Leseprobe_Großer Ahornboden 2. Auflage
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Hermann Sonntag • Franz Straubinger (Hg.)<br />
<strong>Großer</strong><br />
<strong>Ahornboden</strong><br />
Eine Landschaft<br />
erzählt ihre Geschichte
Hermann Sonntag • Franz Straubinger<br />
Rainer Brandner • Christoph Spötl • Caroline von Nicolai<br />
<strong>Großer</strong><br />
<strong>Ahornboden</strong><br />
Eine Landschaft<br />
erzählt ihre Geschichte
Alle Rechte vorbehalten<br />
© 2014, 1. <strong>Auflage</strong><br />
© 2019, <strong>2.</strong> <strong>Auflage</strong><br />
www.berenkamp-verlag.at<br />
ISBN 978-3-85093-332-2<br />
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung<br />
Danksagung<br />
Für die Hilfe bei der Entstehung dieses Buches bedanken sich die Autoren sehr herzlich bei folgenden Personen und Institutionen:<br />
Thomas Bachnetzer, Universität Innsbruck/Institut für Archäologien ∙ Gerhard Elbers ∙ Christopher Engelhardt ∙ Alexander<br />
Erler ∙ Herbert Fuchs ∙ Franz Gruber, Weggemeinschaft Hinterriß-Eng ∙ Helmut Guglberger, Amt der Tiroler Landesregierung/Abt.<br />
Umweltschutz ∙ Günter Haselwanter ∙ Michael Haupolter, Amt der Tiroler Landesregierung/Abt. Umweltschutz ∙<br />
Anton Heufelder, Naturpark Karwendel ∙ Hubert Heuschild ∙ Karl Höger, Obmann Engbauern ∙ Sina Hölscher, Naturpark<br />
Karwendel ∙ Reinhard Hölzl ∙ Günter Holzhammer ∙ Manfred Kahlen ∙ Bernhard Kelz ∙ Thomas Kiebacher, WSL ∙ Florian<br />
Kunz ∙ Landesarchiv Tirol ∙ Franz Legner, Amt der Tiroler Landesregierung/Abt. Bodenordnung ∙ Robert Laimgruber ∙ Otto<br />
Leiner, Amt der Tiroler Landesregierung/Abt. Umweltschutz ∙ Gottfried Mariacher, Gemeindearchiv Vomp ∙ Hannelore Müller-Scherz<br />
∙ Familie Murböck · Sabine Nairz ∙ Ralf Northe ∙ Maria Pilgermair ∙ Sebastian Pilloni ∙ Daniela Pöll, Amt der<br />
Tiroler Landesregierung/Abt. Umweltschutz ∙ Silvester Rainer, Österreichische Bundesforste ∙ Anita Mair-Rehm ∙ Florian Rinderer<br />
∙ Sandra Rinner, Amt der Tiroler Landesregierung/Abt. Umweltschutz ∙ Stefan Ritter, Alpenarchiv München ∙ Hannah<br />
Rudiger ∙ Andreas Schäfferling ∙ Herbert Schafhuber ∙ Dieter Schäfer, Universität Innsbruck/Institut für Archäologien ·<br />
Carl Schenk ∙ Jonas Schirrmacher ∙ Rudolf Schuster ∙ Maik Sommerhage ∙ Norbert Stadler, Binsalm ∙ Reinhard Starnberger,<br />
Universität Innsbruck/Institut für Geologie ∙ Max Steger ∙ Bernhard Steinlechner · Petra Steinmüller ∙ Heinrich<br />
und Henriette Stepanek ∙ Andreas Stern ∙ Fotoarchiv Stockhammer ∙ Dieter Stöhr, Amt der Tiroler Landesregierung/Gruppe<br />
Forst ∙ Ulrike Töchterle, Universität Innsbruck/Institut für Archäologien ∙ Anton Vorauer ∙ Michael Walzer, Tirol Werbung ∙<br />
Erwin Weiss ∙ Stefan Wolf ∙ u. v. m.<br />
Wir danken für Ihr Verständnis, dass Teile des historischen Bildmaterials heutigen Ansprüchen nicht genügen.<br />
Die Bilder haben jedoch hohen dokumentarischen Wert, und sie dienen der Information,<br />
weshalb die Autoren nicht darauf verzichten wollten.<br />
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />
der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis<br />
