbotenen Benutzung des Gehwegs.<br />

c) Unfall eines eKF mit einem anderen eKF, Radfahrer oder Fußgänger<br />

Hier hat der eKF-Fahrer keine Ansprüche aus der Gefährdungshaftung, sondern lediglich aus § 823 Abs. 1<br />

und 2 BGB (vgl. oben a).<br />

Hinweis:<br />

Wird der „Beifahrer“ eines eKF bei einem Unfall verletzt, können seine Ansprüche wegen des Verstoßes<br />

gegen § 8 eKFV (o. IV) als Mitverschulden gemindert werden (näher TOMSON/WIELAND NZV 2019, 448). Zu<br />

Haftungsfragen bei Zweirädern im Straßenverkehr übergreifend JAHNKE NZV 2019, 601.<br />

d) Versicherungsrechtliche Fragen<br />

Für die Folgen von Obliegenheitsverletzungen gelten die allgemeinen Regeln in § 5 KfzPflVV. Auch bei<br />

Trunkenheitsfahrten gibt es keine Besonderheiten im Vergleich zu alkoholisierten Kfz-Fahrern. Eine<br />

Obliegenheitsverletzung wegen Verstoßes gegen die Verwendungsklausel bei der verbotenen Benutzung<br />

des eKF durch zwei Personen liegt nur vor, wenn sich eine entsprechende Klausel im Versiche-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 85


Fach 9, Seite 1110<br />

Die neue eKFV<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

rungsschein findet. Bei einem Fahrer, der entgegen § 3 eKFV jünger als 14 Jahre alt ist, dürfte kein<br />

Verstoß gegen die „Führerscheinklausel“ vorliegen. Leistungsfreiheit kann hingegen bei einem unberechtigten<br />

Fahrer eintreten (§ 5 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 S. 2 KfzPflVV; zur Aufsichtspflichtverletzung und<br />

Deckung beim zu jungen Fahrer sowie insgesamt zu allem eingehend TOMSON/WIELAND NZV 2019, 448 ff.).<br />

2. Strafrecht<br />

a) Trunkenheits- und Drogenfahrten (§§ 315c Abs. 1 Nr. 1a, 316 StGB)<br />

Beim Führen eines Fahrrads sind 1,6 o/oo als Grenzwert für die absolute Fahruntüchtigkeit anerkannt<br />

(BayObLG NJW 1992, 1906 = DAR 1992, 269; Nw. bei FISCHER, StGB, 67. Aufl. <strong>2<strong>02</strong>0</strong>, § 316 Rn 27). Für eKF gilt<br />

dieser Grenzwert nicht. Da es sich um Kfz handelt, gilt hier der allgemeine Grenzwert von 1,1 ‰ (allg.<br />

Ansicht: HEß/FIGGENER NJW-Spezial 2019, 585; HUPPERTZ NZV 2019, 560; KERKMANN SVR 2019, 369; TERNIG<br />

DAR 2019, 289, 597). Für die nunmehr unter die eKFV fallenden Segways wurde dies bereits früher vom<br />

OLG Hamburg angenommen (DAR 2017, 157 = NZV 2017, 193 [KERKMANN]), ebenso für die vergleichbaren<br />

motorisierten Krankenfahrstühle (OLG Nürnberg NZV 2011, 358 = DAR 2011, 152 = VRR 2011, 111<br />

[DEUTSCHER]; a.A. FISCHER, a.a.O.).<br />

b) Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG)<br />

Ein eKF darf ohne Fahrerlaubnis geführt werden (s.o. IV). Wird ein eKF technisch so verändert, dass es<br />

mit einer Geschwindigkeit von mehr als 20 km/h gefahren werden kann (getuntes Fahrzeug), ist zu<br />

unterscheiden: Beträgt die Höchstgeschwindigkeit auf ebener Bahn dann höchstens 25 km/h, bleibt das<br />

Fahrzeug fahrerlaubnisfrei (§ 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1b FeV), wobei allerdings die Ordnungswidrigkeit nach § 14<br />

Nr. 1 eKFV, Nr. 236 BKat (Erlöschen der Betriebserlaubnis, s.u. 3b) einschlägig ist. Kann eine höhere<br />

Geschwindigkeit erreicht werden, besteht eine Fahrerlaubnispflicht nach Klasse AM (HUPPERTZ NZV 2019,<br />

390; anders aber in NZV 2019, 561 f.: Klasse A1). Ein Führen des getunten eKF ohne Fahrerlaubnis ist dann<br />

strafbar.<br />

c) Fahren ohne Haftpflichtversicherung (§ 6 PflVG)<br />

Dieser Straftatbestand ist einschlägig, wenn das eKF ohne formellen Bestand des erforderlichen<br />

Haftpflichtversicherungsvertrags geführt wird. Es genügt nicht, dass lediglich die vorhandene Versicherungsplakette<br />

nicht angebracht worden ist (s. unten VI 3 b), was allerdings ein Indiz für eine<br />

fehlende Versicherung ist, oder ein eKF „getunt“ geführt wird (HUPPERTZ NZV 2019, 561; zur Auswirkung<br />

einer Betriebsuntersagung auf das Versicherungsverhältnis OLG Köln DAR 2018, 697 = NZV 2018, 435<br />

[DEUTSCHER]).<br />

Hinweis:<br />

Allgemeine Straftatbestände, die als Tatbestandsmerkmal nicht auf das Führen eines Fahrzeugs abstellen,<br />

bleiben ohnehin anwendbar. Insbesondere kann der eKF-Fahrer als Unfallbeteiligter Täter eines unerlaubten<br />

Entfernens vom Unfallort sein (§ 142 StGB).<br />

d) Auswirkungen auf die Fahrerlaubnis (§§ 44, 69, 69a StGB, FeV)<br />

Da es sich um Kfz handelt, kann die Begehung einer Straftat beim Führen eines eKF zur Entziehung einer<br />

bestehenden Fahrerlaubnis führen (§ 69 StGB), zur Anordnung einer Sperrfrist für die Erteilung der<br />

Fahrerlaubnis (§ 69a StGB) und zu einem Fahrverbot (§ 44 StGB). Dies betrifft insb. die strafbaren<br />

Trunkenheits- und Drogenfahrten. Bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ oder mehr kommt die<br />

Anordnung einer MPU in Betracht (§ 13 Abs. 1 Nr. 2c FeV; zur Drogenfahrt vgl. § 14 FeV).<br />

3. Bußgeldrecht<br />

a) Allgemeine Tatbestände<br />

Soweit sie vom Wortlaut her einschlägig sind, gelten die allgemeinen Bußgeldtatbestände auch für die<br />

Benutzung von eKF (vgl. § 9 eKFV, s. o. V 2). Hier ist praxisnah insb. das Verbot der Benutzung<br />

86 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1111<br />

Die neue eKFV<br />

elektronischer Geräte nach § 23 Abs. 1a StVO zu nennen. Da es sich bei eKF um Kfz handelt, richten sich<br />

die Rechtsfolgen bei einem Verstoß nach den Nr. 246 – 246.3 BKat bis hin zu einem Fahrverbot von<br />

einem Monat. Auch die Trunkenheits- und Drogenfahrten nach §§ 24a, 24c StVG mit den Rechtsfolgen<br />

nach den Nr. 241 – 243 BKat sind einschlägig. Wer als Radfahrer oder Fahrer eines eKF in anderen als den<br />

Fällen des Rechtsabbiegens mit Grünpfeil rotes Wechsellichtzeichen oder rotes Dauerlichtzeichen<br />

nicht befolgt, muss nach den Nr. 132a–132a.2 BKat mit einer Regelgeldbuße i.H.v. 60 €, mit Gefährdung<br />

i.H.v. 100 € und mit Sachbeschädigung i.H.v. 120 € rechnen.<br />

b) Spezielle Tatbestände<br />

In § 14 Nr. 1–9 eKFV sind bestimmte Verstöße gegen die eKFV als Ordnungswidrigkeiten bestimmt<br />

worden. Korrespondierend wurde der Bußgeldkatalog (BKat) um nachfolgende Nummern ergänzt:<br />

Lfd. Nr. Tatbestand<br />

Elektrokleinstfahrzeugeverordnung<br />

(eKFV)<br />

e) Elektrokleinstfahrzeugeverordnung (eKFV)<br />

Betriebsbeschränkungen<br />

234 Elektrokleinstfahrzeug ohne die erforderliche Allgemeine Betriebserlaubnis<br />

§ 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 1<br />

oder Einzelbetriebserlaubnis auf öffentlichen § 14 Nr. 1<br />

Straßen in Betrieb gesetzt<br />

234a Die Inbetriebnahme eines Elektrokleinstfahrzeugs ohne die<br />

erforderliche Allgemeine Betriebserlaubnis oder Einzelbetriebserlaubnis<br />

auf öffentlichen Straßen angeordnet oder<br />

zugelassen<br />

§ 2 Abs. 4 i.V.m.<br />

Abs. 1 S. 1 Nr. 1<br />

§ 14 Nr. 3<br />

235 Elektrokleinstfahrzeug ohne gültige Versicherungsplakette auf § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 2<br />

öffentlichen Straßen in Betrieb gesetzt<br />

§ 14 Nr. 1<br />

235a Die Inbetriebnahme eines Elektrokleinstfahrzeugs auf öffentlichen<br />

§ 2 Abs. 4 i.V.m.<br />

Straßen ohne die erforderliche Versicherungsplakette Abs. 1 S. 1 Nr. 2<br />

angeordnet oder zugelassen<br />

§ 14 Nr. 3<br />

236 Elektrokleinstfahrzeug trotz erloschener Betriebserlaubnis auf § 2 Abs. 3 S. 2 i.V.m. Abs. 4<br />

öffentlichen Straßen in Betrieb gesetzt und dadurch die § 14 Nr. 1<br />

Verkehrssicherheit wesentlich beeinträchtigt<br />

236a Die Inbetriebnahme eines Elektrokleinstfahrzeugs auf öffentlichen<br />

Straßen trotz erloschener Betriebserlaubnis angeordnet<br />

oder zugelassen<br />

§ 2 Abs. 4<br />

§ 14 Nr. 3<br />

237 Elektrokleinstfahrzeug unter Verstoß gegen die Vorschriften § 2 Abs. 1<br />

über die Anforderungen an die lichttechnischen Einrichtungen Nr. 4 Buchst. b § 14 Nr. 1<br />

im öffentlichen Straßenverkehr in Betrieb gesetzt<br />

237a Elektrokleinstfahrzeug unter Verstoß gegen die Vorschriften § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c<br />

über die Anforderungen an die Schalleinrichtung im öffentlichen<br />

§ 14 Nr. 1<br />

Straßenverkehr in Betrieb<br />

gesetzt<br />

237b Elektrokleinstfahrzeug unter Verstoß gegen die Vorschriften<br />

über die Anforderungen an die sonstigen Sicherheitsanforderungen<br />

im öffentlichen Straßenverkehr in Betrieb gesetzt<br />

§ 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. d<br />

§ 14 Nr. 1<br />

Verhaltensrechtliche Anforderungen<br />

238 Mit einem Elektrokleinstfahrzeug eine nicht zulässige Verkehrsfläche<br />

§ 10 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1<br />

befahren<br />

§ 14 Nr. 5<br />

238.1 – mit Behinderung § 10 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1<br />

§ 14 Nr. 5<br />

§ 1 Abs. 2 StVO<br />

§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO<br />

Regelsatz in<br />

Euro (€),<br />

Fahrverbot<br />

in Monaten<br />

70 €<br />

70 €<br />

40 €<br />

40 €<br />

30 €<br />

30 €<br />

20 €<br />

15 €<br />

25 €<br />

15 €<br />

20 €<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 87


Fach 9, Seite 1112<br />

Die neue eKFV<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

238.2 – mit Gefährdung § 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO 25 €<br />

238.3 – mit Sachbeschädigung 30 €<br />

238a Mit einem Elektrokleinstfahrzeug nebeneinander gefahren § 11 Abs. 1<br />

§ 14 Nr. 6<br />

15 €<br />

238a.1 – mit Behinderung § 11 Abs. 1<br />

§ 14 Nr. 6<br />

§ 1 Abs. 2 StVO<br />

§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO<br />

238a.2 – mit Gefährdung § 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO 25 €<br />

238a.3 – mit Sachbeschädigung 30 €<br />

Die im BKat nicht aufgeführten Verstöße gegen § 14 eKFV bleiben auch ohne Regelgeldbuße verfolgbar<br />

(HUPPERTZ NZV 2019, 559). Nr. 235 BKat erfasst nur das Fahren ohne gültige, aber vorhandene<br />

(sonst Straftat nach § 6 PflVG – s.o. VI 2 c) Versicherungsplakette. Entspricht die angebrachte Plakette<br />

nicht den Vorgaben des § 29a Abs. 4 FZV, ist Nr. 184 BKat mit einer Regelgeldbuße von 10 €<br />

einschlägig. Ein Verstoß gegen das Mindestalter des eKF-Fahrers von 14 Jahren (§ 3 eKFV) ist nicht<br />

sanktioniert und wäre wegen der Altersgrenze der Verantwortlichkeit von 14 Jahren in § 12 OWiG auch<br />

nicht verfolgbar.<br />

20 €<br />

Hinweis:<br />

Bei Abschluss dieses Beitrags (Stand: 20.12.2019) wies juris noch keine Rechtsprechung zur eKFV auf.<br />

Angesichts der aufgezeigten Fragen wird das nicht lange auf sich warten lassen. Die weitere Entwicklung<br />

bleibt zu beobachten.<br />

88 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Steuerrecht Fach 20, Seite 667<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

Steuerrecht<br />

Steuerrecht und Gesellschaftsrecht – Grundlagen der Besteuerung der<br />

Personengesellschaft<br />

Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht PETER HAAS, Bochum, und Rechtsreferendar und<br />

wiss. Mitarbeiter TITUS WOLF, Erlangen<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Mitunternehmerschaft und Transparenzprinzip<br />

III. Mitunternehmerschaft<br />

1. Abgrenzung zur vermögensverwaltenden<br />

Personengesellschaft<br />

2. Begriff des Mitunternehmers<br />

3. Erzielung gewerblicher Einkünfte<br />

IV. Gewinnermittlung und Bestandteile der<br />

Einkünfte der Mitunternehmerschaft<br />

1. Gewinnanteile der Gesellschafter (erste<br />

Stufe)<br />

2. Sondervergütungen (zweite Stufe)<br />

I. Einleitung<br />

Das geltende Unternehmenssteuerrecht hängt von der zivilrechtlichen Rechtsform des Unternehmens<br />

ab. Personengesellschaften sind regelmäßig gesamthänderisch konstruiert. Die BGB-Gesellschaft<br />

