KURT Jan./Feb. 2020
KURT - Dein Magazin für Gifhorn Ausgabe Januar/Februar 2020
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Ausgabe Januar/Februar 2020
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Glauben & Zweifeln<br />
Glauben & Zweifeln<br />
„Das Gute, dieser Satz steht fest,<br />
ist stets das Böse, was man lässt“<br />
Wie könnte er aussehen, der gesellschaftliche Konsens im Handeln für das Gute?<br />
„Mitunter verzweifele ich<br />
an meiner eigenen Unfähigkeit,<br />
das Gute, von<br />
dem ich überzeugt bin,<br />
auch wirklich zu tun“,<br />
sagt Martin Wrasmann.<br />
Wem geht es genauso?<br />
Foto: Çağla Canıdar<br />
Gerade zu Beginn eines Jahres sind sie wieder da, die guten Vorsätze,<br />
sportliche, soziale, beziehungsbezogene, körperliche... Ich habe<br />
mir wieder ins Bewusstsein gerufen, an das Gute im Menschen zu<br />
glauben; was auch sonst soll ich tun als gläubiger Mensch. Mitunter<br />
verzweifele ich an meiner eigenen Unfähigkeit, das Gute, von dem<br />
ich überzeugt bin, auch wirklich zu tun. Der einzige Trost: Ich kenne<br />
zu viele, denen es genauso geht. Oder anders formuliert: Warum<br />
gibt es immer wieder dieses Handeln gegen das bessere Wissen?<br />
Von Martin Wrasmann<br />
Angesichts der großen Herausforderungen<br />
in der Klimaentwicklung<br />
und der bedrohenden<br />
Szenarien handeln wir<br />
immer noch so, als gäbe es Optionen<br />
für alles Mögliche. Wir<br />
als BRD verkaufen Waffen in<br />
die Türkei und wundern uns,<br />
dass sie diese auch anwenden<br />
wollen. Was für ein Zynismus.<br />
In der Jahreslosung der evangelischen<br />
Kirche 2019 hieß es:<br />
„Suche den Frieden und jage<br />
ihm nach.“ Ein klarer Auftrag,<br />
wie er schon seit Jahrtausenden<br />
im Psalm 34 formuliert ist.<br />
Frieden steht zu Beginn<br />
eines neuen Jahres auf der<br />
Wunschliste vieler Menschen<br />
ganz oben. In der katholischen<br />
Kirche ist der 1. <strong>Jan</strong>uar<br />
der Weltfriedenstag. Frieden<br />
ist eine zentrale Sehnsucht<br />
der Menschheitsgeschichte,<br />
es gibt tausende Bilder und<br />
Beschreibungen, wie die Wege<br />
zu einem Frieden im Großen<br />
wie im Kleinen aussehen können<br />
– und dennoch ist eine<br />
der größten Erfahrungen der<br />
Menschheitsgeschichte der<br />
Unfriede. Handeln wider besseres<br />
Wissen!<br />
„Einsicht fehlt den meisten<br />
nicht, ganz anders liegt der<br />
Grund: Was recht ist, sehen<br />
wir und wissen wir, und tun es<br />
doch nicht, seis aus Lässigkeit,<br />
seis, weil die Lust des Augenblicks<br />
das Werk verdrängt,<br />
und mancherlei Verlockung<br />
gibt‘s: endlos Geschwätz, den<br />
lieben Müßiggang, die falsche<br />
Scham, die alles unterdrückt.“<br />
Wer kennt sie nicht aus eigener<br />
– oft leidvoller! – Erfahrung,<br />
wovon die Königin<br />
Phaedra in Euripides „Hippolytos“<br />
spricht. Philosophen aller<br />
Epochen haben sich mit diesem<br />
Dilemma auseinandergesetzt,<br />
von Sokrates bis Precht<br />
von Seneca bis Sloterdijk, und<br />
die Klugen anderer anthropologischer<br />
Disziplinen haben<br />
viele Theorien entwickelt,<br />
aber schlussendlich nicht die<br />
alles befriedigende Lösung gefunden.<br />
Auch mir wird das hier<br />
nicht gelingen. Ich will aber<br />
die beste aller Möglichkeiten<br />
beschreiben, wie wir einen gesellschaftlichen<br />
Grundkonsens<br />
im Handeln für das Gute umsetzen<br />