Einleitung<br />
Eine Landschaft im Miteinander von Mensch und Natur 9<br />
Hermann Sonntag und Franz Straubinger<br />
1 Wind und Wetter 17<br />
Den Elementen trotzen<br />
Hermann Sonntag und Franz Straubinger<br />
Von der Witterung gezeichnet 17<br />
Steinreicher Lebensraum 25<br />
2 Spuren von Stein und Eis 35<br />
Die geologische Entstehung der Landschaft<br />
Außergewöhnliche Landschaft – außergewöhnliche Geologie 35<br />
Rainer Brandner<br />
Die Nördlichen Kalkalpen am Rand zweier Ozeane 36<br />
Reste verschwundener Meere 37<br />
Die Karwendel-Plattform – ein Schlüssel zum Verständnis des Deckenbaus 42<br />
Von der Eiszeit zur heutigen Warmzeit –<br />
Das Werden der Landschaft am Großen <strong>Ahornboden</strong> 49<br />
Christoph Spötl<br />
Der glaziale Hobel 49<br />
Ein Staudamm entsteht 55<br />
Das Ende des <strong>Ahornboden</strong>sees 57<br />
Muren in der Kleinen Eiszeit 57<br />
3 Der Bergahorn –<br />
Der Hauptdarsteller am Großen <strong>Ahornboden</strong> 61<br />
Hermann Sonntag<br />
Den Wurzeln auf den Grund gehen 61<br />
Eine bescheidene, aber wertvolle Baumart im Bergwald 64<br />
Prominent auf der Weide – Bergahornweiden in den Nordalpen 64<br />
Universum im Kleinen – der Bergahorn als Lebensraum 68<br />
Die Tierwelt am Großen <strong>Ahornboden</strong> 73
4 Landwirtschaft auf der Eng-Alm 81<br />
Von der „Hungeralpe“ zur größten Almfläche des Karwendels<br />
Caroline von Nicolai und Franz Straubinger<br />
Archäologie im Karwendel. Von der Steinzeit bis ins Mittelalter 81<br />
Steinzeitliche Jäger und Sammler in der Karwendelwildnis 81<br />
Erste Hirten und Ackerbauern in den Alpen 85<br />
Bergbau und Almwirtschaft in der Bronzezeit 87<br />
Das Salz der Eisenzeit 90<br />
Die Römerzeit 91<br />
Mittelalter und Neuzeit aus archäologischer Sicht 91<br />
Mittelalter und Neuzeit 96<br />
Allgemeine Geschichte oder regionale Geschichten? 96<br />
Die „Hungeralpe“ im Dunkel der Quellenlage –<br />
Krieg, Pest und die Kleine Eiszeit 97<br />
Almwirtschaft als Landschaftsgestalterin 99<br />
Gesellschaftswandel in der Frühen Neuzeit 101<br />
Die Obrigkeit auf der Alm – Jagd und Wilderei 101<br />
Anfänge der Jagd im Mittelalter 101<br />
Jagdverbot für Bauern als Herrschaftsinstrument – Wilderei aus Not 108<br />
Sozialgeschichte in Hinterriß 109<br />
Wilderei heute: mit Kleinkaliber und E-Bike 111<br />
Almleben heute – Moderne und Tradition in der Eng-Alm 111<br />
Unveränderte Gemeinschaftsalm? 111<br />
Produktionssteigerung in der industrialisierten Landwirtschaft 115<br />
Gebändigtes Wasser: die Verbauung des Enger Grundbachs 115<br />
5 Tourismus 121<br />
Naturromantik und Gipfelrausch<br />
Franz Straubinger<br />
„Von Wiesen ist’s und Ahornbäum’ umzogen“:<br />
Anfänge des Bergtourismus im 19. Jahrhundert 121<br />
Erste „Touristen“ im Karwendelkalk: der romantische „Landschafter“ 123<br />
Bergsteigerpioniere im Karwendel 124<br />
Nach den Gipfeln die Wände: erste Kletterer 128<br />
Schattenseiten des Alpinismus: Nationalismus und Antisemitismus 128<br />
„Fremdenverkehr“ – motorisierter Ausflugstourismus ab 1950 129<br />