(§§ 705 ff. BGB) bildet die Grundform der Personenhandelsgesellschaften (OHG und KG), die als solche<br />

üblicherweise unternehmerisch tätig werden und am Rechtsverkehr teilnehmen. Auch wenn die<br />

Personenhandelsgesellschaften (gem. § 124 HGB) und auch die Außen-GbR rechtsfähig sind, so sind<br />

Personengesellschaften doch keine juristischen Personen (zuletzt BACHMANN in FS für K. Schmidt, 2019,<br />

S. 49 ff. m.w.N.). Daneben gibt es die Stille Gesellschaft und die sog. BGB-Innengesellschaft, die nicht<br />

rechtsfähig und auch nicht gesamthänderisch verfasst sind.<br />

Für die Besteuerung der Personengesellschaften bedeutet dies, dass sie generell nicht dem Regelstatut<br />

des Körperschaftssteuergesetz (KStG) zuzuordnen (auch die Publikums-GmbH & Co. KG fällt nicht unter<br />

§ 1 Abs. 1 Nr. 5 KStG, vgl. BFH, Beschl. v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl II 1984, 751) und damit nicht Subjekt<br />

der Körperschaftsteuer sind. Aber auch das Einkommenssteuergesetz (EStG) erfasst nach dessen § 1<br />

Abs. 1 EStG nur natürliche Personen, weshalb die Personengesellschaft auch kein Subjekt des EStG ist.<br />

Besteuert werden vielmehr die hinter der Personengesellschaft stehenden Gesellschafter, die als<br />

natürliche Personen nach dem EStG und als Körperschaften nach dem KStG subjektiv steuerpflichtig<br />

sind. Beispielsweise unterliegt bei einer GmbH & Co. KG die Komplementär-GmbH mit ihren Einkünften<br />

(oftmals nur eine sog. Haftungsvergütung) der Körperschaftsteuer, die Kommanditisten, soweit<br />

natürliche Personen, unterliegen der Einkommensteuer. Im Mittelpunkt der Dogmatik steht für den<br />

zentralen Bereich der Gewinneinkunftsarten das sog. Mitunternehmerschaftskonzept des § 15 Abs. 1 S. 1<br />

Nr. 2 EStG, auf das die §§ 13 Abs. 7, 18 Abs. 4 S. 2 EStG verweisen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 89


Fach 20, Seite 668<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

Steuerrecht<br />

II. Mitunternehmerschaft und Transparenzprinzip<br />

Aus dem Umstand, dass zivilrechtlich die Personenhandelsgesellschaft Trägerin des gesamthänderischen<br />

Vermögens ist, müsste in der Konsequenz ertragsteuerrechtlich folgen, dass die Gesellschaft<br />

selbst den Tatbestand der Einkünfteerzielung verwirklicht und den Gesellschaftern über die dann als<br />

Zurechnungsnorm zu qualifizierende Vorschrift des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG die Gewinneinkünfte<br />

anteilig zugerechnet werden (überzeugend HÜTTEMANN, DStJG Bd. 34, S. 291, 294 ff., m.w.N.). Der BFH<br />

(v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl II 1995, S. 617; zustimmend z.B. PINKERNELL, Einkünfteerzielung bei PersGes.,<br />

2001, passim; REIß in Kirchhof, EStG, 18. Aufl. 2019, § 15 Rn 162 ff.) beharrt selbst nach Aufgabe der sog.<br />

Bilanzbündeltheorie (seit dem BFH-Beschl. v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl II 1984, S. 751, wird die<br />

Personenhandelsgesellschaft in Übereinstimmung mit dem Handelsrecht als Subjekt der Gewinnerzielung,<br />

Gewinnermittlung und Einkünftequalifikation anerkannt) demgegenüber auf dem Standpunkt,<br />

dass die Träger des Gewerbebetriebs die Gesellschafter selbst seien und der Steuerbilanzgewinn<br />

bzw. -verlust den Gesellschaftern unmittelbar als originäre eigene Einkünfte zugerechnet<br />

werde.<br />

Das Steuerrecht löst sich vom Zivilrecht dabei in mehrfacher Hinsicht. Im Ausgangspunkt ist es bereits<br />

unerheblich, ob handelsbilanzrechtlich überhaupt ein Gewinn entsteht. Denn das Einkommensteuerrecht<br />

knüpft an den steuerlichen Gewinn an, der zwar bei Personenhandelsgesellschaften<br />

entsprechend dem Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 EStG aus dem Handelsbilanzergebnis<br />

entwickelt wird, aber wegen der Vielzahl abweichender steuerrechtlicher Ansatz-, Bewertungs- und<br />

Folgebewertungsvorschriften sowie nicht abzugsfähiger Betriebsausgaben nicht mit dem steuerbilanziellen<br />

Ergebnis übereinstimmt (Überblick zur Durchbrechung der Maßgeblichkeit bei SCHEFFLER,<br />

Der Konzern 2016, S. 482). Deshalb ist es auch möglich, dass einkommensteuerrechtlich den Gesellschaftern<br />

ein Gewinn zugerechnet wird, obwohl handelsrechtlich für das Wirtschaftsjahr kein Gewinn<br />

entstanden ist. Hier zeigen sich die gesellschaftsrechtlichen Brüche, die durch die Loslösung<br />

der steuerlichen Gewinnermittlung von der Handelsbilanz verursacht werden. Wenn es für den Besteuerungszweck<br />

schon unerheblich ist, ob Gewinnansprüche handelsrechtlich entstanden sind,<br />

dann spielt es erst recht keine Rolle, zu welchem Zeitpunkt der handelsrechtliche Entnahmeanspruch<br />

gesellschaftsrechtlich entsteht oder dem einzelnen Gesellschafter der handelsrechtliche Gewinnanteil<br />

i.S.d. § 11 EStG zufließt.<br />

Im Ergebnis ging es aus Sicht des Ertragsteuerrechts schon immer darum sicherzustellen, dass nicht ein<br />

Teil des Gesellschaftseinkommens mangels Steuersubjektivität der Gesellschaft (zumindest vorläufig)<br />

unversteuert bleibt (RFH v. 25.4.1933, RStBl. 1933, S. 955; dazu BECKER, StuW 1933, Sp. 1138 ff., 1158 ff.).<br />

Dogmatisch hat man sich deshalb nicht an der aktuellen „Ist“-Leistungsfähigkeit des Gesellschafters als<br />

Steuerschuldner orientiert, sondern früher nach dem Grundgedanken der sog. Bilanzbündeltheorie die<br />

zivilrechtliche Existenz der Personengesellschaft vollends negiert. Auch wenn die Bilanzbündeltheorie<br />

inzwischen überholt ist, hat sich an dem fiskalischen Ziel, die sofortige und vollständige Besteuerung des<br />

Gesellschaftseinkommens bei den Gesellschaftern sicherzustellen, nichts geändert. Zur Begründung<br />

verweist man einerseits auf die sog. Gleichstellungsthese (BFH, Urt. v. 24.8.2000 – IV R 51/98, BStBl II<br />

2005, S. 173 = DB 2000 S. 2147; Schmidt/WACKER, EStG, 38. Aufl. 2019, § 15 Rn 161, m.w.N.), wonach das<br />

Gesetz die Gleichstellung des Mitunternehmers mit dem Einzelunternehmer verlange, andererseits<br />

darauf, dass die Gesellschafter selbst den Einkünftetatbestand i.S.d. § 2 Abs. 1 EStG verwirklichen.<br />

III. Mitunternehmerschaft<br />

Bisher wurden die Begriffe Personengesellschaft und Mitunternehmerschaft synonym verwendet. Eine<br />

Mitunternehmerschaft setzt aber unternehmerische Einkünfte nach den §§ 13, 15, 18 EStG voraus. Es gibt<br />

aber auch Personengesellschaften, die ausschließlich Tätigkeiten ausüben, die nach den §§ 20, 21, 22<br />

EStG als vermögensverwaltend zu qualifizieren sind.<br />

1. Abgrenzung zur vermögensverwaltenden Personengesellschaft<br />

Als Mitunternehmerschaft i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 EStG wird eine Personengesellschaft nur dann<br />

angesehen, wenn sie zumindest teilweise originär gewerblich tätig ist (§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG,<br />

90 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Steuerrecht Fach 20, Seite 669<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

§ 15 Abs. 3 Nr. 1 Var. 1 EStG) oder gewerbliche Einkünfte bezieht (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 Var. 2 EStG), Einkünfte<br />

aus Gewerbebetrieb fingiert werden (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG) oder das Mitunternehmerschaftkonzept<br />

kraft Verweisung (§ 18 Abs. 4 S. 2 EStG, § 13 Abs. 7 EStG) bei land- und forstwirtschaftlichen bzw.<br />

freiberuflichen Personengesellschaften anzuwenden ist.<br />

Zur Besteuerung der Einkünfte einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft wird auf die<br />

Bruchteilsbetrachtung des § 39 Abs. 2 Nr. 2 AO zurückgegriffen. Das Gesamthandvermögen der<br />

Gesellschaft wird den Gesellschaftern anteilig zugerechnet wird (ausführlich ENGEL, Vermögensverwaltende<br />

Personengesellschaften im Ertragssteuerrecht, 2. Aufl. 2015). Für die Einkünftezurechnung<br />

wendet der BFH die Vorschrift analog an (BFH, Urt. v. 13.7.1999 – VIII R 72/98, DStR 1999, 1808).<br />

Unabhängig davon, ob die Gesellschaft handelsrechtlich bilanzierungspflichtig ist – § 105 Abs. 2 HGB<br />

eröffnet Gesellschaften mit einem vermögensverwaltenden Zweck die Rechtsform der Personenhandelsgesellschaften,<br />

wenn sie in das Handelsregister eingetragen sind –, erfolgt die Überschussermittlung<br />

nach den §§ 8, 9, 11 EStG.<br />

2. Begriff des Mitunternehmers<br />

Nach dem Verständnis des BFH ist nicht jeder Gesellschafter einer Personengesellschaft automatisch<br />

Mitunternehmer i.S.d. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 S. 1 EStG (st. Rspr., vgl. BFH, Beschl. v. 25.6.1984 – GrS 4/82,<br />

BStBl II, S. 1984, 751). Mitunternehmer seien nämlich nur solche Gesellschafter, die Mitunternehmerrisiko<br />

tragen und Mitunternehmerinitiative entfalten. Beide Voraussetzungen müssen dabei<br />

kumulativ vorliegen, können sich aber gegenseitig kompensierend ergänzen. Eine nur sehr schwach<br />

ausgeprägte Mitunternehmerinitiative kann durch ein stärker ausgeprägtes Mitunternehmerrisiko<br />

ausgeglichen werden.<br />

Mitunternehmerrisiko trägt, wer an Erfolg und Misserfolg sowie den stillen Reserven der Gesellschaft<br />

beteiligt ist (BFH, Urt. v. 28.10.1999 – VIII R 66-70/97, BStBl II 2000, S. 183 m.w.N.). Letzteres äußert sich<br />

meist dahingehend, dass dem Gesellschafter ein Abfindungs- oder Auseinandersetzungsanspruch für<br />

den Fall des Ausscheidens aus der Gesellschaft zusteht. Mitunternehmerinitiative entfaltet, wer zur<br />

Teilhabe an unternehmerischen Entscheidungen berechtigt ist, also wem Geschäftsführungs- und<br />

Vertretungsbefugnisse sowie Stimmrechte eingeräumt sind.<br />

Am plastischsten werden die Voraussetzungen, wenn man die typische Stille Beteiligung (§§ 230 ff.<br />

HGB) betrachtet. Diese vermittelt im Auseinandersetzungsfall nur einen Anspruch auf Rückgewähr<br />

der Einlage (§ 235 Abs. 1 HGB), weshalb keine mitunternehmerischen Einkünfte, sondern Einkünfte<br />

aus Kapitalvermögen erzielt werden (§ 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG). Ist der stille Gesellschafter neben einer<br />

Gewinnbeteiligung und einer auf seine Einlage beschränkten Verlustbeteiligung im Falle des Ausscheidens<br />

und der Liquidation an den stillen Reserven des Betriebsvermögens einschließlich des<br />

Zuwachses an dem Firmenwert beteiligt, steht seiner Mitunternehmerstellung nicht entgegen, dass<br />

seine Initiativrechte auf die des § 233 HGB beschränkt sind (BFH, Urt. v. 19.7.2018 – IV R 10/17, DStR<br />

2018, 2372).<br />

Ein Kommanditist ist grds. an den stillen Reserven beteiligt (vgl. §§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 3 HGB, 738 Abs. 1<br />

S. 2 BGB), besitzt also Mitunternehmerrisiko. Da § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG die KG als Mitunternehmerschaft<br />

ansieht, reichen die nach dem gesetzlichen Leitbild der §§ 164 ff. HGB einem<br />

Kommanditisten zustehenden Stimm- und Kontrollrechte aus, um eine hinreichende Mitunternehmerinitiative<br />

zu bejahen (BFH, Urt. v. 21.10.2015 – IV R 43/12, BStBl II 2016, S. 517). Inwieweit<br />

Abweichungen vom Regelstatut zur Ablehnung der Mitunternehmerstellung führen, ist eine Frage des<br />

Einzelfalls. Reichen die Möglichkeiten eines Gesellschafters nicht aus, um Mitunternehmerinitiative zu<br />

entfalten und können diese Defizite auch nicht durch ein ungleich größeres Mitunternehmerrisiko<br />

ausgeglichen werden, so erzielt der Gesellschafter regelmäßig Einkünfte aus der entsprechenden<br />

Überschusseinkunftsart.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 91


Fach 20, Seite 670<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

Steuerrecht<br />

Zweifeln könnte man an der Mitunternehmerstellung der Komplementär-GmbH, die regelmäßig am<br />

Gesamthandvermögen nicht beteiligt wird und am Ergebnis nur mittels einer gewinnunabhängigen<br />

Haftungsvergütung beteiligt wird. Der BFH bejaht trotzdem im Hinblick auf die unbeschränkte<br />

Außenhaftung nach § 128 HGB und die Geschäftsführungs- und Vertretungskompetenz eine Mitunternehmerstellung<br />

(BFH, Urt. v. 25.4.2006 – VIII R 74/03, BStBl II 2006, S. 595). Neuerdings schränkt<br />

der VIII. Senat des BFH die Mitunternehmerstellung eines Gesellschafters trotz unbeschränkter<br />