können.<br />
Erstens: den Grundkonsens<br />
verständigen. Das ist übrigens<br />
schon oft geschehen, ich denke<br />
an Kants kategorischen Im-<br />
perativ oder das Doppelgebot<br />
der Liebe im neuen Testament<br />
oder die Gott-Mensch-Beziehung<br />
als Liebesbeziehung<br />
im Koran (Sure 5, 54). Also so<br />
schwer kann das nicht sein.<br />
Zweitens braucht es dann<br />
Regeln für die Umsetzung des<br />
Konsenses, geschichtlich erprobt<br />
haben sich da Verbote,<br />
die das Leben regeln. Nur auf<br />
Freiheit zu setzen, hat sich<br />
nicht bewährt. Im Übrigen<br />
hat es vor aller Verständigung<br />
von Menschen Gebote<br />
gegeben, zehn, von denen<br />
manche klugen Leute sagen,<br />
alle Gesetze, die es gibt, gäbe<br />
es nur, um den Zehn Geboten<br />
Ausdruck zu verleihen.<br />
Drittens: Storytelling, erfolgreiche<br />
Geschichten erzählen<br />
vom Handeln aus richtigem<br />
Wissen, diese gibt es in<br />
Hülle und Fülle. Solche Geschichten<br />
begeistern mich und<br />
stecken mich an.<br />
Viertens: Fuckup Nights,<br />
Erzählrunden mit Geschichten<br />
vom Scheitern und Handeln<br />
wider besseres Wissen, und<br />
wie aus denen, die gescheitert<br />
sind, Menschen wurden, die<br />
wieder aufgestanden sind. Das<br />
Ganze braucht einen Rahmen,<br />
die Beste aller Gesellschaftsformen,<br />
die Demokratie.<br />
Der Leipziger Musiker Sebastian<br />
Krumbiegel hat ein<br />
Lied für die Demokratie geschrieben,<br />
in dem über sie zu<br />
erfahren ist, dass sie „weiblich“<br />
und „verletzlich“ ist und<br />
dass „Liebe“ und „Hoffnung“<br />
ihre „Schwestern“ sind. Ferner<br />
sind „Barmherzigkeit“<br />
und „Humanität“ genau das,<br />
„worum es geht“, derweil die<br />
„Klugheit“ ebenso „auf der<br />
Matte steht“ wie „Solidarität“,<br />
„Schönheit“, „Freiheit“<br />
und „Verliebtheit“. „Ich will<br />
ein Leben lang für diese Dinge<br />
gradestehn“, heißt es im Refrain,<br />
„mit all den Leuten, die<br />
auf dieser Seite sind“.<br />
Also dann, liebe Leser*innen,<br />
auf zum Handeln, aus gutem<br />
Wissen. Fehlschläge sind<br />
erlaubt. Und deshalb lautet<br />
mein Fazit: Die Erneuerung<br />
der Gesellschaft beginnt mit<br />
der Selbsterneuerung des Einzelnen.<br />
Und deshalb brauchen<br />
wir alle: eine Leidenschaft für<br />
Fehlschläge, das Bedürfnis,<br />
zu lernen, einen Hang zum<br />
Handeln, eine Vorliebe für<br />
Unsicherheit, eine Abscheu<br />
vor aufgeblasenen und unflexiblen<br />
Bremsern, die Bereitschaft<br />
zum Schnellschuss, den<br />
Glauben an die Neugier aller,<br />
die Lust am Verdrehten, eine<br />
Neigung zu „heißen“ Wörtern,<br />
einen Zug zur Revolution,<br />
die Liebe zum Lachen, eine<br />
Abneigung gegen laute Antworten<br />
und die Entschlossenheit,<br />
die Pest der Langeweile<br />
niemals und nirgends zu dulden<br />
und die Sehnsucht nach<br />
Gott, dem Himmel, der vom<br />
Himmel fällt. Habe ich auch<br />
nichts vergessen? Ein gutes<br />
und gesegnetes Jahr <strong>2020</strong><br />
wünsche ich Ihnen.<br />
Martin Wrasmann, Pastoralreferent<br />
der katholischen St. Altfrid-<br />
Gemeinde in Gifhorn, schreibt die<br />
monatliche <strong>KURT</strong>-Kolumne „Glauben<br />
& Zweifeln“. Beipflichtungen<br />
wie auch Widerworte sind stets<br />
willkommen. Leserbriefe bitte an<br />
redaktion@kurt-gifhorn.de.<br />
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