Urlaub mit dem Auto! Erschließung für den Massentourismus 129<br />
Viele Gäste, viel Engagement 133<br />
<strong>Ahornboden</strong>-Tourismus heute – Besucherstrom ins Naturjuwel 133<br />
Die gesellschaftliche Entwicklung in Mautzahlen 133<br />
Neue Trends: Outdoor und Naturerlebnis 134
6 Naturschutz 147<br />
Von der gesetzlichen Unterschutzstellung zur Zukunft des<br />
Großen <strong>Ahornboden</strong>s<br />
Hermann Sonntag<br />
Der Weg der Naturschutzbewegung bis zur Ankunft am <strong>Ahornboden</strong> 147<br />
1989: Neuverordnung und Erweiterung 148<br />
Schutz der Bergahorne in eigener Verordnung geregelt 148<br />
Den Generationswechsel einleiten 149<br />
Neuer Managementplan stellt die Weichen für die Zukunft 152<br />
7 Der Naturpark Karwendel. 161<br />
Weit mehr als nur die Umgebung des Großen <strong>Ahornboden</strong>s<br />
Hermann Sonntag<br />
Der Naturpark Karwendel – ein Verbund von elf Schutzgebieten 161<br />
Naturschutzgebiete 163<br />
Der Kern des Naturparks: das Naturschutzgebiet Karwendel 164<br />
Naturschutzgebiete Martinswand & Fragenstein 168<br />
Ruhegebiete 173<br />
Ruhegebiet Eppzirl 174<br />
Ruhegebiet Achental-West 178<br />
Landschaftschutzgebiete 183<br />
Landschaftschutzgebiet Martinswand-Solstein-Reither Spitze 184<br />
Landschaftschutzgebiet Nordkette 188<br />
Landschaftschutzgebiet Bärenkopf 192<br />
Landschaftschutzgebiet Falzthurntal-Gerntal 196<br />
Landschaftschutzgebiet Vorberg 198<br />
Landschaftschutzgebiet <strong>Großer</strong> <strong>Ahornboden</strong> 200<br />
Natura 2000 203<br />
8 Unsere Top Ten: 205<br />
ein Streifzug zu jenen Plätzen, die man gesehen haben muss<br />
Hermann Sonntag und Franz Straubinger<br />
Die Literatur zum Nach- und Weiterlesen 210<br />
Die Bilder 215<br />
Die Autoren 216<br />
Zeittafel 218<br />
Steckbrief zum Naturpark Karwendel 220
Einleitung<br />
Eine Landschaft im Miteinander<br />
von Mensch und Natur<br />
Hermann Sonntag und Franz Straubinger<br />
Im Herz der Nördlichen Kalkalpen, inmitten<br />
des Karwendelgebirges, findet sich ein<br />
entlegener Talboden, auf dem unzählige<br />
Ahornbäume wachsen. Unter den ragenden<br />
Felswänden der Spritzkarspitze ziehen diese<br />
knorrigen Methusaleme, schon seit Generationen<br />
den alpinen Witterungen trotzend, die<br />
Besucher in ihren Bann. Obwohl von mancher<br />
Laune des Wetters gezeichnet, geben ihre Äste<br />
den grasenden Kühen der Eng-Alm und dem<br />
noch zarten Baumnachwuchs Schutz.<br />
Die Einzigartigkeit des Großen <strong>Ahornboden</strong>s<br />
beruht aber nicht allein auf der im gesamten<br />
Alpenraum unübertroffenen Dichte<br />
an Ahornbäumen. Vielmehr verleiht das sonderbare<br />
Zusammenspiel gegensätzlicher Kräfte<br />
dieser Landschaft einen Zauber, der jeden<br />
Naturfreund bestrickt. Die Kräfte von Stein<br />
und Eis sind in den fein abgeschliffenen Talwänden<br />
noch verblüffend gegenwärtig. Auch<br />
die abweisenden Kalkwände des Karwendelhauptkamms,<br />
die den Talschluss bilden, bleiben<br />
menschlichen Zeitmaßstäben fremd. Der<br />
grüne Talboden selbst dagegen wirkt lieblich,<br />
zwischen dem Glockengeläut der Almkühe<br />