Außenhaftung dann ein, wenn die Geschäftsführungsbefugnis begrenzt ist und statt einer Gewinnbeteiligung<br />

eine Beteiligung am eigenen Umsatz gewährt wird (BFH, Urt. v. 3.11.2015 – VIII R 63/13,<br />

DStR 2016, 726).<br />

3. Erzielung gewerblicher Einkünfte<br />

Der Tatbestand einer gewerblichen Mitunternehmerschaft ist immer dann erfüllt, wenn gewerbliche<br />

Einkünfte i.S.d. § 15 Abs. 2 EStG erzielt werden.<br />

a) Originär gewerbliche Tätigkeit (§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 EStG)<br />

Dass die Personengesellschaft grds. eine gewerbliche Tätigkeit i.S.v. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG ausüben<br />

muss, ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus Abs. 1 S. 1 Nr. 2, aber aus dem Umkehrschluss zu § 15 Abs. 3<br />

Nr. 1 EStG („wenn die Gesellschaft auch eine Tätigkeit i.S.d. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ausübt“). Dazu muss die Tätigkeit die<br />

Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 S. 1 EStG (Selbstständigkeit, Nachhaltigkeit, Teilnahme am allgemeinen<br />

wirtschaftlichen Verkehr und Gewinnerzielungsabsicht) erfüllen.<br />

Die Tätigkeit einer Personengesellschaft ist notwendig selbstständig. Streitanfällig ist neben der<br />

Abgrenzung zur vermögensverwaltenden Tätigkeit namentlich die Gewinnerzielungsabsicht, wenn<br />

die Gesellschaft Verluste erwirtschaftet. Gewinnerzielungsabsicht ist die Absicht, eine Mehrung des<br />

Betriebsvermögens zu erzielen. Dem Steuerpflichtigen geht es darum, die Verluste entweder im Wege<br />

des horizontalen Verlustausgleichs (mit Gewinnen derselben Einkunftsart) oder im Wege des<br />

vertikalen Verlustausgleichs (mit positiven Einkünften aus anderen Einkunftsarten) zu verrechnen, um<br />

dadurch seine einkommensteuerliche Belastung zu reduzieren (zum sog. synthetischen Einkommensbegriff<br />

vgl. HEY in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 8 Rn 1). Fehlt es an der Gewinnerzielungsabsicht,<br />

liegen keine unternehmerischen Einkünfte vor und der Verlust wird der nicht versteuerbaren<br />

Privatsphäre zugeordnet, mit der Folge, dass er einkommensteuerrechtlich irrelevant ist (innerhalb<br />

des Verlustausgleichssystems des EStG gibt es einkunftsartbezogene Verlustausgleichsbeschränkungen<br />

(vgl. z.B. § 15 Abs. 4 EStG für Verluste aus gewerblichen Differenzgeschäften und stillen<br />

Beteiligungen) und einkunftsartunabhängige Verlustausgleichsbeschränkungen (§ 2a Abs. 1 EStG für<br />

negative ausländische Einkünfte). Die durch die Betätigung verursachte Einkommensteuerersparnis<br />

darf bei der Beurteilung der Frage, ob Gewinnerzielungsabsicht vorliegt, nicht berücksichtigt werden<br />

(§ 15 Abs. 2 S. 2 EStG). Ausreichend ist das Streben nach einer Betriebsvermögensmehrung in der<br />

Form eines Totalgewinns in der Totalperiode, d.h. eines positiven Gesamtergebnisses des Betriebs in<br />

der Zeit von der Gründung bis zur Veräußerung oder Aufgabe (BFH, Beschl. v. 25.6.1984 – GrS 4/82,<br />

BStBl II 1984, 751). Es wird also nicht auf einzelne Periodenergebnisse abgestellt. Veräußerungsgewinne<br />

nach § 16 EStG sind bei der Beurteilung zu berücksichtigen, da sie in den Totalgewinn eingehen.<br />

Die auf Gewinnerzielung gerichtete Absicht ist ein rein subjektives Tatbestandsmerkmal, auf dessen<br />

Vorliegen oder Fehlen jedoch nur anhand äußerlich erkennbarer, objektiver Umständen geschlossen<br />

werden kann, wobei einzelne Umstände einen Anscheinsbeweis liefern können (eine Liste<br />

von Anhaltspunkten mit Entscheidungen findet sich bei Kirchhof/REIß, Einkommensteuergesetz,<br />

18. Aufl. 2019, § 15 EStG Rn 50 f.). Erforderlich ist daher eine in die Zukunft gerichtete langfristige<br />

Beurteilung, für die die Verhältnisse der Vergangenheit Anhaltspunkte bieten können. Beweisanzeichen<br />

für das Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht ist ein Betrieb, der nach seiner Wesensart<br />

und nach der Lebenserfahrung objektiv geeignet ist, einen Totalgewinn zu erwirtschaften<br />

(Abgrenzung zur sog. Liebhaberei). Es reicht aus, wenn die Gewinnerzielungsabsicht Nebenzweck der<br />

Tätigkeit ist (§ 15 Abs. 2 S. 3 EStG). Auch sprechen Anlaufverluste noch nicht generell für Liebhaberei.<br />

Bei der Liebhaberei handelt es sich spiegelbildlich um eine Tätigkeit, bei deren Ausübung die Ge-<br />

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Steuerrecht Fach 20, Seite 671<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

winnerzielungsabsicht fehlt, die also z.B. aus reiner Neigung als Hobby stattfindet (HEY in Tipke/Lang,<br />

23. Aufl. 2018, § 8 Rn 133 m.w.N. und zahlreichen Beispielen).<br />

Da auch die private Vermögensverwaltung eine selbstständige, nachhaltige und von Gewinnerzielungsabsicht<br />

getragene Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr sein kann, ist negatives<br />

Tatbestandsmerkmal eines Gewerbebetriebs, dass die Betätigung den Rahmen privater Vermögensverwaltung<br />

überschreitet. Beim sog. gewerblichen Grundstückshandel liegt keine private Vermögensverwaltung,<br />

sondern ein Gewerbebetrieb vor. Das Gleiche gilt, wenn GmbH-Geschäftsanteile gehandelt<br />

werden (BFH, Urt. v. 25.7.2001 – X R 55/97, BB 2001, 22<strong>02</strong> – im konkreten Fall Gründung von elf GmbH,<br />

Ausstattung mit Güterfernverkehrsgenehmigungen und anschließende Veräußerung). Beim Wertpapier-Handel<br />

wird im Ansatz danach differenziert, ob eine Fruchtziehung aus dem eingesetzten<br />

Vermögen vorliegt oder ob die Verwertung der Vermögenssubstanz im Vordergrund steht (Kirchhof/<br />

REIß, a.a.O. § 15 EStG Rn 131 ff.).<br />

Hinweis:<br />

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in der Konstellation einer sog. Betriebsaufspaltung<br />

die vermögensverwaltende Tätigkeit der Besitzgesellschaft fiktiv in eine gewerbliche Tätigkeit<br />

umqualifiziert wird. Voraussetzung für eine Betriebsaufspaltung sei, dass zwischen Besitzgesellschaft und<br />

Betriebsgesellschaft ein einheitlicher Betätigungswille besteht (sog. personelle Verflechtung) und die<br />

Besitzgesellschaft der Betriebskapitalgesellschaft mindestens eine wesentliche Betriebsgrundlage zur<br />

Nutzung überlässt. Bebaute Immobilien werden praktisch ausnahmslos als wesentliche Betriebsgrundlagen<br />

eingeordnet.<br />

b) Teilweise gewerbliche Einkünfte (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG)<br />

Durch § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG wird der Kreis der Mitunternehmerschaften für die Fälle erweitert, in denen<br />

die Gesellschaft selbst nicht in vollem Umfang, aber entweder teilweise gewerblich tätig wird (Alt. 1)<br />

oder z.B. durch Einkünfte aus einer Beteiligung an einer gewerblich tätigen Personengesellschaft (Alt. 2)<br />

gewerbliche Einkünfte bezieht.<br />

Ist der Tatbestand erfüllt, kommt es zur sog. Abfärbung oder auch Infektion, was zur einheitlichen<br />

Qualifikation aller Einkünfte der Gesellschaft als Einkünfte aus Gewerbebetrieb führt. Die Abfärbung ist<br />

insb. für Personengesellschaften relevant, deren Gesellschafter als Freiberufler ausschließlich Einkünfte<br />

aus selbstständiger Tätigkeit (§ 18 EStG) erzielen.<br />

Beispiel:<br />

A und B betreiben gemeinschaftlich eine Hautarztpraxis, in der (gewerblich) Kosmetikbehandlungen<br />

durchgeführt werden und Kosmetikprodukte verkauft werden (weitere Beispiele nach der Rechtsprechung:<br />

BFH, Urt. v. 18.5.1995 – IV R 31/94, BStBl II 1995, 718, zur Tanzschule mit Getränkeverkauf; BFH, Urt.<br />

v. 12.12.2001 – XI R 56/00, BStBl II 20<strong>02</strong>, 2<strong>02</strong>, zur Tätigkeit des Insolvenzverwalters).<br />

Kommt es hier aufgrund von teilweise gewerblichen Einkünften zur Abfärbung, so führt dies dazu, dass<br />

die Personengesellschaft insgesamt gem. § 2 Abs. 1 GewStG zum Subjekt der Gewerbesteuer wird und<br />

sämtliche Einkünfte gewerbesteuerpflichtig werden. Zudem kann die Gesellschaft ihren Gewinn infolge<br />

der Infektion nicht mehr gem. § 4 Abs. 3 EStG durch die sog. Einnahmen-Überschuss-Rechnung<br />

ermitteln, sondern muss ihren Gewinn künftig durch Betriebsvermögensvergleich (Bilanzierung) nach<br />

§ 4 Abs. 1 EStG ermitteln. Auch entfällt durch die Infektion das Privileg der Berechnung der Umsatzsteuer<br />

nach vereinnahmten Entgelten – der sog. Ist-Versteuerung –, das Freiberuflern gem. § 20 Nr. 3 UStG zu<br />

gewähren ist.<br />

Vor dem Hintergrund des zunehmenden Einsatzes von Legal-Tech-Software hat auch der Ausschuss für<br />

Steuerrecht der BRAK im November 2019 vor den Gefahren einer Infektion für Rechtsanwaltskanzleien<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 93


Fach 20, Seite 672<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

Steuerrecht<br />

gewarnt (abrufbar unter: https://www.brak.de/w/files/01_ueber_die_brak/aus-der-arbeit-der-ausschuesse/<br />

2019-11-15-ueberarbeitung-des-beitrag-gewerblichkeit.pdf). Da insb. große Kanzleien nicht mehr nur klassische<br />

anwaltliche Dienstleistungen erbringen, haben sich einige Kanzleien bereits dazu entschieden,<br />

freiwillig gewerbliche Einkünfte zu erklären (Juve Rechtsmarkt 11/2019, abrufbar unter; https://www.juve.<br />

de/nachrichten/namenundnachrichten/2019/09/magic-circle-kanzleien-darum-zahlen-wir-gewerbesteuer).<br />

Bei gewerblichen Tätigkeiten in äußerst geringfügigem Umfang sollen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit<br />

die Rechtsfolgen des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG nach Auffassung des BFH nicht eintreten. Die<br />

Geringfügigkeitsgrenze sieht der BFH in Anlehnung an § 11 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 GewStG bei 24.500 € im<br />

Veranlagungszeitraum, sofern die gewerblichen Nettoumsatzerlöse nicht mehr als 3 % des Gesamtumsatzes<br />

ausmachen (BFH, Urt. v. 27.8.2014 – VIII R 6/12, BStBI II 2015, S. 10<strong>02</strong>; v. 27.8.2014 – VIII R 41/11,<br />

BStBI II 2015, S. 999; v. 27.8.2014 – VIII R 16/11, BStBI II 2015, S. 996).<br />

Hinweis:<br />

Die Praxis entgeht der Infektion dadurch, dass die gewerbliche Tätigkeit durch eine (beteiligungsidentische)<br />

Schwesterpersonengesellschaft ausgeübt wird und der gewerbliche und freiberufliche Betrieb klar<br />

getrennt werden.<br />

c) Gewerblich geprägte Personengesellschaft (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG)<br />

Aber auch eine Personengesellschaft, die nicht originär gewerbliche Einkünfte aus Gewerbebetrieb<br />

erzielt und deren Einkünfte auch nicht infiziert sind, kann durch die gewerbliche Prägung qua Fiktion des<br />

§ 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG gewerblich Einkünfte erzielen und damit Mitunternehmer sein.<br />

Voraussetzung dafür ist, dass nur eine oder mehrere Kapitalgesellschaften persönlich haftende Gesellschafter<br />

sind und nur diese oder Nichtgesellschafter zur Geschäftsführung befugt sind. § 15 Abs. 3 Nr. 2<br />

S. 2 EStG statuiert darüber hinaus, dass auch eine in diesem Sinne geprägte Personengesellschaft als<br />

persönlich haftende Gesellschafterin zur gewerblichen Prägung führt.<br />

Hauptanwendungsfall ist damit die GmbH & Co. KG, die in ihrer Grundstruktur eine gewerblich geprägte<br />

Personengesellschaft ist.<br />

Hinweis:<br />

Durch die Voraussetzungen können die Gesellschafter die gewerbliche Prägung nach Belieben herbeiführen<br />

oder vermeiden. So kann etwa in Abweichung vom Regelstatut des § 164 S. 1 HGB ein<br />

Kommanditist mit Geschäftsführungsbefugnissen ausgestattet werden und damit die gewerbliche<br />

Prägung ausgeschlossen werden.<br />

Eine GbR ist wegen der unbeschränkten Haftung ihrer Gesellschafter (analog § 128 HGB) einer gewerblichen<br />

Prägung unzugänglich.<br />

IV. Gewinnermittlung und Bestandteile der Einkünfte der Mitunternehmerschaft<br />

Wie bereits gezeigt, sieht das EStG keine besonderen Vorschriften für die Ermittlung des Einkommens<br />

von Mitunternehmerschaften vor. Vielmehr führt das Transparenzprinzip dazu, dass die Einkünfte der<br />

Gesellschaft den Gesellschaftern zugerechnet werden (zum Transparenzprinzip s.o. II.). Bei Mitunternehmerschaften<br />

ist aus (handels-)bilanzrechtlicher Sicht aber der Gewinn für die Gesellschaft selbst und<br />

nicht für die einzelnen Mitunternehmer zu ermitteln (vgl. §§ 6, 120 f., 167 f., 242 HGB). Die Handelsbilanz<br />

einer Personengesellschaft unterscheidet sich jedoch prinzipiell nicht von der Bilanz eines Einzelunternehmers.<br />