und im Schatten der bemoosten Bergahorne<br />
rasten Bergsteiger und Wanderer. Buttermilch<br />
und Käse der seit Jahrhunderten bewirtschafteten<br />
Eng-Alm finden nicht nur bei Sportlern<br />
Anklang, durch die Mautstraße ist der Große<br />
<strong>Ahornboden</strong> für eine ganze Schar von Ausflüglern<br />
erreichbar. Doch der Mensch ist hier nicht<br />
nur Gast, durch die Almwirtschaft ist er auch<br />
ein gestaltender Teil dieser Landschaft geworden.<br />
Wie viele Hände an dem feinen Netz weben,<br />
das uns in der Gestalt des Großen <strong>Ahornboden</strong>s<br />
zum Staunen bringt, ist damit nur an-<br />
9
10
Die einzigartige Landschaft des Großen <strong>Ahornboden</strong>s<br />
hat viele Facetten. Dieses Bild versammelt<br />
die meisten Elemente der Landschaft in<br />
sich: Zwischen den vom Gletscher geschliffenen<br />
Wänden ragt im Hintergrund die Kalkwand<br />
der Spritzkarspitze auf, deren Schotterreißen<br />
der Fluss über den Talboden verbreitet.<br />
Im Vordergrund weiden die Kühe, die selbst in<br />
einer jahrhundertelangen Tradition der Almwirtschaft<br />
stehen und maßgeblich die Landschaft<br />
mitprägen. Schließlich kaum zu übersehen<br />
und namensgebendes Charakteristikum<br />
des Großen <strong>Ahornboden</strong>s: der Bergahorn, der<br />
in unzähligen Individuen diesen Talboden besiedelt.<br />
Weniger auffallend dagegen ist hier die<br />
Straße, auf deren Windungen zahlreiche Besucher<br />
anreisen. Jedes dieser Elemente hat eine<br />
eigene, komplexe Geschichte.<br />
11
gedeutet. Die Bergahorne, von denen selbst die<br />
gekrümmtesten Exemplare mit ruhevoller Kraft<br />
jedes Jahr wieder austreiben, versinnbildlichen<br />
die Dauer der Jahrhunderte. Darum scheint<br />
diese Landschaft geradezu darauf zu warten,<br />
uns ihre Geschichte zu erzählen. Vielleicht bilden<br />
die Ahornbäume, deren Älteste als Keimlinge<br />
im Mittelalter sprossen, eine Brücke von<br />
der Ewigkeit der Gebirge zum vergänglichen<br />
Augenblick des menschlichen Lebens? Die Geschichte<br />
des Großen <strong>Ahornboden</strong>s ist jedenfalls<br />
die Geschichte einer Landschaft mit vielen Facetten:<br />
Neben der geologischen Entstehung und<br />
den klimatischen Bedingungen, der Almwirtschaft<br />
und dem Tourismus (dessen Wurzeln bis<br />
ins 19. Jahrhundert zurückreichen) sind freilich<br />
auch die Bergahorne selbst charakteristisch. Sie<br />
sind nicht nur ganz besonders an den alpinen<br />
Lebensraum angepasst, sie beheimaten auch<br />
selbst zahlreiche Moos-, Vogel- und Fledermausarten!<br />
Schließlich stellt die komplexe Geschichte<br />
des Großen <strong>Ahornboden</strong>s auch die Frage nach<br />
seiner Zukunft. Was über jahrhundertelange<br />
sanfte Bewirtschaftung entstand, bedarf ebenso<br />
großer Sorgfalt in Zeiten maximaler Produktionssteigerung.<br />
Der fast hundertjährige Schutz<br />
dieser Landschaft in Tirols ältestem Naturschutzgebiet<br />
ist selbst eine erzählenswerte Geschichte.<br />
Darüber hinaus öffnen die Entstehung<br />
und Bewahrung dieses Naturjuwels den Blick<br />
auf unseren Umgang mit der Natur überhaupt.<br />
Am Faszinosum „<strong>Großer</strong> <strong>Ahornboden</strong>“ kristallisiert<br />
sich auch ein mögliches Verhältnis von<br />
Mensch und Natur, das nicht nur im Eng-Tal<br />
gelten muss.<br />
Um der Besonderheit dieser Landschaft gerecht<br />
zu werden, versuchen wir, ihr Porträt aus<br />
vielen verschiedenen Blickwinkeln zu zeichnen.<br />
Es geht uns dabei weniger um Lückenlosigkeit<br />
als vielmehr darum, einen informativen<br />
und soliden Überblick zu schaffen, der aber offen<br />
ist für die individuelle Begeisterung und die<br />
persönliche Perspektive.<br />
Wir freuen uns über Ihr Interesse an der<br />
Natur und am Großen <strong>Ahornboden</strong> und wünschen<br />
viel Freude beim Lesen!<br />
12
13
14
15
1Wind und Wetter<br />
Den Elementen trotzen<br />
Zu jeder<br />
Jahreszeit hat der<br />
Große <strong>Ahornboden</strong><br />
seinen Reiz<br />
Hermann Sonntag und Franz Straubinger<br />
Im Frühling ist es das frische Grün der alten<br />
Bäume, im Almsommer die Präsenz<br />
der Kühe, im Herbst die Laubfärbung, die<br />
tausende Besucher fasziniert, und im Winter<br />
ist es schlichtweg die Ruhe. In all diesen so<br />
charakteristischen Momenten scheint die Landschaft<br />
fast unwirklich friedlich. Jedoch sind<br />
diese idyllischen Momente der völligen Ruhe<br />
eher die Ausnahme. Tatsächlich liegt das zwischen<br />
1.120 m Seehöhe am Nordende des Großen<br />
<strong>Ahornboden</strong>s und 1.282 m im Enger Grund<br />
gelegene Eng-Tal nicht nur symbolisch im Herzen<br />
des Karwendelgebirges. Das alpine Klima<br />
hält auch diese Landschaft in seinem manchmal<br />
erbarmungslosen Griff.<br />
Von der Witterung gezeichnet<br />
Die Bergahorne geben uns bereits auf den ersten<br />
Blick zahlreiche Spuren der Witterung preis. Sie<br />
sind nicht gewachsen wie brave Spalierbäume,<br />
sondern von der Witterung am <strong>Ahornboden</strong><br />
sichtlich gezeichnet. Hier fehlt ein großer Ast,<br />
dort stehen einzelne Bäume, im Inneren völlig<br />
hohl, und hie und da findet sich nur mehr<br />
ein aufrechter Baumstumpf, der vielleicht noch<br />
an einem einzelnen Ast belaubt ist. Welchen<br />
genauen Einflüssen sind die Ahorne über die<br />
Jahrhunderte ausgesetzt, dass sie sich zu solchen<br />
Gestalten entwickelt haben?<br />
17
18
Vergleichsbilder 1922 und 2013 Frühling<br />
und 2013 Herbst. Die Vergleichsserie<br />
1922 und 2013 desselben Bergahorns<br />
über mehr als 90 Jahre zeigt eindrucksvoll,<br />
wie „der Zahn der Zeit“ auch<br />
an diesen stolzen Exemplaren nagt. Sogar<br />
innerhalb eines Jahres musste dieser Bergahorn<br />
wieder Äste lassen.<br />
19
20
Jeder Bergahorn entwickelte durch den massiven<br />
Einfluss der Elemente sein eigenes Aussehen. Zahlreiche<br />
alte Exemplare haben überraschenderweise<br />
trotz Verlusts des inneren Stützapparats ihre Vitalität<br />
erhalten. Zu guter Letzt bleibt oftmals nur mehr<br />
der Baumstumpf übrig.<br />
21
Vordergründig wären hier die „klassischen“<br />
Einflüsse im Hochgebirge zu nennen, welche in<br />
unterschiedlicher Ausprägung und Intensität<br />