Allerdings muss deutlich gemacht werden, dass am Eigenkapital mehrere Personen<br />

beteiligt sind.<br />

94 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Steuerrecht Fach 20, Seite 673<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

Beispiel für eine OHG mit den Gesellschaftern A, B und C:<br />

Aktivseite<br />

Passivseite<br />

A. Anlagevermögen A. Eigenkapital<br />

I. Kapital A<br />

II. Kapital B<br />

III. Kapital C<br />

B. Umlaufvermögen B. Rückstellungen<br />

C. Verbindlichkeiten<br />

C. Rechnungsabgrenzungsposten D. Rechnungsabgrenzungsposten<br />

Ebenso wie bei der Aufstellung der Steuerbilanz des Einzelunternehmers sind bei der Ermittlung des<br />

steuerrechtlich maßgebenden Anteils des einzelnen Mitunternehmers am Gesamtgewinn der Gesellschaft<br />

die die Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts durchbrechenden Vorschriften des Steuerrechts<br />

zu berücksichtigen.<br />

Wenn sich Wertdifferenzen zwischen den Ansätzen in der Gesellschaftsbilanz und den für den einzelnen<br />

Mitunternehmer zutreffenden Ansätzen ergeben (z.B. beim entgeltlichen Erwerb eines Mitunternehmeranteils<br />

oder bei der Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine<br />

Personengesellschaft oder bei personenbezogenen Steuervergünstigungen), sind diese Differenzen in<br />

einer Ergänzungsbilanz des einzelnen Gesellschafters auszuweisen.<br />

Grundlegende Aussagen über die Besteuerung der Gesellschafter/Mitunternehmer einer gewerblich<br />

tätigen Personengesellschaft enthält die Vorschrift des § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Hiernach rechnen zu den<br />

gewerblichen Einkünften „die Gewinnanteile der Gesellschafter … und die Vergütungen, die der Gesellschafter<br />

von der Gesellschaft für seine Tätigkeit im Dienst der Gesellschaft oder für die Hingabe von Darlehen oder für die<br />

Überlassung von Wirtschaftsgütern bezogen hat“. Damit sollen die Mitunternehmer einer Personengesellschaft<br />

dem Einzelunternehmer angenähert werden. Dieser kann keine Verträge mit sich selbst schließen<br />

und demgemäß seinen gewerblichen Gewinn auch nicht durch Gehaltsbezüge oder durch Pachtzinsen<br />

für ihm gehörende betrieblich genutzte Grundstücke mindern.<br />

Die Gewinnermittlung stellt sich demnach wie folgt dar:<br />

Auf einer ersten Stufe ist der Gewinn der Personengesellschaft selbst zu ermitteln. Maßgebend dafür<br />

ist die durch §§ 4 ff. EStG modifizierte Handelsbilanz der Gesellschaft. Schuldrechtliche Beziehungen<br />

zwischen Gesellschaft und Gesellschafter werden hier anerkannt. Erst auf einer zweiten Gewinnermittlungsstufe<br />

werden die in § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG erwähnten Sondervergütungen und<br />

Sonderbetriebsausgaben erfasst.<br />

Für die Ermittlung dieser Einkünfte gilt im Einzelnen Folgendes:<br />

1. Gewinnanteile der Gesellschafter (erste Stufe)<br />

Unter „Gewinnanteilen“ i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG sind die Anteile der Gesellschafter am Gewinn (oder<br />

Verlust) der Gesellschaft zu verstehen. Um diesen Anteil festzustellen, ist zunächst der Gewinn (Verlust)<br />

der Gesellschaft zu ermitteln. Dies geschieht bei Personenhandelsgesellschaften durch einen Betriebsvermögensvergleich<br />

gem. § 5 Abs. 1 EStG. Der Gewinn der Personengesellschaft, der nach den handelsund<br />

einkommensteuerrechtlichen Gewinnermittlungsvorschriften ermittelt worden ist, wird grds.<br />

aufgrund des handelsrechtlichen Gewinnverteilungsschlüssels auf die Gesellschafter aufgeteilt. Die<br />

Anteile der Gesellschafter am Gewinn und Verlust sind i.d.R. im Gesellschaftsvertrag bestimmt (§§ 120,<br />

167 HGB) – sog. Gewinnermittlung erster Stufe.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 95


Fach 20, Seite 674<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

Steuerrecht<br />

Beispiel:<br />

Die aus den Gesellschaftern A und B bestehende A & B OHG hat im Jahr 2001 einen Gewinn von<br />

400.000 € erzielt. Nach dem Gesellschaftsvertrag betragen die Gewinnanteile von A 60 % (= 240.000 €),<br />

von B 40 % (= 160.000 €).<br />

Ergänzungsbilanzen<br />

Auf dieser ersten Stufe der Gewinnermittlung ist auch das Ergebnis aus etwaigen Ergänzungsbilanzen<br />

für die einzelnen Mitunternehmer zu berücksichtigen. In Ergänzungsbilanzen werden Wertkorrekturen<br />

zu den Ansätzen in der Steuerbilanz der Gesellschaft erfasst. Durch positive und negative Ergänzungsbilanzen<br />

von Mitunternehmern werden individuelle Anschaffungskosten einzelner Gesellschafter<br />

sowie personenbezogene Steuervergünstigungen, die sich in der Gesellschaftsbilanz nicht<br />

auswirken, berücksichtigt und fortgeführt. Ergänzungsbilanzen enthalten keine Wirtschaftsgüter,<br />

sondern nur Korrekturposten zu den Ansätzen in der Steuerbilanz der Gesellschaft (Steuerbilanz<br />

erster Stufe). Sie sind keine Handelsbilanzen, sondern stellen eine rein steuerliche Korrekturbilanz dar.<br />

Die Notwendigkeit für die Erstellung von Ergänzungsbilanzen beschränkt sich im Wesentlichen auf zwei<br />

Sachbereiche:<br />

• Entgeltlicher Erwerb eines Mitunternehmeranteils,<br />

• Einbringungsvorgang gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten.<br />

Beispiel:<br />

Gesellschafter K hat seinen Mitunternehmeranteil von V für 80.000 € erworben. Das Kapitalkonto des V<br />

betrug 50.000 €. Den Mehrpreis hat K gezahlt, weil in dem zum Anlagevermögen der Gesellschaft<br />

gehörenden Grundstück sowie in den Gebäuden und Warenvorräten stille Reserven i.H.v. je 10.000 €<br />

vorhanden waren. Das Kapitalkonto des K lautet in der Bilanz der Gesellschaft – wie bei V – auf 50.000 €.<br />

Die um 30.000 € höheren Anschaffungskosten weist K in einer Ergänzungsbilanz aus:<br />

Ergänzungsbilanz K<br />

Mehrwert Grund und Boden 10.000 € Mehrkapital 30.000 €<br />

Mehrwert Gebäude 10.000 €<br />

Mehrwert Waren 10.000 €<br />

30.000 €<br />

2. Sondervergütungen (zweite Stufe)<br />

Auf die Ermittlung des Gewinns (Verlusts) der ersten Stufe folgt die Ermittlung der sog. Sondereinkünfte<br />

der Gesellschafter – sog. Gewinnermittlung zweiter Stufe.<br />

Bei der Ermittlung der Sondereinkünfte ist zunächst davon auszugehen, dass eine Personengesellschaft<br />

zivilrechtlich zu ihren Gesellschaftern auch andere als gesellschaftsrechtliche Beziehungen haben kann.<br />

Eine OHG kann mit ihren Gesellschaftern Darlehens-, Miet- oder Pachtverträge sowie Arbeitsverträge<br />

abschließen. Bei der steuerrechtlichen Gewinnermittlung erster Stufe werden allgemein-schuldrechtliche<br />

Beziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter anerkannt. Das ist ein wesentlicher<br />

Unterschied zur früheren Bilanzbündeltheorie. Wenn die Gesellschaft aufgrund solcher Rechtsverhältnisse<br />

Vergütungen an die Gesellschafter zahlt, wirkt sich dies bei der Ermittlung des Gesellschaftsergebnisses<br />

gewinnmindernd aus.<br />

Diese an die Gesellschafter gezahlten (und bei der Gesellschaft gewinnmindernd berücksichtigten)<br />

Vergütungen (Geschäftsführergehalt, Mietvergütung, Darlehenszinsen) sind nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG<br />

bei der Einkünfteermittlung den jeweiligen Gewinnanteilen der Gesellschafter wieder hinzuzurechnen.<br />

Das geschieht in der Weise, dass die Vergütungen als gewerbliche Einkünfte der Gesellschafter<br />

umqualifiziert werden, obwohl sie ihrer Art nach Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit (§ 19 EStG),<br />

aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) oder aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) darstellen.<br />

96 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Steuerrecht Fach 20, Seite 675<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

• Sonderbilanz, Sonderbetriebsvermögen:<br />

Bei der Ermittlung der Sondereinkünfte sind die allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften anzuwenden.<br />

Parallel zur Ermittlung des Gewinns der Personengesellschaft durch Betriebsvermögensvergleich<br />

findet auch bei der Ermittlung der Sondereinkünfte ein (Sonder-)Betriebsvermögensvergleich<br />

statt.<br />

Zum Sonderbetriebsvermögen eines Gesellschafters gehören Wirtschaftsgüter, die im Eigentum des<br />

Gesellschafters stehen und die dem Betrieb der Gesellschaft unmittelbar dienen. Darunter fallen insb.<br />

Wirtschaftsgüter, die ein Gesellschafter der Gesellschaft zur betrieblichen Nutzung überlässt, sowie<br />

Forderungen eines Gesellschafters aus der Gewährung von Darlehen an die Gesellschaft. Gleichgültig ist,<br />

ob das Wirtschaftsgut der Gesellschaft entgeltlich oder unentgeltlich, freiwillig oder auf Vereinbarung<br />

im Gesellschaftsvertrag, schuldrechtlich (Miete, Pacht, Leihe) oder dinglich gesichert (Erbbaurecht,<br />

Nießbrauch) zur Verfügung gestellt wird. Diese Wirtschaftsgüter werden als Sonderbetriebsvermögen I<br />

bezeichnet.<br />

Zum Sonderbetriebsvermögen gehören außerdem Wirtschaftsgüter, die unmittelbar der Begründung<br />

oder Stärkung der Beteiligung des Gesellschafters an der Gesellschaft dienen (Sonderbetriebsvermögen<br />

II). Dazu zählen v.a. die Anteile der Kommanditisten einer GmbH & Co. KG an der Komplementär-GmbH.<br />

Die Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens sind in der Sonderbilanz des<br />

Gesellschafters zu erfassen. Gehören Gegenstände des Sonderbetriebsvermögens zu einem eigenen<br />

Gewerbebetrieb des Gesellschafters, so ist zu entscheiden, wo das Sonderbetriebsvermögen zu<br />

erfassen ist. Nach bisheriger BFH-Rechtsprechung (BFH, Urt. v. 18.5.1983 – I R 5/82, BStBI II 1983, S. 771)<br />

gilt ein Vorrang desjenigen Betriebs, in dem die Gegenstände eingesetzt werden; der Eigenbetrieb des<br />

Gesellschafters tritt also zurück. Anders verhält es sich nach der neueren BFH-Rechtsprechung (BFH,<br />

Urt. v. 23.4.1996 – VIII R 13/95, BStBI II 1998, S. 325) in der Konstellation einer sog. mitunternehmerischen<br />

Betriebsaufspaltung oder bei personenidentischen Mitunternehmerschaften.<br />

Im Rahmen der Ermittlung der Sondereinkünfte werden den Sonderbetriebseinnahmen (Arbeitsvergütungen,<br />

Mietzahlungen) die Sonderbetriebsausgaben gegenübergestellt. Sonderbetriebsausgaben<br />

sind Aufwendungen des Gesellschafters, die durch seine Sondervergütungen oder sein Sonderbetriebsvermögen<br />

oder seine Beteiligung an der Gesellschaft veranlasst sind, z.B. Fahrtkosten,<br />

Abschreibungen auf Wirtschaftsgüter des SBV, Fremdkapitalzinsen zur Finanzierung seiner Beteiligung.<br />

• Gesamtgewinn der Gesellschaft:<br />

Aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich, dass sich die Einkünfte eines Gesellschafters<br />

(Mitunternehmers) gem. § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG aus mehreren Bestandteilen zusammensetzen. Das<br />

Ergebnis ist der Anteil des Gesellschafters (Mitunternehmers) am Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft.<br />

Nach Auffassung des BFH (Urt. v. 14.11.1985 – IV R 63/83, BStBI II 1986, S. 58) führt die<br />

geschilderte zweistufige Gewinnermittlung der Mitunternehmerschaft nicht zu einer Gesamtbilanz im<br />

technischen Sinne, ausreichend sei eine additive Gewinnermittlung. Die von § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG<br />

zu erfassenden mitunternehmerischen Einkünfte seien die Summe der Ergebnisse der Steuerbilanz der<br />

Personengesellschaft als solcher zuzüglich der Sonderbilanzen der einzelnen Mitunternehmer.<br />

Der Anteil des Gesellschafters am „Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft“ umfasst außer dem Anteil des<br />

Gesellschafters am Gewinn (Verlust) der Gesellschaft auch das Ergebnis einer etwaigen Ergänzungsbilanz<br />

des Gesellschafters. Im Rahmen der Gewinnermittlung zweiter Stufe kommen die Sondereinkünfte<br />

hinzu. Schließlich werden als gewerbliche Einkünfte des Gesellschafters auch noch etwaige<br />

Gewinne (Verluste) aus der Veräußerung des Mitunternehmeranteils erfasst.<br />

Diese durch Addition zusammenzufügenden Berechnungsgrößen ergeben insgesamt die gewerblichen<br />

Einkünfte der Gesellschafter (Mitunternehmer).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 97


Fach 20, Seite 676<br />

Grundlagen der Besteuerung der Personengesellschaft<br />

Steuerrecht<br />

Beispiel für die Ermittlung der Einkünfte bei einer Personengesellschaft:<br />

An der A-KG sind die Gesellschafter A, B und C beteiligt: A mit einer Einlage von 200.000 € und B und C<br />

mit einer Einlage je von 150.000 €. Der Handelsbilanzgewinn der Gesellschaft beträgt 240.000 €. Im<br />

Gesellschaftsvertrag ist vereinbart, dass A für seine persönliche Haftung 10 % vom Handelsbilanzgewinn<br />

erhalten soll. Die Privatkonten sollten mit 8 % verzinst werden. Hiernach stehen A 4.000 €, B und C je<br />

6.000 € zu. Der Restgewinn soll wie folgt verteilt werden: A 40 %, B und C je 30 %.<br />