für den gesamten Alpenbogen zutreffen: Wind,<br />
Schnee, Lawinen.<br />
Beim Wind ist es einfach. So ist schon allein an<br />
der Verteilung der Moose, Flechten und Farne<br />
an den Stämmen der alten Ahorne die Hauptwindrichtung<br />
und sog. „Wetterseiten“ leicht zu<br />
erkennen. Für das Gedeihen der Bergahorne,<br />
die aufgrund der umgebenden Bergketten in<br />
gewisser Weise geschützt sind, spielt der Wind<br />
aber nur eine unwesentliche Rolle.<br />
Viel entscheidender sind hier schon die Lawinen,<br />
welche – gerade die oft hohlen und daher<br />
um ihren Stützapparat beraubten – alten Bergahorne<br />
hart treffen können. Der sprichwörtlich<br />
„weiße Tod“ hat dabei unterschiedliche Gesichter.<br />
Ob als Staublawine, deren Zerstörungskraft<br />
auf Luftdruckschwankungen basiert, oder die<br />
im Frühling immer wieder anzutreffende Nassschneelawine:<br />
In der Chronik der Eng-Alm sind<br />
solche, aus Sicht der Bewirtschafter teils katastrophale,<br />
Ereignisse immer wieder dokumentiert.<br />
Oftmals waren davon auch die Bergahorne<br />
betroffen. Das dritte Gesicht des Schnees am<br />
<strong>Ahornboden</strong> ist der verfrühte Wintereinbruch<br />
im Sommer oder Herbst. Für den Fotografen ein<br />
lohnendes Motiv, stellt der Schnee im Sommer<br />
nicht nur für das Weidevieh, sondern auch für<br />
die Bergahorne eine Bedrohung dar. Die riesige<br />
Last des oftmals nassen Schnees auf den<br />
belaubten Ästen hat schon viele knorrige Gestalten<br />
einen erheblichen Teil ihres Aussehens<br />
gekostet.<br />
Wie viel es tatsächlich schneit, das können wir<br />
sogar genau sagen: In Hinterriß steht eine Messstation<br />
des Hydrographischen Dienstes in Tirol,<br />
die fleißig Niederschlagswerte und Temperaturen<br />
aufzeichnet. Dank ihr haben wir handfeste<br />
Daten zur Witterung der letzten 30 Jahre. So<br />
beträgt die Jahresdurchschnittstemperatur in<br />
Hinterriß, auf 920 m Seehöhe, gerade einmal<br />
5,1 °C. Zum Vergleich: München hat etwa einen<br />
Durchschnitt von 9,7 °C, Innsbruck von 8,9 °C<br />
(Quellen: DWD/ZAMG). Was das bedeutet,<br />
wird deutlicher, wenn man die jahreszeitliche<br />
Verteilung beachtet: Von November bis einschließlich<br />
März liegen die Temperaturen im<br />
Durchschnitt der letzten 30 Jahre zwischen 0<br />
und -5 °C. Jeden Winter sinken hier die Temperaturen<br />
punktuell auf -15 bis -20 °C ab. In man-<br />
Wie aus zahlreichen Eintragungen in der Chronik der Eng-Alm ersichtlich,<br />
sind große Lawinen in der Eng keine Seltenheit.<br />
22
So sieht Wildflussdynamik aus!<br />
Der Rißbach zwischen Hoch- und Niedrigwasser.<br />
chen Wintern liegt von Anfang November bis<br />
Ende April durchgehend Schnee, und dass der<br />
von den Almbauern gefürchtete „Maischnee“<br />
keine Seltenheit ist, zeigen diese Daten auch.<br />
Im Jahr 1991 bildete sich sogar am 18. Juni noch<br />
einmal eine Schneedecke! Dabei handelt es sich<br />
hierbei wohlgemerkt um die Aufzeichnungen<br />
aus Hinterriß, das 300 Meter tiefer liegt als der<br />
Große <strong>Ahornboden</strong>.<br />
Am Großen <strong>Ahornboden</strong> selbst steht nur ein Ombrometer,<br />
der die Regenstärke misst. Aus seinen<br />
Daten geht hervor: Es ist feucht. Mit 1.723 mm<br />
durchschnittlichem Jahresniederschlag herrschen<br />
hier fast schottische Verhältnisse! Es<br />
regnet etwa doppelt so viel wie in München<br />
(944 mm) oder Innsbruck (883 mm). Entscheidend<br />
sind aber vor allem die Starkregenereignisse,<br />
wie sie im Zuge des Klimawandels nun<br />
auch in trockeneren Gegenden auftreten. Am<br />
<strong>Ahornboden</strong> haben sie zwar schon eine längere<br />
Geschichte, ihre entfesselte Gewalt – verstärkt<br />
durch den Trichtereffekt des Gebirges – ist jedoch<br />
um keinen Deut geringer.<br />
In Hinterriß zeichnete die Messstation innerhalb<br />
der letzten 30 Jahre drei Mal extreme Regengüsse<br />
mit 125 bis 150 mm Niederschlag innerhalb<br />
eines Tages auf. Starkregenereignisse<br />
wie diese lassen die Alpenflüsse innerhalb von<br />
Minuten anschwellen und über die Ufer treten.<br />
Dies zeigen uns auch die Pegelwerte des<br />
bayrischen Wasserwirtschaftsamtes von der<br />
Rißbachklamm direkt an der Staatsgrenze zwischen<br />
Hinter- und Vorderriß. Nach einem starken<br />
Regen macht der Wildfluss seinem Namen<br />
Ehre und schwillt in kürzester Zeit zu einer<br />
reißenden Naturgewalt an. Der normale Abflusswert<br />
von 9 m 3 /s erreicht dann sein Zehnfaches<br />
– der „mittlere Hochwasserabfluss“ liegt<br />
bei 82 m 3 /s. Besonders extreme Regenfälle, wie<br />
sie in den letzten Jahren vermehrt auftreten,<br />
zum Beispiel 1999 und 2005, erreichen sogar<br />
einen Wert von knapp 350 m 3 /s! Diese Wassermassen<br />
gestalten das Bett des Flusses jedes Mal<br />
grundsätzlich neu, indem sie das Geröll des<br />
Karwendelkalks mal da, mal dort als Geschiebe<br />
ablagern. Die Mündung des Rißbachs in die<br />
23
24<br />
Eine Nassschneelawine im Frühling 1984 und ihre Auswirkungen
Isar ist daher nicht nur erstaunlich breit – sie<br />
ist auch sagenhaft tief: Ganze 300 Meter reicht<br />
das Schotterbett bis auf den „eigentlichen“ Talgrund<br />
hinab, den die Gletscher mehrerer Eiszeiten<br />
ausgeschliffen und Isar und Rißbach im<br />
Lauf von Jahrtausenden aufgefüllt haben.<br />
Doch nicht nur an der Mündung schafft der<br />
Rißbach Schotterhalden. Schon sein Zufluss, der<br />
Enger Grundbach, hat eine enorme Schotterebene<br />
gestaltet: den Großen <strong>Ahornboden</strong>.<br />
Steinreicher Lebensraum – vom<br />
Schotter nicht genug bekommen<br />
Aber die wirklich entscheidenden Faktoren für<br />
das Antlitz der Ahorne und das Gesicht des<br />
<strong>Ahornboden</strong>s insgesamt ist die Kombination<br />
aus den klassischen Sommergewittern und dem<br />
übermäßigen Angebot an Karwendelschotter.<br />
Sie sind die besten Voraussetzungen für Muren<br />
und Überschwemmungen – und dies seit der<br />
letzten Eiszeit. Mit dem Enger Grundbach hatte<br />
der Große <strong>Ahornboden</strong> bis in die 60er Jahre<br />
des letzten Jahrhunderts einen dankbaren und<br />
fleißigen Schotterlogistiker, der dafür sorgte,<br />
dass die Bergahorne teils mehrere Meter tief im<br />