Mit A ist ein Anstellungsvertrag geschlossen, nach dem A ein Geschäftsführergehalt von 90.000 €<br />

erhalten soll, das auch ausgezahlt wurde. Außerdem hat er der Gesellschaft ein Patent überlassen,<br />

wofür er in 2001 eine Gebühr von 45.000 € erhalten hat (in 20<strong>02</strong> ausgezahlt).<br />

B hat der Gesellschaft ein Darlehen i.H.v. 200.000 € gegeben, das mit 9 % zu verzinsen ist. Die Zinsen<br />

wurden in 20<strong>02</strong> gezahlt.<br />

C hat der Gesellschaft ein unbebautes Grundstück zu einer Jahresmiete von 9.000 € überlassen, die<br />

Grundstückskosten belaufen sich auf 1.000 €.<br />

Das Geschäftsführergehalt, die Lizenzgebühr und die Grundstücksmiete wurden von der KG als Aufwand<br />

gebucht.<br />

Gesamtgewinnermittlung der Mitunternehmerschaft:<br />

1. Stufe: Vorweggewinn lt. Gesellschaftsvertrag<br />

Gesamt A B C<br />

Haftungsvergütung 24.000 24.000<br />

Kapitalkontenverzinsung 16.000 4.000 6.000 6.000<br />

40.000 28.000 6.000 6.000<br />

Restgewinn (240.000 - 40.000) 200.000 80.000 60.000 60.000<br />

Korrekturen Steuerbilanz 0<br />

Gewinn/Verlust aus Ergänzungsbilanzen 0<br />

Steuerbilanzgewinn auf der 1. Stufe 240.000 108.000 66.000 66.000<br />

2. Stufe: Sondergewinne<br />

Geschäftsführergehalt 90.000 90.000<br />

Lizenzerträge 45.000 45.000<br />

Zinserträge 18.000 18.000<br />

Grundstückseinnahmen 9.000 9.000<br />

Grundstücksausgaben - 1.000 - 1.000<br />

Gesamtgewinn 2001: 401.000 243.000 84.000 74.000<br />

98 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 983<br />

Pflichtverteidigung<br />

Strafverfahren<br />

Das neue Recht der Pflichtverteidigung<br />

Von RiLG THOMAS HILLENBRAND, Stuttgart<br />

Inhalt<br />

I. Einführung<br />

II. Notwendigkeit der Verteidigung<br />

1. Zu erwartende Hauptverhandlung vor<br />

OLG, LG oder Schöffengericht,<br />

§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO<br />

2. Vorführung vor den Haftrichter,<br />

§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO<br />

3. Haft/Unterbringung in anderer Sache,<br />

§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO<br />

4. Zu erwartendes Sicherungsverfahren,<br />

§ 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO<br />

5. Richterliche Beschuldigtenvernehmung,<br />

§ 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO<br />

6. Seh-, Hör- oder Sprachbehinderung, § 140<br />

Abs. 1 Nr. 11 StPO<br />

7. Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO<br />

III. Beiordnungsverfahren<br />

1. Antrag des Beschuldigten/Zeitpunkt der<br />

Bestellung, § 141 StPO<br />

2. Vernehmung und Gegenüberstellung vor<br />

der Verteidigerbestellung, § 141a StPO<br />

3. Zuständigkeit und Bestellungsverfahren,<br />

§ 142 StPO<br />

4. Dauer und Aufhebung der Bestellung,<br />

§ 143 StPO<br />

5. Verteidigerwechsel, § 143a StPO<br />

6. Zusätzliche Pflichtverteidiger, § 144 StPO<br />

IV. Weitere Änderungen<br />

1. Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheidungen<br />

des OLG<br />

2. Strafbefehlsverfahren<br />

3. Internationale Rechtshilfe in Strafsachen<br />

(IRG)<br />

I. Einführung<br />

Mit dem am 13.12.2019 in Kraft getretenen Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen<br />

Verteidigung wurde die sog. Prozesskostenhilferichtlinie (Richtlinie [EU] 2016/1919 vom 26.10.2010) in<br />

deutsches Recht umgesetzt. Zugleich wurden einige bislang richterrechtlich geprägte Beiordnungsfragen<br />

nunmehr gesetzlich geregelt.<br />

Die nachfolgenden Ausführungen geben einen ersten Überblick über die Neuregelungen und die jeweils<br />

dahinterstehenden Beweggründe des Gesetzgebers.<br />

II. Notwendigkeit der Verteidigung<br />

Wann ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist, richtet sich nunmehr allein nach § 140 StPO.<br />

Weitere Beiordnungsgründe, wie etwa § 141 Abs. 3 S. 1 StPO a.F., wurden in § 140 StPO n.F. überführt. Im<br />

Einzelnen:<br />

1. Zu erwartende Hauptverhandlung vor OLG, LG oder Schöffengericht, § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO<br />

Nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO a.F. war die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich, wenn die Hauptverhandlung<br />

im ersten Rechtszug vor dem OLG oder dem LG stattfand. Nunmehr sind auch Verfahren<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 99


Fach 22, Seite 984<br />

Pflichtverteidigung<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

vor dem Schöffengericht erfasst. Dies dürfte praktisch keine allzu großen Auswirkungen haben, da vor<br />

dem Schöffengericht aufgrund dessen Zuständigkeit für Verbrechen bzw. für Strafsachen mit einer<br />

Straferwartung von mehr als zwei Jahren auch nach bisheriger Rechtslage regelmäßig ein Verteidiger<br />

beizuordnen war.<br />

Von deutlich größerer Relevanz dürfte dagegen die zweite Änderung sein, die § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO<br />

erfahren hat: Während bisher ausschlaggebend war, bei welchem Gericht das Hauptverfahren letztlich<br />

eröffnet wurde, ist eine Beiordnung nach neuem Recht früher erforderlich, nämlich bereits dann,<br />

wenn „zu erwarten“ ist, dass die Hauptverhandlung (mindestens) vor dem Schöffengericht stattfinden<br />

wird.<br />

Der Gesetzgeber vollzieht hiermit einen Perspektivenwechsel, weg von der Hauptverhandlung hin<br />

zum Ermittlungsverfahren. Dieser soll auch dadurch verdeutlicht werden, dass die Möglichkeit einer<br />

früheren Verteidigerbestellung nicht mehr wie bisher in § 141 Abs. 3 StPO (nach Auffassung des<br />

Gesetzgebers eine „versteckte“ Stelle, BT-Drucks 19/13829, S. 32) geregelt wird, sondern in § 140 Abs. 1<br />

StPO.<br />

a) Verbrechensverdacht<br />

Eine Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht oder „höher“ wird insb. zu erwarten sein, wenn der<br />

Beschuldigte eines Verbrechens verdächtig ist.<br />

Hinweis:<br />

Hierfür kann ein Anfangsverdacht genügen (BT-Drucks 19/13829, S. 32). Man wird also, etwa wenn der<br />

Verdacht des räuberischen Diebstahls entstanden ist, einem Beiordnungsantrag nicht entgegenhalten<br />

können, dass die Ermittlungen noch am Anfang stünden und erst noch geprüft werden müsse, ob nicht<br />

doch nur ein „einfacher“ Diebstahl vorliegt. Dies ist sachgerecht, kann doch gerade in dieser Phase des<br />

Verfahrens die Mitwirkung eines Verteidigers für den Beschuldigten von entscheidender Bedeutung sein.<br />

Lässt sich der entstandene Verdacht bereits hier entkräften, können u.U. eingriffsintensive Zwangsmaßnahmen<br />

sowie eine belastende und kostenträchtige Hauptverhandlung vermieden werden. Allerdings<br />

kann bei einem späteren Wegfall des Verbrechensverdachts die Rücknahme der Beiordnung in Betracht<br />

kommen (§ 143 Abs. 2 S. 1 StPO n.F).<br />

b) Vergehen<br />

Wird dem Beschuldigten dagegen lediglich ein Vergehen zur Last gelegt, liegt die Zuständigkeit des<br />

Schöffengerichts oder gar des LG/OLG nicht auf der Hand. Die Prognose, wo die Anklage letztlich<br />

erhoben werden wird, wird in diesen Fällen in aller Regel erst nach einer gewissen Ermittlungstätigkeit<br />

und nicht vor der ersten Vernehmung des Beschuldigten, sondern in einer späteren Phase<br />

des Ermittlungsverfahrens getroffen werden können. Insbesondere werden Art und Umfang der Tat,<br />

ggf. einschließlich persönlicher Umstände des Angeklagten (Vorstrafen) bereits so klar umrissen sein<br />

müssen, dass dies die Erwartung stützt, der Fall werde nicht vor dem Strafrichter verhandelt werden<br />

(BT-Drucks 19/13829, a.a.O.).<br />

Hinweis:<br />

Ist noch nicht ersichtlich, dass letztlich (mindestens) das Schöffengericht zuständig sein wird, kann es sich<br />

empfehlen, einen Beiordnungsantrag vorerst zurückzustellen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass der<br />

Verteidiger belastende Umstände, denen seitens der Ermittlungsbehörden noch keine Bedeutung beigemessen<br />

wird oder die ihnen noch gar nicht bekannt sind, in der Antragsbegründung selbst herausarbeitet<br />

und so letztlich dem eigenen Mandanten schadet.<br />

100 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 985<br />

Pflichtverteidigung<br />

2. Vorführung vor den Haftrichter, § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO<br />

Während bislang die Mitwirkung eines Verteidigers erst beim Vollzug von Untersuchungshaft oder<br />

einstweiliger Unterbringung erforderlich war, ist nunmehr gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n.F. ein Fall<br />

notwendiger Verteidigung bereits dann gegeben, wenn der Beschuldigte einem Gericht zur Entscheidung<br />

über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist, also nach den §§ 115, 115a<br />

(Ergreifung aufgrund eines Haft- oder Unterbringungsbefehls), 128 Abs. 1 (vorläufige Festnahme) oder<br />

129 StPO (vorläufige Festnahme nach Anklageerhebung). Diese Neuregelung ist erforderlich geworden<br />

aufgrund von Art. 4 Abs. 4 der PKH-Richtlinie, wonach eine Unterstützung durch einen<br />

Rechtsbeistand jedenfalls im Zeitpunkt der Vorführung zu gewährleisten ist. Auch insoweit erfolgt<br />

also eine Vorverlagerung der Beiordnung.<br />

a) Bereits erlassener Haftbefehl<br />

Ist der Haft- oder Unterbringungsbefehl bereits erlassen und steht deshalb fest, dass in jedem Fall<br />

eine Vorführung zu erfolgen hat, ist die Verteidigerbestellung sofort vorzunehmen, § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1<br />

StPO n.F.<br />

Durch die Inbezugnahme der §§ 115, 115a StPO werden alle Arten von Haftbefehlen erfasst, eine<br />

Beschränkung auf die Untersuchungshaft gem. §§ 112, 112a StPO gibt es nicht. Umfasst ist daher auch die<br />

Hauptverhandlungshaft gem. § 230 Abs. 2 StPO. In diesem Fall, ebenso bei einer Vorführung zur<br />

Entscheidung über einen Haftbefehl im beschleunigten Verfahren (§ 127b StPO), erfolgt die Verteidigerbestellung<br />

jedoch – anders als bei U-Haft und einstweiliger Unterbringung – nur, wenn der<br />

Beschuldigte diese nach Belehrung ausdrücklich beantragt, § 141 Abs. 2 S. 2 StPO n.F.<br />

b) Vorläufige Festnahme<br />

Dagegen ist bei einer vorläufigen Festnahme noch nicht klar, ob tatsächlich eine Vorführung erfolgt<br />

oder die festgenommene Person wieder auf freien Fuß gesetzt wird. Es bleibt deshalb erlaubt, den<br />

Beschuldigten nach vorläufiger Festnahme erst noch zu vernehmen, soweit dies zur Klärung der Frage,<br />

ob ein Haftbefehl überhaupt beantragt werden soll, erforderlich ist (BT-Drucks 19/13829, S. 33).<br />

Hinweis:<br />

Bei solchen Vernehmungen wird freilich sorgfältig zu prüfen sein, ob diese tatsächlich der Klärung der<br />

Haftfrage dienten. Liegen nämlich dringender Tatverdacht und Haftgrund auf der Hand, besteht insoweit<br />

kein Klärungsbedarf mehr, so dass sich bei gleichwohl noch vor der Verteidigerbestellung durchgeführten<br />

Vernehmungen die Frage stellt, ob sie nicht tatsächlich zum Ziel hatten, den Verteidiger möglichst lange<br />

aus dem Verfahren „herauszuhalten“ bzw. vor dessen Tätigwerden noch an „ungefilterte“ Informationen<br />

zu gelangen.<br />

3. Haft/Unterbringung in anderer Sache, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO<br />

Die Vorgabe der PKH-Richtlinie, nach der die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gewährleistet<br />

sein muss, sobald sich der Beschuldigte in Haft befindet, erforderte auch die Änderung des<br />

§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Die dort bislang vorgesehenen zeitlichen Beschränkungen, wonach ein Fall der<br />

notwendigen Verteidigung nur dann vorlag, wenn sich der Beschuldigte mindestens drei Monate in<br />

einer Anstalt befand und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen<br />

wurde, waren mit der Richtlinie nicht vereinbar und wurden gestrichen. Der zeitliche Umfang spielt<br />

jetzt keine Rolle mehr.<br />

Hinweis:<br />

Gänzlich bedeutungslos ist eine Entlassung des Beschuldigten vor der Hauptverhandlung allerdings nach<br />

wie vor nicht. Gemäß § 143 Abs. 2 S. 2 StPO n.F. kann nämlich die Bestellung aufgehoben werden, wenn<br />

der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Prozessbeginn entlassen wird (s. unter III 4 b) aa).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 101


Fach 22, Seite 986<br />

Pflichtverteidigung<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

4. Zu erwartendes Sicherungsverfahren, § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO<br />

Auch bei einem in Betracht kommenden Sicherungsverfahren erfolgte ein Perspektivenwechsel hin<br />

zum Ermittlungsverfahren. Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt nach § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO n.F.<br />

nunmehr bereits dann vor, wenn ein Sicherungsverfahren zu erwarten ist, und nicht mehr erst dann,<br />

wenn ein solches eröffnet wird.<br />

Zu größeren Veränderungen in der Praxis wird diese Änderung indes wohl nicht führen, nachdem in<br />

Sicherungsverfahren oftmals eine einstweilige Unterbringung vollstreckt wird und schon deshalb ein<br />

Verteidiger bestellt sein muss. Zudem dürfte bei nahezu allen Beschuldigten eine Unfähigkeit zur<br />

Selbstverteidigung gegeben sein.<br />

5. Richterliche Beschuldigtenvernehmung, § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO<br />

Diese Vorschrift ersetzt § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. Es ist nunmehr ein Verteidiger beizuordnen, wenn<br />

dessen Mitwirkung bei einer richterlichen Vernehmung aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur<br />

Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint. Ob dies der Fall ist, hat das Gericht von<br />

Amts wegen zu entscheiden. Eines Antrags der Staatsanwaltschaft bedarf es nicht mehr.<br />

6. Seh-, Hör- oder Sprachbehinderung, § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO<br />

Bislang war in § 140 Abs. 2 S. 2 StPO a.F. bestimmt, dass dem Beiordnungsantrag eines hör- oder<br />

sprachbehinderten Beschuldigten zu entsprechen ist. Diese Regelung wurde nun in § 140 Abs. 1 Nr. 11<br />

StPO überführt und zudem auf sehbehinderte Personen erstreckt. Hierdurch soll der von Art. 9 der<br />

PKH-Richtlinie verlangte Schutz besonders schutzbedürftiger Beschuldigter gewährleistet werden.<br />

Um deren Selbstbestimmungsrecht zu wahren, setzt die Verteidigerbestellung hier jedoch stets einen<br />

Antrag des Beschuldigten voraus.<br />

Hinweis:<br />

Liegt aber zugleich ein weiterer Beiordnungsgrund vor, kann die Verteidigerbestellung gleichwohl auch<br />

ohne Antrag erfolgen.<br />

7. Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO<br />

Die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO stellt weiterhin auf die Schwere der Tat, die Schwierigkeit der<br />

Sach- und Rechtslage sowie auf die Unfähigkeit des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, ab<br />

(hierzu BURHOFF, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019 [im Folgenden<br />

kurz: EV], Rn 3144 ff.). Insoweit ergeben sich keine Veränderungen.<br />

Neu hinzugekommen ist dagegen die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge. Wann eine<br />

Rechtsfolge „schwer“ ist, hat der Gesetzgeber nicht definiert. Von den ursprünglichen Erwägungen,<br />

eine bestimmte Straferwartung als Grenze festzulegen, wurde im Gesetzgebungsverfahren Abstand<br />

genommen.<br />

Hinweis:<br />

Praktische Veränderungen durch die Neuregelung sind nicht zu erwarten. Vielmehr ist davon auszugehen,<br />

dass, der bisherigen gefestigten Rechtsprechung folgend, weiterhin ab einer Straferwartung von einem<br />

Jahr ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist. Hierbei genügt es grds., wenn die Straferwartung, etwa aufgrund<br />

der Einbeziehung anderweitig verhängter Strafen bei der Gesamtstrafenbildung oder durch einen<br />

im Falle der Verurteilung drohenden Bewährungswiderruf, insgesamt ein Jahr erreicht.<br />

Für das Strafvollstreckungsverfahren hat der Gesetzgeber von der Schaffung eigenständiger Beiordnungsvoraussetzungen<br />

abgesehen. Insoweit muss weiterhin auf eine entsprechende Anwendung des<br />

§ 140 Abs. 2 StPO zurückgegriffen werden.<br />

1<strong>02</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 987<br />

Pflichtverteidigung<br />

III. Beiordnungsverfahren<br />

Während in § 140 StPO n.F. das „Ob“ einer Beiordnung geregelt ist, normieren die komplett neu gefassten<br />

§§ 141–144 StPO n.F. das Verfahren der Beiordnung, also die Frage wer, wann, von wem, auf<br />

wessen Veranlassung zum Pflichtverteidiger bestellt wird.<br />

Hinweis:<br />

Das Gesetz unterscheidet klar zwischen den Voraussetzungen der Beiordnung (§ 140 StPO n.F.) einerseits<br />

und dem Verfahren (§§ 141 ff. StPO n.F.) andererseits. Die Verfahrensvorschriften kommen immer erst<br />

dann zur Anwendung, wenn ein Fall des § 140 StPO n.F. gegeben ist.<br />

1. Antrag des Beschuldigten/Zeitpunkt der Bestellung, § 141 StPO<br />

a) Grundsatz: Antragserfordernis im Ermittlungsverfahren<br />

Nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO n.F. erfolgt die Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn der Beschuldigte sie<br />

• nach Belehrung ausdrücklich beantragt,<br />

• ihm der Tatvorwurf eröffnet worden ist und<br />

• er noch keinen Verteidiger hat.<br />

Über den Antrag des Beschuldigten ist spätestens vor seiner Vernehmung oder einer Gegenüberstellung<br />

mit ihm zu entscheiden (§ 141 Abs. 1 S. 2 StPO n.F.), sofern nicht ein Ausnahmefall gem. § 141a<br />

StPO n.F. (s. unter III 2) gegeben ist.<br />

Ist der Antrag begründet, so ist die Bestellung unverzüglich, d.h. so rechtzeitig, dass die Verteidigungsrechte<br />

gewahrt werden, und jedenfalls vor einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung<br />

vorzunehmen.<br />

aa) Möglichkeit einer Beiordnung von Amts wegen<br />

Das Antragserfordernis ist im Gesetzgebungsverfahren auf teils harsche Kritik gestoßen, da es die<br />

Hinzuziehung eines Pflichtverteidigers erschwere. Dies ist, auch wenn der Beschuldigte über sein Antragsrecht<br />

gem. § 58 Abs. 2 StPO n.F. zu belehren und dies gem. § 168b StPO n.F. zu dokumentieren ist,<br />

nicht gänzlich von der Hand zu weisen.<br />

Allerdings steht das Fehlen eines Antrags einer Verteidigerbestellung nicht automatisch entgegen (es<br />

sei denn, das Gesetz setzt ausnahmsweise zwingend einen Antrag voraus, s. §§ 140 Abs. 1 Nr. 11, 141 Abs. 2<br />

S. 2 StPO n.F.). So enthält § 141 Abs. 2 StPO n.F. vier Konstellationen, in denen unabhängig von einem<br />

Antrag des Beschuldigten eine Beiordnung zu erfolgen hat (s. unter III 1 b). Darüber hinaus kann<br />

ausnahmsweise auch die Staatsanwaltschaft (StA) im Rahmen ihrer neu geschaffenen Eilzuständigkeit<br />

nach § 142 Abs. 4 StPO n.F. von Amts wegen eine Bestellung vornehmen.<br />

Auch die Gesetzesbegründung geht nicht davon aus, dass das Fehlen eines Antrags die Beiordnung eines<br />

Verteidigers zwingend ausschließt. Zwar soll das Unterbleiben eines Antrags bei der Prüfung, wann im<br />

Vorverfahren im Rechtspflegeinteresse eine Verteidigerbestellung erforderlich ist, „vorrangig zu berücksichtigen“<br />

sein. Es könne aber insb. die Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten auch ohne Antrag eine<br />

Verteidigerbeiordnung gebieten (BT-Drucks 19/13829, S. 3). Zudem sei in den Fällen der notwendigen<br />

Verteidigung (§ 140 StPO n.F.) spätestens mit Anklageerhebung ein Verteidiger zu bestellen.<br />

Hinweis:<br />

Wie die „vorrangige Berücksichtigung“ konkret erfolgen soll, bleibt indes in Ermangelung brauchbarer<br />

Hinweise in der Gesetzesbegründung offen. Jedoch wird man festhalten müssen, dass die Beiordnungsvoraussetzungen<br />

des § 140 StPO n.F. nicht unterlaufen werden dürfen. So entfällt z.B. die Verteidigungsunfähigkeit<br />

des Beschuldigten nicht etwa deshalb, weil er keinen Beiordnungsantrag stellt.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 103


Fach 22, Seite 988<br />

Pflichtverteidigung<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

bb) Beiordnung erst nach Eröffnung des Tatvorwurfs<br />

Das Antragsrecht entsteht erst, wenn dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet wird. Vorher gestellte<br />

Beiordnungsanträge sind unzulässig (BT-Drucks 19/13829, S. 36).<br />

Hinweis:<br />

Das durch § 137 Abs. 1 S. 1 StPO gewährte Recht des Beschuldigten, sich in jeder Phase des Verfahrens des<br />

Beistands eines Verteidigers zu bedienen, bleibt hiervon aber unberührt.<br />

cc) Vorrang der Wahlverteidigung<br />

Weiter setzt die Beiordnung voraus, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat oder der<br />

gewählte Verteidiger bereits mit dem Beiordnungsantrag ankündigt, im Falle der Bestellung das<br />

Wahlmandat niederzulegen. Hiermit soll der Vorrang der Wahlverteidigung aufrechterhalten werden<br />

(BT-Drucks 19/13829, a.a.O.).<br />

b) Zwingende Beiordnung von Amts wegen<br />

In den Fällen des § 141 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 StPO n.F. hat die Bestellung des Verteidigers dagegen<br />

unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten zu erfolgen, es sei denn es ist die zeitnahe Einstellung<br />

des Verfahrens beabsichtigt und es sollen lediglich Registerauskünfte eingeholt oder Akten beigezogen<br />

werden (§ 141 Abs. 2 S. 3 StPO n.F.).<br />

aa) Haftentscheidung<br />

Eine Beiordnung von Amts wegen hat gem. Nr. 1 zu erfolgen, sobald der Beschuldigte einem Gericht zur<br />

Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorgeführt werden soll (s. § 140 Abs. 1 Nr. 4<br />

StPO n.F.).<br />

bb) Anstaltsunterbringung in anderer Sache<br />

Befindet sich der Beschuldigte aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in<br />

einer Anstalt (s. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F.), ist gem. Nr. 2 ebenfalls auch ohne Antrag ein Verteidiger zu<br />

bestellen; dies allerdings erst, wenn ihm in der neuen Sache, in der die Beiordnung erfolgen soll, der<br />

Tatvorwurf eröffnet ist. Solange das Verfahren gegen ihn noch nicht offen geführt wird, ist für eine<br />

Verteidigerbestellung kein Raum.<br />

cc) Vernehmung eines schutzbedürftigen Beschuldigten<br />

§ 141 Abs. 2 Nr. 3 StPO n.F. bestimmt, dass eine Verteidigerbestellung auch ohne Antrag des Beschuldigten<br />

spätestens dann erforderlich ist, wenn im Vorverfahren eine Vernehmung oder Gegenüberstellung<br />

mit ihm durchgeführt werden soll und die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der<br />

Umstände des Einzelfalls, namentlich der Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten, erforderlich ist.<br />

Dies kann nach der Gesetzesbegründung etwa dann der Fall sein, wenn der Beschuldigte aufgrund<br />

mangelnder Übersicht die Tragweite der Nichtausübung seines Antragsrechts nicht zu erkennen<br />

vermag (BT-Drucks 19/13829, S. 38). Dies dürfte am ehesten in Fällen gegeben sein, in denen von einer<br />

Unfähigkeit zur Selbstverteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO auszugehen ist. Eine unzutreffende, nicht auf<br />

Selbstverteidigungsunfähigkeit zurückgehende Fehleinschätzung der eigenen prozessualen Lage, etwa<br />

im Hinblick auf die Beweissituation, wird hingegen nicht genügen können.<br />

Hinweis:<br />

Allerdings ist nicht bei jeder Vernehmung ein Verteidiger zu bestellen, denn eine Beiordnung setzt immer<br />

die Einschlägigkeit des § 140 StPO voraus. Ist diese nicht ersichtlich, etwa weil die Ermittlungsbehörden<br />

nur von einem geringfügigen Vergehen, welches mit einer Geldstrafe wird geahndet werden können,<br />

ausgehen, bedarf es keiner Bestellung (BT-Drucks 19/13829, a.a.O.).<br />

104 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 989<br />

Pflichtverteidigung<br />

dd) Anklageerhebung<br />

Darüber hinaus bestimmt Nr. 4, dass die Mitwirkung eines Verteidigers auch ohne Antrag des<br />

Beschuldigten erforderlich ist, wenn er Gelegenheit erhält, sich gem. § 201 StPO zu einer Anklage zu<br />

äußern, und ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist.<br />

Hinweis:<br />

Es kann jedoch auch zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Beiordnung erfolgen, etwa wenn sich erst<br />

im Verlauf des Verfahrens herausstellt, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist. Die Gesetzesbegründung<br />

nennt hier als Beispiel die Vorlage des Strafrichters an das Schöffengericht gem.<br />

§ 209 Abs. 2 StPO. Denkbar sind zudem Fälle, in denen sich erst in der Hauptverhandlung herausstellt,<br />

dass die Folgen der Tat so gewichtig sind, dass die zunächst als geringer eingestufte Straferwartung<br />

nunmehr bei mindestens einem Jahr liegt.<br />

2. Vernehmung und Gegenüberstellung vor der Verteidigerbestellung, § 141a StPO<br />

Unter den Voraussetzungen des § 141a StPO n.F. dürfen Vernehmungen und Gegenüberstellungen<br />

ausnahmsweise schon vor der Bestellung eines Verteidigers durchgeführt werden, wenn dies zur<br />

Abwehr einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder für die Freiheit einer Person<br />

dringend erforderlich oder zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung eines Strafverfahrens zwingend<br />

geboten sind. Von einer solchen erheblichen Gefährdung soll nach der Gesetzesbegründung auszugehen<br />

sein, wenn die Vernichtung von Beweismitteln oder die Beeinflussung von Zeugen droht oder<br />

nur so die Flucht eines Mitbeschuldigten verhindert werden kann.<br />

Hat der Beschuldigte gem. § 141 Abs. 1 StPO n.F. einen Beiordnungsantrag gestellt, bedarf die Durchführung<br />

der Vernehmung/Gegenüberstellung darüber hinaus auch seines ausdrücklichen Einverständnisses.<br />

Hinweis:<br />

Die Ausnahmevorschrift des § 141a StPO n.F. erlaubt freilich lediglich die Vernehmung eines aussagebereiten<br />

Beschuldigten. Sein allgemeines Schweigerecht bleibt unberührt.<br />

Ebenso unberührt bleibt, dies bestimmt § 141a S. 2 StPO n.F. ausdrücklich, das Recht des Beschuldigten,<br />

schon vor der Vernehmung einen von ihm gewählten Verteidiger zu befragen. Erklärt er<br />

also, bereits vor der Vernehmung einen (Wahl-)Verteidiger befragen zu wollen, darf ihm dies nicht<br />

verwehrt werden.<br />

Gleichwohl erscheint § 141a StPO n.F. nicht unbedenklich. Es ist schwerlich vorstellbar, dass ein<br />