Kalkschutt stecken.<br />
Die Überschotterung mag für den einzelnen<br />
Ahornbaum vielleicht zu viel des Guten sein,<br />
für den Gesamtbestand aber ist dies ein regelrechter<br />
Segen, weil sie den Ahornbäumen einen<br />
Selektionsvorteil gegenüber anderen Baumund<br />
Straucharten sichert. Der Bergahorn hat<br />
sich – sowohl was seine Toleranz gegenüber<br />
Steinschlag betrifft, als auch aufgrund seiner<br />
Wurzelhorizonte – optimal an diese Gegebenheiten<br />
angepasst. Der Enger-Grundbach als<br />
verlässlicher Schotterlieferant wurde somit zum<br />
wesentlichen Architekten des Großen <strong>Ahornboden</strong>s!<br />
25
26
Wintereinbruch im Sommerhalbjahr. Mit „unregelmäßiger<br />
Regelmäßigkeit“ kommt es zu Wintereinbrüchen<br />
während der Almsaison. Mai 1986 (oben), Oktober 2013<br />
(unten).<br />
Im Speziellen bei Nordstaulagen im Winter sind große<br />
Schneemengen am <strong>Ahornboden</strong> garantiert (links).<br />
27
28
Flugaufnahme vom Großen <strong>Ahornboden</strong>.<br />
Im Bild ist sehr gut die unterschiedliche<br />
Verteilung der Bergahorne zu erkennen,<br />
die unter anderem auf den Muren- und<br />
Lawinenstrichen basiert.<br />
29
30
Bild links: Rißbachmündung in Vorderriß, April 2013. Große Geschiebemengen werden aus dem<br />
Rißtal Richtung Isar transportiert und bilden typische alpine Wildflusslandschaften mit sehr spezialisierten<br />
Lebensgemeinschaften. Bild oben: Badewanne <strong>Ahornboden</strong>, Juli 2014. Innerhalb weniger<br />
Stunden steigen der Enger-Grundbach und der Blaubach rasch an und verwandeln Teile des<br />
<strong>Ahornboden</strong>s in eine große Wasserfläche. Vor der Verbauung in den 1960er Jahren führte dies zu<br />
massivem Geschiebetransport aus dem Enger Grund und den Seitengräben (siehe Kapitel 4.4 –<br />
„Almleben heute“).<br />
31
32<br />
Berühmt-berüchtigt. Zwischen<br />
einem trockenen Bachbett und<br />
reißenden Bächen liegen im Karwendel<br />
oft nur wenige Stunden.
33
Mit diesem Buch über den Großen <strong>Ahornboden</strong> wird die<br />
Geschichte der Landschaft im Herzen des Karwendels<br />
umfassend erzählt. Basierend auf jahrelangen<br />
Recherchen und aktuellen Forschungserkenntnissen<br />
laden Hermann Sonntag und Franz Straubinger die Leser<br />
ein, den <strong>Ahornboden</strong> aus verschiedenen Blickrichtungen<br />
zu betrachten. Unterstützt wurden sie bei dieser<br />
Spurensuche von den beiden renommierten Geologen<br />
Rainer Brandner und Christoph Spötl sowie der<br />
Archäologin Caroline von Nicolai, die ihrerseits neueste<br />
Erkenntnisse aus der eigenen Forschungstätigkeit hier erstmalig<br />
publizieren. Herausgekommen ist schlussendlich ein<br />
Buch, das es möglich macht, über die Vielzahl<br />
unterschiedlicher Einflüsse die Komplexität der Landschaft<br />
zu verstehen. Solche Lektüre ist nicht nur unterhaltsam<br />
und informativ, sie ermöglicht darüber hinaus eine<br />
Vertiefung der eigenen Landschaftserfahrung – nicht nur<br />
am Großen <strong>Ahornboden</strong>.<br />
ISBN: 978-3-85093-332-2<br />
www.berenkamp-verlag.at<br />
www.kraftplatzl.com