Beschuldigter, der zuvor ausdrücklich die Beiordnung eines Verteidigers beantragt hat, plötzlich damit<br />

einverstanden sein soll, sich doch vernehmen zu lassen, zumal in einer solchen Vernehmung bereits<br />

entscheidende Weichen für den späteren Ausgang des Verfahrens gestellt werden können.<br />

Diese Problematik hat wohl auch der Gesetzgeber gesehen und betont, dass es sich um eine eng<br />

auszulegende Ausnahmeregelung handele. Zudem sei die Bestellung eines Verteidigers im Wege der<br />

Eilzuständigkeit der StA gem. § 142 Abs. 4 StPO n.F. (s.u. III 3 b) vorrangig.<br />

Zu dieser an die Praxis gerichteten Mahnung passt es allerdings nicht recht, wenn die Gesetzesbegründung<br />

zugleich hervorhebt, dass ein Verstoß grds. nicht zu einem Verwertungsverbot führen soll.<br />

Ein solches könne sich nur bei schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen,<br />

bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen<br />

werden, ergeben (BT-Drucks 19/13829, S. 40).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 105


Fach 22, Seite 990<br />

Pflichtverteidigung<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

3. Zuständigkeit und Bestellungsverfahren, § 142 StPO<br />

a) Adressaten des Beiordnungsantrags<br />

Gemäß § 142 Abs. 1 StPO n.F. ist der Beiordnungsantrag des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren bei<br />

der StA oder der Polizei anzubringen. Die StA hat zu dem Antrag Stellung zu nehmen und ihn sodann<br />

unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen, sofern nicht ausnahmsweise ihre Eilzuständigkeit<br />

nach Abs. 4 gegeben ist (s. sogleich unter b).<br />

Hinweis:<br />

Stellt der Beschuldigte keinen Antrag, obwohl ein Fall des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 gegeben ist, hat die<br />

Staatsanwaltschaft unverzüglich selbst die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu beantragen, § 142 Abs. 2<br />

StPO n.F.<br />

Zuständig für die Entscheidung über den Antrag ist gem. § 142 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 3 StPO n.F. das<br />

Amtsgericht, in dessen Bezirk die Staatsanwaltschaft ihren Sitz hat, in Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO<br />

n.F. das Gericht, dem der Beschuldigte vorzuführen ist, und nach Erhebung der Anklage der Vorsitzende<br />

des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist.<br />

b) Eilzuständigkeit der StA<br />

Kann eine Entscheidung des Gerichts nicht herbeigeführt werden, etwa weil eine Vernehmung des<br />

Beschuldigten keinen Aufschub duldet und der zuständige Richter nicht erreichbar ist, besteht nunmehr<br />

eine Eilzuständigkeit der StA, § 142 Abs. 4 StPO n.F.<br />

Diese kann, sofern ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, sowohl von Amts wegen als<br />

auch auf Antrag des Beschuldigten einen Verteidiger bestellen.<br />

Liegen die Voraussetzungen des § 140 StPO dagegen nicht vor, lehnt die StA den Beiordnungsantrag<br />

durch eine schriftlich begründete Entscheidung ab.<br />

Trotz dieser nunmehr erstmals eingeführten Möglichkeit einer Verteidigerbestellung durch die StA<br />

schafft § 142 Abs. 4 StPO n.F. keine Parallelzuständigkeit neben jener des Gerichts. Vielmehr hat die StA<br />

spätestens innerhalb einer Woche nach ihrer Entscheidung eine richterliche Bestätigung einzuholen,<br />

ihre Entscheidung hat lediglich vorläufigen Charakter. Auch kann der Beschuldigte jederzeit die<br />

gerichtliche Entscheidung beantragen, § 142 Abs. 4 S. 3 StPO n.F.<br />

Hinweis:<br />

Unterlässt die Staatsanwaltschaft pflichtwidrig die Einholung der richterlichen Bestätigung ihrer Eilentscheidung,<br />

so geht dies nicht zulasten des Beschuldigten. Eine von der StA vorgenommene Bestellung<br />

bleibt wirksam (BT-Drucks 19/13829, S. 19).<br />

c) Benennungsrecht des Beschuldigten<br />

Aus § 142 Abs. 5 StPO n.F. ergibt sich, dass der Beschuldigte vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers<br />

zu hören und ihm zwingend Gelegenheit zu geben ist, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen<br />

Verteidiger zu bezeichnen. Um dies zu erleichtern, verweist § 142 Abs. 5 StPO n.F. auf § 136 Abs. 3 StPO,<br />

wonach dem Beschuldigten entsprechende Informationen zur Verfügung zu stellen sind. Zudem ist auf<br />

anwaltliche Notdienste hinzuweisen.<br />

Die dem Beschuldigten für die Bezeichnung eines Verteidigers zu setzende Frist muss angemessen sein,<br />

konkretere Regelungen hierzu enthält § 142 Abs. 5 StPO nicht. Abhängig von den jeweiligen Umständen<br />

des Einzelfalls kann die Frist sehr kurz ausfallen oder sich sogar auf eine kurze Bedenkzeit reduzieren.<br />

106 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 991<br />

Pflichtverteidigung<br />

Hinweis:<br />

Ist im Einzelfall nur eine kurze oder gar minimale Frist möglich, kann sich dies im weiteren Verlauf des<br />

Verfahrens bei der Frage, ob der bestellte Verteidiger ausgewechselt werden kann/muss, auswirken,<br />

§ 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO (s. unter III 5).<br />

Benennt der Beschuldigte fristgerecht einen Verteidiger, so ist dieser beizuordnen, sofern dem kein<br />

wichtiger Grund entgegensteht (§ 142 Abs. 5 S. 3 StPO n.F.). Ein solcher wichtiger Grund liegt auch<br />

dann vor, wenn der benannte Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig verfügbar ist. Einen generellen<br />

Rechtsanspruch auf die Bestellung des von ihm gewünschten Pflichtverteidigers hat der Beschuldigte<br />

weiterhin nicht.<br />

Die Neuregelung verankert zum einen die bisherige Rechtsprechung im Gesetz, wonach ein Verteidiger,<br />

der das Mandat, etwa wegen anderweitiger Auslastung, nicht führen kann, nicht beigeordnet wird.<br />

Zum anderen zielt sie v.a. auf Eilfälle ab, freilich ohne näher zu definieren, wann ein Verteidiger „nicht<br />

rechtzeitig“ verfügbar ist. Die Gesetzesbegründung erklärt hierzu lediglich, es sei eine kurze Wartezeit<br />

einzuräumen. Ein Anspruch auf eine Verschiebung etwa der Vernehmung besteht aber nicht (BT-<br />

Drucks 19/13829, S. 43).<br />

Hinweis:<br />

Dennoch wird die Beiordnung des vom Beschuldigten benannten Verteidigers nicht vorschnell im Hinblick<br />

auf dessen vermeintlich nicht rechtzeitige Verfügbarkeit abgelehnt werden dürfen. Schon der Grundsatz<br />

des fairen Verfahrens gebietet es, dass dem Beschuldigten, sofern möglich, der Anwalt seines Vertrauens<br />

zur Seite stehen muss. Dies gilt auch für den Pflichtverteidiger. Deshalb wurde i.R.d. § 142 Abs. 1 StPO a.F.<br />

das Merkmal des wichtigen Grundes eng ausgelegt und dem Recht des Beschuldigten auf Beiordnung des<br />

Anwalts seines Vertrauens der Vorrang eingeräumt (hierzu BURHOFF, EV, Rn 3004 m.w.N.). Von diesen<br />

Maßstäben ausgehend wird bei der Gewährung von Wartezeiten mit einer gewissen Großzügigkeit<br />

vorgegangen werden müssen.<br />

d) Auswahl des Pflichtverteidigers<br />

Art. 7 Abs. 1 der PKH-Richtlinie enthielt die Vorgabe, eine angemessene Qualität der Pflichtverteidigung<br />

zu sichern. Dies soll umgesetzt werden durch die neue Regelung des § 142 Abs. 6 StPO n.F., wonach<br />

entweder ein Fachanwalt für Strafrecht oder ein anderer Rechtsanwalt, der gegenüber der RAK sein<br />

Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt hat und für die Übernahme der<br />

Verteidigung geeignet ist, ausgewählt wird. Erst wenn aus diesem Personenkreis niemand rechtzeitig<br />

zur Verfügung steht, ist die Auswahl eines anderen Verteidigers statthaft (BT-Drucks 19/13829, S. 43).<br />

Die Auswahl des im konkreten Fall zu bestellenden Verteidigers obliegt weiterhin dem zuständigen<br />

Gericht. Die seit geraumer Zeit immer wieder erhobene Forderung, die Auswahl von der Richter- auf die<br />

Anwaltschaft zu übertragen, hat der Gesetzgeber nicht aufgegriffen. Letztlich dürfte sich daher an der<br />

Beiordnungspraxis wenig ändern, zumal Gerichte, die besonders gerne ihren jeweiligen „Lieblingsverteidiger“<br />

bestellen, kaum Schwierigkeiten haben dürften, diesen auch ohne Fachanwaltschaft als „zur<br />

Übernahme der Verteidigung geeignet“ i.S.d. neuen Rechts einzustufen.<br />

Hinweis:<br />

Unberührt bleibt jedoch das dem Beschuldigten durch § 142 Abs. 5 StPO n.F. gewährte Recht, einen<br />

Verteidiger seiner Wahl zu benennen. Es ist seine freie Entscheidung, auch jemanden zu wählen, der die<br />

vorgenannten Kriterien nicht erfüllt. Auch liegt in diesem Fall kein wichtiger Grund i.S.d. § 122 Abs. 5 StPO<br />

n.F. vor, aufgrund dessen die begehrte Beiordnung verweigert werden könnte.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 107


Fach 22, Seite 992<br />

Pflichtverteidigung<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

e) Neu: sofortige Beschwerde<br />

Eine wichtige Neuerung bringt die Reform hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Rechtsmittel.<br />

Während bislang die „einfache“ Beschwerde gegeben war, ist nunmehr gegen Entscheidungen im<br />

Zusammenhang mit Beiordnungsfragen immer die sofortige Beschwerde statthaft, §§ 142 Abs. 7<br />

(Ausnahme hier: § 142 Abs. 7 S. 2 StPO n.F.), 143 Abs. 3, und 143a Abs. 4 StPO. Beschwerdeberechtigt<br />

sind sowohl der Beschuldigte als auch die Staatsanwaltschaft.<br />

Hinweis:<br />

Die Einführung der sofortigen Beschwerde dient nicht nur der schnelleren Schaffung von Klarheit, sondern<br />

hat auch zur Folge, dass die Beschwerdeentscheidung im Revisionsverfahren nicht mehr überprüft<br />

wird, § 336 S. 2 StPO. Unzureichender Vortrag kann also im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht<br />

„nachgebessert“ werden.<br />

4. Dauer und Aufhebung der Bestellung, § 143 StPO<br />

Die Dauer und Aufhebung der Bestellung war, ebenso wie die Voraussetzungen einer Auswechslung des<br />

Pflichtverteidigers, bislang kaum gesetzlich geregelt. Die Rechtsprechung behalf sich insoweit mit Fallgruppen,<br />

die nunmehr Eingang in die neuen Bestimmungen gefunden haben.<br />

a) Beiordnung bis zur Rechtskraft<br />

So regelt § 143 Abs. 1 StPO n.F., dass die Bestellung des Pflichtverteidigers grds. mit dem rechtskräftigen<br />

Abschluss des Verfahrens bzw. mit dessen Einstellung endet. Die Bestellung wirkt also auch<br />

im Revisionsverfahren einschließlich einer etwaigen dort durchgeführten Hauptverhandlung fort<br />

(BT-Drucks 19/13829, S. 44).<br />

Darüber hinaus bestimmt die Vorschrift, dass die Beiordnung sich auch auf das abgetrennte Einziehungsverfahren<br />

gem. § 423 StPO und das Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach<br />

§ 460 StPO erstreckt.<br />

b) Aufhebungsvoraussetzungen<br />

Aufgehoben werden kann die Bestellung, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt, § 143<br />

Abs. 2 S. 1 StPO n.F. Dies kommt in Betracht, wenn sich die Sach- und/oder Rechtslage ändert, der<br />

Beschuldigte beispielsweise anstatt eines Verbrechens nur noch eines Vergehens hinreichend verdächtig<br />

ist und Anklage deshalb, anders als zunächst zu erwarten war, nicht beim Schöffengericht, sondern<br />

beim Strafrichter erhoben wird.<br />

Hinweis:<br />

Eine solche Aufhebung ist jedoch nicht zwingend, sondern steht vielmehr im Ermessen des Gerichts.<br />

Zudem ist in der Gesetzesbegründung anerkannt, dass Gründe des Vertrauensschutzes die Fortdauer<br />

der Beiordnung gebieten können.<br />

aa) Entlassung aus der Anstaltsunterbringung<br />

Entfällt der Beiordnungsgrund des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F., ist eine Entpflichtung des Verteidigers nur<br />

möglich, wenn der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen<br />

wird, § 143 Abs. 2 S. 2 StPO n.F.<br />

bb) Hauptverhandlungshaft<br />

In Fällen der Hauptverhandlungshaft (§ 230 Abs. 2 StPO) soll nach Satz 3 die Bestellung mit der<br />

Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls, spätestens aber zum Schluss der Hauptverhandlung<br />

aufgehoben werden. Hiermit will der Gesetzgeber vermeiden, dass sich ein Beschuldigter<br />

durch Nichterscheinen in der Hauptverhandlung für diese und weitere Instanzen einen ihm<br />

nicht zustehenden Pflichtverteidiger verschafft.<br />

108 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 993<br />

Pflichtverteidigung<br />

cc) Freilassung nach Vorführung<br />

Erfolgt die Pflichtverteidigerbestellung aufgrund einer Vorführung zur Entscheidung über Haft oder<br />

einstweilige Unterbringung (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n.F.), soll die Bestellung aufgehoben werden, falls der<br />

Beschuldigte nach dem Ende der Vorführung auf freien Fuß gesetzt, also ein Haftbefehl nicht erlassen,<br />

aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt wird.<br />

c) Rechtsmittel<br />

Die Entscheidung über die Aufhebung kann gem. § 143 Abs. 3 StPO n.F. mit der sofortigen Beschwerde<br />

angefochten werden.<br />

5. Verteidigerwechsel, § 143a StPO<br />

Bislang enthielt das Gesetz lediglich eine Regelung über die Entbindung des Pflichtverteidigers für den<br />

Fall, dass demnächst ein anderer Verteidiger gewählt wird und dieser die Wahl annimmt (§ 143 StPO<br />

a.F.). Damit waren wesentliche Probleme wie das „Hinausdrängen“ des Pflichtverteidigers (hierzu<br />

HILLENBRAND <strong>ZAP</strong> F. 22, 851, 859) ungeregelt. Diesen Zustand hat der Gesetzgeber nunmehr bereinigt und<br />

den Verteidigerwechsel relativ umfassend normiert.<br />

Hinweis:<br />

Nicht gesondert geregelt wurde allerdings die einvernehmliche „Umbeiordnung“. Eine solche hat die<br />

Rechtsprechung bislang zugelassen, wenn der Beschuldigte und der bisherige sowie der neue Pflichtverteidiger<br />

mit dem Verteidigerwechsel einverstanden waren und hiermit weder eine Verzögerung des<br />

Verfahrens noch Mehrkosten für die Staatskasse verbunden sind. Diese Möglichkeit besteht unverändert<br />

fort (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 47).<br />

a) Mandatierung eines Wahlverteidigers<br />

§ 143a Abs. 1 S. 1 StPO n.F. schreibt vor, dass die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben ist, wenn<br />

der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat. Dies<br />

bedeutet eine Abweichung vom bisherigen Recht dahingehend, dass es nicht mehr genügt, dass ein<br />

anderer Verteidiger „demnächst“ gewählt wird. Die Pflichtverteidigerbestellung wird vielmehr erst<br />

dann aufgehoben, wenn das Mandat tatsächlich zustande gekommen ist (BT-Drucks 19/13829, S. 46).<br />

b) Kein „Hinausdrängen“ des Pflichtverteidigers<br />

In Satz 2 hat der Gesetzgeber zudem, die bisherige Rechtsprechung aufgreifend, festgelegt, dass die<br />

Aufhebung zu unterbleiben hat, wenn zu besorgen ist, dass der neue Verteidiger das Mandat demnächst<br />

niederlegen und seine eigene Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragen wird.<br />

Hinweis:<br />

Damit steht nunmehr nicht nur ein richterrechtliches, sondern auch ein gesetzliches Instrument gegen<br />

Versuche zur Verfügung, einen Pflichtverteidiger aus dem Mandat zu drängen, indem der neue Verteidiger<br />

sich zunächst als Wahlverteidiger legitimiert und alsbald nach der begehrten Entpflichtung des bisherigen<br />

Verteidigers seine eigene Beiordnung beantragt. Auch Verfahrensverzögerungen, die aufgrund der notwendigen<br />

Einarbeitung des neuen Verteidigers und etwaiger Terminkollisionen zu befürchten wären,<br />

lassen sich durch eine konsequente Anwendung dieser Vorschrift vermeiden.<br />

c) Sicherungsverteidiger<br />

Darüber hinaus kann die Beiordnung auch aufrechterhalten bleiben, wenn der Pflichtverteidiger neben<br />

dem neu hinzugekommenen Wahlverteidiger noch als Sicherungsverteidiger benötigt wird (vgl. § 144<br />

StPO n.F., s. unter III 6).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 109


Fach 22, Seite 994<br />

Pflichtverteidigung<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

d) Wechsel des Pflichtverteidigers<br />

Art. 7 Abs. 4 der PKH Richtlinie schrieb den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass der Beschuldigte<br />

das Recht hat, seinen Rechtsbeistand auswechseln zu lassen, sofern es die konkreten Umstände<br />

rechtfertigen. Diese Vorgabe wird durch § 143a Abs. 2 StPO n.F. umgesetzt.<br />

aa) Zu kurze Benennungsfrist<br />

Nach dessen Nr. 1 kann der Beschuldigte innerhalb von drei Wochen nach Bekanntmachung der<br />

Entscheidung über die Bestellung beantragen, ihm einen anderen, von ihm bezeichneten Verteidiger zu<br />

bestellen, wenn zuvor ein nicht von ihm benannter Verteidiger beigeordnet wurde (etwa weil der<br />

Wunschverteidiger aufgrund einer Terminkollision bei einer Vorführung nicht zur Verfügung stand) oder<br />

ihm nur eine kurze Frist zur Benennung eines Verteidigers gewährt werden konnte.<br />

Hinweis:<br />

Der neue Verteidiger wird jedoch nur beigeordnet, wenn kein wichtiger Grund entgegensteht. Insoweit<br />

gelten die Ausführungen zu § 142 Abs. 5 StPO n.F. entsprechend.<br />

Diese Neuregelung stellt für den Beschuldigten (trotz des Antragserfordernisses) durchaus einen<br />

Fortschritt dar. So dürfte es fortan leichter werden, einen vom Gericht ausgewählten Verteidiger<br />

auszuwechseln. Wenngleich der Gesetzgeber nicht geregelt hat, wann die Benennungsfrist „kurz“ ist,<br />

dürften damit zumindest die Fälle erfasst sein, in denen quasi direkt nach der Festnahme ein vom<br />

Gericht ausgesuchter oder „vorgeschlagener“ Verteidiger bestellt wird, hat doch der – nicht selten mit<br />

der Situation überforderte – Beschuldigte in dieser Situation kaum eine Möglichkeit, sein Benennungsrecht<br />

effektiv auszuüben.<br />

bb) Unzumutbarkeit für den Verteidiger<br />

Nr. 2 hingegen dient nicht primär dem Interesse des Beschuldigten, sondern schützt den Verteidiger,<br />

der für eine Vorführung vor dem Richter des nächsten Amtsgerichts gem. § 115a StPO beigeordnet wird,<br />

vor Pflichtmandaten, die er, insb. aufgrund unzumutbarer Entfernung zum künftigen Aufenthaltsort<br />

des Beschuldigten, nicht führen kann. In diesem Fall kann er nunmehr seine Entpflichtung beantragen.<br />

Der Antrag ist unverzüglich nach Beendigung der Vorführung zu stellen.<br />

cc) Zerrüttetes Vertrauensverhältnis<br />

Nr. 3 regelt schließlich Fälle, in denen das Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und dem<br />

Verteidiger endgültig zerstört ist oder aus einem anderen Grund eine angemessene Verteidigung des<br />

Beschuldigten nicht gewährleistet ist.<br />

Im Falle eines zerrütteten Vertrauensverhältnisses haben die Gerichte bereits bislang die Möglichkeit<br />

eines Verteidigerwechsels anerkannt. Die hierfür zu erfüllenden materiellen Voraussetzungen sowie die<br />

Darlegungsanforderungen bleiben unverändert. Es genügt also weiterhin nicht, wenn eine Zerstörung<br />

des Vertrauensverhältnisses lediglich pauschal behauptet wird. Vielmehr müssen weiterhin konkrete<br />

Umstände vorgetragen werden, die dem Gericht die Beurteilung ermöglichen, ob das Verlangen nach<br />

Aufhebung der Beiordnung sachlich gerechtfertigt ist (hierzu BURHOFF EV, Rn 3203 ff.).<br />

Darüber hinaus lässt Nr. 3 eine Entpflichtung auch dann zu, wenn aus einem sonstigen Grund keine<br />

angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Dies wird insb. in Betracht kommen,<br />

wenn der Verteidiger seine Aufgabe nicht pflichtgemäß erfüllt und etwa einen inhaftierten Mandanten<br />

über Monate hinweg nicht besucht oder nur in völlig unzureichendem Umfang an der<br />

Hauptverhandlung teilnimmt (OLG Stuttgart NStZ 2016,436). In extremen Fällen können zudem auch<br />

völlig unzureichende Rechtskenntnisse für eine Entpflichtung genügen (KG, Beschl. v. 29.7.2013 – 2Ws<br />

369/13).<br />

110 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 995<br />

Pflichtverteidigung<br />

Hinweis:<br />

Unfähigkeit des Verteidigers kommt jedoch nur höchst selten in Betracht. Insbesondere erfolgt keine<br />

Zweckmäßigkeitskontrolle der Verteidigungsstrategie durch das Gericht (KG, a.a.O.).<br />

e) Revisionsverteidiger<br />

Für die Revisionsinstanz kann der Beschuldigte nach § 143a Abs. 3 StPO n.F. nunmehr binnen einer<br />

Woche nach Beginn der Revisionsbegründungsfrist die Aufhebung der Bestellung des bisherigen und die<br />

Beiordnung eines neuen, von ihm bezeichneten Pflichtverteidigers beantragen. Der Gesetzgeber trägt<br />

damit dem Umstand Rechnung, dass aufgrund der jeweils unterschiedlichen Spezialisierungen häufig<br />

ein „Revisionsrechtler“ an die Stelle des Instanzverteidigers tritt.<br />

f) Rechtsmittel<br />

Auch gegen Entscheidungen nach § 143a StPO n.F. ist nunmehr die sofortige Beschwerde statthaft,<br />

§ 143a Abs. 4 StPO n.F.<br />

6. Zusätzliche Pflichtverteidiger, § 144 StPO<br />

Insbesondere in Umfangsverfahren mit mehreren Angeklagten bereitet es in der Praxis v.a. in Haftsachen<br />

häufig Schwierigkeiten, die Hauptverhandlung in einem dem Beschleunigungsgebot genügenden<br />

zeitlichen Rahmen durchzuführen. Es war deshalb auch vor der Gesetzesreform gängige Praxis,<br />

zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zusätzlich zu bereits mandatierten Wahl- oder<br />

Pflichtverteidigern weitere Verteidiger beizuordnen. Gesetzliche Regelungen zu diesen sog. Sicherungsverteidigern<br />

fehlten bislang.<br />

a) Umfangsverfahren<br />

Nunmehr bestimmt § 144 Abs. 1 StPO n.F., dass dem Beschuldigten bis zu zwei Pflichtverteidiger<br />

zusätzlich bestellt werden können, wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens,<br />

insb. wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit erforderlich ist.<br />

Hinweis:<br />

Wann eine Sache besonders schwierig oder besonders umfangreich ist, hat der Gesetzgeber nicht geregelt.<br />

Eine solche Regelung wäre angesichts der hohen Einzelfallabhängigkeit auch nicht sachgerecht<br />

gewesen. Hinsichtlich des Umfangs könnte jedoch eine Orientierung an § 76 Abs. 3 GVG, wonach die<br />

Mitwirkung eines dritten Berufsrichters i.d.R. notwendig ist, wenn die Hauptverhandlung voraussichtlich<br />

länger als zehn Tage dauern wird, erfolgen. In diesem Fall geht der Gesetzgeber offenbar von einem<br />

besonderen Umfang aus. Gleiches gilt für § 213 Abs. 2 StPO, der Verfahren mit voraussichtlich mehr als<br />

zehn Hauptverhandlungstagen als „besonders umfangreich“ bezeichnet. Wenngleich sich hieraus nicht<br />

ableiten lassen wird, dass in Fällen dieser Größenordnung stets weitere Pflichtverteidiger erforderlich<br />

sind, wird eine zusätzliche Beiordnung in diesen Fällen jedoch zumindest zu prüfen sein.<br />

Darüber hinaus können auch in der Person des Hauptverteidigers liegende Gründe weitere Beiordnungen<br />

erforderlich machen. Die Gesetzesbegründung nennt als Beispiel hierfür Krankheit.<br />

b) Beiordnung grundsätzlich bis zum Abschluss der Hauptverhandlung<br />

§ 144 Abs. 2 S. 1 StPO n.F. bestimmt, dass die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers aufzuheben ist,<br />

sobald seine Mitwirkung zur zügigen Durchführung des Verfahrens nicht mehr erforderlich ist. Dies<br />

wird bei umfangreichen Hauptverhandlungen freilich erst mit deren Abschluss der Fall sein (BT-Drucks<br />

19/13829, S. 50).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 2 22.1.<strong>2<strong>02</strong>0</strong> 111


Fach 22, Seite 996<br />

Pflichtverteidigung<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

c) Auswahl nach allgemeinen Regeln<br />

Für die Auswahl der weiteren Pflichtverteidiger gelten die allgemeinen Regelungen. Auch vor deren<br />

Bestellung muss der Beschuldigte Gelegenheit haben, konkrete Verteidiger zu bezeichnen.<br />

Hinweis:<br />

Die mitunter anzutreffenden Versuche einzelner Gerichte, die Auswahl der Sicherungsverteidiger selbst zu<br />

steuern, um, sozusagen als „Ausgleich“ für den möglicherweise eher unbequemen Hauptverteidiger, einen<br />

dem Gericht genehmeren Anwalt im Verfahren zu platzieren, sind daher nach wie vor unzulässig.<br />

d) Rechtsmittel<br />

Gegen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Bestellung weiterer Pflichtverteidiger ist die sofortige<br />

Beschwerde statthaft, § 144 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 7 S. 1 StPO.<br />

IV.<br />

Weitere Änderungen<br />

1. Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheidungen des OLG<br />

In erstinstanzlichen Verfahren vor dem Oberlandesgericht ist die (sofortige) Beschwerde gegen<br />

Entscheidungen, die die Bestellung eines Pflichtverteidigers oder deren Aufhebung betreffen, nicht mehr<br />

ausgeschlossen. Der Katalog des § 304 S. 2 StPO wurde entsprechend ergänzt.<br />

2. Strafbefehlsverfahren<br />

Eine weitere praxisrelevante Änderung betrifft das Strafbefehlsverfahren. Zunächst ist nunmehr durch<br />

die entsprechende Änderung des § 408b StPO ausdrücklich klargestellt, dass es sich bei einer auf<br />

Grundlage dieser Vorschrift erfolgenden Verteidigerbestellung um eine Pflichtverteidigung handelt.<br />

Darüber hinaus wurde die bisherige Verweisung auf § 143 Abs. 3 StPO a.F. gestrichen, so dass nunmehr<br />

insgesamt die §§ 141–144 StPO n.F. zur Anwendung kommen. Hieraus ergibt sich eine Verpflichtung des<br />

Gerichts, dem Beschuldigten auch im Strafbefehlsverfahren zunächst selbst die Auswahl eines Verteidigers<br />

zu ermöglichen (BT-Drucks 19/13829, S. 52).<br />

3. Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)<br />

Darüber hinaus erfolgten Änderungen im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)<br />

vor dem Hintergrund, dass eine aufgrund europäischen Haftbefehls gesuchte Person ab dem Zeitpunkt<br />

ihrer Festnahme bis zu ihrer Übergabe oder bis zur Entscheidung, sie nicht zu übergeben, gem. Art. 5<br />

Abs. 1 der PKH-Richtlinie Anspruch auf Prozesskostenhilfe hat. Diesen Anspruch hat der Gesetzgeber<br />

durch die Regelung einer notwendigen Rechtsbeistandschaft insb. in den §§ 40, 53 und 83j IRG n.F.<br />

umgesetzt.<br />

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